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»Diese ergreifende Geschichte bietet keine einfachen Lösungen an, doch ihre implizite, mit Bedacht im Hintergrund gehaltene Moral wird die jugendlichen Leser dieses Buches enorm beeindrucken.« The Guardian Am Bahnhof King's Cross begegnet Joe Candy – und eine Geschichte nimmt ihren Lauf, die völlig unwahrscheinlich ist: die Geschichte von der Liebe eines Arztsohns aus einem gediegenen Londoner Vorort zu einem heroinsüchtigen Mädchen vom Straßenstrich in einem der härtesten Viertel der Stadt. Was nie hätte passieren sollen, geschieht doch: Joe trifft Candy im Zoo, wo sie sich im Dunkel des Nachttierhauses küssen, er schreibt ihr, wie in Trance, einen Song, lädt sie zu einem Konzert seiner Band in einem Club ein. Die Bedrohung durch ihren Zuhälter Iggy, der versichert hat, Joe die Kehle durchschneiden zu wollen, wenn er nicht die Finger von Candy lässt, blendet er aus. Bis es fast zu spät ist. Bis er und Candy vor Iggy durch halb England fliehen müssen. Aber Candy ist durch ihre Sucht an Iggy gebunden, der ihr Stoff beschafft – wie kann Joe sie da retten? Hat er gegen dieses Milieu eine Chance – und will Candy überhaupt gerettet werden? Ausgezeichnet mit dem Stockport Children's Book Award
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Seitenzahl: 470
Kevin Brooks
Candy
Roman
Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
Deutscher Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe 2006
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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eBook ISBN 978-3-423-41049-6 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71189-0
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1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
Epilog
Es ist schwer, mir das Leben vor Candy zurück ins Gedächtnis zu rufen. Manchmal sitze ich stundenlang da, starre in die Vergangenheit und versuche mir vorzustellen, wie es war, aber irgendwie komme ich nie sehr weit damit. Ich schaffe es nicht, mich ohne sie zu sehen. Was ich gerade noch hinkriege, ist die letzte halbe Stunde, bevor wir uns trafen, die letzten paar Minuten meiner Vor-Candy-Existenz, als ich noch einfach ein Junge war… einfach ein Junge in einem Zug, ein Junge mit einer Beule, ein Junge, der eine schwarze Mütze mit Sternen trug.
Ich war unschuldig damals.
Einfach ein Junge.
In einem Zug.
Mit einer Beule.
Und einer Mütze.
Das war die ganze Welt, die ich zu kennen brauchte.
Es war Donnerstag, der 6.Februar, ungefähr fünf Uhr nachmittags, und der Zug Richtung London fast leer. Die Züge, die auf dem entgegengesetzten Gleis vorüberfuhren, waren proppevoll mit grantigen Pendlern, nach einem harten Arbeitstag unterwegs |6|nach Hause, doch in meinem Zug waren die einzigen Reisenden ein paar Schichtarbeiter, ein betrunkener Typ im Anzug und eine Gruppe Disco-Girlies, die sich schon früh zu einer Nacht in der Großstadt aufgemacht hatten. Ich konnte die Mädchen nicht richtig sehen – sie saßen irgendwo hinter mir–, aber ich hörte sie zusammen kichern, lachen und kreischen, damit auch bloß jeder mitbekam, wie viel Spaß sie hatten. Es war schwer, ihnen nicht zuzuhören; erst recht, wenn sie im Vollton zu flüstern anfingen –
Das hättest du sehn sollen, Jen – so GROSS…
Nein!
Ich bin fast gestorben, glaubste…
Hihihihi!
Als die Mädchen einstiegen – einen Bahnhof nach mir–, hatte ich mich tief in meinen Sitz gedrückt und das Gesicht zum Fenster gewandt. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie mich nicht sehen konnten – sie waren ganz hinten im Wagen, ich irgendwo in der Mitte–, doch ich wollte kein Risiko eingehen. Man kennt das ja – sechs von ihnen und du bist allein… sie total aufgebrezelt und sich zur Schau stellend, außerdem hatten sie schon ein paar gezwitschert… du trägst eine nagelneue Mütze, von der du noch nicht so ganz überzeugt bist, deshalb fühlst du dich sowieso schon ein bisschen gehemmt… und du weißt genau, was passieren wird, wenn sie dich sehen… Sie werden irgendwas sagen oder tun – nur so zum Spaß–, du wirst verlegen werden, doch das spornt sie bloß an, noch mehr zu sagen, weshalb du noch verlegener wirst…
Also, wie auch immer, das hatte ich jedenfalls gemacht, als die Mädchen einstiegen: Ich hatte mich tief in meinen Sitz gedrückt und vermieden, dass sie mich sahen, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt und beobachtet, wie die Welt an mir vorüberzog.
|7|Und genau das machte ich auch jetzt noch.
Es gab nicht viel zu sehen in dem grau werdenden Licht– Hochhausblöcke und ärmliche Wohnsiedlungen seitlich des Schienenstrangs, Verpackungsfirmen, Parks, in der Ferne flimmernde Stadtlichter – und nach einer Weile merkte ich, dass ich bloß starrte, ohne etwas zu sehen, und dem Rattern und Summen des Waggons lauschte, dem Rhythmus der Schienen – dacka-dadam, DACKa-da-dam, dacka-da-dam, DACKa-da-dam… und in Gedanken Songs erfand.
Das tat ich damals immer – mir Songs ausdenken, in Gedanken die Melodie zurechtspinnen, mir die Musik zusammenträumen…
Damals hielt mich das am Laufen.
Es bedeutete mir etwas.
Irgendwann wird es mir hoffentlich wieder was bedeuten.
Auch als der Zug sich dem Bahnhof Liverpool Street näherte, starrte ich weiter durchs Fenster und hörte auf die Geräusche des Waggons. Der Ansager erinnerte die Reisenden, beim Aussteigen all ihr Gepäck mitzunehmen, und während die anderen Fahrgäste aufstanden und ihre Taschen packten, lachten die Mädchen über seinen asiatischen Akzent. Wir rollten durch einen alten Backsteintunnel, an dessen Wänden Drähte und Kabel entlangliefen. Es gab kurze dunkle Buchten in der Tunnelwand, kleine verschattete Bögen, die aussahen wie Tunnel im Tunnel. In einigen dieser Buchten konnte ich Statuen erkennen – eigenartige zerbröselnde Figuren, in Backstein gebettet, ihre verwitterten Gesichter umrankt von violettem Unkraut. Als der Zug an ihnen vorbeiratterte, fragte ich mich vergeblich, was sie wohl darstellten – antiken |8|Wandschmuck? Reliquien? Eisenbahngötter? – und was sie dort sollten. Ich meine, wozu setzt man Statuen in einen Tunnel?
Ich dachte noch immer darüber nach, als der Zug abbremste und nur noch kroch, das Dunkel sich hob und wir zischend in dem sterilen Licht des Bahnsteigs anhielten.
Psschhh…
Donk.
Aaaahhh…
Ich ließ die anderen Fahrgäste zuerst aussteigen. Als sich die Mädchen gackernd durch die Tür drängten, über den Bahnsteig davontrabten und ihre hochhackigen Schreie kalt im Bahnhof widerhallten, warf ich einen heimlichen Blick durchs Fenster. Es überraschte mich, wie jung sie waren. Nach ihrer Art zu sprechen hatte ich sie für um die zwanzig gehalten, aber die meisten von ihnen waren eher fünfzehn oder sechzehn, was mich für einen Augenblick verwirrte. Sie waren etwa so alt wie ich… trotzdem kamen sie mir nicht gleichaltrig vor. Ich war mir nicht sicher, wieso und warum. Ich fühlte mich nicht älter als sie, aber ich fühlte mich auch nicht jünger.
Ich fühlte mich einfach anders.
Für einen Moment fragte ich mich, wohin sie wohl gingen und was sie am Ende dieser Nacht wohl erlebt haben würden – Liebe, Sex, Glück, Vergessen, einen betrunkenen Schlag ins Gesicht?
Dann nahm ich meine Tragetasche, richtete meine Mütze zurecht und stieg aus dem Zug.
Die Bahnhofshalle war von riesigen Pendlerhorden bevölkert, die alle zu ihren Zügen eilten, rannten und drängelten. Es waren Tausende, die in einer endlosen Woge dunkler Anzüge, Aktentaschen |9|und gehetzter Gesichter von den Straßen und der U-Bahn-Station hereinströmten wie ein tobender Schwarm. Der Lärm war unglaublich – eine wirbelnde Kakofonie von trappelnden Füßen und zusammengepferchten Stimmen, von Lautsprecherdurchsagen, zischenden Zügen, quietschenden Rädern, vom metallischen Klacken der Anzeigetafeln. All das vermischte sich zu einem gewaltigen unverständlichen Brausen, das aufwirbelte, nach oben schwirrte und zu dem gläsernen Dach emporstieg wie das Geräusch von Millionen Vögeln.
