Craving Lily - Nicole Jacquelyn - E-Book

Craving Lily E-Book

Nicole Jacquelyn

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Beschreibung

Sie liebte ihn von Anfang an. Auch wenn er ihr nicht gehörte. Zu behaupten, Lily Butlers Kindheit und Jugend sei ein Spaziergang gewesen, wäre schlichtweg gelogen. Doch die Liebe ihrer Familie, die Zuneigung und Fürsorge des Clubs und nicht zuletzt der Personen, die ihr am nächsten stehen, halfen ihr, sogar ihre psychosomatische Blindheit zu überwinden. Einer der wichtigsten Menschen für sie war immer schon Leo. Doch er kann nur ihr bester Freund sein, niemals mehr. Leo ist ein Mitglied des Aces & Eights MC in Eugene, Oregon, und fühlt sich wie der größte Mistkerl auf der Welt, weil er seine beste, aber vor allem minderjährige Freundin geküsst hat. Nachdem eine falsche Entscheidung die andere jagt, steht er vor den Trümmern einer Freundschaft und einer ganz anderen Herausforderung. Allerdings ändert das alles nichts an seinen Gefühlen für Lily.

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Seitenzahl: 399

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Craving Lily

Next Generation Aces 4

Nicole Jacquelyn

© 2020 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt

© Umschlaggestaltung Andrea Gunschera

© Englische Originalausgabe Nicole Jacquelyn 2017

© Übersetzt von Sylvia Pranga

ISBN Taschenbuch: 9783864439292

ISBN eBook-mobi: 9783864439308

ISBN eBook-epub: 9783864439315

www.sieben-verlag.de

Inhalt

Prolog

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Teil 2

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Danksagungen

Die Autorin

Prolog

Lily

Ich war früher blind. Das meine ich nicht metaphorisch. Ich war buchstäblich und legal sechs Jahre lang blind. Dafür gab es keine wirkliche Erklärung. Die Ärzte nannten es dissoziative Störung. Meine Eltern nannten es hysterische Blindheit. Ich weiß nur, dass ich eines Tages auf einer Familienfeier von meinen beiden Großmüttern zu Boden gerissen wurde und sie mich mit ihren Körpern bedeckten. Ihr Parfüm mischte sich mit dem Geruch des Grases unter mir, als sie mich vor einem Kugelhagel schützten. Ich kniff die Augen zu, als sie flüsterten, dass alles wieder gut werden würde, doch dann zuckten ihre Körper und wurden still.

Als es vorbei war und mein Vater ihre Leichen von mir herunterzog, öffnete ich die Augen und konnte ihn nicht sehen. Ich konnte nichts sehen.

Mit der Zeit wurden meine anderen Sinne schärfer, um das fehlende Augenlicht auszugleichen, und das Leben ging weiter. Natürlich war es anders. Lange Zeit hatte ich Angst, zu gehen, allein gelassen zu werden oder selbst zu essen. Was, wenn ein Insekt in meinem Essen war und ich keine Ahnung hatte? Was war, wenn ich stolperte und mein letztes bisschen Orientierungssinn verlor? Was war, wenn etwas passierte, wenn ich allein war und ich nicht darauf reagieren konnte, weil ich die Bedrohung nicht sah? Ich weigerte mich sogar zu schlafen, wenn ich meinen Dad den Flur hinunter nicht schnarchen hörte. Schließlich wurde es jedoch zu meiner neuen Normalität. Kinder sind robust, und das war bei mir nicht anders.

Meine Sehkraft kam in so kleinen Schritten zurück, dass sie kaum merkbar waren. In der Nacht, als meine Schwester ihre Sachen packte und mich bat, bis zum Morgen zu warten, ehe ich meinen Eltern sagte, dass sie weg war, fragte ich mich, warum sie nicht das Licht ausgeschaltet hatte, nachdem sie mich in ihrem Bett zugedeckt hatte und verschwunden war. Ich wusste, dass es im Schlafzimmer hell war, verstand es aber erst später, als meine Cousine Rose mich fragte, warum ich automatisch das Licht einschaltete, wenn ich in ein Zimmer kam.

Monatelang sah ich nur Licht und Schatten, als ob ich versuchen würde, durch ein weißes Laken zu sehen und dann plötzlich, als wäre sie nie weg gewesen, war meine Sehkraft wieder da. Einfach so.

Ich dachte über die Jahre ohne Augenlicht nach, während der Mann vor mir langsam auf und ab ging. Sein Haar war völlig zerzaust, weil er so oft mit den Fingern hindurchgefahren war. Er war gut gekleidet. Ein Russe. Jünger, als ich zunächst gedacht hatte, aber auch kräftiger. Sein Partner war weniger einschüchternd. Größer, aber wärmer. Die beiden hatten die letzten zwanzig Minuten etwas auf Russisch diskutiert, und ich hatte keine Ahnung, was sie gesagt hatten. Ich hatte ebenfalls keine Ahnung, wie sie auf das Grundstück gekommen waren. Cams und Trix’ Grundstück wurde bewacht, war eingezäunt und nur einen Steinwurf vom Motorradclub der Aces entfernt. Einst hatte das Haus meinen Großeltern gehört und war gebaut worden, um Angriffen standzuhalten. Mein Großvater war Präsident des Clubs gewesen, also hatte er einen Panikraum ins Büro einbauen lassen. Leider hatte ich nicht genug Zeit, um hineinzukommen, nachdem die Männer ins Haus eingedrungen waren. Ich hatte es jedoch geschafft, meinen Neffen Handzeichen zu geben, sodass sie sich jetzt außer Sichtweite befanden. Mein Gott, ich hoffte, sie verstanden, was sie tun sollten.

„Dein Name?“, fragte mich der jüngere Mann zum zehnten Mal.

Ich antwortete nicht. Ich hatte keine Ahnung, was sie vorhatten, aber wenn sie Informationen über den Club hatten, zu dem alle Männer meiner Familie gehörten, würde das bestimmt meine Stirn zur Zielscheibe werden lassen.

„Wie heißt du denn?“, konterte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich wurde frech, das wusste ich, konnte den Impuls aber nicht unterdrücken. Sie hatten mich auf einen Stuhl geschoben, nachdem sie sich ins Haus gedrängt hatten. Keiner der Männer hatte mich angerührt. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich aufhalten würden, wenn ich versuchen würde, abzuhauen, mir aber ansonsten keinen Schaden zufügen wollten. Ich musste nur dafür sorgen, dass ihre Aufmerksamkeit auf mich gerichtet blieb, damit sie nicht das Haus durchsuchten.

Der kräftigere Kerl sah zur Haustür und murmelte etwas Unheilvolles, was den jüngeren noch nervöser machte. Sie warteten auf etwas, doch ich wusste nicht, auf was.

„Weißt du, du solltest hier besser abhauen“, sagte ich zu dem zappeligen Typen. „Wenn jemand bemerkt, dass du hier bist, bist du tot.“

„Halt die Klappe, Miststück“, sagte der Kräftige mit so starkem Akzent, dass ich eine Weile brauchte, um die Worte zu verstehen. „Halt einfach die Klappe.“

„Ich meine es ernst. Ihr beiden seid am Arsch“, fuhr ich fort und beobachtete den Jüngeren beim Hin- und Herlaufen. „Haut einfach ab, und ich muss niemandem sagen …“

Der Kräftige muss stinksauer gewesen sein, weil ich seine Warnung ignoriert hatte, denn eine große Faust knallte gegen die Seite meines Kopfes und alles wurde schwarz.

