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»Er ist weg!« Diese drei Worte sind alles, was der vierzehnjährige Elyjas über seinen Vater erfährt. Als er einen seltsamen Runenstein findet, ahnt er nicht, dass er der Wahrheit näher kommen wird. Einer Wahrheit, die sein Leben für immer verändert. Hineingeworfen in eine Welt voller Magie und Mystik, in der das Licht schwindet, begibt sich Elyjas auf eine gefährliche Suche. An seiner Seite stehen der Waise Andrûs und der Erzmagier Albwin. Gemeinsam mit weiteren Gefährten erleben sie waghalsige Abenteuer und müssen immer wieder gegen innere Zweifel und Ängste ankämpfen, während Licht und Schatten jedes Einzelnen verwischen. Wird es ihnen gelingen, die Seelenflamme neu zu entfachen? Das Schicksal Shaendâras liegt im Glauben der Freunde an sich selbst. Der Auftakt zu einer magischen Reise ...
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Seitenzahl: 476
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Eines Tages findet der vierzehnjährige Elyjas einen seltsamen Runenstein in seinem Zimmer. Er ahnt nicht, dass sich sein Leben dadurch völlig verändern wird. Bald darauf erwacht er an einem fremden Ort und begegnet dem pelzigen Zottling Grrruuuargh, der ihn nach Dh’Aschjar führt.
Als einige Zeit später der Erzmagier Albwin in der Stadt auftaucht, erfährt Elyjas eine unglaubliche Wahrheit und begibt sich auf ein gefährliches Abenteuer. Ihm zur Seite stehen der Waise Andrûs und andere Gefährten. Gemeinsam müssen sie das Licht der Seelenflamme neu entfachen, eine Aufgabe, die sie durch alle Reiche Shaendâras führen wird. Nur wenn sie den Glauben tief in sich selbst finden und über ihre eigenen Grenzen hinauswachsen, können sie den Frieden wiederbringen.
Melanie Völker wurde 1980 in Dortmund geboren und lebt seit ihrer Kindheit in Schwerte. Seit 2010 widmet sie sich dem Schreiben, überwiegend von Fantasy und Lyrik. Mehrere ihrer Gedichte und Geschichten wurden bereits in Anthologien veröffentlicht.
Mit »Flamme der Seelen« verwirklicht sie ihre Idee zu einer magischen Fantasy-Trilogie. »Dämmernebel« bildet den Auftakt zu diesem magischen Abenteuer.
Mehr zur Autorin und ihrem kreativen Schaffen finden Sie unter www.melanievoelker.de
Lobpreis der Dìliae
Unter Erdreich und Wassern liegen begraben die Söhne und Töchter der alten Geschlechter. In Treue versunken, geopfert dem Lichte, quälend in ewiger Nacht. Aobh, Neád und Blaan sind der Tapferen Namen, Arsyk und Yldryr von den Talmar und Sìdhor, das höchste Licht. Tharaniêl, Mhírith, Élaesil, Nyalvon und Fînwas, der Anmutigen Zweige. Gebor und Cator mit der hohen Gabe, und Atalaya, ihre Blüte. Norbok, Nad und Thrôndur aus ihren steinernen Hallen. Yoldrur, Saphor und Nybhur, der Geflügelten Erben. Nodin, der Sohn der Winde und Adsyl, die feurige Tochter. Arun und Ashok, Goyath, Chaska, Hantaye und dergleichen viele. Nicht vergessen sind ihre ruhmreichen Taten, solange der Dìlae Kinder sehnen nach der frühen Gunst. Solange werden lauschen Erdreich und Wasser, die tosenden Wächter, und erhellen werden Söhne und Töchter der alten Geschlechter die dämmrige Gier.
(Auszug aus dem Lebar Gliocas)
Shaendâra
Westliches Weltentor
Prolog
Stimmen der Vergangenheit
Der Zottling
Zur Nordstadt
Dh’Aschjar
Allerlei Magisches
Freunde und Widersacher
Der Paith'an'Leawha
Was verheißen wurde …
Der schwarze Ansturm
Mut und Zweifel
Shan‘Doreel
Sieben magische Siegel
Halvor und Halvard
Herzbeben
Die weinenden Hügel
Tánahar
List und Verrat
Waghalsige Schritte
Wer wir sind und wir sein wollen
Der Hain von Beth'nal'Mâr
Die rote Kriegerin
Erkenntnisse und verborgene Rätsel
Im Schattensumpf
Wiedersehen mit Freunden
Auf zur Drachenstiege
Im Ring des Feuers
Epilog
Anhang
Alphabetisches Verzeichnis der Personen
Alphabetisches Verzeichnis der Schauplätze
Er stand oben auf einem Berggipfel und sah auf die trockene Ebene, die vor ihm lag.
Unterhalb des Felsvorsprunges erhoben sich die Mauern einer Stadt, auf drei Felsstufen erbaut, mit vier kantigen Türmen, auf denen Soldaten in silberglänzenden Rüstungen patrouillierten. Auf ihrem Brustharnisch trugen sie das gleiche Wappen, deren Abbild die schweren, eisernen Tore zierte, durch die man von Süden her Einlass in die Stadt erhielt. Es war ein langschwänziger, roter Drache, Feuer speiend und mit langen Klauen.
Dieser Ort kam ihm vertraut vor. Wie konnte das sein?
In nördlicher Richtung erspähte er am Giebel eines zentralen Gebäudes eine in goldenen Lettern eingravierte Inschrift: Àit Nan Sìdh.
Kendorras, durchfuhr es ihn. Er stutzte. Woher kannte er den Namen der Stadt, und wieso glaubte er, schon hier gewesen zu sein?
Plötzlich ertönten überall Alarmglocken. Er schaute sich um. Dann sah er sie von Osten heranmarschieren. Es waren Hunderte, die den Horizont verdunkelten, grässliche schwarze Kreaturen, ihre Körper von filzigem Fell überzogen. In ihren wulstigen Händen hielten sie Äxte und Schwerter, die sie bedrohlich in die Luft reckten. Die von dicken, eitrigen Geschwüren entstellten Gesichter waren zu grausigen Fratzen verzerrt, was ihre langen, scharfen Reißzähne entblößte. Markerschütternd dröhnte ihr Schlachtruf.