Ich lief, so schnell ich konnte, durch die Bahnhofshalle – wich mal hierhin, mal dorthin aus, kämpfte gegen den Strom an – und schaffte es schließlich hinunter zur U-Bahn-Station. Auch hier wieder Gedrängel, gejagte Gesichter, Kakofonie. Ich ging weiter – durch die Fahrkartenschleuse, den Durchgang entlang, über die Brücke, die Treppe hinunter–, dann war ich, nach einem Spurt in letzter Sekunde und einem atemberaubenden Sprung, nur noch ein zusätzliches Gesicht in einem Zug der Circle Line, der zurück in die Dunkelheit jagte.
Schwer atmend lehnte ich mich gegen die Tür, wischte mir den kalten Schweiß vom Gesicht und schaute zu dem U-Bahn-Plan an der Wand hoch: Liverpool Street, Moorgate, Barbican, Farringdon, King’s Cross.
Vier Stationen.
Nicht mehr weit jetzt.
Nicht mehr weit für den Jungen.
Jedes Mal, wenn ich nach London fahre, ist es mir peinlich, in den Stadtplan gucken zu müssen. Ich weiß, es ist albern. Ich weiß, es gibt überhaupt keinen Grund, warum das peinlich sein soll. Es ist |10|bloß ein Stadtplan, verdammt noch mal. Wenn man nicht weiß, wohin, nimmt man doch einen Stadtplan, oder? Was ist daran verkehrt? Es ist völlig einleuchtend.
Ich weiß das.
Es ist nur… keine Ahnung. Es hat einfach etwas mit Coolsein zu tun, nehme ich an. London ist cool. Die Londoner sind cool. Man will schließlich nicht für einen Dorftrottel gehalten werden, oder?
Ja, ich weiß, das ist erbärmlich. Aber erbärmlich ist nicht so schlimm, oder? Ich meine, es gibt doch Schlimmeres auf der Welt, als erbärmlich zu sein.
Jedenfalls hatte ich meinen Stadtplan, eingewickelt in einer Supermarkttüte, in meiner Jacke versteckt und deshalb wusste ich, als ich aus dem U-Bahnhof King’s Cross hinauf in die kalte Spätnachmittagsluft der City kam, nicht, wo ich war. Ich wusste, wo ich hätte sein sollen, und ich wusste, welchen Weg ich hätte einschlagen sollen, aber ich war nicht da rausgekommen, wo ich wollte, und hatte die Orientierung komplett verloren. Die Adresse, zu der ich hinmusste, lag in der Pentonville Road und ich wusste auch, wo die war, schließlich hatte ich vorher im Stadtplan nachgeschaut. Aber ich wusste nur, wo sie im Verhältnis zur Euston Road lag, die an der Vorderfront des Bahnhofs vorbeiführt, doch ich war nicht an der Bahnhofsfront rausgekommen, sondern irgendwo anders, durch einen Seitenausgang oder so. Und alles, was ich sah, wo immer ich auch hinguckte, war Chaos: Autos, Busse, Taxis, losdonnernde Motorräder, aufblitzende Lichter, Straßenarbeiten, Kräne, Bauplätze, Fußgängerüberwege, Poller, Kreuzungen, noch mehr Pendler, Obdachlose, Verrückte, Hippies mit ausdruckslosem Blick, langen, schmuddeligen Haaren und |11|Schorf im Gesicht…
Davon stand nichts im Stadtplan.
Und ich wollte ihn sowieso nicht aus der Jacke ziehen. Es waren viel zu viele Menschen um mich rum, ich fühlte mich ziemlich uncool – ich stand da wie ein staunender Jockel mit hängendem Unterkiefer und blinzelte den Lichtern und dem Lärm entgegen. Ich hätte nicht deplatzierter wirken können, wenn ich ein schmutziges altes Unterhemd und eine Latzhose angehabt und mir ein Grashalm aus dem Mund geragt hätte… dazu ein kleines weißes Schwein zu meinen Füßen… ein kleines weißes Schweinchen an einem abgegrabbelten Strick als Leine…
Ich schüttelte das Bild aus meinem Kopf, trat zurück und lehnte mich für einen Moment gegen eine Wand, um mich zu orientieren. Um mir Zeit zu nehmen, um den Gummigestank der Busse einzuatmen, die erstickenden Auspuffgase… um mich umzuschauen, nachzudenken, mich noch genauer umzuschauen… schau, schau, schau… denk, denk, denk… bis mir endlich dämmerte, was ich tun musste. Es war so einfach, dass ich mir wie ein Idiot vorkam, nicht gleich draufgekommen zu sein. Um herauszufinden, wo ich mich befand, musste ich nichts anderes tun, als zum Bahnhofsgebäude zu gehen – das ich drohend hinter mir gegen den schwarzen Himmel aufragen sah – und mich dann von dort aus auf den Weg zu machen.
Und genau das tat ich.
Die Straße vor, dann um eine Ecke rum und da stand ich – auf einem weiten gepflasterten Platz mit Telefonhäuschen und ein paar verstreuten Zeitungsständen, direkt vor dem Bahnhof. Direkt an der Euston Road.
Ganz simpel.
|12|Jetzt musste ich nur noch der Euston Road folgen…
Doch… in welche Richtung?
In diese?
Oder in die andere?
Links oder rechts?
Ich schloss die Augen und versuchte mir den Stadtplan vorzustellen. Ich konnte alle Straßen sehen, aber der Plan lag verkehrt rum. Das Blatt stand auf dem Kopf. Der Bahnhof war auf der falschen Seite der Straße. Also gut, sagte ich mir, wenn die Straße im Vergleich zum Plan verkehrt rum ist, musst du einfach in die andere Richtung gehen. Wenn du auf dieser Seite der Straße bist, was auf der Karte die andere Seite ist, musst du eben anstatt nach rechts nach links gehen.
Ich machte mich also nach links auf den Weg, doch dann blieb ich wieder stehen und erinnerte mich an etwas – die Karte musste auf dem Kopf stehen. Als ich im Stadtplan nachgeguckt hatte, ehe ich von zu Hause losging, hatte ich ihn umgedreht, deshalb lag das Blatt doch richtig rum. Die Karte in meinem Kopf war völlig korrekt. Der Weg, den ich suchte, lag nicht links, sondern rechts.
Also drehte ich mich um, stieß gegen eine verrückte Alte, die einen Einkaufswagen voller Lumpen vor sich herschob – jageddabaddagedaahh –, und ging daraufhin in die Richtung davon, aus der ich gekommen war.
Aber ich war noch keine zehn Schritte gegangen, als ich wieder stehen blieb. Hatte ich die Karte wirklich umgedreht? Vielleicht doch nicht. Vielleicht hatte ich ja am Anfang Recht gehabt?
Ich drehte mich halb um, dachte noch einmal drüber nach, wandte mich zurück und war drauf und dran, zum letzten Mal aufzubrechen, als hinter mir eine Stimme rief.
|13|»Kannst du dich nicht entscheiden?«
Es war eine Mädchenstimme – hell und klar wie ein leuchtender Edelstein in der Gosse. Sie klang nicht besonders laut – das Mädchen brüllte nicht, schrie nicht–, trotzdem schaffte es ihr Klang durch das Chaos und traf mein Gehirn wie mit der diamantscharfen Spitze eines Messers. Ich drehte mich um, nahm das Meer der schwammigen Gesichter auf und da stand sie – im Eingang von Boots gegen die Wand gelehnt – und lächelte mich an. Es war so ein Lächeln, das einem ein Loch ins Herz reißt – Lippen, Zähne, funkelnde Augen…
Gott, konnte sie lächeln.
Ich tat gar nichts. Ich konnte nichts tun. Das Einzige, was ich konnte, war dastehen und sie anschauen. Alles anschauen. Ihr Gesicht, ihre Lippen, ihre Wangen, ihre dunklen Mandelaugen. Ihren Hals, ihre Beine, die Form ihres Körpers. Ihre blasse, helle Haut. Den Glanz ihres kastanienbraunen Haars, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte…
Gott… ihre Haut.
