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Ein farbenprächtiger Roman über einen maßlosen Kaiser von China und einen englischen Uhrmacher, über die Vergänglichkeit und das Geheimnis, dass nur das Erzählen über die Zeit triumphieren kann. Der mächtigste Mann der Welt, Qiánlóng, Kaiser von China, lädt den englischen Automatenbauer und Uhrmacher Alister Cox an seinen Hof. Der Meister aus London soll in der Verbotenen Stadt Uhren bauen, an denen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Zeiten des Glücks, der Kindheit, der Liebe, auch von Krankheit und Sterben abzulesen sind. Schließlich verlangt Qiánlóng, der gemäß einem seiner zahllosen Titel auch alleiniger Herr über die Zeit ist, eine Uhr zur Messung der Ewigkeit. Cox weiß, dass er diesen ungeheuerlichen Auftrag nicht erfüllen kann, aber verweigert er sich dem Willen des Gottkaisers, droht ihm der Tod. Also macht er sich an die Arbeit.
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Seitenzahl: 287
Christoph Ransmayr
Cox oder Der Lauf der Zeit
Roman
FISCHER E-Books
Ān gewidmet
Die Umschrift chinesischer Ortsnamen und Begriffe entspricht der Pinyintranskription.
Cox erreichte das chinesische Festland unter schlaffen Segeln am Morgen jenes Oktobertages, an dem Qiánlóng, der mächtigste Mann der Welt und Kaiser von China, siebenundzwanzig Steuerbeamten und Wertpapierhändlern die Nasen abschneiden ließ.
Nebelbänke zogen an diesem milden Herbsttag über das glatte Wasser des Qiántáng, dessen sandiges, in Nebenarmen zerfließendes Bett von mehr als zweihunderttausend Zwangsarbeitern mit Schaufeln und Körben vertieft worden war, damit gemäß den Wünschen des Kaisers ein Fehler der Natur korrigiert werde und dieser Fluß, schiffbar gemacht, das Meer und die Bucht von Háng zhōu mit der Stadt verbinde.
Das Nebeltreiben verbarg das Schiff des Ankömmlings immer wieder vor den Blicken der Menschenmenge, die sich auf dem dicht am Hafen gelegenen Richtplatz versammelt hatte. Nach dem Polizeiprotokoll waren es zweitausendeinhundert Zuschauer, Zeugen der Unfehlbarkeit und Gerechtigkeit des Kaisers Qiánlóng, viele von ihnen festlich gekleidet, die den Auftritt des Scharfrichters plaudernd oder ehrfürchtig schweigend erwarteten und dabei den Dreimaster aus den Flußnebeln heranschweben, immer wieder darin verschwinden und mit jedem neuerlichen Auftauchen bedrohlichere Gestalt annehmen sahen. Was für ein Schiff!
Selbst einige der an Pfähle geketteten Verurteilten hoben den Kopf und blickten nach dem lautlos driftenden Barkschoner mit seinen tiefblauen Schrat- und Rahsegeln, während die um das Schafott Versammelten vergessen zu haben schienen, daß alle Aufmerksamkeit dieser Welt doch allein dem Kaiser und den Vollstreckern seines Willens zustand, allein dem Sohn des Himmels gehörte, der jede Zuwendung und jeden Blick nur gnadenhalber mit anderen Menschen und Dingen teilte:
Keine Flutwelle, kein Vulkanausbruch und kein Erdstoß, nicht einmal die Verfinsterung der Sonne konnten auch nur einen einzigen Gedanken rechtfertigen, der sich ohne Erlaubnis vom Glanz und der Allmacht des Kaisers ab- und den Tatsachen der gewöhnlichen Welt zuwandte.
Der Kaiser hatte mit der Vertiefung des Qiántáng gezeigt, daß sein Wille eine ganze Stadt ans Meer versetzen und das Meer bis an die Gärten und Parks von Háng zhōu heranführen konnte. Einlaufende Schiffe wurden seither vom Gezeitenschwall wie eine Opfergabe des Ozeans bis an die Kais und Speicher der Stadt herangetragen, während der mit dem Wechsel von Ebbe und Flut seine Fließrichtung umkehrende Fluß als ein Spiegel kaiserlicher Macht ganze Flotten tragen konnte.
Aber was galt ein Allmächtiger, dessen Gesetze jede Regung des Lebens, den Lauf eines Flusses, Küstenlinien, selbst das Augenspiel und die geheimsten Gedanken bestimmten, wenn ein noch nie gesehener Großsegler über das schwarze, nach der Kalkmilch der Gerber stinkende Wasser des Qiántáng heranglitt? Und der Kaiser war unsichtbar. Das Schiff dagegen war es nicht – oder war den Blicken zumindest immer nur für einige Herzschläge entzogen, bevor die Nebelschwaden es wieder in eine untrügliche Wirklichkeit entließen.
In der auf dem Richtplatz versammelten Menge hatten einige in Sänften oder unter Baldachinen ruhende Mandarine begonnen, einander Gerüchte der letzten Tage zuzuflüstern – aus den vielen Schatten des Hofstaates gedrungenes Gewisper von der bevorstehenden Ankunft eines englischen, mit kostbaren Maschinen und Uhren beladenen Seglers. Aber wer immer flüsterte, zeigte dabei niemals auf den Dreimaster und blickte nach jedem Satz verstohlen um sich, um zu prüfen, ob nicht eines der vielen Ohren des Kaisers hörte und nicht eines seiner vielen Augen sah, daß in bestickte Mäntel oder pelzverbrämte Roben gekleidete Untertanen, deren Namen für jeden Agenten der Polizei oder des Geheimdienstes leicht in Erfahrung zu bringen waren, sich verbotene Sorgen darüber machten, was an diesem Morgen gemäß dem allerhöchsten Willen geschah: Gewiß, die Verurteilten standen, wo sie standen, weil der Allerhöchste es so wollte. Aber hielt auch dieses blau beschlagene, riesige Schiff tatsächlich nach Seinem Willen Kurs auf eine der prächtigsten und reichsten Städte des Reiches?
