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Nicole Himmel von der Detektei Müller & Himmel liegt mit einer Schussverletzung im Spital. Sie kann sich an die Tat nicht erinnern und wird nachts von Alpträumen geplagt. Heinrich Müller lässt das Verbrechen an seiner Partnerin keine Ruhe. Bei seinen Recherchen trifft er unter anderem auf einen Heiler und auf den Besitzer eines Ölbohrgeländes. Doch wer steckt hinter dem Anschlag auf Nicole Himmel? Und was hat eine kürzlich gefundene skelettierte Leiche mit dem Fall zu tun?
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Seitenzahl: 214
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Paul Lascaux
Emmentaler Alpträume
Ein Fall für Müller & Himmel
Berge, Täler, Tote Nicole Himmel liegt mit einem Lungenstreifschuss im Spital. Wie es dazu kam, weiß sie nicht mehr. Ihre Erinnerung ist blockiert. Ohne einen Zeugen, Hinweis oder ein Indiz kann die Polizei nicht ermitteln, denn die Tat wurde anscheinend nicht beobachtet und außer Nicole wusste in der Detektei Müller & Himmel niemand, was sie im Emmental vorhatte. Nachts wird sie von Alpträumen geplagt. Versuchen diese ihr mitzuteilen, wie es zu dem Unglück kam? Heinrich Müllers Nachforschungen gestalten sich ebenfalls zäh. Hat Nicole am Seminar eines dubiosen Heilers im Gallenbad teilgenommen? Oder hat sie im nördlichen Napfgebiet, im Hornbach, Gold gewaschen? Die drei Grazien unterstützen die Detektei, beugen sich über Wanderkarten und durchforsten Internetseiten, während Heinrich Müller Kommissar Forrer nach Linden begleitet. Dort wurde eine skelettierte Leiche gefunden, ausgerechnet auf dem Ölbohrgelände von 1972. Haben die beiden Fälle etwas miteinander zu tun?
Paul Lascaux ist das Pseudonym des Schweizer Autors Paul Ott. Der 1955 geborene Germanist und Kunsthistoriker ist am Bodensee aufgewachsen und lebt in Bern. In den letzten 35 Jahren hat er neben zahllosen journalistischen Arbeiten mehrere literarische Veröffentlichungen realisiert, vor allem Kriminalromane und kriminelle Geschichten. Als Herausgeber von Krimi-Anthologien und Initiator des Schweizer Krimifestivals »Mordstage« hat er sich einen Namen gemacht. »Emmentaler Alpträume« ist sein neuster Krimi um die Detektei Müller & Himmel.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © HappyAlex / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6734-9
»Stüdi war eifersüchtiger Natur und herzwüst.«
Jeremias Gotthelf: Der Bauern-Spiegel (1836)
»Kaumückenanzüge.«
Nicole atmet auf. Endlich kann sie wieder einen klaren Gedanken fassen. Hat sie laut gesprochen?
Dann spürt sie einen heftigen Stich in ihrer Körpermitte und sie dämmert wieder weg, bevor sie das Rasseln und Röcheln aus ihrer Lunge hören kann.
Sie blickt vom Strand über das Meer und fühlt die Nässe, als die Wellen an ihre Beine klatschen. Sie steht im Wasser und sie weiß, dass sie auf einer Unterwasserfelsplatte, die in etwa einem Meter Tiefe liegt, zu jener Insel gelangen kann, deren bizarres Gestein gelbbraun leuchtet. Es ist diese Farbe, die sie zu ihr hinzieht, denn die Insel selbst ist bar jeder Vegetation, sie kocht in der Hitze des Nachmittags.
Neben ihr steht ein junger Mann, bereit, mit ihr zur Insel zu waten. Ist es das Ferienlager aus der Gymnasialzeit? Sie ist verwirrt, aber der Kerl lacht sie an, als ob er noch etwas mit ihr vorhätte. Sie ist selber erstaunt darüber, dass sie dieser Gedanke beruhigt.
