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Ein mysteriöser Autounfall im Emmental nahe Bern. Hans Bähler, Käseeinkäufer der Großhandelsfirma "Moloko", prallt ungebremst an einen Baum und stirbt. Privatdetektiv Heinrich Müller, der von einer Versicherung mit der Untersuchung des Falls beauftragt wird, macht sich auf den Weg in das abgelegene Tal. Dort lernt er die Ethnologiestudentin Lucy kennen, die Feldstudien bei Schweizer Ureinwohnern betreibt und sich schon bald als glänzende Partnerin bei den Ermittlungen erweist. Mit Scharfsinn und Intuition kommen die beiden einem dunklen Geheimnis auf die Spur, das tief in der Vergangenheit des idyllischen Tals vergraben liegt.
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Seitenzahl: 185
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Paul Lascaux
Salztränen
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2008 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2008
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von Paul Ott –
im Gegensatz zum Autorenpseudonym
Gesetzt aus der 10,5/14,5 Punkt GV Garamond
ISBN 978-3-8392-3084-8
Bibliografische Information
der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Unter Intuition versteht man die
Fähigkeit gewisser Leute, eine Lage in
Sekundenschnelle falsch zu beurteilen.
Friedrich Dürrenmatt
Heinrich Müller war groß geworden mit Pausenmilch, Perry Rhodan hatte ihn sozialisiert, Doktor Sommer aufgeklärt. Er war mehrfach unglücklich verliebt zu finnischem Tango, den schmerzhaftesten Herzensverlust hingegen begleitete Eric Burdons ›House of the Rising Sun‹. Erste detektivische Ambitionen bewirkte Michelangelo Antonionis ›Blow-Up‹, das Gymnasium beendete er mit Jimi Hendrix. Die Ausbildung zum Polizisten war überschattet vom Gegensatz zwischen Ländlern und chinesischer Revolution. Beim Austritt aus dem Polizeidienst unterstützte ihn die Entdeckung von Single Malt Whisky.
Es war eines unschönen Morgens in der Detektei Aubois und Müller. Heinrich Müller war von seiner Bestimmung her ein asketischer Mensch. Wenn er seiner Bestimmung gehorchte, aß er selten zu viel und trank mäßig. Aber es gab auch diese anderen Tage, und sie waren häufiger geworden. Dann trank er richtig, bis zum besinnungslosen Besäufnis, sodass er manchmal nicht mehr wusste, wie er nach Hause und in sein Bett gekommen war. Dann blieben ihm am nächsten Tag ein Zittern und eine Übelkeit, die es ihm zu essen und zu trinken verbat.
Heute war so ein Tag.
Womit gleich gesagt ist, dass es sich bei der Detektei Aubois und Müller um eine Wohnung handelte, von der ein Zimmer als sogenanntes Büro herhalten musste, sehr zum Missfallen des dunkelbraun getigerten Katers mit weißem Bauch, der von den gelegentlichen Telefonanrufen aus seinem Schlaf gerissen wurde. Aber eigentlich gehörte auch er nicht hierher, war ein Zugezogener, ein Wesensverwandter.
Heinrich Müller hätte an diesem Morgen auch nicht gewusst, wo er hingehörte. Aber als er den Kopf von der Tischplatte hob, sah er als Erstes seine Visitenkarten, die er in drei Sprachen hatte drucken lassen: Heinrich, Henri und Henry Müller, von seinen Freunden genannt Heiri, von denen, die ihn aufziehen wollten: Henry Miller.
Einen Aubois gab es nicht, aber es setzte Müller in der Liste der Berner Detekteien und Auskunfteien im Telefonbuch an die vorderste Stelle. Es gab ihm einen Anstrich von Seriosität, den der Name Müller alleine nicht gesichert hätte, und er brachte ab und zu französische Kundschaft, was in der Hauptstadt eines mehrsprachigen Landes jedenfalls kein Nachteil war.
Hauptsächlich beschäftigte sich die Detektei Aubois und Müller mit Fällen einfachen Versicherungsbetrugs, manchmal mit Ehebruch, ausnahmsweise auch mit Bewachungsaufträgen und Personenschutz. Müller schätzte die letzteren nicht besonders, da sie das Tragen einer Waffe nötig machten, und er fühlte sich eindeutig wohler ohne Pistole. Versicherungsbetrug hingegen war meist eine angenehme Recherchearbeit, die ihn mit allen möglichen Menschen in Kontakt brachte.