Qiánlóng, unsichtbar oder schimmernd in Rotgold und Seide, war allgegenwärtig; ein Gott. Aber obwohl er in diesen Tagen seine von einem Troß aus mehr als fünftausend Höflingen begleitete Inspektionsreise durch sieben Provinzen in Háng zhōu beenden und mit einer Flotte von fünfunddreißig Schiffen auf dem Großen Kanal, einer allein für ihn gegrabenen Wasserstraße, nach Bĕijīng zurückkehren wollte, hatte ihn noch kein einziger Bewohner der Stadt und auch kein einziger von den höchsten Würdenträgern in den Tagen seines Besuchs zu Gesicht bekommen. Schließlich mußte der Kaiser weder seine Augen am Anblick der Plagen des täglichen Lebens ermüden, noch mußte er seine Stimme in Gesprächen oder Reden erschöpfen. Was zu sehen oder zu sagen war, sahen und sagten Untertanen für ihn. Und er – er sah alles, selbst bei geschlossenen Augen, hörte alles, selbst wenn er schlief.
Qiánlóng, der Himmelssohn und Herr über die Zeit, schwebte an diesem Morgen in Fieberträumen gefangen hoch über den Türmen und Dächern Háng zhōus, von Hundertschaften gepanzerter Krieger bewacht, hoch über dem Nebeltreiben irgendwo zwischen tiefgrünen Hügelketten, wo die Herbstluft von milden Aromen durchsetzt war und der kostbarste Tee des Reiches gepflückt wurde – lag wie ein Wiegenkind in einem Bett, das an vier mit Purpurfäden durchwirkten und mit Lavendel und Veilchenöl parfümierten Seidenzöpfen von den rotlackierten Balken seines Prunkzeltes pendelte. An die durchsichtigen Vorhänge des Schwebebettes genähte Nachtigallenfedern winkten manchmal träge in der Zugluft.
Der Hofstaat hatte seine Zelte und das Seidenzelt des Allerhöchsten so hoch über der Stadt aufgeschlagen und den Luxus der seit Wochen bereitstehenden, leeren Paläste Háng zhōus verschmäht, weil der Kaiser auf Reisen manchmal den Wind und die Flüchtigkeit einer Festung aus Stoffbahnen, Schnüren und Wimpeln allen Gemächern und Mauern vorzog, die versteckte Gefahren bergen oder zu von Verschwörern und Attentätern errichteten Fallen werden konnten. Aus der Höhe der Hügelkuppen betrachtet aber sah es aus, als ob Qiánlóng in diesen Tagen eine seiner eigenen Städte belagerte.
Von einer Papierflut aus Ansuchen, Urteilen, Kalligraphien und Gedichten umgeben, von Expertisen, Aquarellen und zahllosen, noch verschnürten und versiegelten Schriften, die er an diesem wie an jedem anderen Tag auch in den Morgenstunden lesen und begutachten, bewilligen, bewundern oder verwerfen wollte, lag er in jagenden Träumen, aus denen er hochschreckte, als der erste unter seinen Kammerdienern versuchte, eine kostbare Urkunde vor den Krämpfen des Fieberkranken zu schützen und ihm mit Lotosessenz beträufeltem Batist die schweißnasse Stirn zu trocknen.
Nein. Nein! Verschwinde! Qiánlóng, ein im Prunk der Kissen und Bettücher beinahe zierlich wirkender Mann von zweiundvierzig Jahren, wandte sich ab wie ein zorniges Kind. Er wollte, daß alles, auch das raschelnde, papierene Chaos, in dem er sich wand, blieb, wo und wie es war. Eine kaum wahrnehmbare, bloß angedeutete Bewegung eines Zeigefingers hatte genügt, um die Hände des Dieners in eine starre Bereitschaft zurückzucken zu lassen.
Aber wer von den anwesenden, schweigend gebeugten Dienern und Ärzten, denen bei Todesstrafe verboten war, jemals auch nur ein Wort über das Fieber oder ein anderes Gebrechen des Allerhöchsten außerhalb seines Zeltes zu verlieren – und wer von den in ihren purpurroten Rüstungen wie versteinerten Soldaten der Leibgarde, die dieses Zelt als reglos atmender Panzer umschloß, hätte zu bezweifeln gewagt, daß der Kaiser, obwohl schweißüberströmt und fiebernd in seinem fliegenden Bett, nicht auch in diesem Augenblick, gleichzeitig!, dort unten war, gegenwärtig in der von Nebeln verhüllten Stadt und gegenwärtig selbst unter den siebenundzwanzig ihre Verstümmelung erwartenden Betrügern. Und gegenwärtig auch draußen, im schwarzen Wasser des Hafenbeckens, in dem nun ein englischer Barkschoner rasselnd die Ankerketten fallen ließ.
Als ob dieses Rasseln, in dem die Menge verstummte, das Zeichen für sein Erscheinen gewesen wäre, trat, noch bevor der Anker festen Grund erreicht hatte und die Ketten sich strafften, ein dürrer Mann mit einem gürtellangen Zopf wortlos an den ersten der siebenundzwanzig Pfähle heran, der Scharfrichter. Er verbeugte sich kurz vor dem Verurteilten, der in seiner Angst zu wimmern begann, drückte ihm mit dem Daumen seiner linken Hand die Nasenspitze nach oben, setzte mit der Rechten ein Sichelmesser an den Nasensteg und führte einen ruckartigen Schnitt noch durch das Nasenbein bis dicht unter den Stirnansatz.