Sie kommen vom Mittagessen, die Bäuche voll und kein günstiger Zeitpunkt zum Baden, denn bei der vorgelagerten Felsspitze hätten sie, um einen größeren Umweg zu vermeiden, ein paar Meter durch eine Wasserrinne schwimmen müssen, die den Fischerbooten den Zugang zum Hafen ermöglicht. Aber da sie vollständig bekleidet sind, bleibt ihnen keine Wahl. Er trägt hellblaue Jeans, die ein bisschen aus der Mode sind und um die Hüften spannen. Ein zerschlissenes blaues T-Shirt mit Salzwasserflecken schlackert um seinen Oberkörper. Seine braunen Haare stehen etwas wirr vom Kopf ab. Sein schalkhaftes Lächeln macht alles wieder wett.
»Verheiratetenhöhle«, sagt sie und zeigt auf halbem Wege auf ein schwarzes Loch in einer der Klippen.
»Ein Schlafplatz für Jugendliche, denen kein eigenes Zimmer zur Verfügung steht«, erklärt er.
Als ob damit alles gesagt wäre.
Bald suchen sie vom Inselstrand aus den Weg zur Höhle, benutzen beide Hände, um nicht abzurutschen, und finden einen tiefer gelegenen Eingang, der durch eine kurze Röhre im Felsinnern zur eigentlichen Höhle führt. Wie befürchtet sehen sie das idyllische Plätzchen – durch einen Spalt im Gestein von der Sonne beleuchtet – bereits besetzt. Drei Beinpaare in schmutzigen Jeans liegen übereinander. Die beiden drehen sich ab und nehmen den Hauptausgang. Dort wartet bereits ein Pärchen, das hineinwill.
»Einen Platz gibt es nur, wenn ihr vorbestellt habt«, sagt Nicole zum Abschied.
Wie sie zum Festland zurückgekommen sind, kann sie nicht sagen. Jedenfalls gibt es dort einen Caravanpark. Jeder Wohnwagen ist in vier Räume mit je einem separaten Eingang aufgeteilt. Sie hat eine Freundin, die ihr Zimmer für einen solchen Fall zur Verfügung stellt. Obwohl sie nicht genau weiß, was mit diesem »Fall« gemeint ist, sucht sie mit ihrem Kumpel die 608. Dummerweise sind die Wohnwagen nicht den Nummern nach eingereiht, sie müssen also bei jedem die Zahlen ablesen, wenn sie ihr Zimmer finden wollen. Irgendwie drehen sie sich im Kreis. Plötzlich steht ein Briefträger vor den beiden. Sofort ist der Wagen gefunden. Aber der Mann ist schon wieder weg, bevor man ihn fragen kann, wie er das gemacht hat. Sie gehen hinein: ein weißer Raum, ein helles Fenster ohne Vorhänge, ein Tisch, ein Stuhl, ein bequemes Bett ohne Decke. Alles ist angerichtet.
Übergangslos steht sie mit drei Kollegen auf einer Klippe, von wo man die Insel direkt sehen kann. Dort oben befindet sich ein Schulhaus, fast vollständig aus Glas gebaut, zwei Etagen mit etwa acht Zimmern. Durch einen getrennten Eingang erreicht man im zweiten Stock die Bäckerei, wo sie das Brot holt. Sie will welches kaufen, weiß aber nicht, wie viel. Sie stellt sich an den Abriss der Klippe, wo der Fels fünfzig Meter bis zum schmalen Kieselstrand abfällt. Sie wartet, bis einer der Höhlengänger auf der Insel dasselbe tut. Zuerst will sie einfach nur »Brot« schreien, aber wenn sie ein »Ja« zur Antwort bekäme, wüsste sie immer noch nicht, wie viel sie kaufen sollte. Deshalb macht sie pantomimische Zeichen, mit denen sie Brot darstellt, Brot, das sie schneiden und essen will. Der Kollege antwortet, indem er viermal die Revolutionsfaust in den Himmel streckt. Also steigt sie die Treppe hinauf und kauft vier Kilo Brot.
Was die Kaumückenanzüge damit zu tun haben, ist ihr noch nicht klar. Auf jeden Fall machen diese Mücken sehr viel Lärm. Und sie reden in mehreren Zungen, sagen Dinge wie »Lungendurchschuss«, »lebenserhaltende Maßnahmen« und »Intensivpflege«, was sie diesen Insekten gar nicht zugetraut hätte. Dann steht plötzlich eine dieser Kaumücken direkt vor ihr, schiebt Nicoles Lid in die Höhe und betrachtet sie durch ein Vergrößerungsglas.
Schon verrückt, diese Welt, denkt sie, als sie für einen Moment die Augen aufschlägt und über sich einen Himmel in stechendem Weiß erkennt. Dann sackt sie zusammen, übermannt von Schmerz und Anstrengung.