Eiskalt jagte es ihm über den Rücken. Er wollte wegrennen, doch seine Füße bewegten sich nicht. Bitte lass es aufhören, flehte er stumm. Doch es half nichts. Er wusste, was geschehen würde, wusste, dass es für die Bewohner der Stadt kein Entkommen gab. Zitternd stand er da, während die vor Mordlust rasenden Kreaturen die Mauern erreichten und in die Stadt eindrangen. Jeder kleinmütige Versuch der Wachen, den Feind zurückzudrängen, blieb erfolglos. Binnen Sekunden brannte die unterste Ebene lichterloh, und schwere dunkle Rauchschwaden hingen in der Luft, die ihm die Sicht auf das Geschehen versperrten. Er musste es nicht sehen, er hörte es. Verzweifelte Schreie drangen in seine Ohren und er presste die Hände darauf.
»Kendorras a’zuc, hahaha ...«, durchströmte ihn ein grausames Lachen, kalt und gefühllos. Dann war alles still. Erneut spähte er zu der goldenen Inschrift: Àit Nan Sìdh.
Stadt des Friedens, dachte er und begann zu weinen.
Das schrille Klingeln des Weckers riss Elyjas Dobbins aus dem Schlaf. Schweißgebadet schreckte er hoch und zitterte am ganzen Leib. Wieder so eine Nacht. Er erinnerte sich kaum daran, wann er zuletzt durchgeschlafen hatte. Langsam sank er zurück auf das Kissen. Durch das Fenster über dem Bett drangen die ersten Sonnenstrahlen des Tages und erhellten den Raum.
Letzten Monat hatte er seinen vierzehn Geburtstag gefeiert und seine Kindheit war glücklich verlaufen, bis vor etwa einem halben Jahr diese schrecklichen Alpträume eingesetzt hatten, die ihn seitdem nicht mehr losließen. Wenn er bloß gewusst hätte, was sie bedeuteten! Immer war es dieselbe unheimliche Stimme, die Worte sprach, die er nicht verstand. Beim ersten Mal war es nur ein Flüstern und als Elyjas erwachte, zweifelte er, ob er tatsächlich etwas gehört hatte. Mit der Zeit aber wirkte die Stimme bedrohlicher und es kamen Bilder hinzu. Im Traum wanderte er durch fremde Landschaften und begegnete unbekannten Gesichtern, von denen manche zu ihm sprachen, während andere ihn nur aus der Ferne beobachteten. Doch gleich wie eifrig Elyjas sich bemühte, die Gesichter im Wachzustand heraufzubeschwören, bekam er sie nur schemenhaft zu fassen, als wären sie hinter einem Nebelschleier verborgen.
Im nächsten Moment linste seine Mutter zur Tür herein. »Hey! Willst du nicht aufstehen? Du weißt, dass ich gleich los muss und ich dachte, wir frühstücken gemeinsam. Ich habe Pfannkuchen gebacken.«
Elyjas richtete den Oberkörper auf und stützte sich auf die Ellbogen. »Pfannkuchen mit Sirup?«
Seine Mutter nickte.
Elyjas schlug die Bettdecke beiseite und sprang auf. »Klasse!« Er folgte seiner Mutter in die Küche.
Jenny Dobbins ahnte nichts von den Alpträumen ihres Sohnes. Elyjas wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte oder ihn für verrückt hielt. Ohnehin sah sie ihn manchmal recht merkwürdig an. Seinen Vater kannte er nicht. Jedes Mal, wenn er seine Mutter auf ihn ansprach, wich sie ihm aus. »Er ist fort«, sagte sie stets, und Elyjas wusste, dass es keinen Sinn machte, sie zu bedrängen. Obwohl er entschlossen war, eines Tages die Wahrheit über seinen Vater herauszufinden, musste er sich vorerst damit abfinden.
Zehn Minuten später saßen Mutter und Sohn am Küchentisch, und über ihre Kaffeetasse hinweg beobachtete Jenny Dobbins ihren Spross, der gierig seinen zweiten in Ahornsirup ertränkten Pfannkuchen verschlang. »Ist bei dir alles in Ordnung?«, fragte sie ihn.
Elyjas sah sie an. Da war er wieder, dieser Blick. Er wusste nicht genau, was es war. Traurigkeit? Mitleid? Angst?
»Klar«, antwortete er möglichst locker.
»Sicher?«
Eine Sekunde lang zögerte Elyjas. »Ja. Alles okay, Mom.«
Ihr Blick verharrte noch kurz auf ihm, dann stand sie auf. »Okay.« Sie lächelte schwach. Dann wandte sie sich ab und begann, das Geschirr in die Spülmaschine einzuräumen, während Elyjas den letzten Schluck Kakao austrank. Die einzelne Träne, die seiner Mutter über die Wange lief, bemerkte er nicht.
»Es wird Zeit. Wenn ich den Zug nicht verpassen will, sollte ich jetzt aufbrechen«, meinte sie.
Jenny Dobbins arbeitete als Krankenschwester im städtischen Hospital und würde die nächsten vier Tage an einem Seminar außerhalb der Stadt teilnehmen.
»Mrs Carson kommt in zwei Stunden«, fuhr sie fort.
Die ältere Dame lebte drei Häuser entfernt auf der anderen Straßenseite und kümmerte sich hin und wieder um Elyjas.
»Bis dahin räumst du dein Zimmer auf, Elyjas, und …«
»Und benimm dich anständig«, beendete er den Satz.
Zärtlich strich sie ihm durch die zerzausten braunen Haare. »Ich weiß, dass du das tust, mein Großer. Vierzehn ist ein besonderes Alter.« Mit der Reisetasche in der Hand schritt sie zur Tür. »Gib auf dich Acht«, sagte sie und küsste ihn zum Abschied auf die Stirn. »Ich hab’ dich lieb, Elyjas.«
»Ich liebe dich auch, Mum. Bis bald.«
Sie nickte stumm und umarmte ihn. Dann trat sie hinaus und eilte die Straße entlang. Elyjas sah ihr hinterher, bis sie hinter der Hecke verschwand. Ahnte sie etwas von seinen Träumen?, grübelte er.
Dieser Ausdruck in ihren Augen war ihm aufgefallen, lange bevor er die Stimme zum ersten Mal gehört hatte. Wenn es nicht seine Alpträume waren, was deprimierte sie dann?
