Wursthimmel - Paul Lascaux - E-Book

Wursthimmel E-Book

Paul Lascaux

3,0

Beschreibung

Bern, im Sommer. Der Detektiv Heinrich Müller und seine Partnerin Nicole Himmel werden zu einem Grillfest des Künstlers F. K. Swiss eingeladen. Auf der Party wird ein surreales Kunstobjekt vorgestellt, das als Bratwurstgrill dient. Zur Gaudi des Publikums findet außerdem die Wahl einer Wurstkönigin statt. Als Müller die Siegerin abholen will, findet er sie erstochen in einem Schrebergartenhäuschen. Am nächsten Morgen entdeckt die Polizei eine zweite Leiche: den Vertriebschef einer Großmetzgerei. Es beginnen hektische Ermittlungen, an denen neben der Polizei auch die Detektei Müller & Himmel beteiligt ist. Eine heiße Spur führt die beiden Detektive in die dubiose Singleagentur "Happy Future" ...

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Titel

Paul Lascaux

Wursthimmel

Müllers zweiter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2008 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2008

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Aboutpixel.de/

Berner Würstel © Peter Smola und eines Fotos von Paul Lascaux

Gesetzt aus der 10,8/14,7 Punkt GV Garamond

ISBN 978-3-8392-3050-3

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Zitat

Opa sagte: »Alles lässt sich einrenken, wenn man gesund ist, lange lebt und viel Geld hat.«

Bora Cosic

Donnerstag, 3.Juli 2008, Neumond

Fünf Uhr in der Früh. Ein kurzer, satter, tiefer Schrei erfüllt die Gärten hinter dem Schlafzimmer. Es tönt nicht nach Sterben, aber auch nicht nach Lust. Heinrich Müller erwacht aus einem schweren Traum. Er weiß nicht, schreit ein Mensch oder ein Tier.

Baron Biber stürzt aus dem Tiefschlaf heraus vom Bett, rennt durchs Wohnzimmer in den Garten, um nach dem Rechten zu sehen. Die Katzentür klappert. Also war es doch ein Tier. Müller dreht sich auf die andere Seite. Eine Stunde später kommt Baron Biber unverrichteter Dinge zurück.

Der Tag beginnt mit einer bösen Ahnung.

Müller hatte sich die ganze Nacht von einer Seite auf die andere gewälzt und beinahe Baron Biber erdrückt, der es sich auf der Bettdecke gemütlich gemacht hatte. Waren die getrockneten türkischen Aprikosen schuld? Hatte man sie mit Schwefel konserviert, der ihn nun zu einem Blähbalg machte mit einem Gasausstoß, der den Geruch der Hölle in sich trug?

Oder war es der Hauptgang: eine Dose griechischer Auberginen? Eierfrüchte war der deutsche Name. Müllers nächster Blähwurf eine Salve von Schwefelwasserstoff. Tafelfertig hatte doch auf dem Deckel gestanden. Wenn er die Pampe noch mal erwärmt hätte, wäre Suppe draus geworden. Tipp: Genießen Sie einen Ouzo dazu, stand ebenfalls auf der Büchse. Es hätte heißen sollen: Warnung: Nur mit mehreren starken Schnäpsen zu verdauen. Vielleicht spielte sich der türkisch-griechische Konflikt in seinem Darm als Stellvertreter ab.

Diese Nacht jedenfalls wollte beweisen, dass Henrys Ausflug in den Vegetarismus keine überzeugende Idee war. Er schaltete die Designerlampe aus verstärktem, orangefarbenem Papier an, die als Notbeleuchtung knapp ihren Dienst tat. Da lag doch irgendwo diese Einladung. Bratwurst-Party in Ostermundigen. Ob er Lucy mitnehmen sollte? Vielleicht brauchte er etwas Überzeugungsarbeit. Aber das, was da als Geruch in jede Ecke des Schlafzimmers kroch, konnte sie kaum mit gesund in Zusammenhang bringen. Es fiel schon eher unter das Betäubungsmittelgesetz.