»Warum soll’s mir gut gehen, wenn es mir auch schlecht gehen kann«, sagte Müller zu niemand Bestimmtem, denn es war keiner anwesend. Allerdings maunzte Baron Biber, wie er den Kater nannte, wie als Bestätigung seiner Worte. Und Müller dachte wieder an sein Credo. Während andere sich in Fitnessstudios quälten oder sich esoterischen Gurus unterwarfen, pflegte er seinen athletischen Körper mit seinem Gehirn in Übereinstimmung zu bringen nach der Katzen-Methode: die Gelassenheit des Tieres, seine scharfe Beobachtungsgabe, aber auch seine sprunghafte Schnelligkeit und die gespannte Aufgeregtheit waren ihm Anregung und Vorbild für das eigene Dasein. Jetzt allerdings war Baron Biber beim Putzen des Fells unvermittelt eingeschlafen. Die Zunge hing noch aus dem Maul, aber die Augen waren bereits geschlossen.
Nun hatte Heinrich Müller sich mit seiner Selbstständigkeit als Privatdetektiv auf etwas Bedrohliches eingelassen. Nicht so sehr wegen der finanziellen Engpässe. Damit konnte er leben. Aber die Leere der Tage, an denen er nichts zu tun hatte, gefährdete seine geistige und körperliche Gesundheit: Grübeln, Fressen, Saufen – damit ließen sich die Gefahren zusammenfassen.
Deswegen hatte er sich eine Reihe von Hobbys zugelegt, die ihn stundenlang von selbstzerstörerischen Gedanken fern halten konnte. Mit dreien davon hatte er sich in den letzten Tagen beschäftigt. Das war erstens das Erstellen von Listen; eine davon beschäftigte sich mit den ungelösten Rätseln dieser Welt. Das Zweite war die Gründung von Vereinen, fiktive Organisationen meist, die es nicht über den Schreibtisch des Verfassers hinaus brachten, beispielsweise einer ›Interessengemeinschaft für das Abbrennen von Feuerwerk in Zimmerlautstärke‹. Das Dritte war das Beobachten der Natur und das Erfinden von Gegenständen, die den Umgang mit ihr üblicherweise erschwerten. Meist aber verlangsamten diese Dinge den alltäglichen Ablauf und brachten durch ihre Entschleunigung die Welt langfristig wieder in Ordnung. Im Moment beschäftigte er sich mit den Geräuschen von Wasser, in das er ein plastikumhülltes Mikrofon hielt. Er wollte den Unterschied herausfinden, den das Blubbern in kochendem Wasser von dem in Suppe verursachte. Er registrierte den Lärm aneinander reibender Teigwaren und klebenden Reises. Und wer von seinen Freunden ein Aquarium besaß, musste jederzeit damit rechnen, dass Henry die Gespräche der Fische registrieren wollte.
Außerdem arbeitete er an einem Auftrag. Deshalb war ihm der Absturz von letzter Nacht selber unerklärlich.
Henry Miller beschattete einen Objektkünstler. Damit hatte es gestern angefangen. Er war zu einer Vernissage eingeladen. Er hoffte, dass es die letzte sein würde. Bereits in den vorangegangenen Monaten hatte er mehr als einmal das nicht ungeteilte Vergnügen, bei Anlässen dieses Künstlers anwesend zu sein. Unverständliche Collagen, fragile Werke, fettreiche Snacks, knackige Weine, die einem allesamt aufs Gehirn schlugen. Dazu die Künstlergroupies, die keinen Blick übrig hatten für den Detektiv, weil er nicht so gescheit vor sich hinschwatzen konnte. Also hatte der eben gesoffen, und nicht zu knapp.