Er schloss die Tür und stieg die Treppe hinauf in sein Zimmer. Seine Mum hatte Recht. Der Boden war übersät mit hölzernen Licht- und Schattenkriegern seines Schachspiels, das ihm versehentlich aus dem Regal gekippt war. Auf dem Schreibtisch sowie darunter lagen Bücher und Comics verstreut, deren Geschichten von Abenteuern in fremden Ländern handelten, von machthungrigen Bösewichten und einem tollkühnen Helden, der sie bezwang. Oft stellte Elyjas sich vor, selbst einmal der Held einer solchen Geschichte zu sein.
Stöhnend hob er den blauen Plüschdrachen, den er vor zwei Jahren auf der Kirmes gewonnen hatte, auf und warf ihn auf das Bett, wobei er beinahe den Holzdrachen herunterriss, der an der Decke baumelte.
Er wollte gerade die Schachfiguren einsammeln, da erhaschten seine Augen unter dem Regal eine dünne schwarze Schnur. Als er danach griff, kam ein ovaler Stein zum Vorschein, der rötlichorange schimmerte und in den fremdartige Symbole eingeritzt waren. Elyjas erinnerte sich nicht, solch einen Anhänger besessen zu haben. Dennoch gefiel er ihm, und er hängte sich die Kette um den Hals.
Als seine Finger den Stein berührten, überkam ihn sogleich ein eigenartig vertrautes Gefühl. Es war, als hätte er etwas wiederentdeckt, das ihm bisher gefehlt hatte, ohne zu wissen, dass er es überhaupt vermisste.
Elyjansu fh’jel uruz ... A’Kenaz ..., klang es in seinem Kopf. Die Stimme klang anders als sonst. Es lag nichts Furchteinflößendes in ihr, vielmehr wirkte sie ängstlich, flehend.
»Wer bist du?«, flüsterte Elyjas.
Keine Antwort.
Er versuchte es noch mal. »Was willst du von mir?«
Wieder nichts.
Auf einmal blendete ihn ein grelles Licht. Er blinzelte und sah durch das Fenster in die Richtung, aus der es zu kommen schien. Dort lag der Slieyett-See, der sich über mehrere Kilometer nach Norden erstreckte. An der Oberfläche spiegelten sich die Sonnenstrahlen und ließen ihn glitzern.
Elyjas wollte sich schon abwenden, als er nahe dem Südufer, das ihr Grundstück begrenzte, ein grünes Funkeln im Wasser erspähte.
Er beschloss, den wüsten Zustand seines Zimmers vorerst zu ignorieren und nach der Quelle des Lichts zu forschen. Eilig rannte er hinunter und durch die Gartentür hinaus. Doch als er draußen ankam, war das Funkeln verschwunden. Er schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und schaute suchend über den See, von links nach rechts und wieder zurück. Nichts. Enttäuscht setzte er sich ins hohe Gras, das sich vom nächtlichen Regen noch feucht anfühlte, aber das störte ihn nicht. Obwohl es erst Mitte Februar und früh am Morgen war, empfand Elyjas die Luft als mild. Der Himmel strahlte blau, von einzelnen weißen Wölkchen durchzogen.
Minutenlang saß Elyjas am Ufer und grübelte, was das Funkeln ausgelöst haben könnte, doch er fand keine Antwort. Da es nicht wieder auftauchte, schweiften seine Gedanken allmählich ab. Vielleicht konnte er Mrs Carson überreden, später mit ihm ins Zentrum zu fahren. Dort startete am Nachmittag ein fünftägiges Mittelalter-Festival, das die Innenstadt in einen regelrechten Ausnahmezustand versetzte. Es würde ihm einige Überzeugungskraft abverlangen, denn Mrs Carson mied solche Menschenanhäufungen für gewöhnlich. Einen Versuch war es allerdings wert.
Noch während er darüber nachsann, begann der See direkt vor ihm zu sprudeln. Mit offenem Mund starrte er auf das hellgrüne Leuchten, das aus der Tiefe emporstieg, indes er auf Knien ans Ufer rutschte. Der Anhänger an seinem Hals wog nun so schwer wie ein Felsbrocken. Im Bruchteil einer Sekunde zog es Elyjas nach vorne, und er fiel schreiend ins Wasser. »Aaahh!«
Elyjas strampelte und versuchte, ans Ufer zurückzugelangen, schaffte es jedoch nicht. Die kalten Wogen schlugen über ihm zusammen und hielten ihn gefangen. Er sank immer tiefer und tiefer, wurde hineingezogen in das gleißende Licht, bis es ihn verschluckte. Für einen Moment war der See um ihn herum verschwunden, und er schwebte, sein Körper durchdrungen von strahlendem Glanz. Das Licht schmerzte in seinen Augen. Dann verlor Elyjas das Bewusstsein, und völlige Dunkelheit umgab seinen Geist.
Als Elyjas erwachte, lag er bäuchlings in einer Pfütze. Er fror. Keuchend stemmte er sich auf die Knie.
Unmittelbar vor ihm zog sich ein schmaler See nach Osten, der als Fluss ins Gebirge verlief. In der Ferne erkannte Elyjas schneebedeckte Gipfel. Aus entgegengesetzter Richtung rauschte das Meer, dessen Wellen sanft gegen die felsige Küste schwappten. Dazwischen wogte grünes Land.
Erst jetzt bemerkte Elyjas den steinernen Torbogen, der sich hinter ihm in den Himmel erhob und in dessen Mitte ein Symbol eingemeißelt war, das viel Ähnlichkeit mit denen auf seinem Anhänger besaß. Raido. Reise, schoss es Elyjas in den Sinn. Hatte er vielleicht einen magischen Durchgang entdeckt, ein Tor zwischen den Welten, wie es in manchen seiner Bücher beschrieben stand? Obwohl er solche Geschichten gerne las, hatte er doch gewusst, dass derlei Dinge frei erfunden waren. Schließlich war er ja kein Baby mehr. Aber wenn sie doch existierten? Welche andere Erklärung gab es, dass er hierher gelangt war, wo immer dieses hierher auch sein mochte.
Vorsichtig trat er an den Bogen heran und tastete mit der Hand hindurch. Aber nichts geschah. Frierend schlang er die Arme um seinen Körper und lugte zum Himmel, wo dicke graue Wolken ihm Regen ankündigten. Hier konnte er nicht bleiben. Er brauchte einen Unterschlupf. Doch nirgendwo entdeckte er eine Straße, also wohin sollte er gehen? Er überlegte und entschied dann, es sei am besten, dem Fluss zu folgen. Mit durchweichten Schuhen und Strümpfen, die bei jedem Schritt platschten, marschierte er los.