Heinrich Müller, Privatdetektiv im Berner Nordquartier, sank in einen unruhigen Schlaf zurück, nachdem es sich der dunkelbraun getigerte Kater mit weißem Bauch auf der Decke erneut gemütlich gemacht hatte. Henry träumte an der Stelle weiter, an der ihn der Schrei aus dem Schlaf gerissen hatte. Bald aber verirrte er sich in der Landschaft seiner Fantasie, und seine Nachbarin tauchte darin auf, wie sie die nicht prall gefüllten Abfallsäcke mit ihrem eigenen Müll vollstopfte. Wer weiß, was sie alles zum Eigengebrauch entfernte: zerfledderte Pornohefte, verdorbene Apérostangen, schleimigen Schinken? Es stand zu befürchten, sie fülle nicht vollständig ausgenutzte Trommeln in der Waschmaschine mit ihren XXL-Unterhosen.

Da wusste Heinrich Müller, dass es Zeit war aufzustehen. Er drehte sich noch einmal von einer Seite auf die andere, ärgerte sich, dass es selbst mitten im Sommer kühl war in seiner Parterrewohnung, und dachte mit Schrecken an die Auseinandersetzungen, die er jedes Jahr in der Übergangszeit mit den Hausbewohnern führte. Während sein Logis ausgekühlt und feucht war, profitierten die höher gelegenen Appartements von der Wärme gelegentlicher Sonnenstrahlen. Dort wohnten Geizhälse, die ihm das Heizen mit dem Totschlagargument Umweltschutz verwehrten. Dieser Umweltschutz spielte aber plötzlich keine Rolle mehr, wenn die Egoisten täglich ihr Auto benutzten oder einmal im Jahr nach China, Indien oder Südamerika flogen.

All die guten Vorsätze, nicht mehr negativ zu denken, waren nach einer solchen Nacht vergessen. Nun lauteten seine Initialen MG, wie miserabel geschlafen. Und im Badezimmerspiegel erkannte er das Gesicht nicht, das er sein eigenes nannte. Es lag wohl auch daran, dass Heinrich die Brille nicht finden konnte. Dass man mit dem Älterwerden immer schlechter sah, begriff Müller nun als einen Segen der Natur. Man bemerkte zwar: Alles ist noch dran. Aber die kleinen Hautunreinheiten, die Wucherungen am Hals sah man kaum mehr, oder sie kamen einem klein vor, nicht der Rede wert, während die Finger, diese Verräter, noch jede einzelne ertasten konnten.

Am Schlafen hatte den Detektiv letztlich aber auch die Frage gehindert, wie er auf die Einladung zur Künstlerparty vom kommenden Sonntag reagieren sollte. Unvergessen blieb, wie man ihn vor beinahe zwei Jahren dazu benutzt hatte, ein Kunstobjekt zu beschädigen, das bei seinem Auftraggeber versichert war.

Vielleicht würde Nicole Himmel, von der er bereits wieder ein paar Wochen lang nichts gehört hatte, auf ihn aufpassen, wenn sie denn mitkäme.

Aus dem Spiegel starrte ihn ein runzliges Gesicht an, als er den Rasierapparat auf die Haut setzte. Wer am Morgen zerknittert aufwacht, hat am Tag die besten Entfaltungsmöglichkeiten, dachte Müller. Ein Spruch aus den Siebzigern. Den konnte er im Altersheim noch bringen. Und plötzlich hellte sich seine Stimmung auf, und er wusste, er würde die Einladung annehmen, auch wenn er allein hingehen müsste.

So weit kam es nicht. Nicole freute sich über seinen Anruf und sagte sofort zu. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Denn an Heinrichs Wohnungstür stand immer noch Detektei Müller & Himmel. Die goldenen Lettern waren teilweise bereits verblasst, aber sie erinnerten Heinrich bei jedem Betreten seiner bescheidenen Bleibe an den Fall, den er unter dem Titel Salztränen abgeheftet hatte, den verzwickten Fall im Emmental, bei dem er Nicole kennen- und schätzen gelernt hatte. Henry Miller und Lucy, so nannten sie sich damals, und so wollte er wieder geheißen werden.