Langsam kam die Erinnerung zurück. Man war von der Galerie noch zum Atelier des Meisters gezogen. Müller hatte sich dazugesellt. Nein – er war eingeladen worden! Das schien ihm nun ziemlich überraschend. Das erste Mal, dass man ihn wahrgenommen hatte. Nach dem dritten Kaffee dämmerte es ihm auch, warum. Henry Miller, so hatte er sich den Anwesenden vorgestellt – war das peinlich! –, Henry Miller also hatte vorher in der Galerie ein unbezahlbares Meisterwerk von der Wand geschlagen. Er könnte schwören, dass er das Bild nur ganz leicht gestreift hatte, dass es gar nicht richtig festgemacht und deshalb heruntergefallen war.
Aber der Künstler hatte ihn beim Ellbogen genommen und gesagt: »Jetzt komm schon wieder hoch. Das macht doch nichts, das wird die Versicherung der Galerie bezahlen. Ist ja nicht das erste Mal. Du kommst jetzt mit zu mir, da feiern wir noch ein bisschen.«
Was sollte Heinrich Müller dazu sagen, er, der doch von der Versicherung genau deswegen zur Vernissage geschickt worden war, um herauszufinden, ob es sich bei der Häufung von Totalschäden an Kunstwerken dieses Objektkünstlers tatsächlich um Zufall oder um Versicherungsbetrug handelte. Nun war er selber zum Anlass für eine Verlustanzeige geworden. Grund genug, sich heillos zu betrinken. Er würde den Fall zurückgeben.
Eigentlich war Heinrich Müller immer lernbegierig. Auch bei seinen Ermittlungen versuchte er jeweils, von den Verbrechern zu lernen, festzustellen, welche Techniken ihm nützlich sein könnten. Das half ihm später bei seinen Recherchen. Es beruhigte ihn auch als Gedankenspiel, wenn ihn wieder mal eine Frau, die er als Freundin bezeichnet hatte, im Stich gelassen hatte. Er lag im kühlen Bett, konnte nicht schlafen, der Magen schmerzte, das Herz drückte. Er war wütend. Dann griff er zu einem Kriminalroman.
Müller las viel. In der Literatur aber gab es hauptsächlich Detektive, Polizisten, Kommissare, die zu ihrer Arbeit ein gespaltenes Verhältnis hatten. Es war meist auch keine Arbeit, sondern sie mussten einen Job erledigen, etwas Vorübergehendes, obwohl jeder wusste, dass nach dem einen Job der nächste folgen würde, der sich in nichts vom vergangenen unterschied. So aber wollte er seine Arbeit nicht sehen. Er hatte sie bei der Polizei gelernt und als Freischaffender verfeinert. Es war alles, was er in seinem Leben gelernt hatte, er hatte nichts anderes tun wollen, nichts anderes tun können.
Es lag ein Widerspruch in seinem Denken und Fühlen, vielleicht war dies der Grund für sein Gelegenheitssaufen, seine Frauengeschichten, die seltener waren, als er es sich wünschte. Oder war er selber der Anlass für die zeitweiligen Abstürze, seine Sicht der Welt der Grund für flatterhafte Bekanntschaften? Er wusste es nicht. Er mochte auch nicht darüber nachdenken. Das Leben ging viel zu schnell vorbei, als dass er sich deswegen Sorgen machen wollte.
Müller liebte seine Arbeit, wie jeder andere seine Arbeit liebte. Vor Routineaufgaben, wenn also eine Überwachung oder ein Personenschutz anstand, nahm er sich ein Thema vor, das er in all seinen Aspekten durchdenken wollte. Dann kam gar nicht erst Langeweile auf wie bei den Kollegen, die Wetten abschlossen in der Art, von welchem Baum zuerst 50 Blätter fallen würden.
Ganz besonders mochte Henry Ermittlungsarbeit, erstens, weil sie so selten war, zweitens, weil er da sein Gehirn brauchen konnte, wie ein Schachspieler, der eine Partie spielte, von der er die vorhergegangenen Züge noch nicht kannte, die Figuren erst kennenlernen musste und – wenn alles in seinem Sinne ging – nur die nächsten Züge mitbestimmen oder gar vorausbestimmen konnte. Das forderte seine Intelligenz. Diese Einsätze waren der Ansporn, seinem Beruf treu zu bleiben.