Sie trug einen kurzen, engen Rock und ein weites, bauchfreies Oberteil, unter dem ein Stück blanke Haut aufblitzte, das mich versteinern ließ. Dann war da noch ihr Lippenstift, der Lidschatten, die Armbänder am Handgelenk, die Lederbänder am Oberarm, das Silberkreuz um ihren Hals, die schwarzen Lederstiefel…
Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Was hätte ich tun sollen?
Ich versuchte zu lächeln, aber mein Mund war knochentrocken, meine Lippen klebten in den Winkeln zusammen. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein Geisteskranker. Ich wischte mir über den Mund, sah sie wieder an und versuchte mir etwas zurechtzulegen, |14|was ich sagen könnte, doch mein Kopf war leer. Sie reckte ihren Kopf, warf den Blick zur einen Seite, dann lächelte sie und sah mich wieder an.
»Geile Mütze«, sagte sie.
Ohne drüber nachzudenken, hob ich meine Hand zum Kopf und berührte die Mütze. Sie war neu – eine schwarze Beanie mit einem Streifen goldener Sterne rings um den Rand. Ich mochte sie wirklich. Mit Mützen ist es nur so – manchmal können sie falsche Signale setzen. Die Leute glauben, du versuchst, etwas Besonderes zu sein – eine Mütze zu tragen, anzugeben, etwas darzustellen, was du nicht bist. Ich weiß nicht… vielleicht liegt es auch nur an mir, vielleicht bin ich ja paranoid oder so was. Ich meine, ich weiß, es bedeutet nichts – es ist nur eine Mütze, verdammt noch mal. Und davon abgesehen, wen kümmert es, was andere Leute denken?
Mich nicht, offensichtlich.
Egal, ich hob meine Hand jedenfalls nicht deshalb zum Kopf, weil ich das Mädchen für gemein hielt, sondern ich tat es aus reiner Gewohnheit. Ich wusste, sie war nicht gemein. Es sollte einfach ein Kompliment sein, das war alles.
Ihr gefiel meine Mütze wirklich.
Das wusste ich.
Und was antwortete ich?
»Oh… ja.«
Das antwortete ich.
Oh… ja.
Toll, was?
Total beeindruckend.
Cool wie Hölle.
|15|Und jetzt ging das Mädchen. Sie hatte eine kleine Tragetasche in der Hand zusammengefaltet, die Handtasche zurechtgerückt, sich von der Wand abgestoßen und jetzt ging sie – einfach so. Sie ging. Ein Schwung mit den Hüften, ein kurzes Lächeln über die Schulter… dann drehte sie den Kopf herum und verschmolz wieder mit dem Chaos.
Nein, dachte ich.
Bleib stehen…
Nein…
Aber es war zu spät.
Sie war weg.
Scheiße.
Ich stand eine Weile da, starrte ihr hinterher und spielte im Kopf die Szene noch mal durch. Es ist wirklich passiert, sagte ich mir. Du hast es dir nicht eingebildet. Es ist wirklich passiert. Sie war da… und jetzt ist sie weg. Sie war da…
Und jetzt ist sie weg.
Also vergiss es.
Es war nichts – okay? Sie hat wahrscheinlich eh nicht mit dir gesprochen. Vermutlich hat sie mit einem Freund geredet, mit jemandem, der hinter dir stand… ja, so war es wahrscheinlich.
Kein Wunder, dass sie weg ist.
Denk doch mal nach.
Sie hält einen Plausch mit jemand, sie sieht diesen Knaben mit der bescheuerten Mütze und einer XXXL-Kapuze… sie sieht ihn dastehen, glotzend mit offenem Mund, heraushängender Zunge und sabbernd wie ein Vollidiot…
Was, glaubst du, wird sie tun?
|16|Ihn zum Tanzen auffordern?
Ich schüttelte den Kopf, machte mich auf und versuchte, nicht drüber nachzudenken, nicht über sie nachzudenken – über die Art, wie sie dagestanden und mich angesehen hatte, die Art, wie sie ihren Kopf gereckt und gelächelt hatte, die Art, wie sich ihre Haut um die Hüften herum leicht gewölbt hatte, wie das sanfte Wallen eines blassen, hellen Meers…
Himmel noch mal, Joe…
Denk nicht mal dran.
Ich war inzwischen von einer Horde Fußgänger verschluckt worden und mit dem Strom weitergetrieben. Ich wusste nicht recht, wohin ich ging. Ich wollte mich umdrehen, um aus der Menge herauszukommen, aber es waren zu viele Menschen, die sich in dieselbe Richtung bewegten, jemand fluchte, dass ich im Weg stünde, dann stieß mir ein anderer in den Rücken, deshalb beschloss ich, dass die Massen möglicherweise ohnehin in meine Richtung gingen, also konnte ich genauso gut mit dem Strom schwimmen.
Wir überquerten eine verkehrsreiche Straße, warteten auf einer Fußgängerinsel, dann überquerten wir die Straße weiter bis zur anderen Seite. Als sich die Menge aufzuspalten begann und in verschiedene Richtungen fortging, trat ich zur Seite, gelangte hinter einen Briefkasten und schaute mich wieder um, wohin mich die Strömung getragen hatte. Ich sah eine Kreuzung, eine weitere Fußgängerinsel, noch eine Kreuzung, ein paar Burger-Restaurants, eine Bank, mehrere Cafés, eine Wechselstube, jede Menge schmuddelige kleine Läden – und da, ausgestreckt vor mir, lag die Pentonville Road. Genau das, was ich wollte. Alles, was ich jetzt |17|noch tun musste, war, die Kreuzung zu überqueren und danach ungefähr achthundert Meter weiterzugehen, dann wäre ich da. Zehn Minuten höchstens. Mein Termin war erst um halb sieben. Jetzt war es Viertel vor sechs. Ich hatte noch etwas Zeit. Und ich hatte seit mittags nichts gegessen.
Auf der anderen Straßenseite war ein McDonald’s.
Ich könnte schnell reinspringen, mir was zu essen holen, mich ein paar Minuten hinsetzen…
Am Fenster sitzen.
Die Straßen beobachten.
Den Bahnhof beobachten.
Ja, das könnte ich tun… ich meine, es sähe doch nicht so aus, als ob ich nach jemand Bestimmtem Ausschau hielte, oder? Es bedeutete doch nicht dazusitzen, die Hände zu ringen und gierig die Straßen abzusuchen wie irgendein trotteliger kleiner Junge mit Hormonstörungen…?
Nein, ich säße nur da, äße einen Hamburger und blickte cool aus dem Fenster, einfach damit die Zeit rumging…
Daran war nichts verkehrt.
Drinnen war ziemlich viel Betrieb. Die meisten Tische waren besetzt und es gab Schlangen von Kunden, die vor der Theke herumschlurften – Haufen von Kindern, ältere Paare, ein paar schwarze Typen mit hartem Blick in Kapuzen und Ketten. Ich stellte mich an das Ende der Schlange und begann, die Menütafeln zu überfliegen. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir Gedanken machte. Ich verstehe sie sowieso nie – große Portionen, Extra-Portionen, extra große Portionen, zwei von irgendwas für 99Pence, Normalportion hiervon und Normalportion davon… |18|das ist irgendwie alles zu kompliziert für mich. Ich hole mir sowieso immer das Gleiche – einen Cheeseburger und dazu einen schwarzen Kaffee.
Die Schlange schob sich ein Stück nach vorn.
Die Frau vor mir schwankte, ob sie sich lieber bei der Schlange links von uns anstellen sollte. Ich sah, wie sie hin und her überlegte und versuchte herauszufinden, welche Schlange am schnellsten vorwärts kam. Sie zögerte, änderte ihre Meinung, dann entschied sie sich, doch zu wechseln. Als sie zur Seite trat, rückte ich auf, doch plötzlich änderte sie von neuem ihre Meinung und quetschte sich wieder vor mir rein.
Ich trat zurück, um ihr ein bisschen Platz zu machen, dann fing ich an, in meiner Tasche nach Geld zu kramen. Dad hatte mir am Morgen zwanzig Pfund gegeben und das meiste davon besaß ich noch.
»Sieh zu, dass du etwas zu essen bekommst«, hatte er mir gesagt. »Und nimm dir vom Bahnhof aus ein Taxi, wenn es spät wird.«
Er hatte mich mit diesem Blick angesehen, der sagt: Ich werde dich nicht belehren, welche Art von Essen man zu sich nimmt und wofür man sein Geld ausgibt, denn inzwischen bist du alt genug, um für dich selbst Verantwortung zu übernehmen… und ich würde gern darauf zählen, dass ich dir vertrauen kann… aber denk dran – okay?
