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Ein Mann stirbt an Silvester 2017 durch einen manipulierten Feuerwerkskörper und führt die Detektei Müller & Himmel zurück in die Vergangenheit. Denn der Verstorbene war nicht nur ein fürsorglicher Vater, sondern einst auch in der Punkszene aktiv. Als Weggefährten von damals in der Detektei von Heinrich Müller auftauchen, wird er mit Punk und Rebellion der 80er-Jahre konfrontiert und bewegt sich plötzlich in einem Bern zwischen Anarchie und Tod.
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Seitenzahl: 248
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Paul Lascaux
Der Tote vom Zibelemärit
Ein Fall für Müller & Himmel
Tödliche Vergangenheit An Silvester 2017 stirbt ein Mann durch einen Feuerwerkskörper. Die Police Bern geht von einem Unfall aus. Die Familie des Toten hingegen will das nicht glauben und engagiert die Detektei Müller & Himmel. Heinrich Müller und sein Team finden schließlich heraus, dass der Böller manipuliert wurde. Als kurz darauf Tagebücher des Toten auftauchen, erscheint dessen Vergangenheit jedoch in einem völlig anderen Licht. Der von der Familie als fürsorglicher Vater beschriebene Mann war vor Jahren in der Punk-Szene besonders aktiv. Bei der Auswertung der Niederschriften stößt Müller auf einen weiteren Unglücksfall: Am Zibelemärit 1979 erstickte ein Mann im Konfettiregen. Den Detektiven wird schnell klar, dass zwischen den beiden Toten eine Verbindung besteht. Nach und nach tauchen Akteure aus der Vergangenheit der beiden auf, die Heinrich Müller zum Teil sehr nahetreten, denn er kennt die eine oder andere Person aus seiner Jugend. Auf den Punk folgt die Rebellion der 80er-Jahre. Und mit ihr der Terrorismus.
Paul Lascaux ist das Pseudonym des Schweizer Autors Paul Ott. Der 1955 geborene studierte Germanist und Kunsthistoriker ist am Bodensee aufgewachsen und lebt in Bern. In den letzten 30 Jahren hat er neben zahllosen journalistischen Arbeiten mehrere literarische Veröffentlichungen realisiert, vor allem Kriminalromane und kriminelle Geschichten. Als Herausgeber von Krimi-Anthologien und Initiator des Schweizer Krimifestivals Mordstage hat er sich einen Namen gemacht. »Der Tote vom Zibelemärit« ist bereits der elfte Krimi um die Detektei Müller & Himmel.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Die sieben Weisen von Bern (2018)
Goldstern (2016)
Nelkenmörder (2015)
Burgunderblut (2014)
Schokoladenhölle (2013)
Mordswein (2011)
Gnadenbrot (2010)
Feuerwasser (2009)
Wursthimmel (2008)
Salztränen (2008)
Als Herausgeber (unter dem Namen Paul Ott):
Berner Blut (2013)
Zürich – Ausfahrt Mord (2011)
Bern und die Hauptstadtregion (2011, mit Fritz von Gunten)
Sterbenslust (2010)
Gefährliche Nachbarn (2009)
Bodensee-Blues (2007)
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© 2019 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2019
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Nathita Panawat / shutterstock.com
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-5966-5
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Puck:
»If we shadows have offended,
Think but this, and all is mended,
That you have but slumb’red here
While these visions did appear.«
(Puck:
»Wenn wir Schatten euch beleidigt,
O so glaubt – und wohl verteidigt
Sind wir dann – : ihr alle schier
Habet nur geschlummert hier
Und geschaut in Nachtgesichten
Eures eignen Hirnes Dichten.«)
Übersetzt von August Wilhelm Schlegel
Heinrich Müller: Privatdetektiv Detektei Müller & Himmel, Expolizist, wohnt in Bern, 63
Nicole Himmel: Anthropologin, Partnerin in der Detektei Müller & Himmel, völlig überraschend 36 Jahre alt
Markus Forrer: Kontaktmann bei der Police Bern, 45, inzwischen zum Kommissar der Einheit »Leib und Leben« befördert
Dr. Augsburger: Rechtsmediziner, ein immer noch junger Mann ohne Eigenschaften, 50
Laura de Medico: Assistentin des Rechtsmediziners, gerade 30 geworden
Dr. Ulrich »Ueli« Schneider: Staatsanwalt, gut 40 Jahre alt
*
Die drei Grazien, immer noch jugendlich ungestüm mit ihren 22/23 Jahren:
Melinda Käsbleich: studiert Design
Phoebe Helbling: studiert Wirtschaftswissenschaften, möchte aber lieber »etwas mit Film« machen
Gwendolin Rauch: besucht Biologievorlesungen
*
Die Familie Wölfli
Roman »Rammler« Wölfli: 63 und doch kein ganzer Wolf, CEO von ImportexCH
Susanne Wölfli: 49, Floristin
Florence Wölfli: 26, Sargschreinerin
Oliver Wölfli: 23, studiert Jus
*
Christine Niemand
*
Die Punks
Marco Repetto: Musiker
Stephan »Ugly« Bohrer: Bauhandwerker im Akkord
Sabine »Rexx« Wettstein: seit jeher im Gastgewerbe
Pius »Pelikan« Kehrli: lebt von der Hand in den Mund
Hanspeter »Rotz« Kräuchi: Musikjournalist
Therese »Eazy Thesi« Wiesmann: möchte sich an nichts erinnern
»Wenn schon die Stadt kein Feuerwerk ausrichtet, dann lasse ich es hier richtig krachen!«
Der alte Mann hatte laut zu sich selbst geredet. Dann lachte er unvermittelt auf. Keiner konnte ihn hören. Der Lärm der zischenden Silvesterraketen übertönte alles.