In das Schmerzgebrüll, das mit der aus einem seltsam leeren, plötzlich einem Totenschädel ähnlichen Gesicht hervorsprudelnden Blutquelle einsetzte – und mit den weiteren Schritten des Scharfrichters, seinen Verbeugungen und immergleichen Schnitten von Pfahl zu Pfahl anwuchs und schließlich ohrenbetäubend wurde, mischte sich da und dort aufkommendes und lauter werdendes Gelächter:
Jetzt verloren diese gierigen Säue nach ihrem Gesicht endlich auch ihre Nasen! Und das war noch eine milde, zu milde Strafe dafür, daß sie an den Börsen in Bĕijīng und Shànghăi und Háng zhōu wertlose Papiere verkauft und den Schwindel mit Steuergeldern, dem Gold des Kaisers!, zu decken versucht hatten. Auf dem Bauch sollten sie ihren Richtern danken, denn nach dem Urteil einiger am Schafott versammelten Lacher hätten ihnen dafür auch die Schwänze abgeschnitten und in den Arsch gestopft werden sollen, bis ihnen die Scheiße ins Maul stieg. Daß das Blut nur aus ihren platten Drecksvisagen schoß und nur ihre Nasen wie Fallobst über die Bretter des Schafotts davonsprangen, war ein Akt der Gnade!
Zwei struppige Hunde, die dem Scharfrichter auf dem Fuß folgten, schnupperten wohl an der hüpfenden Beute, rührten sie aber nicht an. Das tat eine Schar Krähen, die sich wenige Schreie und Atemzüge, bevor der letzte der Verurteilten seine Nase verlor, lautlos von den Dächern einer Glockenpagode herabschwangen und am Ende bloß vier oder fünf Nasen aus unerfindlichen Gründen verschmähten und in einem chaotischen Muster aus Blutspuren zurückließen. Ob der Kaiser, wo immer er in seiner Unsichtbarkeit nun sein mochte, wohl mit den lachenden Zeugen seiner Gerechtigkeit empfand und – lächelte?
Als hätte ihn das Geklirr der Ankerketten und das daraufhin einsetzende Schmerzgebrüll aus der Stadt in der Tiefe endgültig aus der Verstrickung in seine Träume befreit, richtete sich der Himmelssohn hoch oben zwischen den Hügelketten in seinem Fieberbett auf, das von den Impulsen seiner letzten Krämpfe noch sanft schaukelte. Aber nicht einmal der Kammerdiener, der an diesem schwebenden Bett kniete, verstand Qiánlóngs Gemurmel:
Ist er also angekommen? Der Engländer. Ist er angekommen?
Alister Cox, Uhrmacher und Automatenbauer aus London und Herr über mehr als neunhundert Feinmechaniker, Juweliere, Gold- und Silberschmiede, stand an der Reling des Dreimasters Sirius und fror trotz der strahlenden Morgensonne, die bereits hoch über die Hügel von Háng zhōu gestiegen war und die Nebel über dem schwarzen Wasser verrauchen ließ.
Kalt. Kalt. Verflucht.
Die Sirius war ihm in den sieben Monaten einer von Stürmen zerrissenen Seereise von Southampton entlang der malariaverseuchten afrikanischen Küste über das Kap der Guten Hoffnung und die malariaverseuchten Häfen Indiens und Südostasiens bis in diese stinkende Bucht von Háng zhōu einzige, längst verhaßte Wohnstätte und Zuflucht gewesen. Das Schiff hatte auf dieser Fahrt zweimal Mastbruch erlitten und war beide Male – zuerst vor den Küsten des Senegal, dann in den wirren Strömungen vor Sumatra – Gefahr gelaufen, mitsamt seiner kostbaren Fracht zu sinken.
Aber wie eine von einem Allmächtigen beschützte Arche Noah voll metallener Wundertiere – aus Silber und Gold geschmiedete und mit Juwelen besetzte, radschlagende Pfaue, mechanische Leoparden, Affen und silberhaarige Polarfüchse, Eisvögel, Nachtigallen und Chamäleons aus vergoldetem Kupferblech, die ihre Farben von Rubinrot zu tiefstem Smaragdgrün wechseln konnten – war die Sirius nicht hinabgefahren zum Grund, sondern hatte nach langwierigen Reparaturarbeiten an feindseligen Küstenstrichen wieder Segel gesetzt und Kurs genommen auf ein verheißungsvolles, von einem Gottkaiser beherrschtes Land.
Cox, der vor dieser Reise noch nie zur See gefahren war, hatte in tosenden Nachtstunden, in denen selbst der Kapitän nicht mehr daran glauben wollte, daß sein Schiff den Sturzseen länger widerstehen würde, ein seltsames Symptom entwickelt, mit dem er seither auf alles Ungeheuerliche und Bedrohliche reagierte: Ihn begann bei Gefahr, selbst in der Tropenhitze Südostasiens oder Indonesiens, zu frieren. Wer in seiner Nähe war, hörte manchmal sogar seine Zähne klappern. Und daß ihn auch jetzt, in dieser sonnigen Morgenstunde, fror, rührte von einem Blick durch jenes fein ziselierte Fernrohr, das er dem Kaiser von China bei seiner ersten Audienz als Gastgeschenk überreichen wollte.
Die Mannschaft der Sirius und mit ihr auch Cox hatten das Gelächter, das Gebrüll und die Gongschläge, die vom Richtplatz mit einer aufkommenden Brise über das glatte Wasser bis an die von Bohrwürmern befallenen Bordwände der Sirius drangen, als den Lärm eines Festes gedeutet: Der Kaiser von China ließ die Ankunft des begnadetsten Automatenkonstrukteurs und Uhrmachers der abendländischen Welt feiern! Und tatsächlich stiegen auch Raketen in den Himmel, so blendend, daß selbst Rauchfahnen in den Farben des Regenbogens, die sich in rasenden Spiralen hinter emporschießenden Explosionslichtern in den Zenit wanden, gegen die Sonne nicht verblaßten. Aber Cox’ Blick durch das Fernrohr zeigte kein blumenbekränztes Orchesterpodium und keine Fahnenmasten, sondern siebenundzwanzig Pfähle auf einem Schafott und bewies: Das war kein Fest.