Noch nie war jemand aus der Detektei Müller & Himmel so schwer verwundet worden. Das warf Fragen auf, besonders die eine: Welchen Fall bearbeitete Nicole Himmel? Niemand in der Detektei hatte Kenntnis darüber, welchen Informationen sie nachgegangen sein könnte.
Gut, es hatte schon Prellungen gegeben, wenn man in der Hast den schweren Fotoapparat hatte auf die Knie fallen lassen, um nicht als Schnüffler enttarnt zu werden, sondern nur als einer, der stundenlang sinnlos in einem Auto sitzt und auf niemanden wartet – noch nicht einmal auf Godot.
Aber eine Schusswunde? Dabei gehörte gerade Nicole Himmel zu den Übervorsichtigen, und ein Beobachtungsauftrag im Emmental war Heinrich nicht bekannt. Nicole hatte eben noch ihr Pensum als Anthropologin am Alpinen Museum erhöhen wollen, was jedoch aus Geldgründen nicht genehmigt wurde. Hatte sie deswegen ohne Kenntnis ihres Partners einen eigenen Fall an Land gezogen, um etwas dazuzuverdienen?
Kleinvieh macht auch Mist, dachte der Detektiv. Er konnte sich dieses Denken leisten, denn ihm gehörte das Haus im Berner Breitenrain, in dem sich die Detektei und seine eigene Wohnung sowie diejenige von Nicole und die der drei Grazien befanden. Und er würde bald in den Genuss einer staatlichen Mindestrente kommen. Aber für eine nach wie vor junge Frau von achtunddreißig Jahren galt das nicht, die erwartete noch mehr vom Leben. Was genau dies sein könnte, wusste der Detektiv nicht zu sagen.
Die drei Grazien waren keine offiziellen Mitarbeiterinnen der Detektei, aber sie hatten sich im Verlauf der Jahre als unentbehrliche Zuträgerinnen von Informationen erwiesen. Und auch dieses Mal sah es ganz danach aus, dass sie bei Recherchen vor Ort benötigt würden. Dabei hatten sich die drei jungen Frauen in der Zwischenzeit Perspektiven fürs Leben aufgebaut, denn ihre Studien befanden sich in der Schlussrunde: Melinda Käsbleich stand vor dem Abschluss ihrer Ausbildung zur Designerin, Phoebe Helbling bereitete sich auf die Prüfungen in Wirtschaftswissenschaften vor, und Gwendolin Rauch besuchte weiterhin Biologieseminare. Ob eine oder mehrere von ihnen der Detektei weiterhin zur Seite stehen würden? Darüber konnte Heinrich später nachdenken.
»Dort hat man sie gefunden?«, fragte Phoebe. Sie strich die langen blonden Haare aus ihrem übernächtigten Gesicht, denn an Schlaf war kaum zu denken gewesen, nachdem sie gestern von Heinrich Müller informiert worden war, dass Nicole Himmel, die gute Seele der Detektei Müller & Himmel, am Montag schwer verwundet aufgefunden worden war.
Heute Morgen erst hatte ihnen Kommissar Markus Forrer von der Abteilung »Leib und Leben« der Police Bern per Mail einige Fotos der Spurensicherung zugeschickt. Phoebes ungelenke Frage hatte damit zu tun, dass Nicole auf keinem der Bilder zu sehen war. Und eigentlich sah man auch sonst nichts, abgesehen von etwas Landschaft, einem Hinterhaus und einigen seltsamen Gegenständen.
Gwendolin wollte von Heinrich Müller wissen: »Markus ist doch dein langjähriger Kumpel?«
»Ja.«
»Dennoch hat er dich erst gestern informiert, einen Tag, nachdem es passiert ist, oder? Das verstehe ich nicht.«
Der Detektiv erklärte: »Er hat es selbst erst am Dienstag erfahren. Fassen wir zusammen. Am letzten Freitag hat uns Nicole mitgeteilt, dass sie für ein paar Tage verschwindet.«
»Und dass sie nicht gestört werden möchte«, ergänzte Gwendolin, »denn sie besuche einen Kurs.«
»Das kam überraschend«, überlegte Melinda, »aber keiner von uns hat nachgehakt. Warum?«
»Ganz ehrlich«, sagte Müller, »ich hatte Angst, dass sie mit der Arbeit in der Detektei, wie früher schon einmal, überfordert war und eine Auszeit brauchte. Ihr kennt Nicole inzwischen auch ganz gut und ihr wisst, dass sie zu spontanen Entschlüssen neigt und Entscheidungen für sich allein fällt, bevor sie uns davon in Kenntnis setzt.«
»Apropos Auszeit«, meldete sich Phoebe, »wenn die Detektei Auszeiten zu vergeben hat, komme ich als Erste in den Genuss, denn wen hat man im letzten Fall aus der Hand eines gemeingefährlichen Geiselnehmers befreit?« Sie tippte sich an die eigene Stirn.