Als Bähler Hans, genannt Housi, am Eidgenössischen Buß- und Bettag auf der schmalen Straße von der Wildenalp runter in den Kurzengraben hinein fuhr, wie immer mit leicht überhöhter Geschwindigkeit, tauchte unvermutet ein blauer Wagen vor ihm auf. Housi hatte das Steuer nach der engen Kurve fest im Griff, war jedoch überrascht von der Langsamkeit des anderen Autos, dessen Lenker eine Abzweigung zu suchen schien, denn jetzt blinkte er rechts und fuhr an den Straßenrand.
Bähler setzte zum Überholen an. Auf gleicher Höhe mit dem alten VW Golf, das fiel ihm nun auf, beschleunigte der andere wieder und hielt das Tempo. Die beiden Wagen füllten die Breite der Straße bis auf wenige Zentimeter aus, und die steigende Geschwindigkeit verstärkte die plötzlich aufkommende Angst.
Im letzten Augenblick erkannte Housi die Gefahr. Er stand voll auf der Bremse, der andere, den er durch die dreckige Scheibe nicht erkannt hatte, schoss davon, schlenkerte nach links und gab Gas. Bähler bemerkte nun das abschüssige Ufer des Flüsschens, in das man ihn stoßen wollte. Er sah auch, dass der Widersacher keine Nummer an seinem Heck hatte. Dann brach Housi der Schweiß aus. Er fühlte jeden Tropfen, der über Stirn und Rücken rollte.
»Gestern haben sie den Bähler Housi gefunden in seinem Auto. Tot. In den Alphornbaum geprallt eingangs Kurzengraben, ungebremst aus einer Kurve heraus. Sagt man. Der Wagen ist völlig ausgebrannt. Die Feuerwehr brauchte eine halbe Stunde bis zum Unfallort. Da war nichts mehr zu machen. Da werden sie noch üben müssen, denn wenn es nicht ein bisschen schneller geht, brennt jeder Bauernhof bis auf die Grundmauern nieder. Und hat man dann noch Zeit, das Vieh zu retten?«
Graber Rudolf schüttete seine Milch in den Trichter über dem Einfüllstutzen. Sein Cousin Graber Ulrich stand in einem seiner rotkarierten Hemden vor der Käserei, stellte seine Kannen bereit und antwortete: »Ein Jammer um die Kühe, zum Glück ist man versichert, da wird der Schaden großzügig abgegolten, da kriegst du mehr als auf dem Schlachtviehmarkt.«
»Aber dann? Willst du neu aufbauen, wieder anfangen in diesen unsicheren Zeiten? Oder etwa mit dem Geld in die Stadt ziehen? So viel wird es nicht geben, dass sich das rechnet.«
»Der Bähler Housi, hast du gesagt? Der Einwäger von Moloko? Wen werden sie nun schicken zum Einkauf von Milch und Käse?«
»Was kümmert’s dich«, brummte Rudolf und strich sich mit der wettergegerbten Hand über sein weißes, schütteres Haar.
»War er nicht vorgestern noch bei euch, wegen der Milchkontrolle?«, fragte Ulrich.
»Ja, sicher. Wie immer alles sauber. Was willst du damit andeuten? Pass auf, dass die Kühe kein Blut in der Milch haben, wenn du schlecht über andere redest.«
Ulrich wehrte sich: »Ich hab nichts gesagt. Ich hab nur gefragt, ob der Bähler Housi nicht noch bei euch war vorgestern. Vor dem Unfall. Der ist ja anderntags auf der gegenüberliegenden Talseite geschehen. Ihr werdet nichts damit zu tun haben.«
»Macht vorwärts, Leute, der nächste bitte, die Käserei ist nicht bis Mitternacht geöffnet!«
»Etwas stimmt nicht bei diesem Unfall«, sagte der für den Kurzgraben zuständige Kantonspolizist Hermann Blaser zu seinem Langnauer Kollegen. »Die Spurensicherung empfiehlt den Beizug der Kriminalpolizei. Ich habe bereits mit Bern telefoniert.«
»Wo liegt das Problem?«, fragte Hans Zaugg.
»Gehen wir davon aus, dass der Fahrer mit überhöhter Geschwindigkeit in die Kurve hineinrast, geradewegs in die einzeln stehende Fichte, den einzigen Baum weit und breit.«
»Nun ja, das kommt immer wieder vor. Aber du hast recht. Nicht der Bähler Housi, der kennt jede Kurve im Emmental. Er müsste einen Herzschlag gehabt haben oder eingenickt sein.« Man erkannte Zaugg daran, dass er mit dem Mittelfinger über seinen langen Nasenrücken fuhr, wenn er nachdachte.
