Long Road - Kevin Brooks - E-Book

Long Road E-Book

Kevin Brooks

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Beschreibung

Road of no Return Eine junge Frau, Trina, die von drei kriminellen Männern belästigt wird. Ein kleiner Affe, der von ihnen gequält wird. Und zwei Brüder, Cole und Ruben, die sich einmischen. Sie befreien Trina und den Affen aus der Gewalt der Männer, fliehen in einem geklauten Wagen und geraten ins Visier der Verbrecher und der Polizei. Wohin jetzt? Trina, die viel Schlimmes durchgemacht hat, kann keinesfalls zurück in ihr altes Leben. Cole will seinen Bruder und Trina, die ihm jetzt schon viel bedeutet, unbedingt schützen. Und Ruben weiß von einem Affenhaus in Schottland, das zumindest dem Affen eine Zuflucht bieten könnte. Dorthin wollen sie sich durchschlagen. Doch bereits bei ihrem ersten Stopp werden sie von ihren Verfolgern eingeholt …

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Seitenzahl: 299

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Über das Buch

Road of no Return

 

East London, ein trister Pub namens Live and let live: Hier treffen die Brüder Cole und Ruben auf Frank Skender, einen der gefährlichsten Gangleader der Stadt. Mit am Tisch die 17-jährige Trina und eine kleine Kapuzineräffin, die Trina aus der Gewalt der Männer befreien wollte. Nun ist sie selbst in die Fänge von Skender und seinen Männern geraten.

Als Cole mitbekommt, dass die Männer Trina belästigen, ist klar: Er wird alles tun, um sie dort rauszuholen. Während Ruben ein Fluchtfahrzeug organisiert, schaltet Cole die Männer aus. Nun sind sie auf der Flucht, denn sie wissen, dass Skender keine Ruhe geben wird, bis er sie gefunden hat.

Aber wohin? Trina, die viel Schlimmes durchgemacht hat, kann keinesfalls zurück in ihr altes Leben. Ruben hat von einem schottischen Monkey House gehört, das zumindest der Äffin eine Zuflucht bieten könnte. Und für Cole zählt nur, das Überleben seines Bruders zu sichern und Trina zu beschützen, die in ihm bislang ungekannte Gefühle weckt.

Doch schon beim ersten Stopp werden sie von ihren Verfolgern eingeholt …

 

 

Von Kevin Brooks sind bei dtv außerdem lieferbar:

 

Martin Pig

Lucas

Candy

Kissing the Rain

The Road of the Dead

Being

Black Rabbit Summer

Killing God

iBoy

Live fast, play dirty, get naked

Bunker Diary

Travis Delaney – Was geschah um 16:08?

Travis Delaney – Wem kannst du trauen?

Travis Delaney – Um Leben und Tod

Johnny Delgado – Im freien Fall

Johnny Delgado – Der Mörder meines Vaters

I See You Baby (zusammen mit Catherine Forde)

Finn Black – Warten auf den Schuss

Born Scared

Deathland Dogs

Bad Castro

Kevin Brooks

Long Road

Roman

Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn

Anmerkung des Autors

Der Autor weist darauf hin, dass die ersten Kapitel des Romans »Long Road« auf einer Bearbeitung seiner Kurzgeschichte »Five Hundred Miles« basieren. Diese ist 2016 bei Barrington Stoke erschienen.

Eins

Es war so gegen neun, als wir an jenem Sonntagmorgen den Hof verließen. In den Straßen hing eine Nieselwand, der Himmel war grau und in den Rinnsteinen spiegelte sich das Benzin in Regenbogenfarben. Während Cole und ich zusammen durch die Hintergassen von East London liefen, wirkte alles relativ normal. Nicht der Hauch einer Vorahnung lag in der Luft, nichts wies darauf hin, dass irgendwas Ungewöhnliches passieren könnte. Wir liefen in unserem typischen beständigen Bruder-Schweigen nebeneinanderher – angenehm wortlos, nur selten irgendwas sagend, weil es nicht viel zu sagen gab. Wir mussten nicht nachdenken über den Weg, denn das hier war unsere Welt, die dunkle Gegend tief eingeprägt in unsere Herzen wie eine Landkarte – die rußgeschwärzten Eisenbahnbrücken, die geschlossenen Brückenbögen, die Backsteinmauern, von Graffiti überzogen … all das war uns so vertraut wie wir uns selbst. Während wir durch unsere Welt liefen, jeder versunken in seinen Gedanken, schimmerten die Benzinlachen unter unseren Füßen im Regen.

Ich weiß nicht mehr genau, woran ich dachte, doch wenn ich an diesen Morgen denke, sehe ich mich verloren in einem Bild von ungebrochener Wildheit, mit finster aufragenden Bergen und Adlern, die aus einem weit offenen Himmel herabschießen.

Cole dachte an Rachel, das wusste ich.

Rachel war unsere ältere Schwester. Vor sechs Monaten hatte man ihre nackte Leiche in einem abgelegenen Moorstück nahe dem Dorf Lychcombe im Dartmoor gefunden. Sie war vergewaltigt, misshandelt und erdrosselt worden. Cole und ich waren runter ins Dartmoor gefahren, um rauszufinden, was wirklich passiert war. Und wir hatten es rausgefunden. Und Cole hatte die Verantwortlichen bezahlen lassen für ihre Tat. Aber es hatte nichts geändert. Rachel war immer noch tot. Sie war immer noch vergewaltigt, misshandelt und erdrosselt. Und nichts konnte daran je etwas ändern. Es würde immer so sein, immer geschehen sein und uns immer verfolgen. Und das Schlimmste an diesem Verfolgen und an dem Schmerz, der damit einherging, war, dass es für uns dadurch weiterhin fast unmöglich blieb, einfach nur traurig zu sein wegen Rachel. Wir mussten um sie trauern. Doch selbst jetzt, sechs Monate später, kämpften wir beide immer noch damit, um unsere Schwester trauern zu können, ohne dabei ständig in Gedanken die Qual ihres Todes ertragen zu müssen.