Cox fror. Er sah die kaiserlichen Gesandten wieder vor sich, zwei in seltsam schlichtem Zuschnitt, dennoch in Seide und Glanzwolle gekleidete Männer mit langen Zöpfen, die ihm in jenem unseligen Herbst vor zwei Jahren, in dem seine Tochter Abigail, seine Sonne, sein Stern, ein fünfjähriges Kind, am Keuchhusten gestorben war, die Einladung des Kaisers von China überbracht hatten.
Die Gesandten waren an Abigails Bahre herangetreten, weil Cox sich weigerte, seine Totenwache zu unterbrechen und den hohen Besuch im Empfangszimmer zu begrüßen. Er hatte damals seit drei Tagen nicht gegessen und auch kaum getrunken und hörte die von einem Dolmetscher der Ostindischen Handelskompanie übersetzten Worte der Gesandten wie aus großer Ferne:
Meister Alister Cox werde im Namen des Himmelssohnes und erhabenen Kaisers Qiánlóng ersucht, an den Hof in Bĕijīng zu kommen, um dort als erster Mensch der abendländischen Welt in einer Verbotenen Stadt Quartier zu beziehen und für den allerhöchsten und leidenschaftlichsten Liebhaber und Sammler von Uhren und Automaten nie gesehene Werke nach den Plänen und Träumen des Allerhöchsten zu erschaffen.
Die Gesandten hatten anfänglich wohl gedacht, in dem mit Kränzen und Girlanden aus weißen Damaszenerrosen geschmückten und vom Geflacker Dutzender weißer Kerzen erhellten Sterbezimmer Abigails läge kein totes Kind aufgebahrt, sondern ein aus feinsten Blechen gehämmerter, mechanischer Engel auf einem Katafalk – das neueste Werk des weltberühmten Automatenbauers, das sich auf einen Knopfdruck jede Sekunde erheben und die Augen aufschlagen konnte.
Cox hatte die Augenlider seines Töchterchens mit blauen Saphiren beschwert, die für einen Rotmilan gedacht waren, den der Herzog von Marlborough in Auftrag gegeben hatte. Mit den Silberschwingen des Milans hatte er Abigails dünne Arme bedeckt. An ihrem vom Fieber und Husten ausgezehrten, in ein Totenhemd aus weißem Atlas gehüllten Körper schimmerten selbst Raubvogelschwingen wie die Flügel eines Engels.
Cox hatte damals seine Haut, seine eigenen Gesichtszüge wie aus Metall empfunden und die Temperatur und den langsamen Fluß seiner Tränen wie auf einer Statue gespürt, in deren lichtlosem Inneren er gefangensaß, als einer der beiden Gesandten seinen Irrtum erkannte und keinen Automaten, sondern ein totes Kind vor sich sah, sich tief verneigte und im Glauben, damit dem Gesetz einer fremden Kultur Genüge zu tun, vor dem kindlichen Leichnam auf die Knie sank.
In den zwei Jahren, die seither verstrichen waren, hatte Cox in jeder Stunde jedes Tages an Abigail gedacht und hatte aufgehört, Uhren zu bauen. Er wollte kein einziges Zahnrad, keine Hemmung, kein Pendel und keine Unruh mehr an seinen Werkbänken fertigen, wenn jedes dieser Teile doch nur der Messung einer verfliegenden, um keine Kostbarkeit der Welt zu vermehrenden Zeit dienen sollte.
Fünf Jahre, nur fünf Jahre!, aus der Überfülle der Ewigkeit waren Abigail beschieden gewesen, und er hatte, nachdem ihr kleiner Sarg ins Dunkel eines Grabes auf dem Friedhof von Highgate hinabgeschwebt war, bis auf ein einziges, rätselhaftes Uhrwerk, das er anstelle eines marmornen Engels oder eines trauernden Fauns in Abigails Grabstein einsetzen ließ, alle Uhren, selbst die Sonnenuhr auf der Südseite seines Hauses an der Shoe Lane, entfernen lassen.
Die Konstruktionszeichnung dieser schon nach Monaten von Efeu und Rosen umrankten Uhr, die er nicht einmal Faye gezeigt hatte, sollte er erst auf seiner Werkbank in China wieder ausbreiten – dort auf der Suche nach einem Mechanismus, der sich weiter und weiter und schließlich aus der Zeit selbst in die Ewigkeit hinaus zu drehen vermochte wie ein Insekt aus der Fessel seines Kokons. Abigails Lebensuhr hatte Cox den unauffälligen, je nach Jahreszeit von Blüten, Laub oder Hagebutten getarnten Grabschmuck genannt, an dem er das Vergehen seines eigenen Lebens ablesen und an Abigails ewige Ruhe binden wollte.
Wenn nun in seinen Manufakturen in Liverpool, London und Manchester im Auftrag von Herrscherhäusern, Reedereien oder der Königlichen Admiralität Zeitmesser hergestellt wurden – von Aberhunderten Uhrmachern und Feinmechanikern, die einem Chronometer auch die Form und die Stimme einer Amsel oder einer Nachtigall geben konnten, die je nach Mittags-, Abend- oder Nachtstunden verschiedene Gesänge anstimmten –, dann geschah dies seit Abigails Tod vor allem unter der Aufsicht seines Freundes und Gefährten Jacob Merlin, der neben ihn an die Reling getreten war. So wie jetzt war Jacob in den vergangenen sieben Monaten an Bord oft neben ihm gestanden, als fürchte er, Alister Cox, den traurigsten Mann der Welt, davon abhalten zu müssen, seinen Frieden in den schwarzen Tiefen des Ozeans zu suchen.
Wir werden doch nicht ausgerechnet am Execution Dock an Land gehen?, sagte Merlin. Auch er hielt ein Fernrohr in der Hand.