Als ich eine Weile später wieder aufwachte, dachte ich kurz, dass die Blindheit zurückgekommen wäre. Ich konnte nichts sehen, nicht eine einzige Form oder auch nur Licht. Erst als meine Augen zu brennen begannen, begriff ich, dass ich nicht blind war. Dann fing ich an zu husten, weil überall um mich herum Rauch war.

Teil 1

Kapitel 1

Leo

„Willst du heute Abend zu der Party am Kanal gehen?“, fragte mich Cecilia, als ich mich neben sie auf die Couch fallen ließ. Ich war so verflucht müde, hatte ihr aber versprochen, vorbeizukommen, also hatte ich mich zum Haus ihrer Eltern geschleppt. Es war verdammt seltsam, dort zu sein. Ich hasste es.

Es war erst etwas über ein Jahr her, seit ich auf der Party im Garten des Hauses ins Gesicht geschossen worden war, aber ich hatte nie jemandem erzählt, wie unwohl ich mich fühlte, wenn ich in dieses Haus ging. Das hätte ich sonst noch ewig zu hören bekommen.

„Nein, nicht heute Abend“, stöhnte ich und ließ den Kopf auf die Couchlehne sinken. „Ich bin total erledigt.“

„Hi, Leo“, rief eine süße Stimme. Cecilias kleine Schwester Lily kam ins Zimmer, gefolgt von ihrer Cousine Rose. Sie bewegte sich nicht schnell, es war aber auch kein Zögern in ihren Schritten zu bemerken, als sie zu uns kam und sich auf den Teppich vor uns kniete.

„Kannst du das nicht anderswo machen, Lil?“, zickte Cecilia sie an, als Lily ein Buch auf den Couchtisch legte.

„Nein“, murmelte Lily. „Mom hat gesagt, ich soll es hier unten machen. Es ist ja nicht so, dass ich euch sehen könnte, also tut, was immer ihr wollt.“

„Oh, nein, bitte nicht“, grummelte Rose. „Ich kann euch nämlich sehen.“

„Ignorier sie einfach“, sagte Lily leichthin. „Das tue ich jedenfalls.“

„Ach, Löwenzahn“, ärgerte ich sie und lächelte über ihre besserwisserische Miene. „Du weißt, dass du mich nicht ignorieren kannst.“

„Ich tue mein Bestes“, konterte sie und machte eine scheuchende Bewegung mit der Hand. Sie schlug das Buch auf und ich beugte mich vor, um einen Blick auf die sehr einfache Geschichte für Kinder zu erhaschen, die in Schrift und Braille geschrieben war.

„Bereit?“, fragte Rose und drehte sich ein bisschen, sodass sie mir und Cecilia den Rücken zuwandte.

„Ich denke schon.“ Lilys Miene wurde ernst. Ihr Finger berührte die erste Seite und glitt über das Papier, bis sie die kleinen Erhöhungen fand. Ihre Lippen bewegten sich, als sie langsam mit der Fingerkuppe über die Braille-Schrift fuhr. Langsam sagte sie: „Es war einmal …“

„Oh, Mann, das hast du ja noch gar nicht gesehen“, flüsterte Cecilia und nahm einen Stift vom Beistelltisch. „Sieh dir das an.“

Bevor ich sie aufhalten konnte, warf sie den Stift auf Lily.

Wut stieg so schnell in mir auf, dass ich ihr Handgelenk fest umfasst hatte, bevor sie auch nur den Arm senken konnte.

Vor Überraschung blieb mir der Mund offenstehen, denn Lily wich dem Stift aus und fing ihn auf, als hätte sie ihn gesehen.

„Was zum Teufel soll das, Cecilia?“, fragte sie, und ihre Wangen röteten sich.

„Pass auf, was du sagst“, konterte Cecilia und riss sich von mir los. „Du weißt, dass du nicht so reden sollst.“

„Fick dich!“, rief Lily kochend vor Wut. Sie schlug mit den Fäusten auf den Couchtisch, was das ganze Ding zum Klappern brachte.

„Ihr seid solche Arschlöcher“, zischte Rose und sah uns finster an.

„Ich wusste, dass du ihn fangen würdest“, sagte Cecilia und warf mir einen Blick zu, bevor sie sich wieder an ihre Schwester wandte. „Du fängst sie immer.“

„Nicht, wenn ich mit etwas anderem beschäftigt bin“, schrie Lily, offensichtlich verlegen, zurück. „Was zum Teufel ist los mit dir? Warum tust du so etwas?“ Sie stand auf und fiel fast zur Seite, weil sie auf den Stift trat und wegrutschte.

Mein Herz hämmerte und mein Magen zog sich zusammen, als Tränen in Lilys Augen traten. Himmel noch mal. Ich war nicht in Cecilias kleine Demonstration eingeweiht gewesen und fühlte mich trotzdem höllisch schuldig.

„Was zur Hölle ist hier los?“, fragte Farrah, die ins Zimmer gelaufen kam.

Lily hob das Kinn und sagte kein Wort, als ihre Mutter ein paar Schritte auf uns zukam.

„Also?“ Farrah sah uns reihum an, bis ihr Blick schließlich an Rose hängenblieb. „Was ist passiert?“

Als Rose sich weigerte, zu antworten, sah Farrah Lily an. „Erzählst du mir mal, warum ich dich bis nach oben Obszönitäten schreien gehört habe?“

„Petzen werden verprügelt“, murmelte Lily mit düsterer Miene. Dann hob sie die Faust in Roses Richtung und wartete darauf, dass sie ihre Knöchel dagegen stieß.

„Himmel, du hast zu viel Zeit im Club verbracht“, schnaubte Farrah. „Und du auch.“ Sie zeigte auf Rose und sah dann zu Lily, die versuchte, den Stift mit ihrem Fuß zu verstecken.

„Cecilia“, sagte Farrah ausdruckslos und richtete den Blick auf uns. „Sag mir, dass du deine Schwester nicht mit einem verdammten Stift beworfen hast.“

„Sie fängt ihn immer auf!“, antwortete Ceecee und zuckte mit den Schultern. „Es ist ja nicht so, dass ich dachte, ich würde sie damit treffen.“

Farrah sah mich an, dann wieder Lily, ehe sie etwas sagte. „Die beiden haben zu viel Zeit im Club verbracht.“ Sie wies auf Rose und Lily. „Aber ihr habt eindeutig zu wenig Zeit dort verbracht. Du musst lernen, was Loyalität bedeutet, Cecilia. Deine Schwester ist keine verdammte Zirkusnummer.“

Ceecees Kinn zitterte. Sie warf mir einen Blick zu, sprang auf und rannte aus dem Zimmer.

„Ich hätte gedacht, dass du es besser weißt“, sagte Farrah an mich gerichtet verächtlich, doch Rose unterbrach sie.

„Er hat versucht, sie aufzuhalten, Tante Farrah“, sagte Rose ruhig. „Vielleicht solltest du das Onkel Casper sagen, damit er morgen, wenn er die blauen Flecken auf Ceecees Handgelenken sieht, Leo nicht umbringt.“

„Ich wusste nicht, was sie vorhatte“, sagte ich, wobei ich meine Worte an Lily richtete, die verlegen schweigend herumstand. „Als mir klar wurde, dass sie den Stift werfen wollte, versuchte ich, ihren Arm festzuhalten, bevor sie ihn loslassen konnte.“

„Ich bin sicher, dass es Cecilia gutgeht“, sagte Farrah und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Rose, es ist Zeit, dass wir dich nach Hause bringen. Pack deine Sachen zusammen.“

„Kann ich bei Rose übernachten?“, fragte Lily schnell und lächelte ihre Mutter schmeichelnd an.