Plötzlich spürte ich, wie Cole mich ansah.

Ich schaute zurück.

Sein Blick war nicht zu entschlüsseln.

»Was?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Nichts.«

Wir liefen weiter durch den Regen.

Der Pub hieß Live and Let Live, was nicht unpassender hätte sein können. Es war ein wenig einladender Klotz von einem Gebäude mit hässlichem grauem Gemäuer und dauerhaft versifften Fenstern. Und er hatte etwas schrecklich Totes an sich, das das Licht aufzusaugen und die Luft sowie alles im Innern und um das Gebäude herum zu verdunkeln schien. Es war so ein Ort, den niemand, der halbwegs bei Sinnen war, jemals aus freien Stücken betreten würde. Das verwitterte Schild über dem Eingang zeigte einen schlecht gezeichneten Löwen, der Seite an Seite mit einem ebenfalls schlecht gezeichneten Lamm lag.

Es war noch zu früh, als dass der Pub aufhatte, aber genau deshalb waren wir zu dieser Morgenstunde dort. Wir waren nicht zu unserem Vergnügen hier – nicht, dass es für uns ein Vergnügen gewesen wäre, wenn der Laden offen gehabt hätte –, wir waren aus geschäftlichen Gründen da.

Ein schmaler Durchgang seitlich vom Haus führte zu einer Tür, die zwar zu, aber nicht verschlossen war. Wir öffneten sie und traten in einen Flur, der nach Bier, Desinfektionsmittel und irgendwas Säuerlichem roch. Der Geruch blieb, als wir dem Flur bis zu einem engen Vorraum folgten. Am einen Ende gab es einen Spielautomaten, am andern war eine Tür mit der Aufschrift BAR. Gerade als Cole einen braunen A4-Umschlag aus seiner Tasche zog, hörten wir plötzlich laute Stimmen von jenseits der Tür. Wir blieben stehen und lauschten. Die Stimmen erstarben für einen Moment, dann hörten wir sie erneut – Männerstimmen, zwei oder drei … ein herausplatzendes schweres Lachen … ein empörter Aufschrei, nicht von einem Mann … und dann ein nicht menschlicher Laut, ein hohes Tschilpen wie von einem kleinen Vogel.

»Was ist das?«, fragte ich Cole.

»Weiß nicht …«

»Du hast mir doch gesagt, nur wir und Roy English würden da sein.«

Cole zuckte mit den Schultern. »Das hat er zumindest behauptet.«

Wieder ein Aufschrei, ein Schlag … neues Gelächter.

»Das ist aber nicht Roy, oder?«, fragte ich.

Cole schüttelte den Kopf. »Bringen wir’s hinter uns und dann nichts wie weg hier, okay?«

Ich antwortete nicht. Ich spürte etwas … etwas, das von jenseits der Tür kam … das Geflüster von etwas Unbekanntem. Es tauchte kurz auf, dann war es weg, als wäre es nie da gewesen.

»Was ist?«, fragte Cole leise.

»Nichts …«

»Komm schon, Rube. Spuck’s aus.«

»Ehrlich, ist nichts … ist bloß, du weißt schon … ist bloß, ich …«

Ich sprach nicht weiter, starrte nur auf die Tür zur Bar. Ich hörte noch immer Stimmen, doch sie waren jetzt ruhiger, leiser. Ich sah Cole an und wusste, woran er dachte – ich wusste es immer. Er dachte an mein Unwohlsein, wenn ich unter Leuten war, die ich nicht kannte, und er war sich ziemlich sicher, dass das der Grund für mein Zögern sei. In gewisser Weise stimmte das auch. Die Aussicht, in eine Kneipe zu gehen und mit einer Gruppe vollkommen Fremder zusammenzustehen, war sehr beunruhigend, aber es gab noch etwas anderes. Ich wusste nicht, was es war. Es war etwas so Formloses und Unbeschreibliches, dass ich es Cole unmöglich hätte schildern können, selbst wenn ich gewollt hätte.

»Alles gut, Rube«, sagte Cole. »Du musst nicht mit reinkommen, wenn du nicht willst. Du kannst auch draußen warten … dauert nur eine Minute.«

Ich grinste ihn an. »Und wer soll auf dich aufpassen, wenn ich nicht da bin?«

Ein seltenes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Es hielt nicht lange an, doch für mich war es genug. Wir öffneten die Tür und traten in den Schankraum.

Zwei

Der Schankraum bildete ein großes Rechteck mit Dutzenden Tischen und Nischen sowie einer Theke, die sich die ganze Wandbreite gegenüber dem Haupteingang entlangzog. Der Raum war noch nicht aufgeräumt vom letzten Abend, auf den Tischen standen noch die leeren Gläser, Flaschen, halb leeren Chipstüten und was sonst noch alles. Die Luft war abgestanden und schwer von einer Mischung aus dem Parfüm, dem Schweiß und dem Alkohol der letzten Nacht.