Er war etwa zwei Stunden gelaufen, ohne jemandem zu begegnen, als er zu einer schmalen Holzbrücke kam. Inzwischen hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet, und Regen prasselte auf Elyjas hernieder. Die Haare klebten an seiner Stirn, ihm war schrecklich kalt.
Zu seiner Linken wand sich ein holpriger Pfad durch die grasigen Hügel, zur Rechten schien der Weg breiter und verlief offenbar ein weites Stück entlang des Gebirges. Elyjas konnte nicht wissen, was hinter den Bergen lag, vermutete jedoch in jener Richtung eher auf Menschen zu treffen. Darum schlug er den Weg zur Rechten ein.
»Hallo?«, rief er immer wieder. »Ist da jemand?« Doch der Wind verschluckte die Worte und er bekam keine Antwort. Jeder Schritt fiel ihm schwerer und er schleppte sich erschöpft bis zum Fuße der niederen Bergausläufer. Noch immer sah er nirgendwo ein Haus, keine Möglichkeit, Schutz zu finden. Kalte Nässe durchdrang ihn, er hustete und seine Nase schniefte. Schließlich glaubte er, etwas höher am Berghang den Eingang einer Höhle zu erkennen. Er hoffte, dort fände er Unterschlupf.
Nur mühsam gelang Elyjas der Aufstieg, denn der Hang war feucht, sodass seine Füße mehrmals abrutschten. Als er die Öffnung endlich erreichte, rief er in die Dunkelheit. Alles blieb still. Müde zwängte er sich durch das enge Loch, in dessen Innerem es zu dunkel war, um etwas zu erkennen. Er zog die Knie unter das Kinn, schlang die Arme darum und legte den Kopf darauf. So an die Wand gehockt, schlief er nach kurzer Zeit ein.
Draußen dämmerte es, als Elyjas die Augen wieder öffnete.
»Aaahhh!« Er sprang so hastig auf, dass er stolperte und auf den harten Stein schlug. Ihm blieb die Luft weg. Zwei hellblaue Augen starrten ihn aus der Dunkelheit heraus an. Elyjas’ Herzschlag raste. »I-ich hab mich nur ausgeruht«, stotterte er.
»Bbrrrawadru brrral«, kam es zurück. »Gggrrrarrrollgurrr.«
Elyjas hörte etwas zischen, woraufhin es sofort heller in der Höhle wurde. Unbewusst hielt er den Atem an. Ein dünnes, pelziges Wesen mit riesigen Ohren und einer klumpigen schwarzen Nase hockte vor ihm. Die braun behaarten Hände waren winzig, mit knubbeligen, kurzen Fingern, an deren Kuppen scharfe dunkle Krallen hervorlugten. Die Füße waren um einiges größer und besaßen ebenfalls spitze Krallen. Dennoch schien das Wesen nicht bedrohlich, sogar die leuchtenden Augen wirkten dank des Lichts weniger erschreckend als zuvor.
Elyjas richtete sich so weit auf, dass er sich annähernd mit dem Wesen auf Augenhöhe befand. »W-wer bist du? Was bist du?«, wollte er wissen.
Sein Gegenüber sah ihn abwägend an. »Wie kommst du in Höhle von Grrruuuargh?«
»Gruak? Ist das dein Name?«
Das pelzige Wesen schüttelte den Kopf. »Grrruuuargh«, rollte er den Namen lang und gedehnt aus seiner Kehle.
»Okay«, meinte Elyjas unsicher und versuchte es erneut: »Grrruuuak.« Es klang, als säße ihm ein krächzender Frosch im Hals. »Ich … ich wollte mich nur vor dem Regen schützen. Ich wusste nicht, dass hier jemand wohnt. Niemand hat mir geantwortet, also bin ich reingekrochen.« Er atmete schwer ein und wieder aus. »Ich weiß nicht, wie ich überhaupt hergekommen bin. Da war ein funkelndes Licht im See hinter unserem Haus, und ich bin ins Wasser gefallen und ohnmächtig geworden. Als ich wach wurde, lag ich vor so ‘nem steinernen Bogen am Meer. Dann bin ich dem Fluss gefolgt, weil ich keine Ahnung habe, wie ich wieder nach Hause komme und wohin ich gehen sollte.«
»Slâkdh. Du gefunden Zugang durch westliches Tor«, meinte das Wesen und musterte Elyjas nun recht interessiert. »Viel Zeit vergangen, seit jemand kommen hindurch.«
Elyjas starrte mit offenem Mund. Also doch ein magisches Weltentor, dachte er begeistert. »Wo genau bin ich hier? Wie heißt dieser Ort?«
»Du betreten das Königreich Drâea«, erklärte ihm Grrruuuargh, »größtes Reich in Shaendâra.«
»Drâea, Shaendâra«, wiederholte Elyjas. »Und was bist du?«
Grrruuuargh klopfte sich auf die Brust. »Ich Häuptling aller Tallocs. In der Sprache von Menschen bedeutet Zottling.«
Woher der Name kommt, ist wohl klar, dachte Elyjas und betrachtete den zerstruppten Pelz seines Gegenübers.
»Wie lautet dein Name?«, fragte Grrruuuargh.
»Ich heiße Elyjas, Elyjas Dobbins.«
»Eliiias.« Die kleinen Augen des Wesens durchdrangen ihn.
»Kannst du mir verraten, wie ich wieder nach Hause komme?« Noch während Elyjas die Worte aussprach, kamen ihm Zweifel, ob er wirklich schon zurück wollte. Wie oft bekam man die Gelegenheit, in eine fremde magische Welt zu reisen. Hatte er davon nicht immer geträumt?
Elyjas dachte an seine Mutter, die sich bestimmt Sorgen machte. Mrs Carson hatte sie vermutlich sofort benachrichtigt, nachdem sie im Haus angekommen war und Elyjas nirgendwo finden konnte. Trotzdem reizte ihn die Vorstellung, diese Welt genauer zu erkunden, wo er doch zufällig den Eingang entdeckt hatte.
»Das Tor im Westen führt nur nach Shaendâra hinein. Ausgang vor langer Zeit wurde versperrt.«
»Warum wurde er versperrt?«
Grrruuuarghs Blick wurde düster, als er die buschigen schwarzen Augenbrauen zusammenzog. »Damit sie nicht können raus!« Die Stimme des Zottlings klang mit einem Mal bitter.