Seine Agentur lief zwar auch allein ganz gut, die Versicherung belohnte die Lösung des Falles mit regelmäßigen Aufträgen, die ihn problemlos über Wasser hielten. Zwischenzeitlich hatte er sich sogar den Beitritt zum Fachverband Schweizerischer Privatdetektive überlegt, aber letztlich verworfen, weil in den Standesregeln zu lesen war: Die Mitglieder verpflichten sich, nur Aufträge anzunehmen, welche sie aufgrund ihrer Befähigung und innerhalb der gesetzlichen Normen ausführen können bzw. dürfen.

Schon, dass sich der Verband zwischen können und dürfen nicht entscheiden wollte, irritierte Müller, und wenn er an die Salztränen zurückdachte, musste er sich eingestehen, dass der Fall seine Befähigungen deutlich überstiegen hatte. Was die gesetzlichen Normen betraf, so hatte er keineswegs die Absicht, diese zu verletzen. Er wusste hingegen aus der Lektüre unzähliger Kriminalromane, dass es sehr schnell zu solchen Situationen kommen konnte. Und dann vertraute er lieber den nussbraunen Augen von Lucy als einem anonymen Berufsverband. Außerdem stand er nicht auf Vereinsversammlungen mit protokollarischen Geschäften. Denn diejenigen Vereine, die er zu gründen pflegte, verzichteten mangels Mitgliedern sogar auf die obligate Jahresversammlung mit anschließendem Essen von bewährten Regionalgerichten wie Suure Mocke mit Kartoffelstock und Salat. Darauf verzichten musste zum Beispiel die Gesellschaft zur Förderung wachstumshemmender Wurstsorten (vor allem, was das Wachstum von Fettzellen betraf), die Aktionsgruppe Verbot unnützer Elektrogeräte (wie Nasenhaartrimmer) oder der Verein maßloser Schnäppchenjäger.

Lucy war wieder da! Eigentlich war sie nie weg gewesen. Bloß in den letzten beiden Jahren oft verhindert. Zuerst verunmöglichte der Abschluss ihres Studiums die detektivische Arbeit. Ihr Fachgebiet Ethnologie nannte sich nach der Bologna-Reform Sozialanthropologie und unterschied nicht mehr zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften. Da passte denn auch Nicoles Masterarbeit zum Thema Haus- und Nutztiere im bäuerlichen Alltag perfekt. Dank der Erkenntnisse, die sie zum Teil gemeinsam im Kurzgraben gewonnen hatten, erlaubte sie einen derart tiefen Einblick in die Abgründe der bäuerlichen Seele, dass Nicole die beste Beurteilung gewiss war.

Zusätzlich aber hinderte sie ein junger Mann, den sie in der Zwischenzeit kennen – und dummerweise auch lieben – gelernt hatte, an der zu engen Zusammenarbeit mit Henry, der die ganze Angelegenheit mit einem durchaus eifersüchtigen Auge betrachtete. Ein verwöhnter Gymnasiallehrersohn, der Müller schon bei der ersten Begegnung durch seine Altklugheit auf den Wecker gegangen war. Er hätte den Fall im Emmental durch Deduktion am Schreibtisch gelöst. Aber die Polizei war ja bereits beim Denken überfordert. Es dauerte beinahe ein Jahr, bis bei Nicole der Groschen fiel und Lucy wieder durchkam. »Liebe macht blind«, sagte sie dann seufzend und zog den geraden Mittelscheitel wieder zur altgewohnten neckischen Zickzacklinie, schwärzte die Augenlider mit einem Kajalstift, was er nicht gemocht hatte, und trug wieder bauchfreie T-Shirts.

Nicole Himmel hatte nach dem Abschluss des Studiums eine befristete Teilzeitstelle im Alpinen Museum in Bern angetreten, wo sie die Sammlung zur Volkskunde des schweizerischen Alpenraumes neu katalogisierte. Den Grundstock bildete die Schenkung von Eugenie Goldstern. Nicole hatte Heinrich Müller oft von der Frau erzählt, deren Lebenslauf sie faszinierte: 1883 in Odessa geboren, 1905 mit der Familie vor den antijüdischen Pogromen nach Wien geflüchtet, studierte Ethnologie in Wien und Neuchâtel und schloss die Studien im schweizerischen Freiburg mit der Dissertation über die Gemeinde Bessans in Savoyen ab (eine der ersten Dorfmonografien), bevor sie nach Wien zurückkehrte und schließlich 1942 von den Nazis im Ghetto der polnischen Stadt Izbica ermordet wurde. Das interessanteste Stück im Alpinen Museum war der Bessaner Teufel, eine mittels einer Schnur wie eine Marionette bewegte Teufelspuppe mit heraushängender roter Zunge.