Der Wirt, Roy English, stand hinter der Theke – mit einem Glas Whisky in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand. Seine rattenhaften Augen fixierten uns, seit wir hereingekommen waren. Für einen kurzen Moment hatte er verwirrt gewirkt. Nicht, weil er uns nicht erkannte – er kannte uns ganz genau –, doch er schien sich zu fragen, was wir bei ihm wollten. Und irgendwas an unserer Gegenwart machte ihn nervös. Er versuchte es zu verbergen – zeigte ein schiefes Lächeln und hob sein Glas in unsere Richtung –, doch das machte die Falschheit nur umso auffälliger. Und so wie er immer wieder hastige Blicke zu einer Gruppe von Leuten hinüberwarf, die um einen Tisch in der Mitte des Schankraums saßen, war klar, dass sie der Grund für seine Nervosität waren.

Sie waren zu viert und es waren ihre Stimmen gewesen, die wir durch die Tür gehört hatten. Zwei von ihnen waren Männer, die ich noch nie gesehen hatte, doch der Dritte kam mir vage bekannt vor. Er war ziemlich alt – so um die siebzig, schätzte ich –, aber er hatte absolut nichts Ältliches an sich. Er war schlank, der Körper stramm, das Gesicht von tiefen Furchen durchzogen, seine silbergrauen Haare hatte er nach hinten gegelt. Sein Blick war der eines Mannes, der bekam, was er wollte, und dem es egal war, wie. Einer der beiden anderen Männer war groß und schwer, eine massive Muskelmasse, mit rasiertem Schädel und schlecht tätowierten Tattoos auf den Handrücken. Seine Augen waren irgendwie unheimlich, das Weiße durchsetzt von einem schaurigen rosalichen Ton, und dieses Unheimliche wurde noch verstärkt von den dicken Gläsern seiner Nickelbrille. Er war vermutlich so um die fünfzig, vielleicht etwas älter. Der dritte Mann wirkte wesentlich jünger als die beiden, Mitte zwanzig höchstens – schlank, kantig und durchgestylt … so einer, der an keinem Spiegel vorbeikann, ohne sich selbst zu bewundern. Obwohl er eine Jacke trug, war die Automatikpistole, die in einem Schulterhalfter steckte, nicht schwer zu entdecken. Ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl, er ließ sie uns ganz bewusst sehen.

Die vierte Person am Tisch war ein junges Mädchen. Sie war etwa sechzehn, siebzehn, ungefähr so alt wie Cole, was bedeutete, dass sie ein paar Jahre älter als ich war. Das Mädchen trug Jeans und einen Hoodie mit Karomuster. Vom ersten Moment, als sie uns ansah, war klar, dass sie nicht zu den andern gehörte, auch wenn sie bei ihnen saß. Offensichtlich kannte sie die Männer nicht, mochte sie nicht, wollte nicht mit ihnen hier sein. Wieso war sie dann bei ihnen?

Mir fiel darauf keine Antwort ein.

Alle drei Männer tranken und rauchten. Sie waren der Typ Mann, der rauchte, wann und wo immer er wollte. Die Möglichkeit, dass es vielleicht nicht erlaubt war, tauchte bei ihnen gar nicht erst auf. Der Tisch stand voll mit Alk – Whisky- und Wodkaflaschen –, doch keiner von ihnen wirkte betrunken. Ob das hieß, dass sie noch nicht lange da waren, konnte ich nicht sagen. Mir war nur eines klar: Diese Männer waren voller Grausamkeit und gewalttätig. Und was immer sie mit dem Mädchen vorhatten – es war eindeutig nichts Gutes.

Der mit dem zerfurchten Gesicht und den nach hinten gegelten Haaren schaute jetzt zu Roy English herüber und sein Blick sagte: Verdammte Scheiße, wer sind diese Jungs und was machen die hier? Roy antwortete mit dem Heben seiner Handflächen und einem beruhigenden Kopfschütteln – Alles gut, ich kenn die zwei … die sind okay. Das Furchengesicht zuckte die Schultern, offenbar zufrieden, und richtete seine Aufmerksamkeit jetzt auf irgendwas auf dem Boden zu seinen Füßen. Ich konnte nicht sehen, was es war.

Der schlanke junge Typ beugte sich über den Tisch und schob sein Gesicht direkt vor das des Mädchens. Zuerst reagierte sie nicht – zog sich nicht zurück, schaute nicht weg –, aber dann sagte der Typ etwas zu ihr und wollte ihre Haare streicheln, da sprang sie wütend von ihrem Stuhl, stieß mit dem Zeigefinger in seine Richtung und schrie in sein grinsendes Gesicht.

»Ich hab’s dir gesagt!«, fauchte sie. »Noch ein Mal –«

»Was denn?«, fragte der Typ grinsend. »Was soll ich noch ein Mal?«

»Wenn du mich noch ein Mal anfasst, verdammte Scheiße, bring ich dich um!«

»Ooooh … jetzt machst du mir aber Angst«, erwiderte der schlanke Typ, zog sein Gesicht zurück und hob die Hände in vorgetäuschter Kapitulation.

Er hatte einen fremden Akzent, den ich nicht zuordnen konnte, und als er sich kurz zu dem Großen mit den gruseligen Augen umdrehte und ihm etwas zuraunte, war klar, dass er mit dem Mädchen nicht einfach bloß seine üblen Spielchen trieb. Der Große nickte, dann richtete er den Blick auf sie und stierte sie an wie ein Metzger sein Fleisch.

Ich schaute zu Cole. Er starrte mit eisiger Ruhe im Gesicht zu dem Mädchen und den drei Männern hinüber. Sein Blick erfasste die gesamte Szene.