„Nein“, antwortete Farrah. „Ihr beiden habt zwei volle Wochen miteinander verbracht. Ihr werdet es überstehen, eine Nacht getrennt zu sein.“

„Oh, Mann“, beklagte sich Rose und ging mit düsterer Miene aus dem Zimmer.

„Fährst du mit uns, Lily Liebling?“, fragte Farrah. Sie nahm ihre Handtasche und schob die Füße in Schuhe.

„Nein.“

„Hör auf zu schmollen. Sonst bleibt dein Gesicht noch so.“

„Das ist okay für mich, denn ich kann es ja nicht sehen.“

„Dann hab ein bisschen Mitleid mit deiner Mutter, die es nicht sehen will“, sagte Farrah trocken. „Lass uns fahren, Rose!“

Ich beobachtete das Ganze, blieb aber auf der Couch sitzen, als Farrah Rose nach draußen drängte und hinter sich die Tür schloss. Ich wollte gehen, wusste aber, wenn ich es täte, würde Cecilia Telefonterror machen, wenn sie nach unten kam und sah, dass ich nicht mehr da war. Ich war nicht einmal mehr sicher, warum ich mir ihren Scheiß noch gefallen ließ. Ich denke, es war einfach leichter, sie ihre Spielchen spielen zu lassen, als mich mit dem ganzen Mist auseinanderzusetzen, den sie veranstalten würde, wenn ich mit ihr Schluss machte.

„Du kannst ruhig nach oben gehen“, sagte Lily, griff nach unten und nahm ihr Buch. „Hier ist niemand, der dich aufhalten würde.“

„Schon gut“, antwortete ich.

Sie trat zwei Schritte zur Seite, streckte die Hand zum Sessel in der Ecke aus und strich mit den Fingern über die Armlehne, bis sie sicher war, wie er ausgerichtet war. Dann ließ sie sich mit einem Seufzen hineinfallen.

„Sie liebt mich, weißt du“, sagte Lily nach ein paar Minuten Schweigen. „Sie hat nur eine Show abgezogen.“

„Sie hat sich wie ein Arschloch benommen.“

„Es war keine große Sache“, widersprach sie und schüttelte den Kopf. „Solche Dinge passieren in der Schule die ganze Zeit.“

„Die Leute machen dir Ärger?“, fragte ich düster und beugte mich vor. Der Gedanke, dass irgendjemand das kleine Mädchen vor mir schikanierte, erweckte in mir den Wunsch, ein paar Mittelschülern in den Hintern zu treten.

„Ach, vergiss es“, meinte sie fröhlich und warf die Hände in die Luft. „Ich kann auf mich selbst aufpassen, und wenn ich mit jemandem nicht fertig werde, kümmert Rose sich darum.“

„Das ist doch Mist. Es sollte dich überhaupt niemand schikanieren.“

„Ist schon okay. Wenn ich ein Junge wäre, würdest du mir sagen, dass ich selbst damit fertig werden soll. Ich brauche von niemandem Hilfe.“

„Nein, das würde ich nicht. Wenn einer der Jungs ein Problem hätte, würde ich mich darum kümmern.“

„Du meinst, wenn einer der Jungs blind wäre und ein Problem hätte“, antwortete sie wissend und schüttelte den Kopf. „In der Schule ist alles in Ordnung. Ich meinte nur, dass du Cecilia nicht für einen schrecklichen Menschen halten sollst. Das ist sie nicht. Sie hat nur versucht, eine Show abzuziehen.“

„Ich kenne Ceecee, seit wir Babys waren, Löwenzahn. Ich denke, dass ich sie inzwischen gut einschätzen kann.“ Das war die Wahrheit. Und die Wahrheit war auch, dass Cecilia sich wie ein verwöhntes Gör benahm. Das würde ich ihrer kleinen Schwester jedoch nicht sagen.

„Jetzt erzähl mir, was die Kinder in der Schule gemacht haben.“

„Mein Gott! Nichts“, antwortete sie. „Haben die Kinder in der Schule dich schikaniert, als das mit deinem Gesicht passierte?“

„Verdammt, Löwenzahn.“ Ich verzog das Gesicht. Die meisten Menschen erwähnten mein Gesicht nicht. Sie redeten um den heißen Brei herum oder taten so, als hätten sie es nicht bemerkt, was unglaublich blöd war. Natürlich sahen sie die Narbe, die sich quer über meine Wange bis zu meinem Auge hochzog. Ich versuchte ja auch nicht, sie zu verbergen.

„Nein, niemand hat mich schikaniert. Sie haben sich gehütet.“

„Ist sie schlimm?“, fragte sie und drehte den Kopf in meine Richtung. „Deine Narbe?“

„Nicht gerade schön“, murmelte ich und strich mit den Fingern über die Haut, die ich nicht mehr spüren konnte.

„Darf ich sie anfassen?“

„Was?“

„Darf ich deine Narbe berühren? Niemand will sie mir beschreiben, auch nicht, wenn ich danach frage.“

Ich starrte sie mit großen Augen fast eine Minute an. Lily war ein süßes Kind. Hübsch auf eine Art, die zeigte, dass sie als Erwachsene umwerfend aussehen würde, aber sie wirkte immer noch so unschuldig, dass es fast schmerzlich war. Sie hatte den Knochenbau ihrer Mutter und von ihrem Vater das dunkle Haar und die sonnengebräunte Haut. Sie hatte das Beste von beiden Elternteilen bekommen, auch wenn ich das Cecilia, die blondes Haar und helle Haut hatte, nie sagen würde. Lily hatte nicht den geringsten Anflug von Gemeinheit in sich und würde auf keinen Fall etwas über meine Narbe sagen, außer sie hatte schon eine Weile darüber nachgedacht.

„Äh, klar“, antwortete ich schließlich und räusperte mich.

Sie hüpfte aus dem Sessel, bevor ich von der Couch aufstehen konnte, ging vorsichtig um den Couchtisch herum und achtete darauf, in nichts hineinzulaufen. Sobald ich mich vorbeugte, war sie vor mir, die Hände in Brusthöhe gehoben.

„Welche Seite?“, fragte sie und legte den Kopf auf die Seite. „Zeig mir, wo sie ist.“

Mein Herz hämmerte, ich atmete tief durch, nahm eine ihrer Hände und führte sie an mein Gesicht. Niemand hatte je meine Narbe berührt, außer mir und dem Arzt, der mich genäht hatte. Selbst Cecilia gestattete ich nicht, ihre Hände auf mein Gesicht zu legen. Es fühlte sich einfach zu merkwürdig an, wenn die taube Haut berührt wurde. Das war für mich Übelkeit erregend.

Die Narbe war auch furchtbar hässlich. Ich musste mich immer noch daran gewöhnen, kein Witz. Bevor ich angeschossen wurde, hatten sich die Frauen reihenweise für mich interessiert, wenn ich das auch kaum ausgenutzt hatte. Aber danach? Nur die Freaks, die Fetische und einen Vaterkomplex hatten, wollten noch etwas von mir.

Und Cecilia. Aber ich könnte schwören, dass dieses Miststück sich immer auf die entgegengesetzte Seite meiner Narbe setzt, damit sie sie nicht ansehen muss.