Dieser Teufel mochte Lucy geritten haben, als sie Henrys Anruf entgegennahm. Sie bettelte beinahe um einen Auftrag. Man hätte annehmen können, sie würde den nächsten Fall selbst in Szene setzen, damit sie mit Heinrich Müller wieder auf Menschenjagd gehen konnte. Als der Detektiv das Angebot auf die Begleitung an ein Künstlerfest einschränkte, reichte aber auch seine Bemerkung, er wisse nicht, worauf sie sich einlassen würden und was an diesem Abend alles geplant sei. Lucy war jede Abwechslung recht.

Sie machte sich gleich auf den Weg, um die Details zu besprechen, wie sie sagte, steckte die Stöpsel des iPods ins Ohr, drehte Amy Winehouse’ verzweifeltes Rehab auf volle Lautstärke und überquerte zu Fuß die Kirchenfeldbrücke, die das Museumsquartier mit der Altstadt verbindet.

Sonntag, 6. Juli 2008

Was hieß schon pünktlich an einem Prachttag wie diesem. Ein lauer, trockener Südwind, Temperatur bei dreißig Grad, das Wasser der Aare knapp zwanzig, ideale Bedingungen also für einen Sprung in den Fluss, der nach dem Regen der vergangenen Tage eine starke Strömung aufwies. Ein Vergnügen für Nicole, sich treiben zu lassen. Sie stakste beim Zeltplatz Eichholz in die Fluten, machte im Marzilibad eine Pause, bewundert von Tausenden von Leuten, die eben ihren Urlaub begonnen hatten, aß eine kleine Pizza, wärmte sich an der Mittagssonne und stieg dann zurück in den Strom, der die Altstadt von Bern wie eine Schlinge umkreist, als ob es ein entflohenes Pferd einzufangen gälte.

Nicole war eher ein Delfin als ein Pferd. Sie vergnügte sich mit Wellen und Wirbeln, kletterte beim Schwellenmätteli ans Ufer, ging zu Fuß um die Schwelle herum und stieg wieder in die Fluten, schwamm vorbei an der Felsenburg, unter der Untertorbrücke, der ältesten der Stadt, hindurch und weiter den Altenberg entlang am Botanischen Garten vorbei bis zum Lorraine-Bad, wo sie sich noch einen Kaffee gönnte, nahm dann die Kleider aus dem Schwimmsack, der die ganze Zeit auf den Wellen mitgehüpft war, und lief schließlich die steile Rampe hoch in die Lorraine und weiter in den Breitenrain, wo Heinrich bereits ungeduldig wartete.

»Du hättest Werbetexterin für Bern Tourismus werden sollen«, brummte er und freute sich doch, seine Partnerin wieder zu sehen.

Gemeinsam zogen sie weiter durchs Nordquartier, quer durch die Wyler-Hochhaussiedlungen, vorbei am Stade de Suisse (das früher Wankdorf hieß, was man besser nicht auf Englisch ausspricht und wo Deutschland 1954 mit dem denkwürdigen 3:2 gegen Ungarn zum ersten Mal Fußballweltmeister geworden war), über die große Wankdorf-Kreuzung hinüber zum Autobahnanschluss und weiter ins Niemandsland zwischen Bern und Ostermundigen. In einem Schrebergarten, der in Kürze plattgewalzt werden sollte, weil er die städtebauliche Entwicklung behinderte, fand die große Party statt. Nach uns die Sintflut, sozusagen. Eingeklemmt zwischen Israelitischem Friedhof und Autobahnkreuz, zwischen Abgaswolken und Dunst von brutzelndem Schweinefett auf Holzkohle, zwischen Industriebaustelle und psychiatrischer Klinik.