»Da staunst du, Albrecht von Haller!«
Er hatte sich zum Denkmal umgedreht, das auf der Wiese vor dem Hauptgebäude der Universität Bern stand, auf der Großen Schanze. Dann wandte er dem Universalgelehrten den Rücken zu und blickte über die Dächer der Altstadt, die unter dem himmlischen Feuerwerksglühen beinahe taghell beleuchtet waren. Weit im Hintergrund ahnte man den Zackengrat der Berner Alpen.
Die 150 Raketen mit Zerlegerladung waren bereits in der Nacht verglüht, die sechs Kugelraketen mit Perlschweif-Aufstieg und goldenem Leuchtbukett, umrahmt von einem Ring aus blauen Sternen waren als Nächste dran.
Ein Knallkollege war zu ihm getreten und bewunderte die noch nicht abgefeuerten Kartons.
»Nicht anfassen«, sagte der Mann, als er die Raketen mit Schweif-Aufstieg und Bukett aus lange leuchtenden prächtigen Gold-Sternen an sich nahm und in den Himmel jagte.
»Ist nichts für Kinder.«
Er lachte und zeigte auf das rot leuchtende Zeichen »18+«.
Eine halbe Stunde später stand der andere immer noch da. Sie hatten sich bekannt gemacht. Der Feuerwerker hieß Roman, der Bewunderer Anselm.
»Noch nie gehört. Anselm«, brummte Roman, deutlich der Ältere von den beiden. Anselm hatte beim Einpflocken der Abschussrohre und beim Einsetzen der Knallraketen geholfen. Dann sagte Roman: »Knallbombe Müller 50,das Lauteste, was du ohne Feuerwerkerausbildung oder Profilizenz legal bekommen kannst. 55 Millimeter Durchmesser, 28 Zentimeter lang.«
»Ein echter Brummer«, bewunderte Anselm.
»90 Meter Sicherheitsabstand«, dozierte Roman und scheuchte den anderen weg. Dann zündete er in rascher Folge eine Rakete nach der anderen. Die Luft zitterte ob der geballten Attacke, es wehte ein kühler Wind über den Rasen, die andern Wahnsinnigen, die denselben Standort für ihren Silvesterzauber gewählt hatten, hielten inne, bis das Getöse der Müller 50 einen schweren See von Ruhe hinterlassen hatte.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht heulten die Feuerwerkskörper wieder in die Luft, zerplatzten in Funken- und Sternenregen und sandten bunte Blitze vom alten ins neue Jahr.
Für Mitternacht hatte sich Roman noch etwas ausgedacht: Thunderbird, rasante Effektbatterie, in schneller Abfolge mit bunter Leuchtspur aufsteigend, und roten, grünen, silbernen und violetten Palmbuketts, mit zwei Gold-Finalsalven. 81 Schuss in 60 Sekunden!
Die Batterie steckte in einem einzigen Karton, aber Roman durchschaute den Mechanismus nicht, er erkannte gerade noch die Zündschnur, die er in der zunehmenden Dunkelheit zeitgenau in Brand zu setzen hatte. Die rechte Hand am Feuerzeug, die linke in der Luft gegen eine schwache Lichtquelle gerichtet. Der Sekundenzeiger der funkgesteuerten Uhr im Countdown.
Punkt Mitternacht zündete Roman den Donnervogel. In dieser Nacht brauchten die Palmbuketts keine 60 Sekunden. Es gab auch keine aufsteigende Leuchtspur. Der ganze Thunderbird gab sich kaum zehn Sekunden, um die Welt in Flammen zu setzen. Jedenfalls die kleine Welt des alten Mannes, denn zwischen den 81 Schuss und dem Neujahrshimmel stand Roman wie ein Fels, der der Brandung nicht standhielt, und, als sie zur Ruhe kam, langsam auf den Rasen sank, die Haut verkohlt von der geballten Detonation der Feuerwerkskraft, das Gesicht unkenntlich. Den letzten Sauerstoff aus Romans Lunge verbrauchte ein violettes Palmbukett.
Anselm trat aus dem Hintergrund an seinen neuen Bekannten heran.
»Das Jahr 2018 beginnt gut«, sagte er zu niemand Bestimmtem, denn außer ihm hatten alle das Gelände fluchtartig verlassen.
Anselm verschwand auch.