»Cole?«, sagte ich leise.

Er antwortete nicht, sondern starrte nur weiter …

Und ich weiß, was er jetzt fühlt. Ich bin Teil von ihm … fühle, was er fühlt … über das Mädchen. Er versucht sich einzureden, dieses Gefühl, es ist nichts … es ist nur was Körperliches. Ihm gefällt, wie sie aussieht, sonst nichts. Ihr Gesicht, ihre Augen, ihr Mund, ihre Lippen … alles. Sie gefällt ihm. Mehr ist es nicht – eine körperliche Anziehung. Ganz einfach. Es hat nichts zu bedeuten, oder?

Doch genau das ist das Problem. Was immer dieses Gefühl ist, es bedeutet ihm etwas … aber was, kann er nicht sagen, und das gefällt ihm nicht.

»Cole?«, sagte ich, wieder ganz ich selbst. »Was denkst du –?«

»Geht uns nichts an«, antwortete er, den Blick noch immer auf die Männer und das Mädchen fixiert. »Ist nicht unser Problem.« Seine Stimme klang seltsam fern, als ob er mit sich selbst reden würde.

»Ist aber trotzdem nicht in Ordnung, oder?«, fragte ich.

»Die Welt ist voll von Dingen, die nicht in Ordnung sind.«

Es war ein alberner Satz und Cole wusste es.

Er seufzte. »Wir können nichts für sie tun, Rube. Mindestens einer der Männer hat eine Waffe, und selbst wenn wir ihr helfen könnten …« Er schüttelte langsam den Kopf. »Du weißt, wer der Alte ist, oder?«

»Ich glaube, ich kenn ihn irgendwoher …«

»Dad kannte ihn, vor vielen Jahren. Kam ein paarmal zu uns auf den Schrottplatz –«

»Frank Skender«, sagte ich, als mir der Name plötzlich wieder einfiel.

Cole nickte.

Ich schaute erneut zu dem Tisch und konzentrierte mich auf Skender, als ich begriff, was Cole mir sagen wollte. Frank Skender war der Kopf einer der mächtigsten kriminellen Banden in London. Er war seit Jahren im Geschäft und bekannt – und gefürchtet – wegen seiner skrupellosen Brutalität. Wer Frank Skender in die Quere kam, war so gut wie tot.

Ich wusste, Cole hatte recht – es wäre Wahnsinn, gegen Skender anzugehen – und das einzig Vernünftige schien, sich um unsere Dinge zu kümmern und uns nicht einzumischen. Das war eigentlich ganz leicht. Wir mussten nur ignorieren, was zwischen den drei Männern und dem Mädchen lief, uns das holen, weshalb wir gekommen waren, und dann raus und ab nach Hause. Ich schaute zu Cole, um zu sehen, ob er dasselbe dachte wie ich, als plötzlich Roy English vom Tresen herüberrief: »Hey, Cole … wartest du auf den Bus oder was?«

Drei

Als wir zur Theke hinübergingen, hörte ich erneut das vogelartige Tschilpen, diesmal gefolgt von ein paar leisen kleinen Quieklauten, die mehr nach Maus als nach Vogel klangen. Die Laute schienen aus der Richtung des Tischs zu kommen, doch als ich kurz rüberschaute, sah ich nichts als die drei Männer und das Mädchen. Das Mädchen setzte sich gerade wieder. Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen, als wenn sie genug von dem Ganzen hätte und sie alles nichts mehr anginge. Doch plötzlich machte sie eine Bewegung, beugte sich abrupt nach vorn und fasste hinab auf den Boden an Skenders Füßen, wahrscheinlich um an das ranzukommen, was er dort unten festhielt und wonach er vorhin geschaut hatte. Der Jüngere, dieser schlanke Typ, reagierte beinahe sofort, sprang auf, packte den Arm des Mädchens und riss sie zurück. Sie schoss hoch und wollte ihre Faust gegen seinen Kopf schleudern, aber er zog ihn rechtzeitig locker zur Seite. Danach versuchte sie ihren Arm aus dem Griff loszureißen, aber egal wie heftig sie zerrte und zog, es half nichts. Der Typ stand bloß grinsend da und tat nichts, um sie aufzuhalten. Und dann, als sie die Zähne zusammenbiss und noch einmal mit aller Kraft zerrte, ließ er sie plötzlich los und sie taumelte mit Schwung rückwärts quer durch den Schankraum.

Es geht uns nichts an, sagte ich mir, schaute weg und dachte, vergiss es. Ist nicht unser Problem … wir können ihr nicht helfen … und selbst wenn …

»Alles okay, Jungs?«, hörte ich Roy English sagen. »Wie geht’s so?«

Wir hatten die Theke erreicht und Roy warf uns ein Lächeln zu, das er für entspannt und freundlich hielt. Es war das gleiche Lächeln, mit dem er uns immer begrüßte, und ich habe nie verstanden, warum er sich diese Mühe machte. Wir wussten alle, dass es nicht echt war. Er mochte uns nicht und wir mochten ihn nicht, doch jetzt ging es um etwas Geschäftliches und ob wir einander mochten oder nicht, spielte keine Rolle.

»Was zu trinken?«, fragte Roy Cole. »Cola? Limo? ’n Wasser? Oder vielleicht was Stärkeres?«

Seine Stimme verlor sich, als Cole einen braunen Umschlag vor ihn auf den Tresen legte.

»Was ist das?«, fragte er.