Unterwegs trafen Nicole und Heinrich auf Wohnwagen der Stadtindianer, deren Punk-Musik trotz voll aufgedrehter Lautsprecher nicht gegen das Grundrauschen der nahen Autobahn ankam. Windschiefe Häuschen, Abtrennwände aus Wellplastik oder Bambus, ein Wald voller Bäume auf der linken, einer voller Baukräne auf der rechten Seite, dahinter, wie von einer Wagenburg gegen außen geschützt, der letzte Rettungsversuch einer komprimierten Natur: Salat und Radieschen so viel, wie keiner essen konnte, Plastiktunnels voller Buschbohnen, Regenwassertonnen und der Müll der letzten verzweifelten Monate. Weiter hinten die hochgeschossenen schwarzen Grabsteine, gekrönt von Kieseln, weißgeputzt nur vorne, wo Name und Lebensdaten vermerkt sind.

Henry Miller wusste, es konnte nicht gut gehen. Nicht an diesem Ort. Nicht zusammen mit Nicole, die bereits wieder ihre dunkle Lucy-Seite entdeckte.

Die unscheinbare, eigentlich nur durch ihre Sandsteinbrüche bekannt gewordene Vorortsgemeinde Ostermundigen bildete die Kulisse für das folgende Geschehen. Ein ausgewuchertes Dorf im Speckgürtel der Stadt Bern, mit tiefem Steuersatz und dem Export aller Probleme ins Zentrum der Schweizer Hauptstadt, die – an sich schon ein behäbiges Pflaster – mit den Wünschen und Erwartungen aller Leute rund herum nicht fertig wurde. Es wurde wild gebaut in Ostermundigen. Einfamilienhaussiedlungen, die sich nicht zwischen Vorstadt und Land entscheiden konnten und deren Bewohner sich für kultiviert hielten, weil das Töchterchen neben dem städtischen Gymnasium einen Ballettkurs besucht und die Mutter ein Land-Abo fürs Stadttheater besitzt, während der Vater für die Fußballer der Young Boys und der Sohn für die Eishockeyaner des SC Bern die Fahne schwenkt.

Hier also kam es zum Kampfgrillen, hier stand inmitten der Schrebergartenhäuschen die Zügellos-Bar.

Am ersten Abend dieser Geschichte geschah Folgendes: Man feierte eine Party, an deren genauen Verlauf sich nachher nicht mehr alle erinnern wollten. Jemand vergaß einen runden Geburtstag. Einige Freundschaften wurden aufgebraucht. Ein paar Auto- und Wohnungsschlüssel gingen verloren. Eine Frau verpasste einen Flug in die Ferien. Es gab Abwechslung im langweiligen polizeilichen Alltag. Ein Kind noch unbestimmten Geschlechts wurde gezeugt. Ein ausrangierter Bauwagen fing im Funkenflug Feuer. Die Gäste verspeisten ein halbes Kalb, zwei Schweine und ein Viertel Rind in Wurstform. Kulturelle Fördergelder verpufften im aufkommenden Wind. Alle Sterne wurden gezählt. Ein Mann starb.

Mitten im Gelände thronte auf einem leicht erhöht stehenden Rattankorbsessel, den schon Emmanuelle benutzt haben musste, ein Mann in der Pose eines afrikanischen Leopardenkönigs und dirigierte mit seinem Zauberstab den DJ, der auf einem altertümlichen Plattenspieler Reggae-Songs aus den Siebzigern zum Besten gab: Bob Marley mit I Shot the Sheriff, Culture und ihr Two Sevens Clash, Lloyd Parks mit Officially, Songs im Herzschlagrhythmus, die in Henry gemischte Gefühle und Erinnerungen an junge Jahre weckten.

»Wer ist das denn?«, fragte Lucy fasziniert und erschüttert zugleich, als sie auf den abgegriffenen Zylinder deutete, auf dem F. K. Swiss zu lesen war.

»Mein Spezialfreund, der uns zu diesem Anlass eingeladen hat«, sagte Müller.

»Und was machen all die halbnackten Weiber hier?«

»Lass es uns herausfinden«, meinte Henry. »Swiss ist Objektkünstler.«

»Der Objektkünstler?«, hakte Lucy nach, und ein leises Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

»Du brauchst nicht in meiner offenen Wunde zu wühlen«, meinte der Detektiv.

»Kein Mensch heißt Swiss«, fügte Lucy an.