Einen Moment blitzte sein Gesicht vor meinem inneren Auge auf – lang, grau und ernst – und ich fragte mich, was ich mich schon oft zuvor gefragt hatte, warum er mir immer so distanziert vorkam… so kühl, so unnahbar. Manchmal hatte ich das Gefühl, als ob er überhaupt nicht mein Vater sei, sondern bloß ein großer |19|grauer Mann, der Doktor Beck hieß, im selben Haus wie ich wohnte und mir sagte, was ich zu tun hätte.
Ich zog einen Fünf-Pfund-Schein aus der Tasche. Er war zu einem festen kleinen Rechteck zusammengefaltet, doch als ich ihn hervorzog, verfing sich eine Kante im Taschensaum und eine Hand voll Münzen kam herausgeflogen. Ich versuchte sie mit der anderen Hand aufzuschnappen, aber sie klackerten schon zu Boden – tink-tink-tink – und rollten wie verrückt durch den ganzen Laden. Natürlich schauten sich alle um – schauten auf den Fußboden und beobachteten die Münzen, beobachteten, wie sie davonrollten. Gott, rollten die weit. Ein paar Leute traten drauf oder bückten sich, um sie aufzuheben, aber die meisten hätten echt Mühe gehabt, noch gleichgültiger zu reagieren, als sie es taten. Nach einem kurzen Blick, um diesen dämlichen Typen ausfindig zu machen, der mit Geld um sich warf, schüttelten sie nur den Kopf und kümmerten sich wieder um ihren eigenen Kram.
Ich aber spürte, wie ich rot wurde.
Ich wusste, es wurde erwartet, dass ich etwas unternahm, doch ich wollte nichts unternehmen. Ich wollte nicht auf Händen und Knien rumrutschen und nach Zehn-Pence-Stücken suchen. Ich wollte nicht, dass mich Leute anschauten. Aber andererseits, wenn ich die Münzen nicht aufhob, wenn ich einfach stehen blieb und sie auf dem Fußboden ließ, würde jeder denken, ich wäre ein verzogenes kleines Früchtchen, irgend so ein arroganter reicher Bengel mit zu viel Geld. Ich konnte mir vorstellen, wie sie dachten: Schau ihn dir an, was glaubt er, wer er ist, dass er so rumsteht und sein Geld fortwirft…
Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Ich wünschte mir, ich wäre nie hergekommen.
|20|Schließlich entschied ich mich für einen Kompromiss. Ich würde die Geldstücke aufheben, die ich sehen konnte, mich dann kurz umblicken, als ob ich nach dem Rest Ausschau hielte, danach die Schultern zucken und lässig zurück in die Schlange spazieren. Vielleicht könnte ich sogar versuchen, ein bisschen zu lächeln… so ein Lächeln voll Selbstironie, das besagt: Tsss, ich weiß auch nicht, das war wirklich ein bisschen blöd. Was bin ich nur für ein Trottel…
Ich fing gerade an, den Ausdruck zu üben, als eine junge Frau auf mich zutrat und mir eine Pfundmünze hinhielt.
»Danke«, sagte ich.
Sie lächelte und deutete quer durch den Raum. »Da drüben liegt noch eine – sie ist unter den Tisch gerollt.«
»Stimmt«, sagte ich und blickte ängstlich zu den schwarzen Typen hinüber, die an dem Tisch saßen – rasierte Köpfe, hohle Augen, Skullcaps. Einer von ihnen drehte den Kopf und warf mir einen Blick zu, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Oh… ja, danke«, sagte ich zu der Frau. »Ich hol sie mir vielleicht später.«
Sie zuckte die Schultern und trat zurück in die Schlange. Ich schaute auf den Fußboden. Ich spürte, wie mich die schwarzen Typen musterten, ich spürte, wie mein Gesicht immer heißer wurde, ich spürte den Schweiß unter meiner Mütze heraussickern – und dann tippte mir jemand auf die Schulter und sagte: »Soll ich sie dir holen?«
Ich war zu nervös, um ihre Stimme sofort wiederzuerkennen. Es war nur eine weitere Stimme, nur noch so ein guter Samariter, der sich unbedingt einmischen musste und alles noch schlimmer machte. Ich seufzte innerlich und drehte mich um in der Absicht, danke-danke-aber-nein-danke zu sagen, doch als ich sah, wer es |21|war, verschwanden die Worte aus meinem Kopf.
Alles verschwand.
Natürlich war es das Mädchen. Das Mädchen vom Bahnhof. Das Mädchen mit diesem Lächeln, dieser Haut und diesen Augen…
»Sie sind nicht so schlimm, wie sie aussehen«, sagte sie.
Ich versuchte zu sagen: Wer?, aber mein Mund war wie betäubt. Das Einzige, was ich schaffte, war, meine Lippen zu schürzen und dämlich zu gucken.
Das Mädchen lächelte. »Die Typen an dem Tisch… sie sind nicht so unheimlich, wie sie aussehen. Sie haben bestimmt nichts dagegen, wenn du dir dein Geldstück zurückholst.«
»Oh«, sagte ich.
Sie sah mich an.
Ich spürte, wie ich in ihren Augen versank.
Ihr Kopf wackelte von einem kleinen Lachen, dann wandte sie sich ab und ging hinüber zu dem Tisch, wo die schwarzen Typen saßen. Sie schauten auf, als sie näher kam, und sie hob die Hand und sagte etwas zu einem von ihnen. Er zuckte die Schultern und zeigte seine Handflächen, dann lächelte er und erwiderte etwas. Sie lachte, berührte seinen Arm, dann bückte sie sich und hob die Pfundmünze unter dem Tisch auf. Als sie sich hinabbeugte, rutschte ihr Rock hoch und die Typen am Tisch reckten sich vornüber, um besser sehen zu können. Einer von ihnen schloss die Augen und schüttelte den Kopf, als sei das mehr, als er ertragen könnte.
Das Mädchen richtete sich wieder auf, nickte den schwarzen Typen zu, dann drehte sie sich um und kam zu mir zurück.
»Da ist sie«, meinte sie und reichte mir die Münze.
|22|»Danke«, sagte ich zu ihr. »Das wär doch nicht…«
»Kein Problem.«
»Ich war gerade… ich wollte auch…«
Sie berührte meinen Arm und sah hinter mich. »Du bist dran.«
»Was?«
Sie nickte zur Theke. »Du bist dran. Die warten schon.«
Ich schaute mich um. Ich stand an der Theke. Irgendwie hatte ich es geschafft, an die Spitze der Schlange zu kommen. Ein schlaksiger Knabe mit dünnen Fransen stand hinter der Kasse und sah mich erwartungsvoll an.
»Was möchtest du?«, sagte er.
»Mhm… Entschuldigung. Ich hätte gern, äh… ich hätte gern… ähm…« Ich schaute wieder auf die Menütafel, sah nichts, sondern schaute nur um des Schauens willen, denn ich wusste nicht, wo ich sonst hingucken sollte, und ich brauchte Zeit zum Überlegen, Zeit, den Mut zu finden, um zu sagen, was ich sagen wollte. Ich muss mindestens hundert Jahre dort gestanden und wie blind zu der Menükarte hinaufgeguckt haben, auf das unsinnige Durcheinander von Bildern und Wörtern, und mein Herz tickte wie eine rasende Uhr, pumpte Blut und Sauerstoff in meine Muskeln, meine Zellen, meine Nerven… und verstärkte meine Sinne. Es war echt ein seltsames Gefühl. Mein Verstand tobte, aber ich konnte nicht denken. Ich sah alles, jeden Punkt und jede Bewegung, aber nichts davon ergab einen Sinn. Das Schweigen in meinem Innern war ohrenbetäubend.
Schließlich holte ich tief Luft, schluckte schwer, entleerte meinen Kopf und drehte mich zu dem Mädchen um.
»Magst du was essen?«, fragte ich sie.
Sie lächelte. »Ich dachte schon, du fragst gar nicht mehr.«
|23|Wir fanden einen Tisch am Fenster, räumten den ganzen Müll weg und setzten uns hin. Ich hatte das Übliche genommen und das Mädchen hatte einen Schoko-Donut mit einer extra großen Cola und tonnenweise Eis gewählt. Jetzt beobachtete ich sie, wie sie das Getränk auf den Tisch stellte und ihren Mund zu dem Strohhalm hinabsenkte.
»Bist du sicher, dass du nicht noch was anderes willst?«, fragte ich.