„Es ist …“ Lily brach ab, hob die andere Hand und strich mit den Fingern über beide Seiten meines Gesichts. Dann fuhr sie mit einem einzelnen Finger über die gezackte Linie der immer noch leicht hochstehenden Haut. „Das ist ja kaum etwas!“, sagte sie verärgert. „Du benimmst dich, als wärst du der Glöckner von Notre Dame, und das hier ist alles?“

Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber überrascht wieder, als sie leicht auf meine vernarbte Wange klatschte. „Sei nicht so ein Weichei, Leo.“

Ich lachte überrascht auf. In diesem Moment dröhnten Schritte die Treppe hinunter.

„Was macht ihr beiden da?“, fragte Cecilia misstrauisch.

„Was glaubst du denn?“, fragte ich unheilvoll. Sie meinte besser nicht das, wonach es klang.

„N-nichts“, stammelte Lily, ließ die Hände sinken und ging um den Couchtisch herum. Ihre Wangen wurden glühend rot, als sie vorsichtig das Zimmer verließ.

Mit unbeholfenen Schritten bewegte sie sich in die Küche, und ich sah Cecilia angewidert an, als sie anfing zu lachen.

„Jemand ist verknallt“, sang sie und zeigte mit dem Daumen in die Richtung, in die Lily gerade verschwunden war. Ihre süße kleine Schwester, die sie mit Sicherheit noch hören konnte und die wahrscheinlich vor Verlegenheit fast starb.

Ich presste die Zähne aufeinander und stand auf.

„Manchmal bist du ein verdammtes Miststück, weißt du das?“ Ich schüttelte den Kopf und ging an ihr vorbei zur Haustür.

Ich hatte keine Ahnung, warum Cecilia ihre kleine Schwester so behandelte. Ich hatte viel angestellt, um meine ältere Schwester Trix zu nerven, als ich noch ein Kind war. Aber ich hätte mir eher den Arm abgehackt, als sie absichtlich zu verletzen. Für mich ergab es keinen Sinn, dass Cecilia die ständigen Sticheleien gegen ihre Schwester nicht lassen konnte.

Ich war wütend, als ich auf mein Motorrad stieg, konnte aber nicht anders, als leise über die letzten Worte der Kleinen an mich zu lachen. Verdammt, ich hoffte, dass sie sich nicht darüber aufgeregt hatte, dass Cecilia so ein Arschloch war.

Nur, um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, lief ich die Verandatreppe wieder hinauf und streckte meinen Kopf durch die Haustür.

„Mädchen sollten nicht so ein schmutziges Mundwerk haben, Löwenzahn!“, rief ich durch die Öffnung.

Ihre Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

„Blödsinn! Kennst du meine Mutter nicht?“

Ich grinste, machte die Tür wieder zu und ging zu meinem Bike. Lily ging es gut. Das Mädchen hatte ein dickes Fell.

Kapitel 2

Lily

Vier Jahre später

„Was ist mit Molly und Wills Haus?“, fragte Rose. Sie rannte im Zimmer herum und stopfte Sachen in einen Rucksack.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Charlie ist da und spielt mit Reb. Sie würden sich in unseren Kram einmischen. Außerdem ist Will wahrscheinlich zu Hause. Ich dachte, das Ziel ist, dass unsere Verabredungen uns irgendwo abholen, wo man sie nicht zu Tode erschreckt.“

„Gutes Argument. Tatsächlich hätte ich in der Highschool gerne Dates, und du weißt, dass Jayden es rumerzählen würde, wenn einer der Kerle ihm eine Heidenangst einjagt.“

„Warum hast du überhaupt Ja zu ihm gesagt?“, fragte ich und ließ mich rückwärts auf ihr Bett fallen.

„Niemand anders hat mich gefragt“, antwortete sie pragmatisch. „Und ich wollte nicht allein zum Abschlussball gehen.“

„Ja“, murmelte ich. „Ging mir genauso.“

„Du hast davon geträumt, mit Leo hinzugehen, was? Allerdings hast du mit Brent irgendwie den Jackpot geknackt“, erwiderte sie und warf sich neben mich aufs Bett.

„Wirklich? Er scheint nett zu sein. Schöne Hände.“ Ich ignorierte ihren Kommentar über Leo. Das war ein Gespräch, das ich nicht schon wieder führen wollte.

„Himmel.“ Rose lachte. „Brent sieht wie ein Model aus. Ich mache ein Foto von euch. Wenn deine Sehkraft nicht zurückkommt, bevor er alt und fett ist, kannst du sehen, wie er jetzt aussieht. Der absolute Jackpot.“

„Ein Model?“ Ich versuchte, mir vorzustellen, was das bedeutete, hatte damit aber keinen Erfolg. Die Männer, die ich kannte, waren raubeinig. Ich erinnerte mich eigentlich nur klar daran, wie die Männer in meiner Familie aussahen. Sie ähnelten eher Verbrecherfotos als Models.

„Ja, er ist hübsch“, antwortete Rose und zog dabei das letzte Wort in die Länge.

Ich überdachte das eine Minute und lächelte dann. „Dann ist es wahrscheinlich gut, dass unsere Dads ihn nicht sehen werden. Kannst du dir vorstellen, was sie sonst veranstalten würden?“

„Warum glaubst du habe ich darauf bestanden, dass sie uns nicht von zu Hause abholen, sondern anderswo?“, witzelte sie. „Das war ganz sicher nicht wegen meines Dates. Jayden mag zwar ein Weichei sein, aber er ist wie ein Panzer gebaut und hat das Gesicht einer Bulldogge.“

Mein Kichern steigerte sich zu einem Lachen, bei dem ich mir den Bauch hielt. „Wir sind so verdammt erbärmlich“, keuchte ich.

„Stimmt. Also wo zur Hölle sollen wir uns fertig machen?“

„Bei Trix und Cam?“

„Beep! Falsch.“

„Bei Poet und Amy?“

„Das soll ein Witz sein, oder?“

„Wie wäre es bei Tommy? Ist er heute Abend nicht mit Leo unterwegs?“, fragte ich und rollte mich auf die Seite. „Hawk fände das cool.“

„Du behältst Leo immer im Auge, was?“

„Meine Schwester hat vorhin am Telefon darüber gesprochen.“

Ich stand auf und fasste nach unten, um mich im Zimmer zu orientieren. Ich war genau zwischen der linken Seite von Roses Kommode und der Wand, was bedeutete, dass ich zwei mittelgroße Schritte vom Ende des Betts entfernt war.

„Du bist so eine Lauscherin“, erwiderte Rose und stieg vom Bett.

„Es ist irgendwie schwierig, sie zu ignorieren, wenn sie im selben Zimmer ist“, konterte ich.

„Da hast du recht“, stimmte sie zu. „Ich rufe Hawk an und sehe, was sich machen lässt.“

Eine Stunde später schleppten wir unsere Kleider und Rucksäcke voller Schönheitsartikel in das Haus von Tommy und Hawk. Ich musste vorsichtig sein. Sie gestalteten das Haus seit einigen Jahren um, und da sich die Dinge nie zwei Mal am selben Platz befanden und überall Werkzeug herumlag, war es für mich nie sicher, mich dort aufzuhalten. Ich kam ohne mein Augenlicht ziemlich gut zurecht, aber Tommys Haus war für mich eine verdammte Feuerprobe.