»Natürlich nicht. Das ist das Pseudonym für Franz Karl Schweizer.«

»Gut. Natürlich will kein Künstler diesen Namen tragen.«

»F. K. steht für Franz Kafka«, ergänzte Heinrich.

»Das ist ein Witz«, meinte Nicole.

»Leider nein.«

»Also gibt es doch einen neuen Fall, du willst mich überraschen.«

»Nein«, sagte Henry. »Aber die Zeichen stehen auf Sturm.«

»Welche Zeichen?«, fragte Nicole.

»Bauchgefühl«, seufzte Henry.

Lucy lachte laut, sodass sie die Aufmerksamkeit nicht nur der Frauen, die alle um die Bar herumstanden, heraufbeschwor, sondern auch die des Künstlers, der die beiden nun bemerkte und sie zu sich heranwinkte. »Seit wann kennen die Männer so etwas?«, fragte sie ein wenig leiser.

»Da musst grad du dich drüber lustig machen«, meinte Heinrich leicht beleidigt, »oder muss ich dich an deine letzte Eroberung erinnern, diesen Gymnasiallehrersohn?«

Trotz des prachtvollen Wetters war die Stimmung plötzlich leicht gereizt. Sie bahnten sich einen Weg durch die Menschen, die immer enger aneinander gedrängt waren, je näher sie der Zügellos-Bar kamen. Es gelang ihnen, im Vorübergehen je einen Drink zu schnappen, von der Farbe her der eine abenteuerlicher als der andere: rot-grün das Getränk in Henrys Händen, blau-violett das von Lucy.

Offenbar hatten die meisten Leute schon einiges zu sich genommen, und zu essen war weit und breit nichts auszumachen, die Grillstände befanden sich am Rande des Geländes erst im Aufbau. Ein Teil der Gäste legte bereits eine Schweigeminute ein für den unbekannten Erfinder von Wienerli in Dosen.

»Seid herzlich willkommen!«, meinte Swiss huldvoll, indem er sich von seinem improvisierten Thron zu Heinrich Müller neigte. »Willst du mir deine bezaubernde Begleiterin nicht vorstellen?«

»Nicole Himmel, genannt Lucy«, sagte Henry. »Pass bloß auf!«

Swiss lachte. »Da besteht keine Gefahr«, sagte er, »hast du sie zum Wettbewerb angemeldet?«

»Welcher Wettbewerb?«, fragte Lucy, und ein gewisses Misstrauen schwang in ihrer Stimme mit.

»Wir wählen heute die Wurstkönigin, nach einem von mir patentierten Verfahren«, sagte Swiss. »Es wird alles aufgezeichnet und später als DVD veröffentlicht. Wie die Suicide Girls«, ergänzte er mit verschwörerischem Blick.

Lucy fand zu sich selber zurück. »Da müssen die Mädels aber noch ein bisschen was bieten. Welche Agentur hat dir denn diese Arschgeweih-Parade geschickt?«

Der Blick des Künstlers verschleierte sich leicht, als er sagte: »Ich kenne den Fotografen, der den Bauernkalender macht. Deswegen die etwas brachiale Eleganz einiger Models. Man möchte sagen, sie haben etwas Pferdehaftes.«

»Was willst du denn? Sie sind geschminkt und enthaart, genügt das nicht?«, fragte Henry, der seinen Spaß an der Sache hatte.

»Körperhaare sind erfunden worden, damit der Markt für Rasierapparate, Epiliergeräte und Enthaarungscreme nicht zusammenbricht«, sagte Lucy.

Swiss wand sich. »Es wird immer schlimmer«, meinte er. »Nach Bart, Beinen, Armen und Achselhöhlen müssen nun auch das weibliche und neuerdings sogar das männliche Geschlecht haarlos sein. So weit ist es mit der Mode gekommen. Sex mit Babys, sag ich bloß.« Aber er sagte es so leise, dass es keiner außer den dreien hörte.