»Sie?«
»Böswillige Kreaturen, Diener des Schattens, der Shaendâra verdunkelt. Spuuukrrra!« Kräftig donnerte er die Faust gegen den Felsen.
Elyjas’ Wunsch, sich in Shaendâra umzusehen, bekam einen Dämpfer. »Also herrscht hier Krieg?«
»Ja. Langer, grausamer Krieg, viele Jahre, viele getötet.« Grrruuuargh ließ den Kopf hängen und seufzte.
»Deine ... Familie?«
»Mein Vater und gute Freunde.«
»Tut mir Leid«, sagte Elyjas. Er senkte den Blick auf den Boden und schwieg einen Moment. »Wenn das Tor verschlossen ist und du es nicht öffnen kannst ...« erneut hob er den Blick und sah Grrruuuargh, der brummend verneinte, hoffnungsvoll in die Augen. »Existiert kein anderer Weg, der mich nach Hause führt?«
»Mmmpff. Ein zweites Tor im Osten existiert, wo der Himmel düster und die Erde verdorrt.«
»Kannst du mich hinführen?«, bat Elyjas unbehaglich.
Grrruuuargh schien zu überlegen. »Tor zu nah am schwarzen Land. Zu gefährlich, dorthin gehen.«
»Ich muss aber gehen«, entgegnete Elyjas lautstark. »Ich kann nicht hier bleiben. Meine Mom ...«
»Wenn ich dich führe, du trotzdem nicht können durch. Osttor ebenfalls versperrt«, unterbrach Grrruuuargh ihn.
»Aber …«
Der Zottling führte seine haarige kleine Hand an Elyjas’ Schulter, dann bemerkte er den Anhänger um dessen Hals. Neugierig schaute er dem Jungen in die Augen, als suche er etwas darin. »Woher du haben Stein?«
Verdutzt griff Elyjas nach dem Anhänger und zog die Kette über den Kopf. »Den? Ich hab’ ihn unter meinem Schrank gefunden.«
»Und wie kommt unter deinen Schrank?«
»Ich weiß nicht. Er war plötzlich da.« Nachdenklich betrachtete er den Stein, während er ihn langsam zwischen seinen Fingern drehte. »Ich glaube, der Stein hat mich hierher gebracht. Als ich ins Wasser gefallen bin, fühlte er sich viel schwerer an und hat mich runtergezogen.«
Grrruuuargh beäugte ihn. »Mmmpff. Du gut darauf aufpassen.«
Elyjas hielt ihm den Anhänger entgegen. »Du kannst ihn haben, wenn du willst.«
»Nein«, widersprach der Zottling entschieden. »Für dich kann mehr tun als für mich.«
Elyjas musterte erst Grrruuuargh, dann den Stein. Irritiert hängte er sich die Kette wieder um den Hals.
»Ich dich bringe nach Dh’Aschjar«, verkündete Grrruuuargh.
»Dh’Aschjar?«
Grrruuuargh trippelte zum Eingang der Höhle. »Große Stadt im Norden. Du jetzt komm! Müssen eilen uns.« Schon kletterte er den Berg hinab, sprang überraschend leichtfüßig von Fels zu Fels, indes Elyjas in der zunehmenden Dunkelheit Mühe hatte, ihm zu folgen.
»Warte!«, rief er dem Zottling hinterher.
»Eilen, los!« Grrruuuarghs Stimme verpuffte. »Bevor jemand bemerken uns.«
Sie liefen eine Weile entlang der Gebirgsausläufer in südliche Richtung. Elyjas atmete gehetzt, denn das Wesen war trotz geringer Körpergröße flink auf den Füßen. Plötzlich blieb er stehen und stellte fest, dass Grrruuuargh verschwunden war. Angestrengt versuchte er, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. »Grrruuuargh? Wo bist du? Grrruuuargh?«
Etwas schlug ihm auf den Kopf.
»Au!« Er drehte sich um. »Was ...?«
»Nicht schreien so herum! Ich dir nicht gesagt, dass herrschen Krieg? Du sie noch anlocken.« Wütend stapfte Grrruuuargh davon. »Dummer Junge! Brrrassa baarrrr!«
Elyjas hielt die Hand auf die pochende Stelle an seinem Kopf und folgte den grummelnden Lauten. Das Laufen zwischen den Felsen fiel ihm schwer, denn er konnte kaum beide Füße nebeneinanderstellen, so eng war es. Mehrmals stolperte er und schlug mit den Knien oder Armen gegen harte Steine.
»Warum sind wir nicht auf dem Weg geblieben?«, fragte er nach einigen Minuten.
»Wir sind auf Weg.«
Elyjas sah sich skeptisch um. »Das ist ein Weg?«
»Natürlich. Wir doch drauf laufen, oder?«
»Autsch!« Elyjas stieß in eben diesem Moment mit dem Fuß gegen eine Felskante. Mit schmerzverzogenem Gesicht blickte er Grrruuuargh nach. »Wie man’s nimmt!«
Mit der Zeit wurden die Felsen um sie herum steiler, und sie mussten klettern, um weiterzukommen. Als sie einen Vorsprung erreichten, stöhnte Elyjas auf. »Ich kann kaum noch was sehen.«
»Mmmpff.« Grrruuuarghs Blick schweifte nach Süden, nach Osten und Norden, die Berge hinauf. »Schon zu dunkel. Bleiben hier bis morgen früh.«
Dankbar sank Elyjas zu Boden. Die vergangenen Stunden hatten ihn erschöpft, und er lehnte sich müde an die harte Felswand. Erneut dachte er an zu Hause und an seine Mutter. »Gibt es wirklich keine Möglichkeit, wieder nach Hause zu kommen?«
Grrruuuargh wandte sich ihm zu. In der nächtlichen Dunkelheit konnte Elyjas ihn nur schemenhaft erkennen, lediglich die runden Augen leuchteten hell. »Tor kann nur von dem geöffnet werden, der einst hat verschlossen.«
»Und wer hat das getan?«
»Großer Hüter Albwin, höchster von allen in Shaendâra.« Aufmerksam beobachtete er Elyjas.