Cox hatte nur ein einziges Mal in seinem Leben gesehen, wie am Execution Dock an der Themse drei Seeräuber an besonders kurzen Seilen gehängt worden waren, damit ihnen die übliche Fallhöhe am Schafott nicht das Genick brach, sondern sie am eigenen Gewicht langsam erstickten. Piratentanz hatten die Zuschauer das Gestrampel der vergeblich um Luft Ringenden genannt; königliche Gerechtigkeit.
Cox fror. Die glanzvollsten Häuser Englands und des Kontinents hatten in den vergangenen zwei Jahrzehnten ihre Bestellungen in der Shoe Lane hinterlegt, einige, um sich selber zu beschenken, andere, um mächtigere und unbezwingbare Höfe wie jenen des russischen Zaren freundlich zu stimmen. Aber hatte je ein Beschenkter nach dem Schöpfer der Uhren und Automaten gefragt, die ihm mit der Bitte um die Freigabe eines Handelsweges, um Zollerleichterungen oder andere Privilegien überreicht worden waren?
Der Kaiser von China hatte gefragt.
Cox war, als er die Einladung Qiánlóngs nach zwei Monaten Bedenkzeit angenommen und zum Zeichen seines Einverständnisses die in Tusche ausgeführte Planzeichnung eines Eisvogels nach Bĕijīng geschickt hatte, voller Hoffnung gewesen, daß eine Reise nach China ihn vielleicht in die Lage versetzen würde, sich von der Unerbittlichkeit der Zeit abzuwenden, um wieder Automaten, vielleicht sogar Uhren zu bauen: mechanische Geschöpfe, die in Wahrheit immer nur Spielzeug sein würden – Pfaue, Nachtigallen oder Leoparden, von Saphiren und Rubinen funkelndes Spielzeug für Abigail.
Nach den Fürsten, Milliardären und Kriegsherren Europas, den reichsten und erbarmungslosesten Menschen ihrer Zeit, sollte selbst ein gottgleicher Kaiser in seinen Thronsälen und Audienzpavillons mit den Wundertieren und Puppen eines schlafenden, unter einer Tränenkiefer in Highgate seine Auferstehung erwartenden Engels spielen und so sein Reich mit einem Schimmer kindlicher Unschuld erhellen.
Der Kaiser wollte kein Spielzeug.
Weder die Bewohner der Dörfer und privilegierten Wasserstädte an den Ufern des Dà yùn hé noch die Besatzungen der fünfunddreißig Dschunken, die seit neun Tagen von Háng zhōu vorüber an Reisfeldern, Maulbeerbaum- und Rosenteakholzwäldern stromaufwärts nach Bĕijīng segelten und ruderten, konnten sagen, auf welchem der Schiffe dieser prunkvollen Flotte sich der Allerhöchste befand.
Die Dschunken mit ihren blutroten, mit Sternbildern und goldenen Drachen bemalten, an schwarze Pfahlmasten geschlagenen Segeln waren kaum voneinander zu unterscheiden. Selbst ihre Namen mußten wochenlang, bis die Leinen an die Molen vor Bĕijīng klatschten, mit rotem Wachstuch verhüllt bleiben. Und für jeden Uneingeweihten unvorhersehbar, konnte sich ohne ein einziges gebrülltes Kommando die Reihenfolge der Schiffe zu jeder Tages- und Nachtzeit ändern: Dann glitt etwa die siebzehnte Dschunke an zehn vor ihr segelnden vorüber und nahm die Stelle der siebenten ein, während diese an die dreißigste Stelle zurückfiel, die dreißigste wiederum um zwanzig Positionen aufrückte und die erste oder fünfte oder neunte den neuen Schluß bildete und so fort.
Kein Feind aus einem Hinterhalt an den felsigen, überwucherten oder scheinbar friedlich grünen Ufern, kein Attentäter, kein Verschwörer sollte jemals ausspähen können, auf welches der kaiserlichen Schiffe er seine Pechgranaten, glühendheißen Steinkugeln oder lodernden Pfeile abschießen sollte, ja er sollte nicht einmal ahnen können, ob diese Flotte den Gottgleichen tatsächlich trug oder nur ein grandioses Täuschungsmanöver unter vollen Segeln an ihm vorüberzog.
Zu welchen Tages- oder Nachtzeiten die Formation der Flotte in fließendem Wechsel geändert wurde, bestimmten mit Feuerzeichen oder verschlüsselten Flaggensignalen die auf allen Dschunken postierten Offiziere der kaiserlichen Garde, von der es hieß, sie hielte ihre Augen bereits seit tausend Jahren offen: Für jeden Gardisten, der schlief, müsse ein Dutzend anderer wachen.
Cox wußte nicht, ob auch der Kaiser Nacht für Nacht von den schwarzen Wellen des Dà yùn hé, des Großen Kanals, der den Süden des Reiches mit Bĕijīng und dem Norden verband, in den Schlaf gewiegt wurde – oder ob Qiánlóng vielleicht längst im Schutz einer Hundertschaft gepanzerter Reiter schneller als jeder Stromsegler über seine Felder, seine Auen und Steppen sprengte.
Sieben Wochen, vielleicht länger, je nach Wind und Zwischenaufenthalten, sollte diese Wasserfahrt dauern, und Qiánlóng war seit der von Opfergaben – Geistergeld aus rotem Reispapier – umflatterten Abfahrt aus Háng zhōu unsichtbar geblieben. Unsichtbar selbst während der Passage großer Wasserstädte, an deren Ufern Tausende Menschen der Flotte zujubelten, und unsichtbar auch, wenn die Dschunken in einem dramatischen Schauspiel von Hunderten Wasserbüffeln und einem Heer von Sklaven und Knechten an Zugseilen über geflutete Gleitbahnen aus Holz zur weithin dröhnenden Musik von Regengongs, Schellen und Hörnern über eine Gefälle- oder Staustufe hochgeschleppt wurden.