Gwendolin intervenierte: »Es waren aber Melinda und ich, die gelitten haben, du warst von den K.-o.-Tropfen dermaßen zugedröhnt, dass du kaum etwas mitbekommen hast. Oder weißt du noch, wo man dich gefunden hat?«
»Nicht genau«, sagte sie kleinlaut, »also eigentlich nur aus dem, was ich aus euren Berichten rekonstruieren konnte.«
»Stopp«, befahl Heinrich. »Es geht hier nicht um eure Befindlichkeiten.« Dann fuhr er fort: »Am Samstag also ist Nicole weggefahren. Als ich erwachte, war sie schon nicht mehr im Haus.«
»Ich glaube, sie ist von einem Taxi abgeholt worden«, sagte Gwendolin. »Jedenfalls habe ich Autotüren zuschlagen hören. Sie ist wohl zum Bahnhof gefahren.«
»Lassen wir die Spekulationen beiseite«, verlangte der Detektiv. »Wie ich Nicole kenne, hätte sie bis zum Bahnhof das Tram genommen, denn die Haltestelle liegt ja beinahe vor der Tür.«
Die vier saßen in der Bar im Parterre des Schwarzen Katers, die nicht mehr als Gaststube genutzt wurde. Die Zahl der regelmäßigen Kunden war so stark zurückgegangen, dass es sich nicht mehr lohnte, das Lokal ganztags offen zu halten. Die Konkurrenz durch neue Betriebe rund um den Breitenrainplatz war zu groß geworden, die Leute zog es immer wieder in neue Restaurants, und wer sein Beizenkonzept nicht stets an Trends anpasste, hatte das Nachsehen.
»Nicole ist also am Samstagmorgen weggefahren«, nahm Müller den Faden wieder auf. »Wir haben sie nicht vermisst. Am späten Montagnachmittag ist sie hinter dem Restaurant Hornbach-Pinte bei Wasen im Emmental, Gemeinde Sumiswald, verletzt aufgefunden worden. Der Wirt hat die Sanitätspolizei benachrichtigt, zuständig ist Burgdorf als nächstgelegener Ort mit Akutspital und Notfallstation. Es bestand hohe Dringlichkeit, denn sie war schwer verletzt und hatte offenbar bereits viel Blut verloren. Also fand keine Tatortsicherung statt.«
Er blätterte in den ausgedruckten Protokollen.
»Bei der Notoperation stellte man die Schusswunde fest. Im Vordergrund standen die lebensrettenden Maßnahmen. Erst nach dem medizinischen Eingriff hat man die Police Bern in Burgdorf benachrichtigt. Dann war es jedoch bereits zu dunkel, außerdem war ein kräftiges Gewitter über der Gegend niedergegangen, sodass an eine Tatortbegehung nicht zu denken war. Die wurde schließlich am Dienstagmorgen durchgeführt, davon stammen die Fotos. Ihr seht ja die Wasserpfützen. Spuren: keine.«
»Wieso hat man nicht sofort Kommissar Forrer benachrichtigt?«, wollte Gwendolin wissen und schüttelte verständnislos den Kopf mit dem rot gefärbten Haar.
Henna?, schoss es Müller durchs Gehirn. Kam das wieder in Mode? Dann antwortete er: »Man wusste nicht, wer die Frau war. Sie trug keine Dokumente bei sich. Also schickte Burgdorf Fahndungsfotos an die Datenbank. Das Gesichtserkennungsprogramm lieferte jedoch keinen Treffer. Markus Forrer sah das Foto erst am Dienstagmittag in der Newsbox und erkannte Nicole. Allerdings forderte er zuerst die Unterlagen an und veranlasste die Verlegung ins Salemspital, bevor er mich informierte. Dort liegt sie auf der Intensivstation. Vorderhand keine Besuche.«
»Eine Schusswunde, sagst du?«, fragte Melinda.