Eigentlich war alles ganz einfach. Die Detektei Müller & Himmel befand sich im Auf- und Umbruch wie nach jedem gelösten Fall. Neu war einzig, dass Heinrich Müller nicht monetäre Probleme plagten, denn er hatte eine Erbschaft gemacht, die für gepolsterte Kissen und finanzielle Unabhängigkeit sorgte.
Die Witterung im Januar war angenehmer gewesen, als es zu erwarten war, und Heinrich schlief wesentlich ruhiger, als er es gewohnt war.
»Man sollte dich verhaften lassen«, hatte seine Partnerin Nicole Himmel gestern gesagt.
»Warum das denn?«
»Wegen diesen unheimlichen Glücksgefühlen, die du mit dir herumträgst.«
Das Lächeln des Detektivs wurde breiter, als er in die Dusche stieg.
In der Hand hielt er ein Shampoo, das ihm »belebende Frische« für sein normales Haar versprach. Es zeichnete sich offenbar dadurch aus, dass es »0 % Parabene« enthielt. Leider stand nirgends, was dieser Begriff bedeutete. Die Angabe wies darauf hin, dass es besser wäre, die Substanz zu meiden, was angesichts der ausführlichen Zutatenliste aus dem Chemielabor schwer nachzuvollziehen war, da das Wort ja nicht erklärt wurde. Der hauptsächliche Inhaltsstoff war »Aqua«, was ihn dann doch wieder beruhigte.
So ließ der Mann mit dem weißen Haar, das dringend gekürzt werden musste, das Wasser über seinen Schädel rinnen und sann, nun, nicht gerade über sein vergangenes Leben, aber doch über die letzten Monate nach.
Im Herbst hatte Heinrich bemerkt, dass der Bauch seiner geliebten dreifarbigen Katze Mathilda aufgeschwollen war, als ob sie trächtig wäre. Aber das konnte nicht sein. Eine elfjährige, kastrierte Kätzin bekam keine Jungen. Er durchforstete Internetforen, in denen die Möglichkeit einer Wurmerkrankung ins Spiel gebracht wurde. Nicht unwahrscheinlich bei einem Tier, das den ganzen Sommer draußen verbracht und sich zum Schlafen ins Gras gelegt hatte. Die Tierärztin war mit Ultraschall und Blutuntersuchung zugange und fand Wasser im Bauch, das nicht verschwinden wollte.
So konnte Müller bei seiner Mathilda, die ihn kaum mehr aus den Augen ließ und Tag und Nacht in seiner Nähe sein wollte, nur noch die rasche, fast tägliche Verschlechterung des Zustands miterleben, bis sie sich nicht mehr auf den Hinterläufen halten konnte und – nachdem sie lange still gelitten hatte – mit jämmerlichem Maunzen auf sich aufmerksam machte. Die Tierärztin kam nach Hause, erlöste Mathilda auf ihrem Lieblingsplatz, und Heinrich Müller schaufelte ihr im Garten neben Baron Biber ein Grab, das er mit Flusskieseln beschwerte und mit einem kleinen Hinkelstein dekorierte.
Noch lange ging ihm Mathildas rasches Sterben durch den Kopf – vor Kurzem noch eine höchst lebensfrohe Katzendame. Es machte ihn unendlich traurig, aber er hoffte, auch ihm stünde in einem ausweglosen Augenblick jemand mit zwei Spritzen zur Seite. Mit der ersten würde er ins Traumland geschickt, während die zweite ihn von allen Schmerzen befreite.
Das Wasser rann Müller über den Körper, Shampoo und Seife waren längst weggewaschen. Der 63-Jährige blickte auf die schwarzen, großformatigen Fliesen mit Rostdekoration, die er in die Böden der Nasszellen hatte legen lassen, als er letztes Jahr die Wohnung umgebaut hatte. Das Haus, das er immer noch »Zum Schwarzen Kater« nannte, wurde neu genutzt.
Der Kundenzuspruch in der Café-Bar war deutlich zurückgegangen, zu viele trendige In-Bars und Pop-up-Restaurants hatten in letzter Zeit eröffnet, und die Massen trieb es mit dem Strom. Abgesehen von ein paar Feierabendtrinkern, die sich an milden Tagen in der Pergola zusammenfanden, trat kaum jemand ins Innere der Kneipe. So fand die Gaststube eine neue Nutzung als erweitertes Wohnzimmer für die drei oberen Etagen, die doch wenig Raum boten. Ein Ecksofa hatte Einzug gehalten, mit einem ovalen hölzernen Bistrotisch, und die Zahl der Tische und Stühle war deutlich reduziert worden. Dafür hing an der Wand ein neuer Großbildschirm mit einer Diagonale von 204 Zentimetern.
Im ersten Stock lebte nun Heinrich Müller. Er hatte neben dem Bad zwei kleine Zimmer zur Verfügung, eines mit seinem Bett und den Kleiderschränken, das andere mit den Schallplatten und Büchern, ein eigentlicher Nostalgieraum. Den vorderen Bereich hatte er zu seinem eigenen und damit gleichzeitig zum Büro der Detektei Müller & Himmel ausgebaut.