Sie nickte, sog kräftig an dem Strohhalm und trank mit der atemlosen Konzentration eines Kindes. Ich packte meinen Burger aus und fing an zu essen. Ich hatte gar nicht mehr so richtigen Hunger, doch ich war froh, etwas mit meinen Händen anfangen zu können. Nervöse Hände lassen sich schwer kaschieren, wenn sie untätig sind. Ich kaute und schluckte, wischte etwas Soße von den Lippen und schaute auf die Uhr…
»Triffst du dich mit jemand?«, fragte mich das Mädchen.
»Nicht wirklich«, antwortete ich.
»Wie bitte?«
Ich hustete, würgte an einem Stück Salat und bemerkte die Blödheit meiner Antwort. Nicht wirklich, hatte ich gesagt, nicht wirklich … Wie kann man nicht wirklich jemanden treffen?
Gott…
»Alles in Ordnung?«, sagte das Mädchen.
»Ja… ich hab einen« – ich hustete – »entschuldige. Ich hab einen Arzttermin.«
»Du hast was?«
»Du hast mich gefragt, ob ich mich mit jemandem treffe…«
»Ja und?«
|24|»Ich hab einen Arzttermin.«
»Ach so, wegen deinem Husten?«
»Nein… das war nur… ich hab einfach gehustet.«
»Gut«, sagte sie und lächelte in sich hinein. »Damit wär das geklärt.«
»Ja…«
Sie kehrte für eine Weile zu ihrer Cola zurück, ich tippte mit dem Finger ein paar Krümel von meinem Hamburger auf und machte mit meiner Serviette rum, faltete sie zusammen, zerknüllte sie und wischte mit ihr meine Finger ab, während ich die ganze Zeit den süßen kleinen Schlürfgeräuschen von der anderen Seite des Tisches lauschte. Dann schauten wir beide auf und fingen zur selben Zeit an zu reden.
»Wohin musst –?«
»Normalerweise bin ich nicht–«
»Entschuldigung«, sagte ich. »Nach dir.«
Sie lächelte. »Ich wollte gerade fragen, in welche Richtung du musst. Wusste gar nicht, dass es in dieser Gegend hier Ärzte gibt.«
»Pentonville Road«, erklärte ich ihr. »Ist eine Privatadresse…«
Sie zog die Augenbrauen hoch, als wollte sie sagen: Aha, privat, na klar. Aber sie sagte nichts, sondern nickte nur stumm und biss in ihren Donut.
»Mein Dad ist Arzt«, erklärte ich. »Er kennt wieder andere Ärzte, verstehst du, Freunde von ihm…«
»Klar«, sagte sie mit vollem Donut-Mund.
»Ist manchmal ganz praktisch…«
»Muss wohl. Was hast du denn?«
Ich zog meinen Ärmel hoch und zeigte ihr die Beule an meinem |25|Handgelenk.
»Huch!«, sagte sie. »Was ist das denn?«
»Nichts Ernsthaftes… nur eine Beule. Nennt sich Ganglion.«
Sie lachte und spuckte dabei kleine Stückchen Schokolade aus. »Gangli-was?«
»Ganglion – ist so was wie… wie ein Muskeldings…« Ich versuchte mich zu erinnern, was Dad mir über die Beule erzählt hatte. Er hatte mir alles erklärt, kleine Zeichnungen dazu gemacht und so, aber ich hatte nicht richtig zugehört. »Hat was mit der Flüssigkeit in den Muskeln zu tun«, erzählte ich dem Mädchen. »Die läuft sozusagen aus und bildet diese Beule.«
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum läuft sie aus?«
»Keine Ahnung.«
Inzwischen hatte sie ihren Donut aufgegessen, fischte Eiswürfel aus ihrer Cola, steckte sie in den Mund und lutschte sie.
»Kann das dein Vater nicht in Ordnung bringen?«, fragte sie. »Du hast doch gesagt, er ist Arzt…«
»Er ist nicht so ein Arzt.«
»Was für einer ist er denn?«
Ich wurde rot wie immer, wenn diese Frage aufkommt. »Er ist… äh… er ist Gynäkologe.«
Sie lachte nicht, grinste nicht und machte auch keine Witze. Sie zerkaute nur einen Eiswürfel und sah mich an. »Gynäkologe?«
»Ja… dieser andere Arzt, der, zu dem ich gleich hinmuss, der ist Spezialist.«
»Beulenspezialist?«
»Genau«, sagte ich lächelnd.
|26|Ihr Gesicht veränderte sich, als ich lächelte. Ich hätte das nicht für möglich gehalten, aber es war beinahe so, als ob sich eine Hautschicht gelöst und ein anderes, noch schöneres Gesicht unter der Maske freigelegt hätte. »Das ist das erste Mal, dass ich dich lächeln sehe«, sagte sie und schaute mir in die Augen. »Du solltest öfter lachen. Steht dir echt gut.«
Mein Kopf zog sich unter dem Druck des Kompliments zusammen und ich musste nach unten auf die Tischplatte gucken. Meine Haut glühte so sehr, dass ich sie zischen hören konnte.
»Tut mir Leid«, sagte sie leise. »Ich wollte dich nicht verlegen machen. Es war keine Anmache oder so was, ich hab nur gesagt, du weißt schon… dass du ein hübsches Lächeln hast. Das ist alles. Und es stimmt.« Sie unterbrach sich. »Willst du lieber, dass ich sage, du bist hässlich?«
Ich blickte auf und verzog den Mund zu einem hässlichen Lachen.
»So ist es schon besser«, sagte sie. »Ich heiße übrigens Candy.«
»Joe«, sagte ich zu ihr. »Joe Beck.«
Sie nickte. »Danke für den Donut, verbeulter Joe.«
»Gern geschehen.«
Wir sahen uns an, grinsten wie die Idioten, dann machten mir wieder meine Nerven zu schaffen und ich vergrub meinen Kopf in der Kaffeetasse.
Candy lachte.
»Was ist?«, fragte ich.
»Du.«
»Was?«
»Nichts…«
Sie kicherte immer noch, als sie in eine kleine schwarze Handtasche |27|griff und ein Päckchen Zigaretten herausholte. Sie schnippte eine heraus und zündete sie mit einem Einwegfeuerzeug an.
Die Überraschung muss mir im Gesicht gestanden haben.
»Entschuldigung«, sagte sie und griff nach dem Päckchen. »Wolltest du auch eine?«
»Nein… nein, danke. Ich rauch nicht.« Ängstlich sah ich mich in dem Raum um. »Bist du sicher, dass man hier rauchen darf?«
Sie sagte nichts, zuckte nur die Schultern, blies den Rauch aus und schnippte die Asche in die Donut-Verpackung. Sie sah sich um, warf einen Blick auf die schwarzen Typen, dann hinaus aus dem Fenster, die Straße auf und ab, hinüber zum Bahnhof, dann nahm sie einen zweiten Zug von der Zigarette und sah mich wieder an. Ihre Augen lächelten und sie nickte in die Richtung meiner Mütze. »Hast du die die ganze Zeit auf?«
»Nicht immer…«
»Ist schön.«
»Danke.«
»Warum nimmst du sie nicht ab?«
»Was?«
»Nimm sie ab… Ich will wissen, ob alle deine Haare so hübsch zerzaust sind wie der Teil, den ich sehe.«
Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich wieder unwohl. »Also…«, sagte ich, »weißt du, ich muss gleich wieder los… bin schon spät dran.«
Sie sah mich nur an.
Ich seufzte und nahm die Mütze ab.
Ihre Augen weiteten sich bei dem Anblick meiner Haare. »Wow! Wie kriegst du die so hin? Wie bringst du die derart perfekt |28|durcheinander?«
»Ist nicht einfach… braucht jahrelange sorgfältige Pflege.«
Sie lachte.
»Das ist kein Witz«, sagte ich. »Der Trick bei zerzausten Haaren liegt darin, dass sie zerzaust aussehen müssen, ohne dass es so wirkt, als sollten sie zerzaust aussehen.«
»Hast du ziemlich gut hingekriegt.« »Vielen Dank.«
»Gern geschehen.«
Diesmal schaute ich nicht weg. Ich grinste und schob meinen Hamburger zur Seite. Er war inzwischen kalt. Kalt und vergessen. Das war mir egal. Wer braucht schon einen kalten Hamburger, wenn er mit einem schönen Mädchen spricht. Und ich sprach mit ihr, stellte ich fest. Ich saß nicht bloß da, murmelte vor mich hin und schaute verlegen, ich sprach richtig mit ihr. Und nicht nur das, es gefiel mir auch langsam. Was mich wirklich überraschte, weil ich mich noch nie wohl gefühlt hatte, wenn ich mit Mädchen sprach. Immer war ich nervös und flatterig, unsicher… besonders bei Mädchen, die ich mochte. Und ich mochte Candy. Ich mochte sie sehr. Ich mochte, wie sie aussah – ihr Gesicht, ihre Augen, ihre Lippen, ihre Beine, ihre Haut–, und ich mochte, wie sie roch – nach Seife und Körperpuder. Alles an ihr erregte mich. Sie machte, dass ich mich frisch fühlte. Sie machte mich heiß. Sie machte mich kalt. Sie feuerte mich an und stülpte mein Innerstes nach außen. Normalerweise hätte mich das so sehr durcheinander gebracht, dass ich unfähig gewesen wäre, irgendetwas zu fühlen, doch diesmal fühlte ich alles. Gott, und wie ich es fühlte. Und es fühlte sich gut an, wie ein Schub reines Adrenalin.