Joseph Kiang, ein in Shànghăi geborener und von einem portugiesischen Missionar getaufter Han-Chinese, der den englischen Gästen als Übersetzer zugewiesen worden war, sagte, daß sich der Kaiser nicht anders zeigen würde als der erste Schneefall, nicht anders als ein Hagelsturm oder ein glühender Sommertag – jeder wußte, daß es kein Jahr ohne Schnee, keines ohne Sturm und Hitze gab, aber wann das immer wieder Erwartete eintreten könnte, blieb eine in Prognosen und astrologischen Zahlenkolonnen verborgene Wahrscheinlichkeit, ein Geheimnis. Manche Diener und Eunuchen, sagte Kiang, hatten den Allerhöchsten in zwei oder drei Jahrzehnten ihres Lebens am Hof kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Zeigen müsse sich schließlich nur einer, der seiner Welt gegenübertreten, auf sie Eindruck machen oder sich an ihr oder mit ihr messen wolle.
Qiánlóng dagegen könne jede Stromfahrt in einem Schwebebett oder in einer aus den Haaren seiner Feinde geflochtenen Hängematte an Bord eines Flußseglers in der Gewißheit verschlafen, daß ihm kein Gefälle, keine Flut, kein Gebirge – und keine noch so große Entfernung widerstand. Die erfindungsreichsten Wasserbaumeister hatten nach seinem und dem Willen seiner Dynastie über Generationen hinweg Bĕijīng mit dem Mündungsdelta des Lán Chāng Jiāng und Háng zhōu verbunden und dabei selbst gegenläufige Strömungen von Zuflüssen, Bächen und Quellen mit vielgestaltigen Schleusensystemen zu einer einzigen, unter der Sonne gleißenden Straße zusammenfließen lassen:
Vierzig Meter breit war der Dà yùn hé, der längste jemals von Menschenhand gegrabene Wasserweg, war an manchen Stellen zwölf Meter tief und von Háng zhōu bis Bĕijīng fast eintausendzweihundert Meilen lang. Wie viele Knechte, Zwangsarbeiter und Sklaven in den Jahrhunderten der Grabarbeit im Schlamm des Kaiserkanals an Erschöpfung gestorben waren, am Fieber, an ihren Verletzungen oder unter den Äxten, Pfeilen und Messern revoltierender Clans, war nirgendwo verzeichnet. In den Wasserstädten hieß es, tausend Tote für jede Meile des Großen Kanals.
Für die Mannschaften der Dschunken und die Scharen der in Uferdörfern und Wasserstädten rekrutierten Gehilfen war die Überwindung jeder Gefällestufe ein Fest. Ihre im Zuggeschirr zum Rhythmus der Gongs gekeuchten Gesänge vermengten sich oft mit dem Gekreisch den Himmel verfinsternder Wasservogelschwärme, Rotgänse, Kraniche, Graureiher, und wenn nach Stunden der Mühsal wieder eine Dschunke endlich ins glatte Wasser des nächsten Kanalabschnitts glitt und dort das Spiegelbild der Wolken zerriß, verloren sich alle Schlepplieder im Hurrageschrei.
An Abenden, an denen auch das letzte Schiff der Flotte eine Barriere überwunden hatte, wurden am Ufer große Feuer entfacht, über denen schwarzgekleidete Köche jene einhundertacht Gänge zubereiteten, aus denen nach den Gesetzen des Hofes das Mahl des Allerhöchsten bestehen mußte. Aber aus qualmenden, offenen Uferküchen wurden die kaiserlichen Speisen nicht allein dem Gottgleichen, sondern allen am Fortkommen seiner Flotte Beteiligten vorgelegt – dieser Mannschaft sieben Gerichte aus der großen Speisenfolge, einer anderen neun oder zehn oder zwölf der einhundertacht Gänge –, je nach Nährwert und Schwere der geleisteten Arbeit.
Der Gottgleiche wollte, daß seine Untertanen mit ihm speisten, mit ihm, dem Unsichtbaren, an einer gemeinsamen, unsichtbaren Tafel speisten und so die Früchte und Gaben des Reiches mit seinem Segen verzehrten. Noch während die Gerichte in Kesseln, Pfannen und an Spießen garten, brüllten die Köche durch Sprachrohre aus Messing alle Zutaten und in langen Litaneien auch die Namen kostbarer Gewürze und stellten manchmal sogar in Versen Verbindungen her zwischen Garzeiten und den Eigenschaften einer Zutat – und den kaiserlichen Kräften, die aus roher Materie und ungebändigten Elementen ähnlich der Hitze eines Kochfeuers ein unbesiegbares, seine Untertanen ernährendes Reich als ein Abbild des Himmels entstehen ließen.
Auch wenn Qiánlóng niemals an einer Tafel oder den großen, über die Uferwiesen gebreiteten Planen erschien, auf denen die Gerichte zwischen Fackeln ausgelegt wurden, fielen die Gespeisten, ob prunkvoll gekleidet oder halbnackt und schweißverklebt von den Plagen im Zuggeschirr, mit Brüllchören in die Sprechgesänge der Köche ein.
Cox zog es an diesen Abenden stets vor, an Bord zu bleiben, hielt den martialisch klingenden Jubel einmal sogar für etwas wie Kriegsgeschrei und versuchte vergeblich, Vorbereitungen für eine Schlacht zu entdecken.
Er war gemeinsam mit Jacob Merlin und zwei Gehilfen, einem Uhrmacher und einem Feinmechaniker aus Dartford und Enfield, die er wegen ihres besonderen Geschicks und Erfindungsreichtums auf die größte Reise seines Lebens mitgenommen hatte, in Háng zhōu wie ein fürstlicher Besucher aus einem barbarischen Abendland empfangen worden. Man hatte die vier blassen Engländer, von denen keiner die Sprache des Reiches verstehen, reden oder schreiben konnte, mit Seidenteppichen, Prunkgewändern, weißem Tee in mit Miniaturmalereien verzierten Lackbüchsen und nahezu durchsichtigem, in England mit Gold aufgewogenem Porzellan beschenkt. Aber den Kaiser oder auch nur einen seiner Leibwächter hatte dabei keiner von ihnen gesehen.