Den zweiten Stock belegte Nicole Himmel. Sie hatte ihre Teilzeitstelle im Alpinen Museum aufgegeben, sammelte jedoch weiterhin anthropologische Dokumente und Fundstücke und hatte fest geplant, darüber früher oder später ein Buch zu schreiben. Nun versah sie die Arbeit an der Bar. Gekocht wurde häufig gemeinsam, sodass man sich oft zu fünft an den größten Tisch setzte.
Denn ja, die drei Grazien, Gwendolin Rauch, Phoebe Helbling und Melinda Käsbleich, hatten ihr Ziel erreicht und waren in die Wohnung im dritten Stock eingezogen, nachdem sich Magdalena im Ager im Wallis ein neues Leben aufgebaut und Platz gemacht hatte für die jungen Frauen, die auf ihren eigenen Lebenspfaden ein paar Schritte vorangekommen waren.
Als Heinrich Müller endlich in die Gaststube trat, saßen die vier Frauen bereits beim zweiten Kaffee, Frühstück konnte man es um zehn Uhr am Morgen kaum noch nennen. Der Detektiv hatte sich aus China ausgewählte Teesorten kommen lassen. So brühte er eine Kanne Milky Oolong auf, der mit seinem zarten Honigduft dem Kaffeegeruch Konkurrenz machte.
Nicole Himmel hatte ihre lockigen braunen Haare an der Luft trocknen lassen, sodass sie ungestüm wild wirkten.
»Ich werde nächstes Jahr 36«, hatte sie ihm im Oktober anvertraut, »völlig überraschend …«
Damals hatte Müller gelächelt, weil er an sein eigenes Alter dachte. Heute bemerkte er am Scheitelansatz die ersten grauen Strähnen in ihren Haaren. Nicole ließ sich durch Heinrichs Anwesenheit nicht von der Zeitungslektüre abhalten.
Die Schlagzeile stand im Bezug zu den Diskussionen im Parlament, bei denen es um die neue Gesetzgebung für Sozialdetektive ging, die im Auftrag der Versicherung Menschen überwachen durften, bei denen ein Sozialversicherungsbetrug vermutet wurde. Müller beelendete diese Entwicklung. Er hatte jahrelang für eine Versicherung gearbeitet, war jedoch jeweils erst zum Zug gekommen, als es galt, ein Verbrechen aufzuklären. Weil er mit diesen Vorverurteilungen nichts zu tun haben wollte, hatte er seinen damaligen Job gekündigt.
Auch die andern drei fuhren mit dem fort, womit sie gerade beschäftigt waren. Da der Detektiv nicht beabsichtigte, sie zu unterhalten, war es ihm recht. Er blickte sie reihum an.
Die fast hüftlangen rötlichblonden Haare von Gwendolin Rauch verdeckten den Blick auf ihren Laptop, den sie für Recherchen nutzte. Seit ein paar Monaten belegte sie Vorlesungen in Biologie an der Universität Bern und beeindruckte alle mit ihrem seriösen Studium.
Phoebe Helbling hatte den Traum von einer Filmkarriere noch nicht aufgegeben. Da die Anfänge nicht gerade vielversprechend gewesen waren, trug sie als Zeichen ihrer Hoffnung selbst in Innenräumen eine Sonnenbrille, was beim Lesen von Unterlagen über Wirtschaftswissenschaften eher hinderlich war. Aber es war ja, wie sie stets betonte, nur eine Übergangslösung.
Melinda Käsbleich hingegen hatte ihre vollen Lippen mit der Zunge befeuchtet und zu einem überraschten O gespitzt. Was diese Haltung veranlasste, konnte Müller nicht erkennen, aber es musste mit der Darstellung auf ihrem iPad zu tun haben, die sie gerade studierte.
»Eine aufregende Designvorlage?«, fragte der Detektiv trocken.
»Nicht ganz«, erwiderte die Angesprochene, »aber auch nicht das, was du vermutest.«
Nachdem die Zeit der Trauer um Mathilda langsam abgeklungen war, hatten die drei Grazien Heinrich Müller immer wieder Links zugeschickt, die ihn auf Seiten führten, auf denen Katzen zur Vermittlung angeboten worden waren. Einmal waren alle vier gemeinsam zum Tierheim gefahren, hatten sich ein paar Jungtiere angesehen, um die sich bereits Kinder mit ihren Familien balgten, und waren ratlos zurückgekehrt.
Als sich Heinrich nach langem Hin und Her dazu entschieden hatte, eine Katze noch einmal genauer anzusehen, kam er zu spät, sie war bereits vergeben.
Mitte Januar rannte Melinda gegen Mittag in Müllers Büro, schubste ihn von seinem Computer weg und machte sich daran zu schaffen. Auf einer Flohmarktseite poppte das Foto einer wunderschönen jungen Schildpattkatze auf, fast schwarzes Fell – denn Heinrich wollte schon immer eine schwarze Katze beherbergen – mit goldorangen Flecken vor allem im Gesicht und auf der Brust.