Natürlich soll das nicht heißen, dass ich nicht nervös und flatterig |29|und mir unsicher war, klar war ich das. Um ehrlich zu sein, ich war total verängstigt – verängstigt, misstrauisch und unfähig, mir einen überzeugenden Grund auszudenken, warum dieses tolle Mädchen hier saß und mit mir sprach. Warum redete sie nicht mit jemand anderem? Mit jemandem, der älter war als ich oder schicker oder größer oder cooler…?
Wieso verfiel sie gerade auf mich?
Was konnte ich ihr schon bieten? Ich vertat allerdings nicht allzu viel Zeit damit, über diese Fragen nachzudenken.
Ich meine – wen kümmerte das schon?
Sie lehnte jetzt über dem Tisch, stützte ihr Kinn in die Hand, rauchte ihre Zigarette und starrte gedankenverloren durch den Raum. Der Filter ihrer Zigarette war mit purpurrotem Lippenstift verschmiert. Ihre Augen leuchteten dunkel, feucht von schwarzem Lidschatten und Wimperntusche, und obwohl sie unglaublich schön waren, besaßen sie etwas leicht Beunruhigendes. Zuerst wusste ich nicht, wieso, doch nach einer Weile merkte ich, was es war – es waren ihre Pupillen. Sie waren ziemlich klein, wie winzige schwarze Löcher, zusammengeschrumpft und leer wie Nadelstiche aus reinem Dunkel.
»Was ist das da an deinen Fingern?«, fragte sie plötzlich.
»Was?«
»An deinen Fingern.«
Ich sah auf meine Hände. »Wo?«
»Da«, sagte sie und berührte die Finger meiner linken Hand. Ich wurde ganz steif. Ihre Berührung war elektrisierend, heiß und kalt zugleich, nie zuvor hatte ich so etwas gespürt.
»Nichts…«
|30|»Tut das weh?«
»Nein…«
»Was ist das?«
Ich schaute wieder nach unten und verstand plötzlich, wovon sie sprach. »Ach, das«, sagte ich. »Das ist nur verhärtete Haut– Hornhaut… vom Gitarrespielen.«
»Du spielst Gitarre?«
Ich nickte.
Sie sah mich an. »Richtig gut?«
»Ich weiß nicht. Ganz okay, glaub ich…«
»Und du kriegst solche Finger vom Gitarrespielen?«
»Ja, vom Drücken der Saiten, verstehst du…«
»Was denn für eine Gitarre?«
»Bassgitarre vor allem.«
»Echt? Spielst du in einer Band oder so?«
»Na ja«, sagte ich und fing wieder an, mich unwohl zu fühlen, »so ungefähr…«
»Was soll das heißen – so ungefähr?«
»Ja, tu ich.«
»Wie – du spielst in einer richtigen Band? Ihr tretet auf und so?«
»Ja.«
»Echt?«
»Na ja, weißt du, nur so im Umkreis. In Pubs und Clubs, auf Schulfeten und so…«
Ich redete nicht gern drüber, dass ich in einer Band spielte. Es gab mir immer das Gefühl, herumzuprahlen nach dem Muster: O ja, ich spiele in einer Band, weißt du … Als ob in einer Band spielen eine besondere Leistung wäre, die man ehrfürchtig bewundern |31|müsste. Ich hatte nichts gegen das Spielen selbst – ich liebte es, in einer Band mitzumachen–, ich hatte nur keine Lust, drüber zu reden. Ich fühlte mich unbehaglich dabei – und in diesem Moment fühlte ich mich ohnehin schon unbehaglich genug. Candy berührte noch immer meine Fingerspitzen, streifte sie leicht mit ihren Nägeln, was schön war, doch es fing an, ein bisschen zu schön zu werden…
»Irgendwelche CDs?«, fragte sie.
»Noch nicht.«
»Wie heißt ihr?«
Ich zögerte.
»Komm schon«, meinte sie, »sag’s mir – vielleicht hab ich ja schon mal von euch gehört.«
»Das bezweifle ich – wir heißen The Katies.«
»Katies? Wie der Mädchenname?«
»Ja.«
»Warum?«
Ich löste vorsichtig meine Hand von ihrer und wischte mir einen Schweißtropfen von der Lippe. »Na ja, ursprünglich hießen wir Kate’s Bored –«
»Bored im Sinn von langweilig?«
»Ja – hat aber auch was mit Skateboard zu tun.«
Sie schaute verwirrt.
»Skateboard«, sagte ich. »Skateboard– Kate’s Bored…«
»Ah, jetzt kapier ich. Und was hat das Skateboard mit euch zu tun?«
»Wir spielen so was wie Boardermusik…«
»Schnell und punkig?«
»Ja, genau.« Ich hatte jetzt beide Hände zurück und fühlte mich |32|ein bisschen entspannter. »Wir haben einen Namen gesucht, als wir anfingen«, erklärte ich, »und irgendjemand kam auf Kate’s Bored. Ist ziemlich albern, ich weiß, aber was Besseres ist uns nicht eingefallen.«
»Und dann habt ihr es abgekürzt zu The Katies?«
»Nicht wirklich, so haben uns nur die anderen mit der Zeit angefangen zu nennen.«
»Wer?«
Ich zuckte die Schultern. »Die Kids, die kommen, um uns zu sehen.«
»Ihr habt Fans?«
»Keine echten… nur so ’ne Gruppe von Freunden, die uns überallhin folgen.«
»Das ist doch super. Muss toll sein.«
»Ja, es macht ziemlich viel Spaß. Ich meine, wir kriegen nicht viel bezahlt oder so… noch nicht jedenfalls. Aber demnächst haben wir diesen großen Auftritt…«
An dem Punkt hörte ich auf zu sprechen. Candy hörte mir nicht mehr zu. Sie saß plötzlich kerzengerade und starrte mit weit aufgerissenen Augen über meine Schulter.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich sie. »Was ist los?«
Sie schien mich nicht zu hören. Ihre Augen waren erstarrt und ihr Gesicht völlig weiß.
»Scheiße«, sagte sie leise.
»Was? Was meinst du?«
»Schau dich nicht um«, flüsterte sie und steckte sich hastig eine neue Zigarette an. »Sag nichts. Tu einfach so, als ob du wüsstest, wovon ich rede – okay?«
»Was? Was willst du–«
|33|»Bitte«, zischte sie und schaute wieder über meine Schulter. Sie lächelte jetzt, aber es war nicht das Lächeln, an das ich mich gewöhnt hatte. Es war ein Lächeln der Angst.
Ihre Hände flatterten.
Ihre Lippen zitterten. Dann fiel ein Schatten über den Tisch und die Luft wurde kalt.
Der massige schwarze Typ, der sich zwischen uns setzte, besaß die leersten Augen, die ich je gesehen hatte – ohne Gefühl, ohne Herz, ohne irgendwas außer sich selbst. Er war groß, an die zwei Meter, hatte einen gewaltigen Kopf, kurz rasierte Haare und einen wie versengt wirkenden Stoppelbart. Sein Gesicht war eine Totenmaske.
Er ignorierte mich vollkommen, setzte sich einfach hin und starrte Candy scharf an. Sein Blick ging glatt durch sie hindurch. Sie war nicht mehr da. Sie war ein Geist. Flatternde Augen, zuckende Lippen…
»Hey, Iggy–«, fing sie an.
»Was treibst du?«, sagte er zu ihr.
Seine Stimme klang schwarz und hart.