»Fahrzeugpapiere und Scheckheft.«

»Scheckheft?«

»Kfz-Scheckheft … die Unterlagen, die Sie für den BMW wollten. Das Fahrzeugheft.«

»Ach so, ja … richtig …« Roy grinste. »Mein Gedächtnis ist echt schlimm. Muss mir alles –«

»Haben Sie das Geld?«

»Ja, klar. Kein Problem.«

Er ging zur Kasse, öffnete sie und nahm etwas Geld raus, dann kam er zurück und legte fünf £20-Scheine auf den Tresen.

Cole starrte das Geld an, dann sah er zu Roy hoch. »Was soll das?«

»Was meinst du?«

»Das sind nur hundert. Fehlen noch fünfzig.«

Roy schüttelte den Kopf. »Joe hat hundert gesagt.«

»Hat er nicht.«

»Sorry, Cole, aber er hat mir eindeutig gesagt, dass es hundert kostet.«

»Ruf ihn an.«

Roy zögerte. »Ich will dich nicht übers Ohr hauen, Cole … würd ich nie machen, das weißt du doch.«

Cole drehte sich zu mir um. »Gib mir dein Handy.«

»Nein, ist schon okay«, sagte Roy schnell. »Ich weiß es jetzt wieder. Hundert für die Fahrzeugpapiere und fünfzig für das Scheckheft.« Er grinste erneut. »Hab ja gesagt, mein Gedächtnis ist schrecklich.«

Er ging wieder zur Kasse und kam mit weiteren Fünfzig zurück, die er zu dem restlichen Geld auf den Tresen legte. Cole sah ihn einen Moment an, dann griff er nach den Scheinen. Gerade als er das Geld nehmen wollte, durchstach plötzlich ein Schrei die Luft. Wir wirbelten beide herum und schauten instinktiv zu dem Mädchen, doch nach dem anfänglichen Schock begriffen wir, dass der Schrei nicht von ihr stammen konnte. Es war kein menschlicher Laut, das war klar. Er stammte von einem Tier. Vom Klang allein hätte ich wahrscheinlich nicht gewusst, was für ein Tier so ein Geräusch macht, doch ich musste nicht lange raten. Es saß da, mitten auf dem Tisch vor Skender … ein kleiner brauner Affe. Ich konnte ihn sehen. Kopf und Brust waren weiß, er hatte ein rundliches Gesicht und einen Schwanz, der so lang war wie sein ganzer Körper. Der Affe war etwa so groß wie ein kleiner Hund. Und er trug eine Windel, dazu ein Halsband mit Leine. Skender hielt die Leine und der Große mit den gruseligen Augen nahm gerade eine Transportbox vom Tisch und stellte sie auf den Boden. Der Affe wirkte ängstlich und verwirrt, seine Augen schossen ständig umher und jetzt sah ich, dass er eine Zigarette in seiner Pfote hielt.

Das Mädchen hatte sich vom Tisch entfernt und saß jetzt auf einem Stuhl, der etwas abseits stand. Wütend starrte sie Skender an. Die Tatsache, dass sie den Blick auf ihn fixierte und nicht auf den Affen, sagte mir, dass sie die Szene nicht zum ersten Mal sah. Nicht, dass das irgendetwas verständlicher machte. Es erklärte nicht, wieso ein Affe mit Windel auf dem Tisch saß und eine brennende Zigarette in der Pfote hielt.

Der Affe machte alle möglichen kleinen Laute, während er die Zigarette vorsichtig untersuchte – Piepsen, Trillern und leises Jaulen –, und dann, urplötzlich, verzog er das Gesicht zur Grimasse und schleuderte voller Ekel die Zigarette weg. Sie rollte vom Tisch und fiel auf den Boden. Der Große mit den Gruselaugen beugte sich runter, hob sie wieder auf und versuchte den Affen zu zwingen, die Zigarette erneut festzuhalten, aber der Affe wollte sie nicht. Er bleckte die Zähne und kreischte den mit den Gruselaugen an – auf einmal überraschend boshaft, wie es schien. Doch statt zurückzuweichen, fauchte der Typ zurück (in einer Sprache, die ich nicht erkannte), holte mit der Hand aus und lachte, als der Affe vom Tisch sprang und unter Skenders Stuhl huschte.

»Der hat echt Eier«, sagte das Gruselauge zu Skender. »Das kannst du mir glauben … der hat echt Eier.«

»Der ist eine Sie«, antwortete Skender, zerrte an der Leine des Affen und riss ihn unter dem Stuhl hervor. »Musst dich aber trotzdem vorsehen, vergiss nicht … die kleine Bitch kann ganz schön zubeißen.« Er sah zu dem Mädchen rüber. »Genau wie die da.«

Gruselauge grinste und drehte sich zu dem Dürren um., »Was meinst du, Jorqi? Denkst du, wir können so eine kleine Bitch wie die da brauchen?«

»Den Affen oder das Mädchen?«

»Egal … beide … was denkst du?«

Der Angesprochene, Jorqi, musterte das Mädchen. »Ist mir egal«, antwortete er lässig. »Am Ende sind die doch alle gleich.«

Das Mädchen hielt seinem Blick stand und wirkte mehr wütend als ängstlich. Dann fing der Affe erneut an zu kreischen und zu schreien, und sie schaute erbost zurück zu Skender, der den Affen packte und wieder in die Transportbox zwang. Der Affe quiekte weiter, als Skender das Türchen schloss und die Box zurück auf den Boden stellte, sich dann nach unten beugte und mit der flachen Hand draufschlug. Der Affe wurde sofort still.