»Wäre möglich. Verletzungen an der Leiche sind nicht mehr festzustellen. Aber das Blut war ziemlich stark mit Alkohol verdünnt.«
»Dabei hab ich doch gehört, dass Alkohol in der Hitze verdunstet.« Das Lachen blieb ihm im Halse stecken, als er Hermann Blaser anschaute. Zaugg räusperte sich. »Entschuldige.«
»Es war kein schöner Anblick«, meinte Blaser. »Das eine Schnäpschen hier, der andere Kaffee fertig da, da läppert sich schon was zusammen.«
»Der Bähler Housi war bestimmt daran gewöhnt. Der hätte sich nicht so schnell beeindrucken lassen. Bleibt also ein Sekundenschlaf. Nun gut. Das Auto prallt an den Baum, dabei gehen die vordere und die hintere Scheibe zu Bruch, alles fängt Feuer, Housi verbrennt. Und was verbrennt mit ihm?«
»Alle seine Unterlagen. Die Listen der Milch- und Käseeinkäufe der vergangenen Monate, die Bezüge der Bauern.«
»Das ist bestimmt im Zentralcomputer von Moloko gespeichert«, wandte Zaugg ein.
»Falls er dort alles eingetragen hat. Aber etwas anderes stimmt nicht.«
»War er angeschnallt?«, fragte Zaugg.
»Nein.«
»Und er hat keine Airbags in seiner alten Karre.«
»Stimmt.«
»Also ist er mit dem Kopf in die vordere Scheibe geflogen.«
In Blasers kurzen Haaren standen Schweißperlen, als er sagte: »Erstes Rätsel: Wieso ist die hintere auch kaputt gegangen?«
»Vielleicht ist sie beim Brand zersprungen.«
»Möglich ist alles, aber vorstellen kann ich mir das nicht.« Blaser fuhr weiter: »Zweites Rätsel: Warum brennt die Karre überhaupt? Vorne ist der Motor, der Tank liegt hinten.«
»Nun mach’s nicht so spannend. Was sagt der Untersuchungsbericht?«
Doch Blaser ließ sich von der Nervosität des jungen Kollegen nicht anstecken, als er referierte: »Der behauptet, jemand habe Benzin über die Karosserie geschüttet und angezündet. Der Tank sei erst später explodiert. Und er schließt: die beiden Scheiben seien beinahe gleichzeitig eingeschlagen worden.«
Zaugg pfiff leise zum Fenster hinaus, während er die Kühe auf der Weide beobachtete. »Im Klartext: Wir hätten es mit einem Mord zu tun.«
»Ja.«
»Wie lautet die Begründung?«
Blaser fasste aus dem Bericht zusammen: »Der Lack auf dem Blech ist von oben her verbrannt, wie wenn das Feuer sich von außen her durchgefressen hätte, während bei einem Brand im Motor oder vom Tank aus der Lack Blasen bilden würde, die man auch bei vollständiger Verbrennung noch sehen könne.«
»Dass sich die Benzindämpfe durch ein Loch im Tank erst ausgebreitet und dann entzündet haben könnten, ist nicht möglich?«, fragte Zaugg.
»Kaum. Benzindampf haftet nicht auf der Oberfläche, sondern verbrennt in der Luft. Erst wenn andere Materialien, zum Beispiel die Schaumstoffe in den Sitzen, mit flüssigem Benzin getränkt werden, brennen sie. Außerdem hatten wir Bise, der Wind kam also den Graben hinauf, Bähler hingegen fuhr abwärts. Also hätte der Wind die Benzindämpfe vom Auto weggeweht.«
»Gut überlegt, schlecht ausgeführt«, meinte Hans Zaugg.