»Nichts«, sagte sie lächelnd. »Ich wollte gerade–«
»Hör auf mit nichts.«
»Nein, ich hab ja nicht gemeint–«
»Wer’s der Junge?«
Candy warf mir einen Blick zu, dann schaute sie sofort wieder Iggy an. Sie schien Angst vor ihm zu haben, wirkte wie verhext, ihr Gesicht ein Widerstreit aus Hass, Angst und Bewunderung. Iggy |35|saß einfach da, ungerührt. Er nahm keine Notiz von mir. Es war, als ob ich gar nicht existierte. Ich war nichts für ihn – nur ein Möbelstück oder ein Fleck auf dem Tisch. Was mir ja erst mal recht gewesen wäre… für ein oder zwei Sekunden. Auf die Dauer jagte es mir tödliche Angst ein.
»Wer’s der Junge?«, wiederholte er.
»Ich… ich hab ihn eben erst kennen gelernt«, stotterte Candy. »Am Bahnhof…«
»Kunde?«
Sie zögerte einen Moment, leckte nervös die Lippen, dann sagte sie: »Ja… ja, natürlich.«
»Aha?«, sagte Iggy und seine Augen funkelten weiß. »Was machst du dann hier?«
»Wir wollten gerade gehen«, antwortete Candy und versuchte lässig zu klingen.
»Verarsch mich nicht, Mädchen.«
»Tu ich nicht… ehrlich, Iggy. Er wollte nur einfach vorher was essen. Und danach–«
»Hat er schon bezahlt?«
»Ja…«
»Wie viel?«
»Das Übliche.«
»Zeig’s mir.«
Candy drückte ihre Zigarette aus und fing an, in ihrem Portemonnaie herumzufummeln. Iggy starrte sie weiter an. Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Ich wusste nicht, was da ablief. Ich wusste nur, dass ich kein gutes Gefühl dabei hatte. Mein Herz pochte, mein Mund war trocken, mein Magen schien sich umzudrehen und schmerzte. Ich blickte nervös durch das Lokal. Alles |36|schien normal – Menschen, die aßen, Menschen, die in der Schlange standen, niemand beachtete uns. Die Straßen draußen waren jetzt etwas weniger belebt, der Himmel ein bisschen dunkler. Der Nachmittag war vorüber. Die Menschen des Tages waren fort; das abendliche Leben machte sich breit.
»Hier«, sagte Candy und zeigte Iggy eine Hand voll Scheine. »Siehst du. Ich würd dich nie anlügen, Iggy, das weißt du, ich würde nicht…«
Er sah das Geld nicht an, blinzelte nicht mal, sondern starrte einfach weiter – still und dunkel – und stieß sie in ein zusammengekauertes Schweigen. Während sie dasaß und unter seinen Augen erschlaffte, fiel ihr ein Zehn-Pfund-Schein aus der Hand und flatterte auf den Tisch. Sie schien es nicht zu merken.
»Nimm ihn«, sagte Iggy zu ihr.
Sie nahm ihn.
»Steck ihn weg«, sagte er.
Sie faltete das Bündel Geld zusammen und schob es in ihr Portemonnaie, dann sah sie wieder zu Iggy auf. Er rührte sich nicht. Er wartete bloß drauf, dass sie den Blick senkte, dann nickte er einmal kurz, saugte an seinen Zähnen und wandte sich langsam mir zu.
Ich wusste, dass das passieren würde. Ich hatte darauf gewartet. Und trotz allem, was ich gesehen hatte, glaubte ich, vorbereitet zu sein. Aber als er schließlich seinen Blick auf meine Augen richtete und eine Welle der Angst durch mich hindurchflutete, wusste ich, dass ich mich irrte. Auf das hier würde ich niemals vorbereitet sein. Die eiskalte Leere in Iggys Augen war eine andere Welt, eine Welt, von der ich nichts wusste, eine Welt der Gewalt, des Schmerzes und der Dunkelheit. Ich fühlte mich so klein, so dumm.
|37|»Was willst du?«, sagte Iggy zu mir.
Ich öffnete den Mund, doch es kam nichts heraus.
»Hör auf, Iggy«, bettelte Candy. »Er ist nur–«
»Halt die Klappe«, befahl er ihr, während er mich immer noch anstarrte. »Ich hab dich gefragt, was du willst, Junge.«
»Nichts«, sagte ich und schluckte schwer.
»Nichts?«, sagte er. »Du zahlst gutes Geld für nichts?«
»Nein…«, murmelte ich. »Ich meine–«
»Hast du das Mädchen bezahlt?«
Ich wollte fragen: Bezahlt? Wofür bezahlt? Ich hab sie für überhaupt nichts bezahlt. Aber sie hatte ihm bereits erklärt, dass ich bezahlt hätte, und ich spürte, wie sie mich ansah, mich anflehte, bloß nichts anderes zu sagen.
Also sagte ich: »Oh… ja… ja, ich hab bezahlt…«
»Aber du hast sie doch nicht für nichts bezahlt«, sagte Iggy und sah Candy an, so wie ein Schlachter ein Stück Fleisch ansieht. »Du machst doch nicht nichts mit so einer wie der. Garantiert nicht, außer wenn mit dir was nicht stimmt. Stimmt mit dir was nicht?«
»Nein.«
»Bist du schwul?«
»Ich weiß nicht–« »Du weißt nicht?« Ich schaute auf den Tisch.
»Hey«, sagte Iggy, »schau mich an, wenn ich mit dir rede. Schau mich an.«
Ich blickte auf. Er lächelte jetzt – sein Mund eine schwarze Höhle, gesäumt von goldüberkronten Zähnen.
»Schau sie an«, sagte er zu mir.
»Was?«
|38|»Schau die Nutte an.«
Ich sah Candy an. Sie war leblos und starrte mit feuchten Augen ausdruckslos auf die Tischplatte.
»Gefällt sie dir?«, sagte Iggy. »Willst du sie haben?«
Ich konnte nicht antworten.
Er lachte mich aus, mit einem kalten, zischenden Ton. »Wie viel?«
»Ich–«
»Wie viel du ihr gegeben hast?«
Ich sah wieder Candy an.
»Schau nicht sie an«, sagte Iggy, »schau mich an. Ich hab dich gefragt, wie viel?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Okay«, sagte er, »wofür hast du bezahlt?«
»Sie war–«
»Sie hat dir gesagt, was läuft, ja? Du weißt, was du bekommst?«
»Ich wollte gerade–«
»Was? Was wolltest du gerade?«
»Okay«, sagte Candy leise. »Das reicht.«
Iggy wurde still. Er starrte mich noch einen Moment weiter an, saugte nachdenklich an seiner Wange, dann schniefte er kräftig und wandte sich Candy zu.
»Was willst du?«, sagte er und zog dabei eine Augenbraue hoch.
Sie schaffte es kaum, ihn anzusehen – den Kopf gesenkt, Augen verborgen, die Hände fummelten in ihrem Schoß nervös mit einem Stück Karton herum, rollten es zu einem Röhrchen, rollten es wieder auseinander, knüllten es, falteten es…
»Tut mir Leid«, flüsterte sie. »Ich hab bloß mit ihm geredet, das ist alles. Ich hab nicht… wir haben nicht… er ist nur ein Junge. Er |39|weiß überhaupt nichts.«
Iggy sagte kein Wort.
Candy lächelte hinter Tränen. »Es passiert nicht wieder.«
»Stimmt haargenau«, sagte Iggy kalt.
»Du musst nicht–«
»Was?«
»Nichts… tut mir Leid. Bitte nicht–«
»Halt die Klappe.« Er wandte sich zu mir und reckte seinen Kopf in Richtung Tür. »Raus.«
Ich starrte ihn sprachlos an.
»Los, raus«, wiederholte er. »Sofort.«
Ich sah Candy an, dann wieder Iggy. »Also«, versuchte ich zu erklären, »das war nicht ihre Schuld…«
Doch er hörte nicht zu.
Sein Gesicht hatte sich verhärtet, er stand auf. Ich war zu schockiert, um mich zu rühren. Das Einzige, was ich schaffte, war, dazusitzen und zu beobachten, wie er auf die Füße kam, sich streckte und… Gott, war der groß. Er war riesig. Groß, wuchtig, schwer, breit, stark, beinhart… er ragte hoch über den Tisch wie ein Riese aus schwarzem Stahl.
Als er seinen Stuhl nach hinten stieß und sich auf mich zubewegte, beugte sich Candy plötzlich herüber und stieß mich in die Seite.