Skender richtete sich auf, zündete eine Zigarette an und drehte sich zu Gruselauge um. »Also«, sagte er beiläufig. »Was ist jetzt, ja oder nein?«

Gruselauge wedelte mit der Hand – vielleicht, vielleicht auch nicht. »Wie viel?«

»Mach mir ein Angebot.«

Ich wusste nicht, ob sie um den Affen oder das Mädchen feilschten, doch worum auch immer, beides machte deutlich, was für eine Sorte von Männern sie waren. Sowohl der Affe als auch das Mädchen waren für sie nur eine Ware, die man kaufen und verkaufen konnte.

Cole wandte sich wieder zum Tresen um, sammelte die £150 ein und schob die Scheine gefaltet in seine Tasche. Roy beobachtete ihn, offensichtlich in der Hoffnung, dass wir, nachdem Cole das Geld eingesteckt hatte, endlich gehen und das hier vergessen würden – was immer das hier war –, aber als Cole anfing, Fragen zu stellen, sah ich, wie die Hoffnung aus seinen Augen verschwand.

»Wer sind die zwei, die da mit Skender zusammenhocken?«, fragte Cole.

Roy warf einen kurzen Blick auf die drei Männer. »Hör zu, Cole«, sagte er, schob sein Gesicht dichter an ihn heran und sagte mit gesenkter Stimme: »Ist vielleicht besser für uns alle, wenn –«

»Wer sind sie?«

Roy seufzte. »Der Große heißt Savik, der andere Jorqi. Mehr weiß ich nicht.«

»Woher kommen die?«

»Keine Ahnung.« Er warf erneut einen Blick zu den Männern. »Sie sind zusammen mit Frank reingekommen. Hab sie vorher noch nie gesehen.«

»Was macht Skender überhaupt hier? Dachte, der arbeitet jetzt oben im Westen.«

»Hat ein paar Häuser unten am Kanal.«

Cole schwieg und dachte nach.

Ich wandte mich an Roy. »Was treibt Skender denn mit dem Affen?«

Roy zuckte mit den Schultern. »Ich hab gehört, er hat ihn von irgendeinem armen Handlanger zur Tilgung seiner Schulden bekommen.«

»Warum macht er so was?«

»Weil er es kann.«

»Und warum will er ihn verkaufen?«

Roy grinste. »Wenn ich raten darf, würde ich annehmen, seine Alte hat ihm gesagt, er soll das Tier wieder loswerden.«

Das Grinsen verschwand von Roys Gesicht. Er schlug die Augen nieder und rückte näher an Cole heran.

»Die beobachten uns«, sagte er jetzt fast im Flüsterton. »Werden misstrauisch. Wenn sie glauben, ich –«

»Lassen sie Mädchen arbeiten für Skender?«

Roy schüttelte frustriert den Kopf. »Ich sag’s dir doch, Cole. Ich weiß null über die beiden. Das Einzige, was ich weiß, ist –«

»Wer ist das Mädchen?«

Roy seufzte erneut. »Ich weiß nicht, wer sie ist. Ist einfach so von der Straße reingekommen.«

»Was soll das heißen?«

Roy zuckte mit den Schultern. »Sie kennt die Männer nicht oder so … ist bloß vorbeigelaufen … da draußen …« Er zuckte mit dem Kopf in Richtung des Fensters, das zur Straße blickte. »Nur vorbeigelaufen, hat zufällig reingeschaut und da hat sie den Affen gesehen. Und gleich danach hämmert das Mädchen gegen die Scheibe und schreit wie wild diesen ganzen Kram von wegen Tierquälerei und dass sie die Polizei ruft und den Tierschutzverein.«

Roy unterbrach sich und blickte kurz zu Skender und den anderen. »War keine große Sache«, fuhr er fort. »Ich meine, sie war einfach bloß ein kleines Großmaul … die hätte niemanden gerufen. Ich hab Skender gesagt, ich regel das, aber gerade als ich die Tür öffnen und ihr den Marsch blasen wollte, sagt Savik, ich soll sie reinholen.«

»Savik?«

»Ja … er hat gesagt –«

»Savik verlangt also, hol sie rein, und Sie tun, was er sagt? Richtig?«

»Na ja …«

»Obwohl Sie ihn noch nie gesehen haben?«

Roy schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht, Cole. Du weißt doch, wie diese Leute sind … und abgesehen davon, wenn ich sie nicht reingeholt hätte, hätte es einer von denen getan.«

»Aber Sie wissen schon, was die mit dem Mädchen machen werden, oder?«

Darauf gab Roy keine Antwort und Cole verschwendete keine weitere Zeit mit ihm. Roy war, wer er war, und ihn zu beschuldigen oder bloßzustellen, brachte gar nichts. Deshalb wandte Cole seine Aufmerksamkeit wieder den drei Männern und dem Mädchen zu. Und ich stand daneben und tat das Gleiche.