Der Allerhöchste, hatte Kiang gesagt, würde dennoch zu jeder Stunde des Tages und der Nacht seine schützende Hand über seine Gäste halten. Spielzeug. Kiang hatte tatsächlich Spielzeug gesagt, der Kaiser wolle kein Spielzeug, als er Cox mitteilte, daß sämtliche Automaten, das glitzernde Kernstück der Fracht der Sirius, wohl am besten in ihren Etuis und ledernen Transportkoffern an Bord des Dreimasters verblieben. Denn niemand dürfe diese Maschinen auch nur begutachten, solange der Kaiser nicht selber einen ersten Blick darauf ruhen ließ und die Betrachtung durch andere freigab.
Der Allerhöchste habe aber andere Pläne mit seinen Gästen, hatte Kiang gesagt; größere Pläne. Er wolle weder kaufen noch tauschen und auch seinen künstlichen, mechanischen Zoo nicht mehr erweitern. Von metallenen Kreaturen habe er seit langem genug: zwei Schiffsladungen, mehr als drei Dutzend, über die Ostindienkompanie aus England gelieferte Automaten allein in den vergangenen fünf Jahren! Genug, mehr als genug. Nein, der Kaiser wolle ihren Kopf.
Unseren Kopf?, hatte Cox entgeistert gefragt und gespürt, wie ein kalter Schauer über seinen Rücken lief. Plötzlich lag wieder die scheußliche Reliquie auf einer Werkbank in Liverpool vor ihm, ein Totenschädel, den er nach langem Zögern und nur unter dem Druck fälliger Schuldverschreibungen für einen irischen Landgrafen zum Herzstück einer Pendeluhr verarbeitet hatte. Es war der Totenschädel des ehemaligen englischen Lordprotektors und Erzfeindes von Irland, Oliver Cromwell. Nachdem er Abertausende irische Kämpfer für die Unabhängigkeit mitsamt ihren Familien getötet hatte, war Cromwell, allerdings erst nach seinem Tod, selber in Ungnade gefallen und sein verwester Leichnam aus der Westminster Abbey exhumiert und in einem symbolischen Akt hingerichtet worden.
Seinen Schädel hatte man auf eine Stange gespießt und auf einer Mauerkrone der Westminster Hall zur Schau gestellt. Von schillernden Fliegen umsummt, starrte die Fratze dort über die Köpfe aller Zeugen einer über den Tod hinausreichenden königlichen Unerbittlichkeit hinweg, bis der irische Landgraf, dessen Namen Cox nie erfahren sollte, den Schädel stehlen und bleichen ließ und zur Einsetzung in ein Uhrwerk, das den unaufhaltsamen Ablauf und Niedergang der englischen Herrschaft im Minutentakt vorführen sollte, in eine geheime Werkstatt schickte.
Ja, Ihren Kopf, hatte Kiang wiederholt und sich vor dem englischen Gast verbeugt: Ihren Kopf. Ihre Erfindungsgabe, Ihr Vorstellungsvermögen, Ihre Kunst, Mühlen für den Lauf der Zeit zu erschaffen.
Mühlen?, hatte Cox gefragt.
Uhren, hatte der Übersetzer seinen Fehler korrigiert und beide Hände zu einer entschuldigenden Geste gehoben, Uhren, Automaten, Meßgeräte, Maschinen …
So war die Sirius nach drei Wochen auf Reede, die mit von Wolkenbrüchen und heftigen Winden aus Ost und Südost gestörten Ausbesserungsarbeiten an Takelage und Rumpf verflogen, samt ihrem glitzernden Viehbestand aus Edelmetallen, der nahezu das gesamte Vermögen von Cox&Co. repräsentierte, mit Kurs auf Yokohama weitergesegelt. Und Cox war nach seiner anfänglichen Bestürzung und enttäuschten Geschäftserwartung mit Merlin und den beiden Gehilfen Aram Lockwood und Balder Bradshaw in Háng zhōu in der Hoffnung zurückgeblieben, mit der Erfüllung der immer noch rätselhaften Wünsche des Kaisers möglicherweise größeren Gewinn zu erzielen als mit dem Verkauf der Ladung der Sirius.
Die in Kissen aus Watte und Rehleder ruhenden Metallwesen mit ihrer von feinstem verborgenen Räderwerk betriebenen, jeden Betrachter bezaubernden Anmut und Beweglichkeit, konnten ihre Schwingen auch in Yokohama oder an einem anderen, von der Ostindienkompanie genehmigten Handelsplatz ausbreiten oder mit ihren silbernen Köpfen nicken – und Käufer finden. Zu der von der Königlichen Admiralität festgelegten Mission der Sirius gehörte schließlich nicht bloß die Befriedigung der Wünsche des Kaisers von China, sondern auch die weitere Erforschung der Randmeere des Pazifischen Ozeans:
Nach zwei Jahren, im übernächsten Herbst allerspätestens, sollte die Sirius wieder in Háng zhōu vor Anker gehen und Cox und seine Gefährten, als reiche Männer vielleicht, an Bord nehmen.
Wer weiß, versuchte Jacob Merlin die beiden durch den bisherigen Verlauf der Geschäftsreise verunsicherten Gehilfen aus Dartford und Enfield zu beruhigen, wer weiß, möglicherweise würde es Meister Cox ja gelingen, den lähmenden Schmerz, den er über den Tod seiner Tochter Abigail empfand, wie ein Alchimist der Trauer in Gold zu verwandeln.