»Nein!«, sagte sie verzweifelt und sah Iggy an. »Nein, es ist alles in Ordnung… Schau, er geht schon. Er geht jetzt. Du musst nichts machen. Siehst du? Er geht.« Sie warf mir einen Blick zu und ihre Augen flehten mich an zu verschwinden. Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen – ich war schon halb auf den Beinen. Candy fasste nach meinem Stuhl. Ich spürte, wie ihre Hand meinen |40|Schenkel streifte, dann bewegte sie sich schnell zurück auf ihren Platz und schaute wieder zu Iggy auf. Während er noch über mir stand, sah er sie böse an, den Kiefer angespannt unter der Haut, und einen Moment glaubte ich, er würde sie töten. Ich sah es in seinen Augen. Er würde sie töten und dann mich… Da war ich mir ganz sicher. Schließlich aber – nach einer Zeit, die wie eine Ewigkeit schien – entspannte sich sein Gesicht wieder und er sank langsam auf seinen Stuhl zurück.
»Glückspilz«, sagte er leise.
Ich trat vom Tisch zurück und fand Halt an einem Stuhl. Meine Beine zitterten und meine Kehle war zugeschnürt. Ich fühlte das Schweigen um mich herum – die Stille der Gewalt, die mir die Luft aus der Lunge sog. Ich hörte, wie die Leute zuguckten, murmelten, aber ich sah sie nicht. Das Einzige, was ich sah, war ein enger schwarzer Tunnel mit mir am einen Ende, einer Totenmaske am andern und einem blassen, hellen Geist, der irgendwo dazwischen hin und her schwebte.
Ich riss den Blick von der Maske los und schaute kurz auf den Geist, doch sie schaute nicht zurück. Ihre gesenkten Augen sagten mir: Geh, bitte… um Gottes willen, jetzt geh doch.
Ich hatte nicht genügend Mut, Nein zu sagen, also drehte ich mich einfach um und wollte verschwinden.
»Hey«, sagte Iggy.
Ich wollte nicht stehen bleiben – ich wollte weitergehen und nie mehr zurückkommen–, aber ich konnte nicht anders. Es war diese Stimme.
Ich blieb stehen.
Hielt inne.
Drehte mich dann um.
|41|Iggy lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte mich mit durchdringender Kälte in den Augen an.
»Lachst du gern?«, fragte er leise.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nicht mal, was er meinte. Ich sah angespannt zu, wie er grinste, seine Hand hob und dann langsam mit dem Daumennagel über seine Kehle fuhr.
»Wenn ich dich noch ein Mal sehe«, sagte er, »dann lachst du dich tot.«
Ich erinnere mich kaum an die Bahnfahrt nach Hause. Ich weiß noch, dass ich zu dem Arzt ging und dann die U-Bahn zurück zur Liverpool Station nahm, und vage erinnere ich mich auch noch, dass ich in der Bahnhofshalle wartete, dann den Bahnsteig entlanglief und in den Zug stieg, doch danach – ist mein Gedächtnis leer. An die Fahrt erinnere ich mich überhaupt nicht. Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass ich nachdachte: über Candy, über Iggy, über mich… und mich in eine Sackgasse hineindachte. Candy… Iggy… Candy… ich… Candy… Iggy… Candy… ich… Stimmen… Gesichter… Körper… Augen… Candy… Iggy… Candy… ich…
Und das Nächste, was ich weiß, ist, dass der Zug langsamer wurde und in den Bahnhof von Heystone einfuhr.
Nicht viele Fahrgäste verließen den Zug. Ein paar angetrunkene Pendler, ein bärtiger alter Mann mit Sherlock-Holmes-Mütze, eine schrecklich geschäftige Frau mit klappernden Schuhen… aber das war es auch schon in etwa. Sie blieben nicht stehen – raus auf den Parkplatz, rein in ihre Autos und weg waren sie, noch ehe der Zug den Bahnsteig verließ. Ich wartete, bis er abfuhr, sah ihm |43|nach, wie er aus dem Bahnhof ratterte, sich die Gleise entlangschob und im fernen Dunkel verschwand… bis nichts mehr zu sehen war. Ich stand eine Weile da, starrte auf nichts Bestimmtes und lauschte der Bahnhofsuhr, wie sie die Sekunden digital wegklackte – klack… klack… klack –, dann drehte ich mich um und suchte nach einem Taxi.
Außerhalb des Bahnhofs war alles still – die Straßen, der Parkplatz, die Felder drum herum. Nichts bewegte sich, nichts rührte sich. Keine Autos, keine verrückten Menschen, keine aufblitzenden Lichter…
Keine Mädchen.
Keine Angst.
Kein Chaos.
Und auch kein Taxi.
Der Stand war leer. Über Nacht geschlossen.
Es machte mir nicht wirklich was aus. Unser Haus liegt nicht weit vom Bahnhof entfernt – die Station Road entlang, über die Brücke, die Church Lane weiter und dann in den Weg rein–, außerdem war es eine schöne, klare Nacht, frisch und winterlich, genau richtig, um zu Fuß zu gehen. Also machte ich mich auf – ging langsam, atmete tief und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen.
Manchmal, wenn ich gehe, hilft mir der Klang meiner Schritte beim Denken. Es ist der gleich bleibende Rhythmus, nehme ich an, der metronomische Klang der Schritte auf dem Pflaster – tap, tap… tap, tap… tap, tap… tap, tap –, der immer weitertickt wie ein Herzschlag, den Körper beruhigt und den Kopf freimacht fürs Denken. Es funktioniert nicht immer, aber ich hoffte, in dieser Nacht doch, denn mein Gehirn und mein Körper waren noch immer |44|in einem Schockzustand: In meinem Bauch wanden sich Horrorschlangen und gaben mir das Gefühl, krank zu sein; mein Kiefer schmerzte vom Zähneaufeinanderbeißen; mein Herz war wie zerrissen; und, was das Schlimmste war, eine nervige kleine Stimme hörte nicht auf, im Hinterkopf vor sich hin zu wimmern und mich immer wieder daran zu erinnern, was vielleicht hätte passieren können, was tatsächlich hätte passieren können und was beinahe wirklich passiert wäre. Du hattest echt Glück, sagte sie mir immer wieder. Das weißt du doch, oder? Du hattest Glück. Es hätte alles viel, viel schlimmer ausgehen können…
Ich wusste es.
Ich wusste viele Dinge.
Ich wusste, dass Candy eine Prostituierte war und Iggy ihr Zuhälter. Ich wusste, sie verkaufte ihren Körper, sie tat den ganzen Tag Dinge, die ich mir nur vorstellen konnte, sie hieß vielleicht nicht mal Candy. Ich wusste, sie hatte mich gelinkt, ein Spiel mit mir getrieben, sich auf meine Kosten amüsiert. Ja, ich wusste das alles. Ich wollte es aber nicht wissen. Ich wollte glauben, dass sie einfach ein Mädchen war… einfach ein Mädchen, das ich am Bahnhof getroffen hatte… ein Mädchen, das mich mochte…
Aber so naiv war ich nicht.
Nein, es gab keinen Weg drum herum – Candy war eine Prostituierte und Iggy ihr Zuhälter. Und das hätte das Ende sein sollen. Das Ende einer sehr kurzen und sehr peinlichen Liebesgeschichte: Junge trifft Mädchen, Mädchen lächelt Jungen an, er kauft ihr einen Donut, sie kitzelt seine Finger, er wird zu Pudding, dann trifft ihr Zuhälter den Jungen, erschreckt ihn zu Tode, Junge geht nach Hause, fühlt sich belämmert.
Ende.
|45|So hätte es sein sollen.
Und so war es auch – bis zu einem bestimmten Punkt.
Ich war zu Tode erschrocken.
Ich fühlte mich belämmert.
Ich ging nach Hause.
Aber es gab noch etwas anderes… etwas, das mich nicht mehr losließ… etwas, das mit der Berührung ihrer Finger anfing.
Die Berührung war immer noch da.
Candys Berührung. Ich konnte sie noch spüren, eingeprägt in die Erinnerung meiner Haut: heiß, kalt, elektrisierend, ewig, die Berührung einer anderen Person. Erhebend, prickelnd, berauschend. Und als ich die Straße entlangging, konnte ich nicht aufhören, meine Finger anzusehen und nach der Stelle zu suchen, wo sie mich berührt hatte. Ich wollte unentwegt meine eigene Haut spüren, die Erinnerung anfassen, aber ich hatte auch Angst, dass das Berühren von außen das Gefühl im Innern vertreiben würde…
Und das war nur der Anfang.
Tief unten in mir, begraben unter all dem Chaos, nahm ich ein Gefühl wahr, das ich vorher noch nie empfunden hatte. Ich wusste nicht, was es war. Ich wusste nicht, ob es ein gutes oder ein schlechtes Gefühl war oder irgendwas dazwischen