„Oh, dein Kleid ist fantastisch, Lil“, sagte Hawk und nahm es mir aus der Hand. „Nicht mein Stil, aber an dir wird es höllisch heiß aussehen. Ich hänge es auf, damit es nicht total zerknittert, okay?“

„Danke, Hawk.“ Ich lächelte ungefähr in ihre Richtung und versuchte, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Ich mochte es, in Tommys und Hawks Haus zu gehen. Es roch immer gut, und Hawk war toll. Aber nachdem ich einmal so hart auf einen Nagel getreten war, dass er meinen Fuß durchbohrte, konnte ich mich dort nie mehr entspannen. Ich dachte schon, dass Tommy zu weinen beginnen würde, als es passierte. Er hatte sich so sehr bemüht, dafür zu sorgen, dass nichts mehr da war, woran ich mich verletzen könnte.

„Was ist mit meinem Kleid?“, fragte Rose. Sie nahm meine Hand, legte sie sich auf die Schulter und ging los. Ich folgte ihr ganz entspannt, denn ich vertraute darauf, dass sie mich nicht in etwas hineinlaufen lassen würde. Ich folgte meiner Cousine jetzt seit fünf Jahren, ließ sie meine Augen sein, wenn ich sie brauchte, und sie hatte mich nie im Stich gelassen. Nicht ein einziges Mal.

„Deins habe ich schon gesehen“, erinnerte Hawk sie. „Ihr könnt euch im Gästezimmer im Erdgeschoss fertig machen. Wir haben es eingerichtet für den Fall, dass jemand hier strandet und zu betrunken ist, um die Treppen nach oben zu gehen. Und es passt gut zu dem anschließenden Badezimmer.“

„Danke“, sagte Rose und verlangsamte ihre Schritte. „Wir gehen durch eine Tür, Lil.“

Ich streckte den Arm aus und strich mit der Hand über den Türrahmen, als wir ins Zimmer gingen.

„Soll ich dir bei deinem Make-up helfen?“, fragte Hawk und setzte sich aufs Bett, das quietschte.

Meine Augen weiteten sich vor Schreck und Rose antwortete mit mühsam unterdrücktem Lachen.

„Goth ist nicht so wirklich unser Stil.“

„Hey“, erwiderte Hawk. „Ich habe es schon reduziert!“

„Nicht genug“, sagte Rose und tätschelte meine Hand. „Hier drin steht keine Kommode, Lil. Direkt gegenüber und links von dir sind Wände. Es gibt ein Doppelbett, ungefähr drei Schritte geradeaus und einen Schritt zu deiner Rechten. Die Badezimmertür ist ungefähr eineinhalb Meter rechts von der Tür, durch die wir gerade hereingekommen sind. Keine Lampen, und das Bett hat kein Kopf- und Fußteil. Mist, dieses Zimmer ist deprimierend.“

„Es beherbergt betrunkene Männer. Es muss nicht fröhlich sein“, mischte Hawk sich ein.

„Oh, und die Tagesdecke auf dem Bett hat den reizenden Farbton Kotzgrün, falls du dich das gefragt hast.“

„Ich habe es mich nicht gefragt“, sagte ich trocken. „Aber danke für die Info.“

Ich bewegte mich behutsam durchs Zimmer und folgte Roses Anweisungen, bis ich das Bettende erreichte und meine Tasche darauf abstellte. Ich hatte nicht besonders viele Schönheitsartikel, aber ich hatte ungefähr eine Tonne von Roses Sachen hergeschleppt. Sie machte mein Make-up, wann immer es einen Anlass dazu gab, aber meistens ging ich einfach ohne. Die meiste Zeit über war meine Haut klar, und ich war wegen meines Äußeren nie eitel gewesen. Es hatte wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass ich mein eigenes Spiegelbild seit Jahren nicht gesehen hatte. Ich war schlank und stark, und auch wenn ich keine großen Möpse oder einen Hintern wie Rose hatte – ja, als sich ihre Hüften gerundet hatten, hatte sie sie mich fühlen lassen, und jedes Mal, wenn sie dachte, dass ihr Hintern größer geworden war, hatte sie mich um eine Überprüfung gebeten, weil ich mich immer an die Größe erinnerte – aber ich war glücklich mit dem, was ich hatte. Meine Eltern waren nie besonders üppig gewesen, also hatte ich nicht damit gerechnet, dass es bei mir anders sein würde.

„Sollen wir uns zuerst anziehen oder …“

„Nein“, antwortete Rose schnell. „Wir müssen uns zuerst um Make-up und Haare kümmern. Wenn wir dann etwas fallen lassen, kommt es nicht auf unsere Kleider.“

„Ich helfe euch“, sagte Hawk entschlossen und ließ sich aufs Bett plumpsen. „Ich war nie der Typ für Abschlussbälle, aber ihr beiden seid umwerfend und ich will dabei sein.“

„Aber nicht beim Make-up“, sagte ich und meine Lippen zuckten. Ich hatte Hawks Gesicht seit Jahren nicht gesehen, aber ich erinnerte mich an den Irokesenschnitt und den dicken, schwarzen Eyeliner, den sie getragen hatte, als sie mit Roses Bruder Mick abgehangen hatte. Er war ihr bester Freund gewesen, bis Mick an dem Tag starb, an dem ich mein Augenlicht verlor. Sie war ein paar Jahre später wieder aufgetaucht und kam mit Roses anderem Bruder Tommy zusammen. Und seitdem waren sie ein Paar.

„Ich kann die Frisuren machen“, erwiderte Hawk. „Was habt ihr euch da vorgestellt?“

„Ich möchte meins in einem lockeren französischen Zopf tragen“, sagte ich schnell, bevor Rose eine ihrer Tiraden loslassen konnte.

„Das ist so langweilig. Warum steckst du es nicht hoch?“, fragte Rose.

„Weil ich französische Zöpfe mag. Sie sind klassisch. Außerdem muss ich mir keine Sorgen machen, dass mein Haar herunterfällt und ich es nicht wieder hochstecken kann.“

„Es ist ja nicht so, dass ich dich mit kaputter Frisur herumlaufen lassen würde“, brummte Rose.

„Ich will nicht, dass du den ganzen Abend für mich den Babysitter spielst.“

„Was glaubst du denn? Wenn du denkst, dass ich dich mit Brent allein lasse, hast du den Verstand verloren.“

„Was wird dein Date davon halten?“

„Ich bin ziemlich sicher, dass er dachte, er kriegt zwei zum Preis von einer, als er mich fragte, ob ich mit ihm zum Ball gehe!“, rief Rose frustriert.

Wir schwiegen beide eine Weile und brachen dann in schallendes Gelächter aus.

„Oh nein“, widersprach ich.

„Oh doch. Er fragte, ob du uns begleitest. Ich dachte, er würde dir ein Anstecksträußchen oder so einen Scheiß besorgen“, schnaubte Rose.

„Das wäre bei deinen Brüdern gut angekommen“, sagte Hawk.

„Es ist wahrscheinlich gut, dass ich mein eigenes Date habe“, antwortete ich.

„Und er ist hübsch“, fügte Rose hinzu.

„Wirklich? Wie hübsch?“, fragte Hawk.