Lucy hatte schließlich den Weg in den »Schwarzen Kater« gefunden, einen Weg voller Hindernisse, und sie verbrachte die ersten Wochen zur Eingewöhnung in Heinrichs Wohnung. Dort hatte noch niemand die Jungkatze zu Gesicht bekommen, denn vom ersten Moment an war sie unter ein Sofa gekrochen und hatte später ein derart ausgeklügeltes Versteck gefunden, das noch nicht einmal Heinrich entdeckt hatte.
Dass eine Katze bei ihm wohnte, merkte er nur an verschworenen nächtlichen Geräuschen, einzelnen umgestürzten Gegenständen, dem am Morgen leeren Fressnapf und dem benutzten Katzenklo. Gut, die Dame brauchte ihre Eingewöhnungszeit. Die konnte sie haben.
»Hast du Lucy gesehen?«, fragte Gwendolin, ohne von ihrem Laptop aufzublicken.
Nicole hob den Kopf, als sie den Namen hörte. Es irritierte sie immer noch, dass die Katze so genannt wurde. Denn eigentlich war es der Name, den Heinrich ihr gegeben hatte, wenn sie ihre düstere Seite auslebte. Aber das war vor mehr als zehn Jahren gewesen, als sie sich kennengelernt hatten, damals im Emmental, im »Bären« in der Kurzenau, um genau zu sein, als sie ihre Feldforschung als Bedienung bei den Berner Aborigines machte und dem Detektiv aus der Stadt bei der Lösung seines ersten Falles half. Dass er nun die neue Katze nach ihr benannte, begeisterte und betrübte sie gleichermaßen. Es war ein Zeichen, dass die Erinnerung lebendig blieb, aber auch dafür, dass diese ungestüme Zeit der Jugend für immer verloren war. Nun gut, sagte sie sich, der Name taugt auch für ein Tier.
Ein Handy machte sich durch die ersten Takte des »Kriminal-Tango« in der Originalversion von Hazy Osterwald bemerkbar. Es war das Gerät, das ausschließlich die Detektei benutzte und das schon lange nicht mehr in Betrieb gewesen war. Alle starrten gebannt auf die bedächtigen Bewegungen des Detektivs. Er schien so lange zu brauchen, dass es ein Wunder war, dass der Anrufer nicht längst die Geduld verloren und aufgelegt hatte.
»Nimm schon ab!«, verlangte Phoebe, denn Heinrichs Behäbigkeit machte sie nervös.
»Detektei Müller & Himmel«, sagte Müller geschäftsmäßig.
Dann brummte er ein zur Kenntnis nehmendes »Hm« und fügte ein nachfragendes »Sind Sie sicher?« an, bevor er das Gespräch beendete mit »Wir kommen morgen bei Ihnen vorbei.«
»Jetzt sag schon«, drängte Melinda. »Haben wir einen neuen Fall?«
»Wird sich zeigen«, meinte der Detektiv ungerührt. »Ein Mann ist an Silvester bei einem Feuerwerksunfall gestorben. Seine Frau hat angerufen.«
»Stand in der Zeitung«, sagte Nicole und blickte zum ersten Mal von ihrem Blatt auf. »Ein Unfall.«
»Die Familie glaubt nicht an ein Versehen. Aber die Polizei will den Fall zu den Akten legen.«
Es war eine Premiere für die Detektei Müller & Himmel, dass Heinrich und Nicole einen Auftraggeber nicht im Büro empfingen, sondern ihn an seinem Wohnort besuchten. Familie Wölfli hatte um Hilfe gebeten. Sie bewohnte ein Eckhaus zwischen Fichten- und Eschenweg in der hinteren Länggasse, einem Quartier, das außerdem aus einem Buchen-, Tannen- und einem Forstweg bestand. Und da es im Wald nicht nur ruhig zuging, hatte man noch einen Drossel-, Amsel-, Distel-, Schwalben- und Wachtelweg hinzugefügt. Mittendurch führte die Fabrikstrasse. Ein wenig Realismus musste sein.
Die Detektive betrachteten das Haus mit Wohlgefallen. Es war weiß verputzt. Zwischen den Geschossen, unter dem Dach und an der Ecke wechselten sich gelbe und lila Backsteine ab. An der Frontseite des Dachgiebels prangten hölzerne weiße Rosetten, und in einer Aussparung saß ein lesender, geflügelter Putto auf einer Weltkugel. Ein geräumiger Garten war auf der Südseite angelegt, im Winter kahl, aber im Sommer bestimmt ein Paradies – »Falls man von Dauergrillierern nicht geräuchert wird«, warf Nicole ein.
Heinrich wollte eben die Klingel drücken, als die Haustür auch schon aufschwang. Ein junger Mann begrüßte sie, stellte sich als Oliver Wölfli vor und bat sie in die Stube im Erdgeschoss, die sich auf den Garten hin öffnete. Der Dreitagebart war das Auffälligste am sonst adretten Kerl mit der Föhnfrisur, der auch als Model einer Modezeitschrift durchgegangen wäre.