»Wenn alle genug getrunken haben, schreiten wir zur Parade der Models«, sagte Swiss, »solange es noch hell ist. Danach können sich die Mädchen auf die Würste stürzen, und wer Angst vor den Fettpölsterchen hat, wartet einfach die Entscheidung der Jury ab. Ich habe jeder Teilnehmerin ein Schrebergartenhäuschen zur Verfügung gestellt.«

Diese Berner Vorort-Model-Gala würden sich Lucy und Henry nicht entgehen lassen. Vorerst wandten sie ihren Blick der Bar zu. Da standen sie alle, die Mann nicht missen wollte: Miss Bern, Miss Trauen, Miss Mut, Miss Vergnügen, Miss Verständnis, Miss Achtung, Miss Brauch, Miss Erfolg, Miss Geburt, Miss Tritt und wie sie hießen. Nur von Miss Gunst fehlte jetzt schon jede Spur, die würde erst kurz vor dem Auftritt ankommen.

»Ich habe sie alle eingeladen, und sie sind schon lange hier«, seufzte Swiss. »Meine Künstlerfreunde aber lassen wie üblich auf sich warten. Wahrscheinlich kommt wieder keiner vor dem Eindunkeln. Ich brauch sie doch für die Jury.« Plötzlich aber sagte er sichtlich erleichtert: »Das macht ihr beiden Süßen für mich! Ich erklär euch gleich mal die Regeln.«

Eine der jungen Frauen kam bei Swiss vorbei, reichte ihm die Hand und stellte sich vor: »Maria Tsunami Meyer.« Sie roch nach herber Luft und frischem Nadelholz. In ihrem Lächeln hätte man einen Ozean versenken können. Ein römisch-sachliches Profil, fein gepudertes Gesicht, in der Hitze des Nachmittags sinnlich gerötet, die Lippen amarenenkirschrot. Ausfransender blond gefärbter Bubikopf, ein Schwanenhals, eine schwarze Bluse mit silbernen Stickereien, unter dem langen schwarzen Rock Oberschenkel, die sie wohl ein wenig zu fett fand, glatte Sohlen an schweren Schuhen. Langgliedrige, schmale Finger.

Henry streckte ihr eben die Hand zum Gruß entgegen, als sie schon wieder verschwunden war.

»Ich nehme an«, sagte er tonlos.

Lucy seufzte und meinte: »Dann bin ich auch dabei.«

»Also hört genau zu. Alle Frauen haben eine Nummer und zwei Buchstaben bekommen, also zum Beispiel 3BZ. Die Buchstaben sind ein Code. Wir führen den Wettbewerb aus Gründen der Chancengleichheit wie beim Boxen in Gewichtskategorien durch. Kategorie A bis 45 kg, Kategorie B von 45 bis 60 kg, Kategorie C alles, was darüber ist, die so genannte Sumo-Kategorie.«

Lucy kicherte.

»Daneben gibt es die Kategorien X, Y, Z. Die bezeichnen die Größe der Brust, so in etwa entsprechend den Körbchengrößen, soweit man das halt feststellen kann. Und unbesehen davon, ob es ein natürlicher oder ein künstlich vergrößerter Busen ist. Das ergibt verschiedene Vorteile. Wir können aus jeder Kategorie eine Kategoriensiegerin küren, also insgesamt neun. Und dann gibt es selbstredend die Siegerin aller Kategorien. Nun soll es beileibe nicht nur auf äußerliche Reize ankommen. Aber es macht eben einen beträchtlichen Unterschied, ob ein junges Mädchen mit AZ daherkommt oder eine reifere Frau aus der Sumo-Gruppe. Beide haben ihre Reize. Du weißt schon, was ich meine«, sagte Swiss.

Henry lachte.

Nicole dagegen sagte: »Wenn es solche Wettbewerbe doch nur für Männer gäbe …«

Die reifere Dame, die jetzt an ihnen vorüberhuschte, gehörte ganz bestimmt weder zum Model- noch zum Künstlerclan. Das sturmgeplagte Kraushaar strich sie immer wieder mit der linken Hand aus ihrem Gesicht und schlug sich dabei mehrfach die Titanbrille von der Nase. Ihre Gesichtskörperöffnungen ließen tief blicken, der Mund ein unersättlicher Schlund, die Nüstern offen bis zum letzten Nasenhaar.

Swiss hatte Henrys Blick bemerkt und meinte: »Ich sage nur: Pferde.«

Alle drei blickten der Erscheinung nach.

»Lasst es mich erklären«, sagte Swiss. »Ich habe vorgestern einen Anruf gekriegt von einer Agentur namens Happy Future