Hermann Blaser antwortete: »Gut genug ausgeführt. Housi Bähler ist tot. Sämtliche Unterlagen sind verbrannt, das Notebook unbrauchbar. Und alle Spuren sind verwischt.«
Hätte Heinrich Müller an diesem Morgen geahnt, wie die folgende Untersuchung, die so einfach und übersichtlich begann, enden würde, er hätte das Telefon klingeln lassen und wäre nicht aufgestanden. Er hätte sich noch einmal umgedreht und den Schlaf des Gerechten verlängert. Es wäre nichts weiter passiert, weil der Anrufer einen anderen Detektiv gesucht und keiner mehr nach ihm gefragt hätte. Aber das Leben besteht nicht aus Konjunktiven. Und Müller konnte jeden Auftrag gebrauchen.
So seufzte er denn seinen Namen in den Hörer. Seine Versicherung meldete sich, Peter Hofer, der Kontaktmann seiner Versicherung, um genau zu sein. Er berichtete kurz und knapp, wie er es gelernt hatte, die Fakten: Hans Bähler, Einwäger der Milch- und Käsegroßhandelsfirma Moloko, eine der größten der Schweiz, war ums Leben gekommen. Der Untersuchungsbericht der Polizei legte nahe, dass es sich bei Bählers Unfall nicht allein um einen Unfall gehandelt hatte, sondern Fremdeinwirkung anzunehmen war. Die Versicherung war nicht so sehr an der Aufklärung eines Mordes interessiert, eher schon daran nachzuweisen, dass es sich um Selbstmord handelte. Denn bei Selbstmord brauchte sie nicht zu zahlen. Und Bähler hatte zwei Wochen vor seinem Tod die bestehende Lebensversicherung nicht nur verlängert, sondern den Betrag beträchtlich erhöht. Auf genau zwei Millionen Franken.
»Gab es denn keine Spezialüberprüfung, wie es in solchen Fällen üblich ist?«, fragte Müller und gähnte.
»Nein«, erwiderte Hofer, »über Moloko ist grundsätzlich jeder Einwäger versichert. Weil die Leute so oft unterwegs sind, besteht ein gewisses Zusatzrisiko, deswegen wollte das der Arbeitgeber so. Aber die Erhöhung der Versicherungssumme erfolgte auf Antrag und Kosten von Bähler.«
»Wer sind die Nutznießer?«, fragte der Detektiv.
»Nichts Spektakuläres. Seine Familie. Die wohnt im Luzernischen, also relativ weit vom Unfallort entfernt.«
Hofer wollte die Unterlagen, insbesondere den Untersuchungsbericht der Polizei, den die Versicherung sogleich angefordert hatte, mit einem Fahrradkurier zum Auskunftsbüro schicken. Er ermahnte Müller, keine unnötigen Risiken einzugehen. Am besten fahre er für ein paar Tage nach Kurzenau, um sich ein wenig umzuhören.
Müller hatte im neuen Fall vorerst keinerlei Anzeichen von Gefahr gesehen, da der Hauptverdächtige – sollte es sich um Versicherungsbetrug handeln – bereits tot war. Aber als die Kopien der Akten auf seinem Schreibtisch lagen und er bemerkte, dass die Polizei von einem Tötungsdelikt ausging, wusste er nicht mehr, wie die Ermittlungen und die Risikolosigkeit miteinander in Übereinstimmung zu bringen waren. Es waren außerdem seine ersten Nachforschungen in einem Fall mit Personenschaden. Vielleicht – dachte er, als er die Pistole in sein Gepäck legte – waren die Mörder im Emmental besonders sanftmütig und konnten es nicht erwarten, enttarnt zu werden.
Bevor Henry abreisen konnte, musste er sich noch etwas für Baron Biber einfallen lassen. Er hätte gern eine Katzenfutterstation konstruiert. In seinem Kopf war sie bereits vorhanden. Aber neben technischen Problemen (das Nachrutschen des Futters musste gewährleistet sein, für Nassfutter war sie nicht geeignet) gab es auch die Erziehungsfrage. Wie brachte man eine Katze dazu, genau dann auf eine Taste zu drücken und eine Portion freizumachen, wenn sie Hunger hatte – und nicht etwa jedes Mal, wenn es ihr Spaß machte? Letzthin war ihm eine Zoohandlung aufgefallen, die nicht weit von seiner Wohnung im Berner Nordquartier entfernt lag. Dorthin lenkte er seine Schritte. Unterwegs registrierte er, was er als zunehmenden Verfall des sozialen Lebens betrachtete. Das Gestaltungsprinzip dieser Welt hieß Dreck, Staub, Unrat, Abgase, Dämpfe, Schimmel. Wenn es heute im Gebüsch eines städtischen Parks raschelte, war es keine Amsel und auch kein Eichhörnchen, sondern ein Junkie, der unter dem Jungwuchs nach verstecktem Heroin wühlte.