»Ja. Genaueres steht nicht im Bericht. Markus und ich besuchen übermorgen die Rechtsmedizin. Dr. Augsburger kümmert sich um den Fall.«
Phoebe sagte: »Es gab bestimmt Gäste im Restaurant und dazu noch den Wirt oder Leute in der Küche. Und keiner will den Schuss gehört haben?«
»Offensichtlich nicht«, sagte der Detektiv, »jedenfalls nicht, was das Personal betrifft. Am Montag gibt es kaum Gäste im Lokal.«
Gwendolin griff noch einmal zu den Fotos und fragte Melinda: »Was liegt denn da Seltsames rum?«
»Woher soll ich das wissen?«, wehrte sie ab.
»Du warst doch früher mal Model für den Bauernkalender, du kennst dich in der Landwirtschaft aus, und das ist doch tiefstes Emmental.«
Melinda wurde ungern an jene Zeit erinnert, denn ihr war das Posieren für den Voralpen-Playboy inzwischen eher peinlich. Heute suchte sie Ruhm und Ehre im Design-Studium. Dennoch griff sie nach den Bildern und erkannte nach genauerem Hinsehen: »Das ist eine Anlage für das Platzgen.«
»Bitte was?«, fragte Phoebe.
Melinda fuhr fort: »Platzgen ist eine altbernische Brachialsportart.« Sie zeigte auf das erste Foto. »Hier liegen die handförmigen Sterne aus gehärtetem Stahl. Ihr seht die grobe Handfläche mit fünf zugespitzten Fingern. Sie wiegen zwischen einem und drei Kilo.«
»Nicht sehr ordentlich, die Sportler«, bemängelte Gwendolin, »dass sie ihre Geräte einfach so rumliegen lassen.«
»Sieht so aus, als ob der Platz lange nicht mehr benutzt wurde«, sagte Melinda und nahm das zweite Foto.
»Siebzehn Meter vom Abwurfplatz entfernt liegt ein Kreis aus Lehm, das Ries, wie eine Platte gegen hinten schräg nach oben gekippt. In der Mitte müsste ein Eisenpflock stecken, der Schwirren, denn den gilt es mit den Wurfsternen zu treffen, das gibt hundert Punkte. Der Stock liegt aber neben der Anlage. Der Lehm sollte mit einer Plane abgedeckt sein, sonst zerstört der Regen den Haufen. Dahinter befindet sich übrigens eine Palisadenwand, die verhindert, dass zu weit geworfene Sterne in der Wiese verschwinden.«
Müller blätterte noch einmal im Protokoll: »Man hat Nicole auf einer Plastikplane liegend gefunden. Das muss wohl die zum Abdecken des Rieses gewesen sein. Die blieb dort liegen. Am nächsten Tag fand man kaum noch Blut darauf, denn der Regen hat ganze Arbeit geleistet. Nun weiß man nicht, ob Nicole vor Ort erschossen oder erst dort auf der Plane abgelegt worden ist.«
Phoebe wollte wissen: »Wird dieses Platzgen heute noch ausgeübt?«
Melinda antwortete: »Es gibt sogar eine Schweizermeisterschaft. Aber es wird hauptsächlich im Kanton Bern gespielt.«
»Viel wichtiger ist wohl«, unterbrach Gwendolin, »dass der Täter gewusst hat, dass der Platz an diesem Montag nicht bespielt wurde und dass man von der Holzwand vor neugierigen Blicken geschützt war. Es sind also Ortskenntnisse nötig.«
»Läuft dein Laptop?«, fragte Heinrich.
»Ja«, antwortete Phoebe.