„Wie ein Model aus einer dieser Einkaufspassagen, die wie eine zerbrochene Eau de Cologne Flasche riechen.“

„Nicht mein Typ“, sagte Hawk. „Ich mag es etwas männlicher.“

„Wie auch immer“, sagte Rose. „Du bist mit Tommy zusammen. Also bist du bestimmt nicht sehr wählerisch.“

Wir stellten Musik an, über die Hawk sich beschwerte und verbrachten die nächsten beiden Stunden mit Quatschen, während wir uns auf den Tanzabend vorbereiteten. Mein Kleid war eigentlich zweiteilig. Der Rock war schwarz und saß hoch auf meiner Taille, war nur leicht ausgestellt und reichte bis zum Boden, um die flachen Schuhe zu verbergen, die ich anziehen wollte. High Heels kamen für mich einfach nicht in Frage, außer ich wollte mich auf die Nase legen. Das kurze Oberteil war weiß und spitzenbesetzt, hochgeschlossen und ließ die Schultern frei. Ich hatte viele Kleider anprobiert, aber es war schwierig, weil ich die Farben nicht sah. Ich war froh, dass ich mich für Schwarz und Weiß entschieden hatte. Die Farben waren klassisch und die Teile waren so einfach geschnitten, dass ich sie mir vorstellen konnte.

Rose trug gerade meinen Lippenstift auf, als es an der Haustür klopfte.

„Oh, Scheiße“, sagte Hawk überrascht. „Um wie viel Uhr sollten die Jungs euch abholen?“

„Ich habe Jayden gesagt um sieben“, murmelte Rose. „Verdammt.“

„Das habe ich Brent auch geschrieben. Er hat allerdings nicht geantwortet“, sagte ich.

„Ich gehe nachsehen, welcher es ist. Seid ihr beiden fertig?“

„Bin ich“, antwortete Rose. „Du bist auch soweit, Lil. Bleib genauso, ich mache ein Bild von uns, solange wir so heiß aussehen.“

„Cheese“, rief ich frech, als Rose ihr Gesicht an meins drückte.

„Du bist so eine Nervensäge“, beschwerte sie sich und küsste mich auf die Wange. „Aber ich liebe dich trotzdem.“

„Ich dich auch.“

„Rose, Jayden ist hier!“, rief Hawk aus dem Wohnzimmer.

Ich folgte Rose aus unserem Schönheitssalon und lächelte breit, als ich hörte, wie Jayden scharf den Atem einsog, als er uns sah.

„Heilige Scheiße. Du siehst umwerfend aus, Rose“, sagte er leise.

„Danke, Mann“, sagte Rose, was Hawk zum Kichern brachte.

„Du auch, Lily“, sagte Jayden.

„Danke!“ Ich spielte nervös mit den Armbändern an meinem Handgelenk. Ich hasste es, wenn ich wusste, dass irgendjemand mich ansah. Das war wahrscheinlich ziemlich normal, aber die meiste Zeit über konnte ich es nicht mit Sicherheit wissen. Es war viel härter zu wissen, dass jemand einen musterte und man seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

„Zurück zu mir“, sagte Rose und sorgte so wieder dafür, dass sie seine Aufmerksamkeit bekam. „Hast du mir ein Anstecksträußchen gekauft?“

Ich versuchte mühsam, ein Lachen zu unterdrücken. Sie hatte sich total darauf versteift.

„Ja. Ich war nicht sicher, was für ein Lila du tragen würdest, also meinte meine Mom, dass ich einfach weiße Rosen besorgen sollte“, plapperte Jayden nervös.

„Ich glaube, er macht sich gleich in die Hose“, flüsterte Hawk so leise, dass nur ich es hören konnte. „Und er hat ihr Rosen mitgebracht?“

„Das ist doch süß.“

„Ja, wenn man einen Typen am Gängelband führt. Das hält niemals. Rose wird ihn herumkommandieren.“ Sie zögerte und sagte dann noch leiser: „Außerdem sieht er wie eine Bulldogge aus.“

Ich hustete, um mein Lachen zu verbergen. Ich wünschte, ich könnte ihn sehen.

„Wo zum Teufel ist Brent?“, fragte Rose ein paar Minuten später. „Er kommt zu spät.“

„Nur ungefähr fünfzehn Minuten“, erwiderte ich.

„Eher fünfundzwanzig“, sagte Jayden freundlich. „Ich war zehn Minuten zu spät.“

„Oh.“ Ich lachte verlegen und griff nach meinem Telefon. „Vielleicht sollte ich ihn anrufen?“

„Ich schreibe ihm eine Nachricht“, sagte Rose und nahm mir das Handy aus der Hand.

„Sei nicht gemein. Vielleicht hat er sich verfahren.“

„Dann hätte er anrufen sollen“, sagte sie gereizt.

Zehn Minuten später war Brent immer noch nicht aufgetaucht.

Zwanzig Minuten später spürte ich, wie mir die Röte den Hals heraufstieg. Zum Glück hatte ich den Eindruck, dass niemand es sehen konnte. Rose war in dieser Situation allerdings keine Hilfe. Sie schimpfte vor sich hin und lief hin und her. Ich hörte ihre High Heels bei jeder Runde auf dem Parkett klicken.

„Ihr solltet losfahren“, sagte ich schließlich und unterbrach damit ihre Tirade.

„Oh, halt die Klappe“, erwiderte sie. „Ich gehe nicht ohne dich.“

Sie blieb vor mir stehen, griff nach meiner Hand und legte sie sich auf die Schulter. „Wir gehen zusammen.“

„Rose“, sagte ich sanft und drückte ihre Schulter. „Das ist peinlich. Jayden wartet schon seit fast einer Stunde. Geht einfach.“

„Nein.“

„Bitte“, flüsterte ich fast unhörbar. „Geh. Mach es nicht noch schlimmer für mich.“

„Auf keinen Fall.“

„Rose“, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Ich liebte ihre Loyalität, verfluchte aber ihre Sturheit. „Wenn du nicht mit deinem verdammten Date gehst, damit ich dieses verfluchte Kleid ausziehen kann, muss ich dich umbringen.“

Sie schwieg sehr lange, doch sie musste etwas in meiner Miene gesehen haben, denn sie murmelte schließlich: „Ich wusste, dass ich Jayden hätte sagen sollen, dass er zwei Anstecksträußchen mitbringt. Ich werde Brent in die Eier treten, wenn ich ihn sehe.“

„Gut. Ich bin nicht ganz sicher, wie groß er ist, also würde ich sie wahrscheinlich verfehlen, wenn ich es versuchen würde.“

„Bist du sicher?“, fragte sie und legte ihre Hand auf meine.

„Ich bin sicher.“ Ich schluckte hart. „Geh.“

Zehn Minuten später stand ich immer noch auf derselben Stelle. Mein Herz hämmerte wie wild, als Tommy und Leo lärmend durch die Haustür kamen.

„Mann, du musst an diesem verfluchten Auspuff arbeiten“, sagte Leo. „Der klingt echt scheiße.“

„Fick dich …“ Tommy brach ab. „Hey, Lily, ich dachte, ihr wärt schon weg.“

Ich lachte trocken und spielte mit meinen Armbändern, drehte sie immer wieder. „Nur ich bin noch hier. Rose ist schon gegangen.“

„Wolltet ihr nicht vor einer Stunde gehen? Ist dein Typ verloren gegangen?“, witzelte Tommy.

„Tommy“, schnappte Hawk, die aus der Küche kam, wohin sie gegangen war, um mir etwas Privatsphäre zu geben. „Halt die Klappe.“

„Was denn?“, fragte er verwirrt. „Was habe ich denn gesagt?“

„Er ist nicht aufgetaucht?“, fragte Leo sanft.

„Vielleicht ist er in ein Erdloch gefallen?“, antwortete ich an dem Kloß in meiner Kehle vorbei.

„Dieser Dreckskerl“, knurrte Tommy. „Wie heißt er?“

„In welcher Welt trägst du meine Kämpfe aus, Thomas Hawthorne?“, fragte ich gereizt.