An die hässliche Wand der Migros Breitenrain hatte jemand ›Fuck Bush‹ gesprayt. Auf einem Pornomagazin am nahen Kiosk las er »The Bush is back«. Obwohl Pornomagazine auf Ficken spezialisiert waren – oder jedenfalls darauf, was sie dafür hielten –, meinten sie mit »Bush« doch nicht dasselbe wie der unbekannte Sprayer. Was heißt überhaupt ›The Bush is back‹? Wo war er denn die ganze Zeit? Lag er in einem schlecht beleuchteten Coiffeursalon am Boden? Oder im heimischen Schlafzimmer? Haarfrei mit Schnittwunden?
Müller hatte inzwischen die Zoohandlung erreicht. Er kaufte zwei große Futterbehälter für Katzen, eine für das Wasser, die zweite für Trockenfutter, sodass er Baron Biber das Fressen für ein paar Tage bereitstellen konnte. Der Kater würde jammern und reklamieren, wenn er wieder zurück wäre, denn er fraß lieber in Beutel abgepacktes Futter mit Mäuse- oder Fischgeschmack als staubtrockene Plätzchen. Aber da er meist erst mal beleidigt abhaute, wenn Müller nach Hause kam, gab es dazu nichts weiter zu sagen.
Der Detektiv stellte alles bereit, ließ das Küchenfenster einen Spalt weit offen, gerade genug, dass die Katze hindurchschlüpfen konnte, fixierte es, sodass es der Wind nicht aufstoßen oder zuschlagen konnte, packte dann seinen Rollkoffer und die Umhängetasche und machte sich auf zu seinem schwarzen Opel Astra, um dem Tal der Kurzen seine Aufwartung zu machen.
Der Kurzgraben ist ein Schatten- und Nebelreich zwischen zwei Hügelausläufern, der Kurzenegg und der Wildegg. Die Straße führt hinter Langnau Richtung Entlebuch auf der rechten Seite nach Süden, entlang des Wildgrats zuerst nach hinten ins Tal, das immer enger wird. Die Bergflanken berühren auf beiden Seiten beinahe das Asphaltband, das parallel zum Bach verläuft. Dort, wo die Straße einknickt, wo es nicht mehr anders geht als von der Fläche den Berg hoch, kurz nach der Einmündung der Schatten in die Kurzen, gibt es eine Abzweigung in den Schattgraben, von wo der Weg nur noch zu Fuß weiterführt auf die Scheidegg.
Zuvorderst in diesem engen Tal findet man den Weiler Schatthalb mit seiner kleinen Käserei, die in den letzten Jahren einen so wunderbaren Emmentaler produziert hat, und drei oder vier Bauernhöfe. Aus dem größeren Haupttal wird die Milch hierher gebracht, auch hinunter von der Wildenalp, wo die Kühe gesömmert werden. Dort hinauf führt die schmale, kurvenreiche Straße weiter die Flanke des Wildgrats entlang, immer steiler, bis der Wagen knarzt, der Tacho kaum mehr schlappe 40 zeigt und die deutschen Touristinnen, die man im Bären aufgelesen hat, mit belegter Stimme flüstern: »Geht es nicht etwas langsamer? Wir haben Familie und Kinder zu Hause.« Zuoberst erreicht man die Alphütte, der das Restaurant Sternen angegliedert ist, ein beliebtes Ausflugsziel, ›nah am Himmel‹, wie die Wirtsleute, Fritz und Marie Bär, zu sagen pflegen.
Drunten im Tal liegt Kurzenau mit seinen gut 200 Einwohnern, drei Wirtschaften (Bären, Löwen, Hirschen, die unheilige gastwirtschaftliche Trinität im Emmental), einer Post, vor der die unregelmäßigen Postautokurse halten und die bald geschlossen werden soll, einer reformierten Kirche aus dem 19.