Tatsächlich sah Cox in den Wochen der Flottenfahrt vieles, was ihn in helleren Zeiten dazu bewegt hätte, in seiner mit Seidentapeten ausgeschlagenen Kabine ganze Nächte mit Skizzen und Planzeichnungen für rotierende oder flügelschlagende, mit Smaragden oder grünem Bernstein besetzte Geschöpfe zu verbringen:
Wasserbüffelgespanne zogen Karren und Pflüge über Reisfelder und Äcker an den fruchtbaren, manchmal von Urwald gesäumten Ufern dieses Kanals, der sich kaum von einem ruhig dahinziehenden Strom unterschied. An einem sonnigen Tag im späten Oktober führte von den Mauern und Wehrtürmen einer Wasserstadt eine Prozession unter knallenden Fahnen mit Opfergaben beladene Elefanten ans Wasser: Diese mit Honig bestrichenen und mit Blumensamen, Melonenkernen und Weizen bestreuten Tiere, hatte Kiang gesagt, gehörten zur letzten Hundertschaft der vom Aussterben bedrohten Elefanten Chinas. Vogelschwärme, vom Honig, den Samen und süßen Kernen angelockt, ließen die Elefanten wie tausendfach geflügelte Wesen erscheinen, die sich samt ihrer Opferlast – Körben voll Früchten und Fleisch, Räucherwerk und Blumenkränzen – vielleicht schon mit dem nächsten Stampfschritt in den Himmel erheben würden.
Dann wieder säumten lange Reihen rosafarbener Flamingos die Route der Flotte oder ließ eine endlose Kolonne von Wasserträgern mit ihren an Bambusstangen pendelnden Eimern einen Uferhügel aus ziegelroter Erde aussehen, als sollte er von einer Menschenkette in Bewegung versetzt und in einer langsamen, der Jahreszeit gehorchenden Rotation zum Blühen gebracht werden …, mechanische Abläufe, programmierte Bewegungen, Zifferblattpanoramen, wohin Cox auch sah.
Aber als die Flotte an einem der ersten Frosttage des Jahres Bĕijīng endlich erreichte, sollte er diese und andere Bilder seiner Fahrt auf dem Dà yùn hé vergessen haben wie einen Traum, der, von keiner Schrift und keinem Wort festgehalten, wenige Minuten nach dem Erwachen verblaßt. Alles, was ihm von seinen Tagen auf dem Großen Kanal an Erinnerungen schließlich bleiben sollte, war die an einen einzigen Nachmittag, so, als hätte die Reise von Háng zhōu in das uneinnehmbare Herz des Reiches tatsächlich nur diesen einen Nachmittag gedauert. Und diese Erinnerung galt der flüchtigen Erscheinung eines Mädchens. Oder war es eine Frau?, eine mädchenhafte Frau?
Es war das einzige weibliche Wesen, das Cox auf den Dschunken je gesehen hatte. Denn auch wenn Kiang sagte, daß sich der Kaiser sowohl von einer seiner Gemahlinnen als auch gewiß dreihundert seiner Konkubinen auf dieser Reise begleiten ließ, mußten das Antlitz einer Geliebten und erst recht das einer Kaiserin doch vor den schädlichen, den vernichtenden Lauf der Zeit beschleunigenden Sonnenstrahlen und dazu vor allen neugierigen oder gar begehrlichen Blicken bewahrt werden. Die Frauen ruhten unter Deck oder lasen, durch Paravents und Baldachine allen Blicken und der Sonne entzogen, Gedichte, lauschten der Musik von Virtuosen auf den Wolkengongs oder einer Mondgitarre oder einfach der Stille und aller darin geborgenen Vogel- und Wassermusik, machten sich wohlriechend und warteten, manche gelassen und ruhig, andere ängstlich und voll geheimen Widerwillens, daß sie an das Bett des Gottgleichen befohlen würden.
Die Bäuerinnen, Obstverkäuferinnen oder Wäscherinnen an den Uferstegen und auf den Feldern waren für Cox stets nur geschlechtslose Gestalten mit breiten Kegelhüten aus Reisstroh gewesen, Modelle, vielleicht für das Panorama einer silbernen Wasseruhr. Aber die wenigen Sekunden, die Cox dieses Mädchen sehen durfte, riefen in ihm eine so brennende Erinnerung an Abigail und ihre Mutter wach, an Faye, seine Frau, daß er für Tage überzeugt blieb, nur eine zweite Begegnung mit dieser Kindfrau an der Reling würde seinen Schmerz besänftigen.
Faye hatte seit dem Tod Abigails kein Wort mehr gesprochen. Selber fast noch ein Kind, mehr als dreißig Jahre jünger als der ihr in einer verzehrenden Leidenschaft verfallene Cox, war sie am Totenbett ihrer ersten und einzigen Tochter in einer Sprachlosigkeit versunken, als wäre sie stets nur der Schatten eines ersehnten und nun toten Kindes gewesen und gemeinsam mit ihm für alle Ewigkeit verstummt.
Faye ertrug das gemeinsame Bett nicht mehr, ertrug keine Berührung, beantwortete keine Frage und fragte auch nichts, sprach nicht einmal Abigails Namen aus, wollte allein sein, wenn sie aß, allein, wenn sie im Garten die Bourbonenrosen schnitt, und ertrug keine Begleitung, auch nicht auf ihren langen, Fluchtwegen gleichenden Spaziergängen durch eine Stadt, in der täglich Frauen spurlos verschwanden – in Bordellen, in Kellern oder einfach in den blinden Fluten der Themse.
Der Rückzug eines so schmerzhaft geliebten Wesens, an das er sich in den sechs Jahren ihres gemeinsamen Lebens Tag für Tag und Nacht für Nacht so sehr gefesselt hatte, daß er seine Geschäfte mehr und mehr Jacob Merlin überließ, war für Cox zu einer nie gekannten Qual geworden.