„In dieser“, schnappte er.

„Falsch.“

„Okay, dann frage ich Rose.“

„Sie wird dir nichts sagen, und das weißt du.“

„Sie sollte es besser tun!“

„Hört auf, ihr beiden“, mischte Hawk sich ein. „Tommy, lass sie in Ruhe.“

Mein Cousin sagte kein Wort mehr, stupste mich aber in die Seite, als er und Hawk an mir vorbeigingen. Seine Freundin musste ihn weggezogen haben. Sonst hätte er es nicht auf sich beruhen lassen.

„Du bist wunderschön“, sagte Leo, nachdem die beiden weg waren. „Lass mich alles ansehen.“

Lächelnd hob ich die Arme an und drehte mich langsam um mich selbst.

„Du kannst froh sein, dass dein Dad dich nicht in diesem Kleid gesehen hat, Löwenzahn“, sagte Leo und pfiff. „Er hätte dich nie aus dem Haus gelassen.“

„Was ebenso gut gewesen wäre, weil mein Date erst gar nicht aufgetaucht ist“, antwortete ich und ließ die Arme an die Seiten sinken.

„Da hat er etwas verpasst, Süße.“

„Ja. Ich ziehe mich wohl besser um. Ich muss anrufen, um zu sehen, ob meine Mom mich abholen kommt.“

„Soll ich dich fahren?“ Seine Schritte hallten auf dem Boden, bis seine Stimme viel näher war als zuvor.

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn aber wieder. Als Kind liebte ich es, auf dem Sozius des Bikes meines Vaters mitzufahren. Samstagmorgens weckte er mich vor meinen Geschwistern auf und wir schlichen uns aus dem Haus, um eine lange Fahrt zu machen, bevor die anderen aufwachten. Es war etwas, das wir beide für uns allein hatten. Nachdem ich blind wurde, änderte sich das allerdings. Ich fühlte mich desorientiert, wenn ich auf einem Bike saß. Den Wind empfand ich als stärker und ich hatte den Eindruck, das Gleichgewicht zu verlieren. Es war egal, wie sehr ich mich an der Taille meines Dads festklammerte, es fühlte sich nie wieder wie vorher an. Wie Fliegen. Wie Freiheit.

„Ich weiß nicht“, sagte ich leise und versuchte, Mut aufzubringen. Vor Jahren war ich auch bei meinem Onkel und Bruder mitgefahren, aber seit ich mein Augenlicht verloren hatte, traute ich mich nur noch, bei meinem Dad aufzusteigen. Ich konnte es einfach nicht über mich bringen, mit jemand anderem zu fahren.

Aber ich wollte wirklich auf dem Sozius von Leos Bike sitzen. Mehr als ich sollte, wenn man seine On-off-Beziehung mit meiner älteren Schwester in Betracht zog, auch wenn sie in letzter Zeit eher off gewesen war.

„Ich fahre langsam“, sagte er und lachte. „Hol deine Sachen und zieh dir etwas anderes als diesen Rock an.“

„Ich …“, stotterte ich. Dann räusperte ich mich unbehaglich. „Ich weiß nicht, wo das Schlafzimmer ist.“

„Oh, Scheiße. Stimmt ja.“ Leo schlang einen Arm um meine Taille, legte die Hand an meine Seite und drehte mich in die richtige Richtung. „Manchmal vergesse ich das einfach“, murmelte er neben meinem Ohr.

„Wie?“

„Ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist einfach eins der Dinge, die mir an dir nicht auffallen.“

„Äh, wie kannst du das Fehlen des Blickkontakts nicht bemerken?“

„Gewöhnlich starre ich auf deine Titten“, scherzte er und grunzte, als ich ihm den Ellbogen in den Magen stieß.

„Das war ein Witz. Jedenfalls meistens.“

Wir schlurften ins Schlafzimmer und Leo ging, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich wusste, wo alles ist. Er gab mir sogar die Jeans, die ich vorher getragen hatte, als ob ich sie nicht gefunden hätte, obwohl sie säuberlich gefaltet auf meinem Rucksack lag. Ich weiß nicht, wie er zwischen meiner und Roses Hose unterscheiden konnte, aber er hatte es geschafft.

Ich schüttelte den Kopf, legte meinen Rock aufs Bettende und schlüpfte in meine Jeans. Bei allem, was hätte passieren können, hätte ich als Letztes damit gerechnet, dass mein Date mich im Stich lassen könnte. Es war ja nicht so, dass ich ihn gefragt hätte. Er war zu mir gekommen. Es war seine verdammte Idee gewesen.

Ich hoffte, dass Rose Spaß hatte, aber ich war ziemlich sicher, dass sie den ganzen Abend über schmollen und jedem in der Schule erzählen würde, dass sie Brent in die Eier treten würde. Es käme ihr nicht einmal in den Sinn, für sich zu behalten, dass ich sitzen gelassen worden war. Solche Dinge machten sie nicht verlegen und sie ging davon aus, dass es bei mir genauso war.

Ich war allerdings verlegen. Ich war so verlegen, dass ich mich bereits vor der Schule am Montag fürchtete. Alle würden es wissen. Selbst wenn Rose nichts gesagt hätte, hätten die Leute es gewusst. Unsere Schule war nicht groß, und wenn das blinde Mädchen und das Model vorhatten, zusammen zum Abschlussball zu gehen und dann nicht auftauchten, bemerkten das alle. Das war für die Highschool ganz normal.

Nachdem mein Mantel und mein Rucksack sicher auf meinem Rücken verstaut waren, bewegte ich mich vorwärts, bis ich die Tür fand und sie langsam öffnete. Ich hörte Stimmen aus dem Wohnzimmer und war ziemlich sicher, dass ich meinen Weg dorthin ohne Zwischenfälle finden würde, zögerte aber dennoch in der offenen Tür.

Leo … er war einfach alles. Er war der Mann, der dafür sorgte, dass es im Vorhof des Clubhauses nichts gab, worüber ich stolpern konnte. Er kümmerte sich darum, dass alle ihre Stühle an den Tisch schoben, sodass ich nicht hineinlief. Er schaute sich mit mir Titanic an, obwohl ich den Film nicht sehen konnte, spulte aber die heißen Liebesszenen vor, als wäre er verlegen. Ich war ziemlich sicher, dass er das erste Nicht-Familienmitglied war, das mich jemals schön genannt hatte. Der Einzige, der nicht zur Familie gehörte, bei dem ich jemals Dampf abgelassen hatte.

Mein erster und einziger Schwarm.

Sobald ich in ein Zimmer kam, hörte er auf, mit meiner Schwester zu streiten, zögerte aber nie, in meiner Gegenwart zu fluchen, wenn er wegen irgendetwas stinksauer war. Er tadelte mich, wenn ich Schimpfwörter benutzte, aber immer mit einem Lächeln in der Stimme. Er behandelte mich, als wäre ich von Bedeutung. Als ob ich etwas erreichen könnte und er das auch absolut von mir erwartete. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein anderer Mann ihm jemals das Wasser würde reichen können.

„Ist alles in Ordnung?“ Leo erschreckte mich mit seinem Ruf den Flur hinunter. Ich war so mit meinen Tagträumereien beschäftigt gewesen, dass ich nicht einmal seine Schritte bemerkt hatte.