»Schau nach, ob Google Street View bis zum Hornbach funktioniert, ist ja nicht gerade eine Durchgangsstraße.«
»Geht in Ordnung.«
Heinrich fuhr fort: »Das Napfgebiet wird oft völlig unterschätzt, einfach deshalb, weil der Schweizer mit den Voralpen und Alpen bedeutendere Höhen gewöhnt ist, die er üblicherweise mit Seilbahnen erkämpft. Im Napf gibt es hingegen keine technische Unterstützung, denn Alphütten kann man natürlich auch mit dem Auto erreichen, schließlich sind tausendvierhundertsechs Meter ja keine Höhe, bis zu der hinauf man nicht auch asphaltieren könnte. Dagegen spricht nur das Gelände. Das Napfbergland besteht aus Nagelfluhschichten, also Gesteinsschichten, die von den aus den Alpen stammenden Flüssen am Alpennordrand abgelagert worden sind. Und diese wurden im Laufe der Zeit regelrecht ausgefressen, sodass sie heutzutage stark zerklüftet sind. Man kann mit bescheidenen Höhenunterschieden zwar lange Wege auf den Graten zurücklegen, aber irgendwann muss man rauf oder runter, und das geht nur in kräfteraubenden Anstiegen oder durch rutschige Abhänge in einem stark bewaldeten, meist düsteren Graben, der eher durch sagenhafte Gestalten als durch Menschen belebt ist, zum Beispiel durch die Jungfrau aus dem Änziloch, einem beeindruckenden Felskessel in der Gemeinde Romoos. Nach einem der berüchtigten Unwetter über dem Napfgebiet soll die Bauerntochter Sophie in einen ungerechten Zorn verfallen sein und wurde vom Vater ins Änziloch weggewünscht, wo sie fortan als langhaarige Frau mit schwarzen Händen und schwarzem Gesicht schmachtete, bis sie von einem Pilger erlöst wurde. Solche Heilsgeschichten kannten vor allem die katholischen Luzerner, womit auch gleich gesagt ist, dass das gesamte Napfbergland ziemlich genau von Nord nach Süd durch den Grenzverlauf der Kantone Bern und Luzern unterteilt ist, was man vor Ort allerdings nicht bemerkt, es sei denn, man steigt bei Luthern Bad ein, das sich zum meistbesuchten Luzerner Wallfahrtsort entwickelt hat. Dafür wäre allerdings Nicole Himmel kaum zu begeistern gewesen.« Heinrich Müller kannte die Gegend von verschiedenen Wanderungen, die meisten davon hatten ihn ins südliche Napfgebiet geführt, das mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Bern aus wesentlich einfacher zu erreichen war.
Nach einigen Klicks zeigte Phoebe ein Standbild: die Hornbach-Pinte von vorn. Hinter das Haus und auf die Platzgeranlage konnte man nur mit Einschränkungen schauen.
Melinda erschrak. »Da war ich schon einmal. Vor ein paar Jahren. Noch in der Sekundarschule. Im Bach vor dem Restaurant haben wir Gold gewaschen.«
»Gold?«, fragte Gwendolin verzückt. »Hast du etwas nach Hause gebracht?«
»Ja, jede von uns hat ein paar winzige Gold-Flitterchen in einem Röhrchen mitgetragen. Irgendwo muss es noch liegen.«
»Die ganze Gegend rund um den Napf ist Goldwäschergebiet«, erklärte Heinrich. »Früher war das ein Nebeneinkommen für einige Bauern und Tagelöhner. Die Mengen waren zwar gering, und richtige Nuggets fand man nur selten, aber wenn man sonst kaum etwas zu verdienen hatte … Nun aber zurück zu Nicole. Sieht so aus, als ob dies nicht der Tatort war, sondern dass sie auf der Platzgeranlage abgelegt wurde.«
»Vielleicht in der Hoffnung, dass jemand sie noch lebend findet?«, überlegte Gwendolin.
»Zuerst erschießen«, sagte Phoebe, »und sie dann mit einem Auto irgendwohin fahren, damit sie gerettet wird?«
»Und wenn sich der Schuss versehentlich gelöst hat?«
»Hätte man sie ins Spital gefahren«, sagte Heinrich. »Nein, jemand wollte Nicole töten und sie so entsorgen, dass man sie finden, aber nicht auf den Täter aufmerksam würde.«
»Scheint mir nicht ganz logisch«, wandte Melinda ein und blickte mit ihren stahlblauen Augen nachdenklich auf das Schnapsregal. »Wenn jemand Nicole ermorden wollte, hätte man doch erkannt, dass sie noch lebte, und ein zweites Mal geschossen, um ganz sicherzugehen.« Ihre nüchterne Abgeklärtheit überraschte die Anwesenden.