Links und rechts an der Wand des geräumigen Zimmers standen Sofas, über denen je eine Katzenlithografie von Rosina Wachtmeister hing. Ein Clubtisch auf Rollen war in die Ecke geschoben, damit der Weg zur Balkontüre frei blieb. Vor dem Fenster befand sich ein Fernsehsessel, in dem Oliver Wölfli sich breitmachte. Die Detektive wurden links platziert und erblickten den an der Wand aufgehängten Flachbildschirm – neueste Technologie, wie Heinrich anerkennend bemerkte, als sie wieder draußen standen. Im oberen Stockwerk lief eine Reggae-Platte, die Müller gerade nicht zuordnen konnte, aber deren Melodie in seinem Gehirn hängen blieb und ihn noch lange beschäftigte.
Ihm gegenüber saßen zwei Frauen stocksteif, als ob das Sofa sie gefangen hielt.
»Meine Mutter, Susanne Wölfli, sie hat angerufen«, stellte der Sohn sie vor.
Die Frau machte einen entschieden unglücklichen, wenn nicht gar depressiven Eindruck. Sie war wohl um die 50, aber ihr ungepflegter Teint ließ sie heute älter erscheinen, verstärkt durch die verheulten Augen und die leicht strähnigen braunen Haare.
Neben ihr machte eine junge Frau mit langen Stirnfransen und über den Hals fallendem schwarzen Haar fahrige Handbewegungen, was im Kontrast zu den klaren Gesichtszügen und den tief blickenden braunen Augen sowie den schwarz geschminkten Lippen stand. Ein Ebenbild ihrer Mutter, beide mit graziler Figur.
»Florence Wölfli, meine Schwester«, sagte Oliver. »Sie ist letztes Jahr von der Schreinerei, in der sie ihre Ausbildung absolvierte und wo sie anschließend gearbeitet hat, entlassen worden. Sie hat ihren Chef als altes Arschloch bezeichnet – dabei war er noch gar nicht so alt.«
»Ich kann für mich selbst reden«, gab sie unwirsch zurück.
»Sag bloß …«, meinte Oliver.
»Was tun Sie jetzt?«, fragte Nicole.
Wiederum sprach der Bruder für die ältere Schwester: »Meinen Sie, womit sie ihre Zeit verbringt oder womit sie ihr Geld verdient?« Nach einer kurzen Pause sagte er: »Sie ist Sargtischlerin.«
»Das Geschäft läuft schlecht«, brummte Florence.
»Und sie spielt Drehleier in einer Mittelalter-Folk-Rock-Band. Das ist das Business, das wirklich schlecht läuft.«
Heinrich Müller räusperte sich und sagte: »Wir sind nicht für eine Familienaufstellung hergekommen. Am Telefon hatten Sie ein anderes Anliegen.«
»Entschuldigen Sie«, begann Oliver. »Meine Mutter und meine Schwester glauben nicht, dass eine Detektei eine große Hilfe ist. Dennoch konnte ich Mutter überreden, Sie anzurufen und Sie hierherzubitten, denn Ihr Büro hätten die nicht aufgesucht. Aber ohne Einverständnis der ganzen Familie werden wir kaum zusammenfinden.«
Nicole intervenierte: »Wir sind aber keine TV-Detektei, die Fälle akquiriert, indem sie Menschen zum Abschluss eines Vertrags überredet. Im Gegenteil: Sie müssen uns davon überzeugen, dass es ohne unseren Einsatz nicht geht.«
»Ich habe ja gesagt, dass es sinnlos ist«, reklamierte die Mutter mit brüchiger Stimme. »Die Polizei hat uns schon nicht geglaubt, und jetzt sollen wir auch noch Detektive überzeugen. Ein unlösbarer Fall!«
»Ein Fall ist es noch nicht«, erwiderte Nicole. »Aber unlösbar tönt gut. Das ist sozusagen unsere Spezialität.«
»Wie kommen Sie auf uns?«, wollte der Detektiv wissen.
Oliver erklärte: »Ein Beamter hat uns auf der Zentrale der Police Bern auf Sie aufmerksam gemacht. Sie haben vom tödlichen Unfall auf der Großen Schanze an Silvester gehört?«
Müller nickte.
»Wir sind der Ansicht, dass es kein Unfall gewesen ist«, sagte Oliver Wölfli.
»Wir?«, fragte Nicole Himmel.