„Ja, ich orientiere mich nur noch“, antwortete ich, streckte den Arm aus und strich mit der Hand die Wand entlang, während ich voranging. „Jetzt, wo sie mit dem Erdgeschoss fertig sind, muss ich öfter hierher kommen.“

„Ja, aber Tommy ist verflucht schlampig, also sei vorsichtig, auch wenn du glaubst, dass du weißt, wo alles ist“, warnte er mich. Er legte seine Hand über meine an der Wand, als ich ihn erreichte. „Komm, Löwenzahn, lass uns fahren.“

„Wollt ihr los?“, fragte Tommy, als wir zur Haustür gingen.

„Ja, ich fahre sie nach Hause“, antwortete Leo.

„Bring sie besser direkt nach Hause“, murmelte Tommy, gefolgt von einem hörbaren Klatschen.

„Halt den Mund, Thomas“, schalt Hawk.

„Danke, dass du uns beim Vorbereiten geholfen hast“, rief ich zu Hawk zurück, als Leo die Haustür öffnete. „Tschüss, Quatschkopf!“

„Es hat Spaß gemacht, du siehst toll aus!“, antwortete Hawk und gleichzeitig schrie Tommy: „Raus hier, du Göre!“

Leo half mir die Verandastufen hinunter und blieb in der Auffahrt stehen. Er setzte mir seinen Helm auf, und ich senkte die Lider.

„Ich muss mir einen besseren Helm besorgen“, sagte Leo.

„Ich weiß, dass ihr Kerle solche Sachen mögt“, antwortete ich und schob seine Hände von den Riemen, sodass ich sie selbst unter meinem Kinn schließen konnte. „Aber diese Art von Helm schützt deine Rübe überhaupt nicht.“

„Ja, ja.“

„Und die Käfer. So viele Käfer, die dir ins Gesicht knallen.“

„So schlimm ist es nicht.“ Leo lachte.

„Quatsch. Es ist grässlich. Ich habe das Zeug gesehen, dass sich in euren Bärten verfängt.“

„Nicht in meinem“, widersprach er und half mir auf sein Bike. „Damals war ich zu jung für einen Bart.“

„Stimmt.“ Ich setzte mich zurecht und wartete, dass er vor mir aufstieg. „Bei Poet ist es am schlimmsten. So viel Bart. So viele Insekten.“

Leo lachte, stieg aufs Bike, griff nach hinten, zog mich näher zu sich heran und legte meine Arme um seine Taille. Ein paar Sekunden später dröhnte das Bike unter uns und zum ersten Mal seit Langem fühlte ich einen Anflug des vertrauten Adrenalinschubs.

Ich war zu klein, um mein Kinn auf seine Schulter zu legen. Wir fuhren aus der Auffahrt und ich schob mich weiter nach vorn, bis meine Stirn an seinem Rücken lag. Er roch nach Leder und Rasierwasser. Sein T-Shirt war dünn, und seine Brust- und Bauchmuskeln fühlten sich unter meinen Händen fest an. Ich hätte für immer so dasitzen können, während der Wind mir das Haar ins Gesicht trieb und seine Hand ab und zu meine tätschelte.

Leider war unsere Stadt nicht besonders groß und nur ein paar Minuten später verlangsamte er das Tempo und bog in meine Auffahrt. Wie hielten an, aber keiner von uns rührte sich, während die Nacht um uns herum still wurde.

„Sieht aus, als wäre niemand zu Hause“, sagte er schließlich und unterbrach damit das Schweigen.

„Das ist schon in Ordnung. Ich habe meinen Schlüssel.“ Ich löste die Arme von seiner Taille und wartete darauf, dass er vom Bike stieg und mir herunter half.

„Ich lasse dich hier nicht allein“, sagte er stur.

„Ich bin sechzehn“, erinnerte ich ihn. Ich zuckte zusammen, als mir klar wurde, wie jung das für ihn klingen musste. „Ich bin dauernd allein zu Hause.“

„Nein“. Er zögerte. „Nicht hier. Ich kann dich hier nicht allein lassen.“

„Willst du mit reinkommen?“, fragte ich und beugte mich ein bisschen vor.

„Nein“, antwortete er sofort.

Ich lachte. „Nun, dann weiß ich nicht, was du willst.“

„Lass uns etwas rumfahren, okay?“

Mein Lächeln verblasste und ich lehnte mich zurück. „Okay.“

Ich wartete, bis er den Motor wieder anließ und schlang die Arme um ihn. Er schob das Bike etwas zurück und wendete. Dann waren wir wieder unterwegs und rasten durch Nebenstraßen. Er musste vergessen haben, dass er langsam fahren wollte, denn wir glitten schnell um Ecken und das Bike röhrte laut. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir fuhren oder auch nur, welche Richtung wir eingeschlagen hatten, aber ich hielt mich einfach nur an ihm fest und sagte nichts. Leo würde nie zulassen, dass mir etwas passierte.

Schließlich blieben wir stehen, und ich war ziemlich sicher, dass wir in der Nähe eines Flusses waren.

„Wo sind wir?“, fragte ich, nachdem er das Bike abgestellt hatte.

„Am Fluss“, antwortete er, was mir nicht wirklich etwas sagte. Er stieg vom Bike und half mir herunter.

„Ja, das höre ich. Warum?“ Ich nahm den Helm ab und glättete mein Haar so gut es ging.

„Mir gefällt dieser Ort“, antwortete er und schlang den Arm um meine Taille, um mich über den unebenen Boden zu führen. Ich bewegte mich mit vorsichtigen Schritten voran, auf das rauschende Wasser zu und stieß mir die Zehen an Wurzeln, die aus dem Boden ragten. „Hier“, sagte er, nahm meine Hand und legte sie auf eine raue Tischoberfläche. „Ein Picknicktisch. Standard. Die Bank ist ungefähr zweieinhalb Zentimeter unter deinem Knie.“

Ich nickte und beugte mich vor, um die Bank zu finden und machte einen kleinen Schritt zur Seite, um mich setzen zu können.

„Ist bei dir alles in Ordnung? Ich muss mal pinkeln.“

„Reizend“, sagte ich belustigt. „Ja, alles in Ordnung. Geh nur.“

Es ging mir gut, als er ging, aber sobald ich ihn nicht mehr hören konnte, geriet ich in Panik. Ich wusste tief in meinem Inneren, dass er mich nie zurücklassen würde. Das stand außer Frage. Aber der Gedanke, dass ich mich mitten im Nirgendwo befand, in der Nähe eines großen Gewässers, ganz allein, ließ meine Haut sofort eiskalt werden.

„Leo!“, schrie ich, was mich verlegen machte, aber nicht genug, um still zu sein. „Leo!“

„Was?“, rief er zurück, und ich hörte krachende Geräusche. „Löwenzahn?“

In weniger als dreißig Sekunden war er neben mir, berührte mein Gesicht und meine Hände. „Ist alles in Ordnung? Was ist passiert?“

„Ich konnte dich nicht hören“, sagte ich und schüttelte den Kopf. Meine Zähne begannen zu klappern. „Das war blöd.“

„Verflucht, Mädchen. Das hat mich gerade ein Jahr meines Lebens gekostet.“

„Tut mir leid.“ Meine Zähne klapperten noch heftiger, und mir traten Tränen in die Augen.

Ich hasste es, mich schwach zu fühlen. Denn das war ich nicht. Ich war stark. Unabhängig. Ich stand für mich ein und ließ mir nichts gefallen.

„Ach, Süße. Das muss es nicht.“ Er setzte sich neben mich, legte mir einen Arm um die Schultern und zog mich an seine Brust. „Das war nicht gerade meine beste Idee, was?“