Heinrich aber dachte weiter: »Die Ausgangslage erinnert mich an einen Fall, in dem jemand versucht hat, einen Suizid vorzutäuschen.«
»Wie glaubwürdig wäre das denn?«, fragte Melinda. »Nicole nimmt an einem Kurs irgendwo im Emmental teil und begeht eine Selbsttötung, ausgerechnet auf der Platzgeranlage hinter der Hornbach-Pinte?«
»Und wo ist die Waffe?«, wollte Phoebe wissen. »Steht im Polizeibericht, dass man eine Pistole gefunden hat?«
»Nein«, sagte Müller. »Und der Kriminaltechnische Dienst hätte sie nicht übersehen, denn sie müsste in der Nähe des Körpers liegen.«
»Na also«, triumphierte Phoebe.
»Nicht so schnell«, sagte der Detektiv. »Nehmen wir an, jemand wollte tatsächlich eine Selbsttötung vortäuschen. Er schießt also auf Nicole. Wahrscheinlich nicht am Fundort, sonst hätte sich Nicole bemerkbar machen können. Er sieht nun, dass sie nicht tot ist, kann aber kein zweites Mal schießen, denn bei einem Suizid mit einer derart schweren Erstwunde ist keiner in der Lage, einen zweiten, einen tödlichen Schuss zu setzen. Der Täter muss also darauf hoffen, dass sein Opfer verblutet oder an inneren Verletzungen stirbt. Deshalb lässt er Nicole hinter dem Restaurant liegen, um sie zu verstecken, und nicht, damit sie gefunden wird. Das war dann ein glücklicher Zufall.«
»Bleibt immer noch das Problem der fehlenden Waffe«, sagte Phoebe. »Und dann hätte Nicole wenn auch vielleicht nicht ihr ganzes Gepäck, so doch immerhin Portemonnaie oder Ausweis oder Handy bei sich getragen. Aber nichts davon ist gefunden worden, soweit ich dich verstanden habe, sonst hätte man sie ja sofort identifiziert.«
Heinrich fuhr fort: »Entweder war die Inszenierung unvollständig, der Täter wurde gestört und hat die Waffe wieder mitgenommen.«
»Oder jemand anderes hat sie an sich genommen, warum auch immer«, unterbrach Melinda.
»Und Nicole einfach liegen lassen?«, fragte Phoebe. »So abgebrüht ist wohl keiner.«
»Jetzt müsste man wissen«, meldete sich Gwendolin, »wo das Verbrechen stattgefunden hat.«
Phoebe hatte die Ansicht von Google Maps verkleinert. »Zur Hornbach-Pinte kommt man von drei verschiedenen Seiten: entweder aus dem hinteren Hornbach, von der Fritzenflue oder aus Wasen.«
Heinrich zeigte auf die Hügel: »Oder von einer der Anhöhen. Wir brauchen genauere Karten. Geh auf swisstopo und bestelle sofort die Fünfundzwanzigtausender-Karten von der ganzen Umgebung.«
Phoebe wurde schnell fündig. »Erledigt. Glück gehabt. Es gibt einen Zusammenzug für das Napfgebiet.«
Markus Forrer und Heinrich Müller standen Punkt elf Uhr vor der verschlossenen Tür des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Bern an der Bühlstraße in der Länggasse. Der Kommissar zückte sein Handy, um den Eintrag in der Agenda zu überprüfen.
»Elf Uhr, vorgestern abgemacht.« Er hob die tiefschwarzen Augenbrauen, die vom langen Haupthaar, das über die Stirn gefallen war, beinahe verdeckt wurden. »Dr. Augsburger ist doch die Zuverlässigkeit in Person.«
»Wir haben ja sonst nichts zu tun«, sagte der Detektiv. »Hast du neue Erkenntnisse?«
»Nein.«
Heinrich erzählte seinem Polizeikollegen von der Diskussion in der Detektei.
»Ich will euch von Anfang an mit dabeihaben«, sagte Forrer. »Zehn Augen sehen mehr als zwei, und ihr kennt Nicole wesentlich besser als ich. Was hat sie denn im Emmental gesucht?«
Nun war es an Müller, seinem Nichtwissen Ausdruck zu verleihen. »Letzten Freitag hat sie uns erzählt, sie besuche einen Kurs. Welchen und wie lange, hat sie nicht gesagt. Wir müssen wohl warten, bis wir sie fragen können.«
Sich rasch nähernde Schritte waren zu hören. Schritte von zwei Personen, zum einen von einem Paar Lederschuhe, die bei jedem Auftreten leicht quietschten, wenn das Wasser aus den Regenpfützen hervorquoll, das durch ein Loch in der Sohle gedrungen war; zum andern von einem Paar, das mit spitzen Absätzen über die Fliesen klackerte.