Der Jüngere, Jorqi, hatte seine Einschüchterungsversuche inzwischen verschärft. Sie saß immer noch auf dem Stuhl etwas abseits vom Tisch, Jorqi stand über sie gebeugt – die Arme rechts und links an ihrem Kopf vorbei ausgestreckt und die Hände auf die Rückenlehne gelegt … sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt. Er grinste sie an. Sie ignorierte ihn und versuchte ihm nicht die Genugtuung zu geben, ihr Angst zu machen. Ich sah, wie er über die Schulter zu Cole blickte, ihn offen provozierte, etwas zu tun, aber dann plötzlich verschwand das Grinsen und sein Gesicht schwang herum, als das Mädchen sich unter seinen Armen durchduckte, aufsprang und sich ihm entgegenwarf. Sie boxte und trat, versuchte ihm die Augen auszukratzen, kreischte, fluchte und spie. Jorqi schien zunächst überrascht und wirkte für einen Moment so in Rage, dass ich Sorge hatte, er würde sie umbringen, aber fast noch im selben Moment legte sich seine Wut und er war wieder der Alte, der sich mokierte, sie angrinste und weiter anstachelte …

Während all das lief, waren Skender und Savik tief in ein Gespräch vertieft. Sie schienen sich nicht für das zu interessieren, was Jorqi da trieb, so als hätten sie das alles schon erlebt. Und anscheinend hatte Jorqi ohnehin fürs Erste genug. Das Mädchen hatte die Sinnlosigkeit ihres Fluchtversuchs eingesehen und war zurück auf den Stuhl gesackt. Jorqi hatte sich abgewendet und ging am Tresen vorbei zu einer Tür auf der anderen Seite des Gastraums, die zu den Herrentoiletten führte. Er bewegte sich mit der Arroganz von jemandem, der glaubt, sorglos und ungestraft tun zu können, was immer er will. Ich spürte, wie Cole ihn beobachtete und jedem seiner Schritte folgte. Und ich wusste, mein Bruder hatte auf Autopilot geschaltet und alle Gefühle verdrängt. Selbst als Jorqi ihm einen Blick von der Seite zuwarf und ihn mit einem verächtlichen Grinsen provozierte, tangierte das Cole absolut nicht. Jorqi schien nicht wahrzunehmen, dass Cole auf den Köder nicht ansprang, sondern schaute bloß weg und ging weiter in Richtung Tür, drückte sie auf und stolzierte vollkommen sorglos hindurch.

Cole verlor keine Zeit.

»Wir brauchen ein Auto«, sagte er zu mir.

»Wann?«

»Jetzt.«

»Was für eins?«

»Egal. Welches auch immer du findest.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Geh auf demselben Weg raus, den wir gekommen sind, schnapp dir das erstbeste Auto, in das du reinkommst, und dann warte in einer Viertelstunde auf mich hinterm Haus.«

»In einer Viertelstunde?«

»Sei einfach da, so schnell du kannst, okay?«

Er warf einen Blick zu Skender, Savik und dem Mädchen hinüber, dann drehte er sich wieder zu mir um und zeigte mir mit einem Nicken, dass ich losgehen sollte.

Vier

Als ich den Pub verließ, verschwendete ich keinen Gedanken an das, was mir Cole nicht erzählt hatte – wieso wir ein Auto brauchten, was er vorhatte, warum er mir nicht alles erzählte. Einerseits, weil ich wusste, er hätte es mir gesagt, wenn dafür Zeit gewesen wäre, hauptsächlich aber, weil ich schon spürte, dass ich wieder bei ihm war.

Ich weiß nicht, wann ich das erste Mal merkte, dass ich im Innern anderer Menschen sein konnte, aber ich erinnere mich an keine Zeit, in der ich mir nicht dessen bewusst war. Es ist schwer zu beschreiben. Ich weiß nicht, wie und warum es geschieht oder was es bedeutet, und ich kann es auch nicht kontrollieren. Es passiert selten mit Menschen außerhalb der Familie und hauptsächlich bei Cole. Ich war auch ein paarmal im Innern meiner Mum und gelegentlich – aber nie auf ganzer Linie – in meinem Dad. Und auch wenn ich nie zuvor in Rachel gewesen war, in der Nacht, als sie umgebracht wurde und ihren letzten Atemzug tat, da war ich innerlich bei ihr.

Es hat mich echt lange beschäftigt, dass ich keinen Einfluss hatte, wann – und wie und wo – es geschah. Ich ertrug es nicht, dass es etwas in mir gab, es ein Teil von mir war, das ich nicht kontrollieren konnte. Es fühlte sich wie ein Eindringling an, wie wenn etwas von mir Besitz ergriffe – oder doch zumindest von einem Teil in mir –, wie eine Art fremder, unwirklicher Parasit oder so. Es dauerte lange, bis ich damit zurechtkam, aber schließlich begriff ich, dass ich ja aus lauter Dingen bestand, die außerhalb meiner Kontrolle lagen. Ich konnte auch mein Herz nicht kontrollieren. Oder meine Lunge. Meine Leber, meine Nieren, mein Blut … womöglich sogar mein Hirn. Ich kontrollierte nichts davon. Viel eher kontrollierten sie mich.

Und mit den Jahren lernte ich auch zu akzeptieren, dass ich gar nicht verstehen musste, was dieses Etwas war oder wieso ich es konnte. Die Welt ist voller Dinge, die wir nicht verstehen, und es ist nicht wichtig. Wir müssen nicht alles verstehen.

Cole ist bereits unterwegs, als ich ganz in seinem Innern bin, und als er die Tür zu den Toiletten aufdrückt und in einen schmuddeligen dunklen Flur tritt, spüre ich die Gefühlsleere in ihm. Ich spüre, dass er sich von allem befreit und entleert hat, was er nicht braucht – Wut, Hass, Vernunft, Zweifel –, bis nur noch die kalte Entschlossenheit übrig ist, das zu tun, was er tut.