»Kannst du mich nicht zu ihm bringen, damit er das Tor für mich öffnet?«
»Albwin weit im Osten. Gefährlich, dich dorthin bringen jetzt. Gehen nach Dh’Aschjar. Dort du lernen.«
»Lernen?«, hakte Elyjas neugierig nach. »Was denn?«
»Mmmpff.« Der Zottling musterte Elyjas von Kopf bis Fuß. »Du noch vieles lernen.« Wieder schweiften seine Augen über die Gegend. »Jetzt schlafen. Ich halte Wache.«
Elyjas blieben Grrruuuarghs Worte ein Rätsel. Doch ähnlich wie bei seiner Mutter wusste er, dass er in diesem Moment keine Antworten erhalten würde. Langsam drehte er sich auf die Seite und legte den Kopf auf den Arm. »Gute Nacht.«
»Hoffen wir.«
Zögernd schloss Elyjas die Augen.
Bei Sonnenaufgang weckte Grrruuuargh Elyjas, indem er ihn unsanft an der Schulter rüttelte. »Steh auf, müssen weiter.«
Elyjas gähnte. »Ist der Weg bis Dh’Aschjar noch weit?«
»Halben Tag entfernt. Stadt liegen nördlich, in Tal auf andere Seite, wo vereinen Eisenberge mit Frostbergen.«
»Kannst du mir auf dem Weg etwas über Shaendâra erzählen?«
»Hm. Shana erschufen diese Welt zu Anbeginn der Zeit.«
»Shana?«
»Die alten Götter. Lichtgestalten, umgeben von strahlender Aura. Sie sich unterteilt in die Talmar auf Erde und die geflügelten Penyar am Himmel. In ihnen alles Leben in Shaendâra haben seinen Ursprung.«
Aufmerksam lauschte Elyjas.
»Unter den Talmar vermählten sich Namyar und Glychna. Ihr Sohn Ellyllon heiratete später Dìlumis. Im Alten Wald, südlich dieser Berge, er gründete die Baumstadt Shan’Doreel. Dort leben meiste Ellyllîm.«
»Ellyllîm? Das sind die Nachfahren Ellyllons, richtig?«
»Mmmpff. Elfenvolk.«
»Elfen«, wiederholte Elyjas andächtig.
»Ellyllons Bruder Dràoch sich vereinte mit Tarakdejha von den Geflügelten ...«
»Und woher stammt dein Volk?«, unterbrach Elyjas ihn.
»Der Shana Ghorza formte Tallocs aus grasigem Erdreich. Er auch erschuf die Ghorrocs aus hartem Fels, Steinlinge. Wir verwandt.«
Elyjas folgte Grrruuuargh auf dem runzligen Pfad durch die Berge. Jetzt gierte er danach, dem Zottel noch mehr Informationen zu entlocken.
»Shana lange Zeit lebten friedlich und erschufen Neues. Niemals starben, nur verließen ihren Körper eines Tages.«
»Sie lebten ewig?«
»Mmmpff. Seele fliegt auf und vereint sich mit anderen.«
»Wie?«
»Als Zeit gekommen war für Namyar und Glychna, ihre Seelen haben sich miteinander verbunden zu einem einzigen Licht. Dieses Licht genannt Flamme der Seelen, das schützt alles Leben in Shaendâra. Wenn Seele verlässt Körper, sie findet Weg in die Flamme zu anderen.« Grrruuuarghs Stimme verfinsterte sich. »Doch dann erster Schatten kam über unsere Welt. Fomras der Gierige strebte nach Macht, wollte unterwerfen die Schöpfung der Shana. Im Geheimen übte dunkle Magie. Doch er nicht vollenden konnte sein düsteres Werk.«
»Ist seine Seele in die Flamme aufgestiegen?«
»Nein. Sie verdorben durch schwarzen Zauber, weshalb nicht gehen ein in Flamme. Sie sich im Dunkel verbarg.«
»Und was ist danach passiert?«
»Golmôg, Sohn von Fomras, noch eifriger studierte dunkle Magie, scharte viele Anhänger um sich. Er gegründet den Scath’Melôr, Orden des Schwarzen Schattens. Slâkdh!« Er spuckte aus. »Golmôg nicht konnte siegen, solange Flamme wirkte als Schutzschild gegen die Finsternis. Darum er plante Angriff auf die Flamme im Turm des Lichts, oben auf dem Mullach Geal.«
»Dem was?«
»Weißer Gipfel. Ist höchster Berg in Shaendâra.«
»Hat Golmôg die Flamme zerstört?«
»Nein. Als Flamme war beinahe erloschen, kam Vaìrdor, der Urenkel Dràochs, und verhinderte die Schandtat. Er begründete die Linie großer Magier, die seitdem wachen über Flamme.«
Hörbar blies Elyjas aus, denn er hatte während Grrruuuarghs Worten völlig vergessen zu atmen.
»Golmôg war bezwungen, aber Anhänger des Schattenordens flohen. Daher Vaìrdor verbarg die Flamme an geheimem Ort. Nur Hüter der Seelen kennt. Wenn selbst verlassen Körper, geben Wissen weiter an Nachfolger. So geschehen viele Jahre und erneut herrschte Frieden in Shaendâra.«
»Der nicht anhielt?«
Grrruuuargh brummte. »Nachkommen der Talmar und Penyar breiteten sich aus in Shaendâra. Immer mehr kümmern um andere Dinge und entfernen sich von der Magie, ihrem inneren Licht. Deshalb lebten sie immer kürzer und wurden sterblich. Andere hingegen zu viel Interesse an Macht und wollten herrschen über alles. Zweiten Schatten brachten über uns.«
»Was ist geschehen?«
»Mestar Ûussa wählte zwei Brüder als Lehrlinge. Sìdhor war eifrig zu lernen. Doch Faergûll düsteres Herz. Als Ausbildung beendet, Faergûll begangen größtes Verbrechen.«
In Grrruuuarghs Augen erkannte Elyjas tiefen Schmerz. »Was hat Faergûll getan?«
»Während feierlicher Zeremonie im Tempel die Seelen zweier Magier – Drywain und Ealadh – aufgestiegen aus Körpern. Faergûll sich getarnt und in Tempel geschlichen. Dann er gestohlen Seelen mit schwarzem Zauber.«
»Er hat sie gestohlen? Die Seelen?«
»Mmmpff! Danach Faergûll zeugte Sohn namens Zorlêw, der noch machtgieriger. weshalb er seinen Vater ermordete. Zorlêw erbaute Schattenfestung im Osten, erschuf bösartige Monster und raubte noch mehr Seelen. Erst viele Jahre später Sìdhor und Elfenvolk geschlossen Bund mit Aeghal, dem König von Drâea. Sie bezwungen Zorlêw und vertrieben grausige Diener. Wieder Frieden herrschen, der andauern hundertvierzehn Jahre, bis Aeghals Enkel wurde König von Drâea. Dann Schatten erhob sich neu und Dunkelheit wie schwere Decke zog über den Himmel. Viele im Laufe der Jahre verschwunden, nie wieder gesehen. Überall Kämpfe. Tausende schwarze Kreaturen von Osten her gekommen und töteten Menschen, Elfen, Ghorrocs und ... Tallocs«, endete Grrruuuargh.