»Tut mir leid, dass wir zu spät sind«, sagte Dr. Augsburger und trocknete mit einem Papiertaschentuch seine Glatze, bevor er ihnen die Hand entgegenstreckte. Laura de Medico klappte den blau gepunkteten Schirm zu und begrüßte die beiden ihrerseits, während der strahlende Blick aus den rehbraunen Augen, der zwischen Erwartung und Erfüllung oszillierte, vor allem auf Markus Forrer fiel.
»Wir kommen gerade aus dem Spital«, erklärte der Rechtsmediziner, als er die Tür aufschloss. Mit dem Betätigen des Lichtschalters ertönte gleichzeitig Musik. Romantische Klanglandschaften mit Orchester- und Klavierbegleitung waberten durch den Seziersaal, dazwischen fiepte eine Mädchenkopfstimme ihre komplexen Geschichten.
»Joanna Newsom«, erklärte Augsburger, »ein elfenhaftes Wesen mit langem Haar, eine Märchenprinzessin«, schwärmte er. Augsburger war bekannt für seinen exzentrischen Musikgeschmack. »Eigentlich Harfenspielerin. New Folk nennt sich das.«
»Meinen Sie, die Toten lassen sich davon erschüttern?«, bemerkte Forrer mit schneidender Stimme.
Augsburger konterte: »Wir haben eher daran gedacht, sie wieder aufzuwecken.«
Dann gingen sie für einmal ins Büro.
»Zur Abwechslung haben wir es erfreulicherweise mit einer Überlebenden zu tun«, setzte Augsburger das Gespräch fort, »und wir hoffen, dass es so bleibt.«
Müller wollte wissen: »Ist Nicole ansprechbar?«
»Nein, sie liegt immer noch im künstlichen Koma«, antwortete Laura. »Wird noch ein paar Tage dauern. Jedenfalls bis die Wundheilung im Körper ohne Komplikationen abgeschlossen ist.«
»Dann können wir sie besuchen?«
»Dann können Sie sie abholen«, schaltete sich Augsburger ein. »Sie liegt kurze Zeit im Aufwachraum, aber zur endgültigen Genesung wird sie wohl entlassen. In der gewohnten Umgebung erholt sie sich schneller, und man kann ein Trauma eher vermeiden. Ich muss Sie schon darauf hinweisen, dass sich Frau Himmel noch immer in einem zwar stabilen, aber kritischen Zustand befindet. Sie hat einen Lungenstreifschuss erlitten. Wenige Millimeter haben zu einem Lungendurchschuss gefehlt, und da sie erst etwa zwei Stunden nach der Verletzung ins Spital gebracht worden ist, hätte das wohl zu einem tödlichen Lungenkollaps geführt. Diese Gefahr ist gebannt, aber sie braucht nun Antibiotika, um eine Sepsis zu verhindern. Deswegen das künstliche Koma.«
Forrer fragte: »Was haben Sie vor Ort gemacht?«
Laura entgegnete: »Den Berichten der Polizei und des KTD ist wenig Aufschlussreiches zu entnehmen. Es gibt auch kein Projektil, das sie am Fundort entdeckt hätten. Deswegen haben wir Nicole untersucht. Es handelt sich um einen glatten Durchschuss, der wie gesagt die Lunge gestreift, aber sonst keinen groben Schaden angerichtet hat. Im Körper sind keine Projektilreste zu finden.«
»Der KTD hätte eine Patrone oder eine Hülse bestimmt gefunden«, sagte der Kommissar. »Sie wussten ja, dass es um eine Schussverletzung geht und hatten wohl ein Metallsuchgerät dabei. Das lässt den Schluss zu, dass Fundort und Tatort nicht identisch sind, es sei denn, der Täter hätte extrem gut aufgeräumt. Also hat man Nicole dort abgelegt. Gibt es denn Erkenntnisse zur benutzten Munition?«
Die Stille im Raum war bedrückend. Die Harfenistin beschallte wohl weiter den Seziersaal und Augsburgers Klienten. Ins Büro aber drang dank der dreifach verglasten Fenster nicht einmal das Zwitschern eines Vogels.