Ich bin jetzt mit ihm auf dem Flur – registriere die feuchten Wände, atme die stehende Luft, sehe die verriegelte hintere Tür am anderen Ende des Gangs … stelle mir die schmale Hintergasse vor, von der er weiß, dass sie jenseits der Tür vorbeiführt. Es gibt noch eine zweite Tür auf halber Höhe des Flurs, die mit dem Wort MÄNNER versehen ist. Cole zögert nicht, als er die Tür erreicht, er stößt sie auf, ohne dabei aus dem Tritt zu kommen, und geht zu den Toiletten durch. Jorqi steht an den Pissoirs, den Kopf nach hinten gelegt, die Beine breit, die Leiste nach vorn geschoben … und ein dampfender gelber Bogen spritzt in die Schüssel. Er muss die Tür gehört haben und dass jemand reingekommen ist. Und er muss auch geahnt haben, dass es höchstwahrscheinlich Cole ist, doch er schaut sich nicht um. Wahrscheinlich denkt er, sich nicht umschauen ist, was ein taffer Kerl eben tut – cool, furchtlos, geringschätzig. Oder vielleicht wartet er auch darauf, dass Cole sich bemerkbar macht, damit er noch ein bisschen länger dastehen und Cole zappeln lassen kann, um sich dann langsam umzudrehen und ihn anzusehen … ganz ruhig, gelassen, absolut kontrolliert, um Cole zu zeigen, wer hier das Sagen hat …

Aber so wird es nicht kommen.

Cole spielt keine Spielchen. Alles, was er tut, ist, hinter Jorqi zu treten, seinen Kopf zu nehmen und gegen die Wand zu schleudern.

Ein dumpfes Knacken und Jorqi geht lautlos zu Boden, sackt in sich zusammen wie von einem Schuss. Cole schaut einen Moment lang auf ihn hinab. Der Typ ist bewusstlos – hat die Augen geschlossen, Blut strömt aus einer Stirnwunde –, doch er atmet noch. Cole geht neben ihm in die Hocke und durchsucht kurz die Taschen. Er nimmt das Portemonnaie und ein Springmesser an sich, schiebt sie in die eigene Tasche, danach fasst er in Jorqis Jacke und zieht die Pistole aus dem Schulterhalfter. Nachdem er sie hinten in den Bund seiner Jeans gesteckt hat, steht er wieder auf und geht zu einer der zwei Kabinen hinüber. Ein schäbiges Pappschild mit der Aufschrift AUSSER BETRIEB – NICHT BENUTZEN hängt mit Klebestreifen befestigt an der Tür und der Eingang ist durch zwei quer übereinanderlaufende Streifen von rot-weißem Sperrband blockiert. Cole reißt einen der Streifen ab, geht zu Jorqi zurück und benutzt das Band, um seine Hände hinter dem Rücken zu fesseln und an dem Wasserrohr unten an der Wand zu befestigen.

Es rührt sich immer noch nichts in Cole, während er all dies tut, und als er endlich überzeugt ist, dass Jorqi eine Zeit lang nirgendwo mehr hingehen wird, wischt er ihn ganz aus seinen Gedanken, steht auf und kehrt in den Gastraum zurück.

Ich war gleichzeitig immer auch bei mir selbst, als ich mit Cole in der Toilette stand, der gerade Jorqi erledigte. Und ich wusste genau, wo ich war und was ich tat. Ich verließ den Pub auf demselben Weg, den wir gekommen waren – durch den kleinen Eingangsbereich, an den Spielautomaten vorbei, den Flur entlang, der nach Bier, Desinfektionslösung und irgendwas Säuerlichem roch …

Ich war dort.

Und gleichzeitig war ich bei Cole, wie er zurück in den Gastraum ging und zu Savik, Skender und dem Mädchen hinübersah …

Sie hocken alle weiterhin am selben Tisch. Skender schaut etwas auf seinem Handy nach und das Mädchen streitet mit Savik und wird immer aufgebrachter. Sie gestikuliert wütend in Richtung der Box auf dem Boden, schreit und bettelt Savik an, schüttelt verzweifelt den Kopf. Savik schiebt ihr immer wieder einen Drink zu – irgendeinen toll aussehenden Cocktail, der vermutlich gespiked ist – und sie weigert sich, ihn zu nehmen, wedelt ihn weg, doch er akzeptiert kein Nein … Männer wie er tun das nie.

Cole hat genug gesehen.

»Hey, Mister«, ruft er. »Ihrem Freund geht’s nicht gut.«

Alle drei sehen zu ihm rüber.

Cole hält den Blick auf Savik gerichtet. »Ist irgendwie ohnmächtig geworden … draußen, auf der Toilette.«

Savik runzelt die Stirn und sieht Skender an. »Wovon redet der? Meint er Jorqi?«

Skender zuckt mit den Schultern. »Geh mal lieber hin und schau nach.«

Savik blickt erneut zu Cole und versucht ihn einzuschätzen. Aber Cole gibt nichts preis. Nicht wissend, was er damit anfangen soll, wendet sich Savik noch mal an Skender, doch der Alte ist schon wieder in sein Handy vertieft und Savik weiß, dass er von ihm keine Hilfe erwarten kann. Er murmelt irgendwas in sich rein, dann erhebt er sich und geht auf Cole zu.

»Zeig’s mir«, sagt er kurz angebunden.

Cole führt ihn durch den Ausgang und den Flur entlang zu den Toiletten, bleibt vor der Tür mit dem Wort HERREN stehen, tritt zur Seite und lässt ihn vor. Savik starrt ihn zweifelnd an. Cole starrt zurück. Er ist bereit zu