»Was geschah mit ihren Seelen?«, flüsterte Elyjas.
»Sie gestorben durch schwarze Magie. Ihre Seelen sind gefangen in der Dunkelheit. Nicht können fliehen.« Schmerz und Wut quollen aus Grrruuuarghs Stimme.
»Und die Flamme?« Elyjas schluckte. »Kann sie die Dunkelheit nicht wieder vertreiben? Du hast doch gesagt, solange sie brennt, könne die Finsternis nicht siegen.«
»Slâkdh. Solange Seelenflamme brennt, gibt noch Hoffnung in Shaendâra. Doch ihr Licht ist schwach. Nicht lange kann aufhalten Schatten.«
»Aber irgendwas muss ihn doch aufhalten«, erwiderte Elyjas, als könne er, allein dadurch dass er es aussprach, die Dunkelheit, die er hier nicht einmal sehen konnte, zurücktreiben. »Das Böse darf nicht gewinnen!«
Grrruuuarghs Blick ruhte auf ihm. Er sagte nichts.
»Was ist mit den Zauberern und Kriegern? Gibt es niemanden, der so viel Magie und Kraft beherrscht, dass er Shaendâra befreien kann?«
»Nur einer«, hauchte der Zottling. »Nur einer existieren, der retten kann diese Welt.«
»Und wer ist das? Wo ist er?«
Grrruuuargh zögerte. »Ein Nachfahre Aeghals«, sagte er langsam. »Trägt Macht in sich, um zu kämpfen gegen Finsternis und bringen Licht zurück nach Shaendâra.« Ein hoffnungsvolles Funkeln trat in seine Augen, nur für den Bruchteil einer Sekunde.
»Kämpft er mit seiner Armee im Osten?«
»Nein. Nicht kämpft.«
Elyjas runzelte die Augenbrauen.
»Zeit ist noch nicht gekommen, zu führen Heer nach Osten. Müssen bündeln Kräfte zuvor, sonst alles umsonst.«
Das ergab Sinn. »Er muss ziemlich groß und stark sein«, überlegte Elyjas laut, »und sehr clever ist er bestimmt auch, wenn er so viel Magie beherrscht.«
»Brrrarra«, grummelte Grrruuuargh. »Wieso muss groß sein?«
»Na ja, wenn er gegen die Monster kämpfen will ...« Jäh erinnerte er sich an die grässlichen schwarzen Kreaturen aus seinem Traum. Waren sie etwa die Monster, von denen Grrruuuargh gesprochen hatte? War es möglich, dass er, wenn er schlief, Bilder aus dieser Welt empfing? Grübelnd trottete er neben Grrruuuargh her, der nicht erkennen ließ, ob er Elyjas’ Stutzen bemerkt hatte.
Elyjas dachte darüber nach, ob er Grrruuuargh von seinem Traum erzählen solle, doch er wusste nicht, wie dieser reagieren würde, also ließ er es sein. Einen Moment lang herrschte Stille, die der Zottel schließlich unterbrach.
»Du glaubst, nur wer groß ist, kann kämpfen und stark sein?«
Elyjas überlegte kurz. »Wenn die anderen viel größer und stärker sind, ist es schwer, sie zu bekämpfen.«
Abrupt stoppte Grrruuuargh. Er stemmte die dünnen Ärmchen in seine unter buschigem Pelz verborgenen Hüften und baute sich vor Elyjas, dem er gerade einmal bis zur Mitte des Oberschenkels reichte, auf. »Mich ansehen! Du findest, ich groß bin? Findest, ich habe starke Muskeln?«
Elyjas schüttelte leicht den Kopf.
»Ich kleiner als du. Alle Tallocs klein. Und du nur Junge. Erwachsene größer und Schattenkreaturen noch größer und kräftiger. Dennoch mein Volk gekämpft gegen sie viele Male.«
Verlegen wich Elyjas Grrruuuarghs Blick aus. »Ich wollte nicht ...«
»Slâkdh! Nicht entschuldigen. Mich ansehen und hören zu! Nicht Größe oder Muskeln bestimmen, was wir vollbringen können. Manchmal hilft, macht Dinge leichter. Aber nicht entscheidet, wer du bist. Jeder hat Platz in der Welt. Kann tun Gutes oder Schlechtes. Wenn kommt Not oder Krieg, kann entscheiden, ob fliehen oder kämpfen wollen, für sich und für andere. Jeder kann wählen, was wichtig ist. Kraft und Stärke kommen aus dem, was in dir ruht.« Sanft griff er Elyjas’ Hand und führte sie auf dessen Brust. »Hier. Du spürst schlagen?«
Elyjas nickte. »Ja.«
»Dort liegt Quelle all dessen, was du bist und tun kannst. Du nur musst lassen frei. Auch der Kleinste, ob zum Guten oder Schlechten, kann bewirken große Werke, mit Macht der eigenen Seele«, endete er und trippelte weiter den Pfad hinab.
Elyjas folgte ihm und dachte über die Worte nach. Er verstand, was Grrruuuargh ihm sagen wollte. Doch zweifelte er daran, dass man Kraft und Stärke nach Belieben aus sich hinauszaubern konnte, vor allem wenn solche Grauen erregenden Monster versuchten, einen zu töten.
Sein Magen knurrte auf einmal und rief ihm ins Gedächtnis, dass er seit dem Morgen des Vortages nichts mehr gegessen hatte. Grrruuuargh, der ihm den Hunger scheinbar angesehen hatte, meinte, dass sie bald das Tal erreichen würden und es dann nicht mehr weit sei. In der Tat wurde der Weg allmählich breiter und ebener, sodass Elyjas seltener zu Boden schauen musste, um nicht zu stolpern. Er lugte hinauf zum Himmel, der in einem trüben blaugrau über ihnen hing. Nur einzelne schwache Sonnenstrahlen fanden ihren Weg zur Erde.