»Ja, wir drei«, bekräftigte der junge Mann. »Aber ich bin derjenige, der die Sache aufklären will. Ich studiere Jus«, fügte er noch an. »Gerechtigkeit ist ein bedeutungsschwerer Begriff, aber ich möchte Gerechtigkeit. Das sind wir unserem Vater schuldig.«
»Wir kennen das Ereignis nur aus der Zeitung«, sagte der Detektiv. »Können Sie uns aufdatieren?«
Die Mutter hatte sich gefasst und begann: »Roman Wölfli, geboren 1955 in Bern. In mein Leben getreten ist er 1990, er 35, ich 21 und naiv, habe mich von seiner Weltgewandtheit beeindrucken lassen, er hat damals im diplomatischen Dienst gearbeitet, war viel auf Reisen. Zwei Jahre später kam Florence zur Welt. Roman befand sich im Nahen Osten. Dann habe ich ihn zur Hochzeit gedrängt. Kurz bevor Oliver 1995 geboren wurde, hat sich mein Mann selbstständig gemacht und unter Ausnutzung seiner weltweiten Kontakte ein eigenes Unternehmen gegründet, die ImportexCH, wenig überraschend ein Handelsunternehmen für alles, was sich verkaufen ließ, mein Mann der ›Mister 10 %‹. Hat sich gut gelebt. In den letzten Jahren sind die Umsätze allerdings stetig zurückgegangen. Am letzten Silvester hat er sich kurz nach Mitternacht mit einem großen Restposten Feuerwerk in die Luft gesprengt.«
»Mutter!«, unterbrach Florence den Redeschwall. »Er hat sich nicht in die Luft gesprengt. Er konnte mit Feuerwerk umgehen. Es war auch kein Unfall. Jemand muss diese Batterie manipuliert haben.«
»Moment mal«, bremste Nicole. »Ihr Mann hat das Feuerwerk selbst importiert?«
»Ja«, antwortete der Sohn. »Ein lukratives Geschäft. Die lautesten Knallbomben aus Fernost, nach Schweizer Norm deklariert …«
Die Treppen herunter hallte der letzte Reggae-Herzschlag nach. Die Stille war unangenehm.
»Eines verstehe ich noch nicht«, erklärte Müller. »Ihr Mann hat das Feuerwerk auf der Großen Schanze abgebrannt. Wieso nicht in seinem Garten?«
Susanne Wölfli lachte auf. »Haben Sie irgendeine Ahnung, wie viel Krach eine geballte Feuerwerkladung von diesem Kaliber macht? Wir hätten uns im Quartier nicht mehr sehen lassen können …«
»Mama!«
»Ist doch wahr. Ein bisschen Größenwahn war auch dabei. Er wollte die ganze Stadt teilhaben lassen.«
Müller reagierte: »Moment. Verstehe ich das richtig? Roman Wölfli war mit seinen Raketen allein auf der Großen Schanze? Von Ihnen war niemand dabei?«
»Ja, das verstehen Sie richtig«, antwortete Florence und schaute betreten zu Boden.
»Unser Vater hatte ein paar Hobbys, die wir nicht mit ihm teilten«, erklärte Oliver.
»Was erwarten Sie von uns?«, wollte Nicole wissen.
»Die Polizei geht von einem Unfall aus. Bisher ist deswegen kein Verfahren eröffnet worden. Es gibt keine Zeugen. Alle andern Wahnsinnigen hatten sich bereits aus dem Staub gemacht, als die Polizei auftauchte«, erklärte Oliver. »Ein unlösbarer Fall, wie meine Mutter schon sagte. Suchen Sie Beweise dafür, dass der Tod meines Vaters kein Zufall gewesen ist!«
»Irgendwelche Anhaltspunkte von Ihrer Seite her?«, fragte Nicole.
Oliver antwortete: »Vorerst nicht.«
Florence ergänzte: »Wir sichten in den nächsten Tagen den Nachlass unseres Vaters. Wenn wir etwas finden, geben wir Ihnen Bescheid.«
»Mir ist immer noch nicht klar, weshalb Sie an eine Fremdeinwirkung glauben«, sagte der Detektiv. »Gibt es denn jemanden, der vom Tod Ihres Vaters profitieren würde?«
Susanne meinte: »Wohl kaum. Das Erbe geht an die Familie. Geschäftspartner hatte er keine.«
»Und Feinde?«, fragte Nicole. »Bei seinen Geschäften – so habe ich es herausgehört – könnte es das eine oder andere Problem gegeben haben.«
Florence sagte sarkastisch: »Bei seinen Geschäften gab es eigentlich nur Probleme. Deshalb hat er die Deals ja abgewickelt, deshalb waren sie so profitabel.«
»Namen?«
»Kaum«, fuhr sie fort, »und wohl auch die falsche Spur. Denn alle Beteiligten waren um die guten Dienste meines Vaters besorgt. Nun müssen sie neue Netzwerke aufbauen. Und Sie können sich sicher vorstellen, dass diese Leute und Organisationen andere Mittel gefunden hätten als ein unverhofft explodierendes Feuerwerk.«
»Ich weiß nicht, ob das weiterhilft«, unterbrach die Mutter. »Aber Roman hat immer gesagt: ›Wenn mir einmal etwas zustoßen sollte, holt mich die Vergangenheit ein.‹«
»Deutlicher ist er nicht geworden?«
»Leider nein.«
Müller fragte: »Entschuldigen Sie meine direkte Art. Was wir heute erlebt haben, ist das der normale Umgangston in der Familie?«
Der Bruder lehnte sich in den Sessel zurück, und Florence, die immer noch steif am Rand des Sofas saß, erklärte: »Eigentlich nicht. Aber seit Vaters Tod läuft alles aus dem Ruder. Mutter redet kaum noch, und wir beide sind überfordert, schreien uns an, suchen nach einem Schuldigen. Und plötzlich wird es im gemeinsamen Haus ziemlich eng. Nichts ist mehr wie im letzten Jahr.«
»Die Polizei lässt uns im Stich, es wird kein Verfahren eröffnet, alles verläuft im Sand«, ergänzte Oliver. »Stellen Sie sich vor: der Vater von einer Feuerwerksbombe zerrissen, und alles, was passiert: Es verstreicht Zeit!«
Nicole räusperte sich. »Bei allem Verständnis für Ihre Situation: Auch für uns ist es kein offensichtlicher Fall. Wir bräuchten eine Vollmacht von Ihnen, damit wir Einsicht in die Akten der Polizei und der Rechtsmedizin bekommen.«
»Die stellen wir gleich aus«, versprach die Mutter.
»Hilfreich wären auch sämtliche Hinweise von Ihrer Seite. Die offensichtlichen Fragen haben wir bereits geklärt. Aber denken Sie darüber nach, ob und allenfalls wie sich Ihr Vater in letzter Zeit verändert hat, ob er sich überraschend oder langsam und beinahe unmerklich mit Dingen befasst hat, die ihn früher nicht beschäftigt haben.«
Heinrich fuhr fort: »Und suchen Sie alle Dokumente, die uns nützlich sein könnten, besonders auch solche aus der Zeit, als Sie Ihren Mann noch nicht gekannt haben. Heute ist Freitag. Kommen Sie am Samstag in einer Woche in die Detektei.«
Noch lange war Heinrich Müller der Reggae-Ohrwurm vom letzten Freitag durch den Kopf gegangen. Er hätte den Song sofort erkannt, wäre er nicht durch das Gespräch abgelenkt gewesen.
»Two Sevens Clash« von Culture war ein beliebter Rebel Song, auch wenn 1977 nichts passierte und der Refrain mehr Beschwörung als Prophezeiung war. Müller hatte die Schallplatte aus dem Gestell geholt und hörte sie sich unter Abrufen nostalgischer Gefühle wieder einmal an. Dann griff er ins Regal mit den Maxi-Singles zu Lloyd Parks »Officially«, eine Jamaika-Pressung von Joe Gibbs mit Extra-Bassrille – so kam es ihm vor, als der Rhythmus bis in die Gaststube hinunterdröhnte, auch wenn Müller natürlich wusste, dass es auf einer Schallplatte nur eine einzige Rille vom Rand bis in die Mitte gab. Der Text allerdings war so langweilig wie vieles im Reggae, der sich zu oft mit machohaften Plattitüden begnügte. Rhythmus allein genügte eben doch nicht.
Unvermittelt öffnete jemand die Tür zum »Schwarzen Kater«. Es war Markus Forrer, der frischgebackene Kommissar der Einheit »Leib und Leben« der Police Bern. Der Stolz über seine Beförderung stand noch in sein Gesicht geschrieben, und so hakte er ohne weitere Begrüßung nach: »Du beschäftigst dich schon wieder mit dem Tod?« Dann strich er durch seine strähnigen schwarzen Haare. Auch an ihm ging das Alter nicht spurlos vorbei, die Falten, die von der Nase hakenförmig um den Mund herum zum Kinn fielen, wurden mit jedem Jahr tiefer.
»Auch dir einen schönen Tag«, brummte Heinrich und nahm den letzten Schluck Kaffee.
»Cappuccino?«, fragte er und bediente die Maschine am Tresen.
»Was ist so geheimnisvoll, dass du nicht in meinem Büro vorbeikommen wolltest?«, fragte Markus.
»Der Feuerwerksunfall von Silvester«, erklärte Müller.
»Ging nicht über meinen Tisch«, sagte der Kommissar. »Der Kriminaltechnische Dienst KTD hat ihn von Anfang an als Unfall durch Selbstverschulden bezeichnet.«
»Und doch weißt du Bescheid?«, wollte Nicole wissen.
»Nach dem Lesen der Presseberichte musste ich mir wenigstens einen Überblick verschaffen, also habe ich mir die Akte kommen lassen. Aber es gab nichts zu beanstanden.«
»Hast du die Details noch im Kopf?«, fragte Müller.
»Einigermaßen. Ist ja nicht so lange her. Und Tötungsdelikte liegen gerade keine vor. Aber von mir kriegt ihr diesmal keinen Auftrag. Es interessiert sich niemand dafür.«
Nicole mischte sich ein: »Vielleicht ist das das Problem, und ihr macht einen Fehler. Habt ihr das Umfeld des Verstorbenen genauer recherchiert?«
»Nicht dass ich wüsste. Warum?«
»Der Tote, Roman Wölfli«, fuhr Nicole fort, »war früher beim Diplomatischen Dienst und hat ein durchaus fragwürdiges Ein-Mann-Import-Export-Unternehmen betrieben.«
»Eher ein Fall für die Wirtschaftskriminalität«, erwiderte Forrer ungerührt.