Grrruuuarghs Augen waren Elyjas’ gefolgt. »Nicht können durchdringen düstere Wolken im Osten.«
»Wird es hier niemals richtig hell?«
»Sonne lange nicht mehr strahlen kräftig in Drâea. Aber nach Mittag, wenn wandert nach Westen, Licht wird besser.«
Inzwischen umgaben sie nur noch niedrige Felsausläufer, und ein Stück voraus erkannte Elyjas eine quer verlaufende Straße. Keine Straße aus ebenem Asphalt, wie er sie aus seiner Welt kannte. Vielmehr eine breite Mulde platt getrampelter Erde, die sich inmitten einer grünen Wiese nach Norden und Süden schlängelte. Östlich erhob sich in einiger Entfernung eine hohe Gebirgskette, deren südliches Ende er nicht erspähen konnte. Dies war das Hauptmassiv der Eisenberge, wie Grrruuuargh erklärte, in denen die meisten Ghorrocs lebten. In entgegengesetzter Richtung rückten die Berge näher und schienen weit im Norden mit den Ausläufern, die sie in den letzten Stunden durchquert hatten, zusammenzulaufen. Irgendwo dort musste Dh’Aschjar liegen.
Während der Zottling ihn vorwärtstrieb, warf Elyjas noch einen Blick nach Süden, wo der Alte Wald, die Heimat der Elfen, liegen sollte. Er konnte jedoch nichts erkennen, da die Berge den Wald hinter sich verbargen. Eilig sputete er seinem Gefährten nach.
»Grrruuuargh«, begann er nach einer Weile, »der eine, der die Macht hat, gegen die Finsternis zu kämpfen …« Er hielt kurz inne, doch sein Begleiter reagierte nicht. Dann setzte er noch einmal an. »Du hast gesagt, er müsse erst seine Kräfte sammeln.«
»Mmmpff.«
»Wo tut er das?«, fragte er, begierig darauf, den auserwählten Helden zu Gesicht zu bekommen.
Ihm schien, als wäge Grrruuuargh seine Worte sorgfältig ab, bevor er sie aussprach. »Du ihn in Dh’Aschjar finden wirst.«
Elyjas blieb abrupt stehen. »Wirklich?«
Grrruuuargh betrachtete ihn einen Moment lang stumm und nachdenklich.
»Mmmpff. Du ihn finden dort.«
Er lief weiter, und Elyjas folgte ihm voller Vorfreude auf das, was ihn in Dh’Aschjar erwarten mochte. Das erneute Aufblitzen in Grrruuuarghs Augen blieb ihm verborgen.
Die Straße führte sie in einer weiten Linkskurve nach Westen, dann geradewegs nordöstlich durch das Tal. Immer wieder ließ Grrruuuargh seinen Blick über das Gebirge im Osten schweifen, deren Gipfel im trübgrauen Nebel verschwanden. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen, als erwarte er, dort oben im nächsten Moment etwas zu erspähen.
Elyjas bemerkte dies nicht. Er war in Gedanken versunken, freudig erregt, doch auch unsicher. Es kam ihm vor, als wäre er in einer der Geschichten gelandet, die er so gerne las. Wie oft hatte er davon geträumt, einmal Teil eines solchen Abenteuers zu sein. Andererseits erschauderte ihn die Vorstellung, den Monstern, von denen Grrruuuargh gesprochen hatte, von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Zu deutlich erinnerte er sich an ihre grässlich verzerrten Fratzen und ihr Grauen erweckendes Kampfgebrüll, das ihm noch jetzt einen eiskalten Schwall über den Rücken jagte. Er war überzeugt, dass ihm sein Traum eine Szene aus Shaendâra gezeigt hatte, ohne jedoch zu wissen, wie das möglich war. Auch belastete ihn die Sorge um seine Mutter, die sicherlich umkam vor Angst um ihn.
Der Einzige, der das Weltentor öffnen und ihn zurück in seine Welt schicken konnte, weilte weit entfernt im Osten, wohin Elyjas vorerst nicht gelangen konnte. Wie lange würde es dauern, bis er diesem Albwin begegnete und in der Lage war, zurückzukehren? Und sogar wenn er ihn traf – wenn der Krieg weiterhin wütete, würde der Zauberer das Tor öffnen und riskieren, dass ebenso die dunklen Kreaturen hindurchschreiten konnten? Der Gedanke, dass diese Monster durch seine Heimatwelt liefen und Menschen angriffen, schien schrecklich.
Nein! Das durfte nicht sein! Lieber wollte Elyjas ewig in Shaendâra bleiben, als dass diese Kreaturen durch das Tor hinausgelangen konnten. Angst und Zweifel überfielen ihn. Aber noch hatte er Hoffnung, dass alles gut werden würde. Im Augenblick musste Elyjas die Situation akzeptieren, wie sie war, denn ändern konnte er sie ohnehin nicht. In Dh’Aschjar – so hatte Grrruuuargh gesagt – würde er den einen finden, der Shaendâra befreien konnte. Und dort sollte Elyjas lernen. Er wusste nicht, was er lernen sollte. Doch die Neugier brannte in ihm und überdeckte vorerst alle Sorgen.
Nach etwa dreieinhalb Stunden erkannten sie die grauweißen Bauten einer Stadt am Fuß der Berge, mit Wachtürmen, die die Mauern in regelmäßigen Abständen überragten. Auf jedem Turm erhoben sich Lanzen, an deren spitzen rotgoldene Fahnen im Wind flatterten.
Das musste Dh’Aschjar sein, vermutete Elyjas.
Je näher sie dem Haupttor kamen, desto stärker kribbelte es unter seiner Haut. Das Tor maß so breit, dass zwanzig Männer zugleich hindurchgepasst hätten, und so hoch wie zwei Häuser. Die Flügel bestanden aus massivem Schwarzholz mit schweren Eisenbeschlägen und jeder war so dick wie ein Karren. Zu beiden Seiten stachen eckige Wachtürme hundert Fuß in den Himmel, hinter deren Zinnen je zwei Soldaten die Ankunft Fremder auf der Straße überwachten. Vier andere Wachen standen direkt am Tor, mit Stahlkappen und Kettenpanzer, die sie über schlichten rotbraunen Mänteln trugen, und dünnen Lanzen, die sie im gleichen Winkel vorneigten. Auf Brusthöhe erkannte Elyjas einen langschwänzigen roten Drachen. Hinter dem Tor weitete sich die Hauptstraße zu einem siebzig Fuß in alle Richtungen reichenden Platz, auf dem reges Treiben herrschte. Menschen, jung und alt, liefen zwischen den mit roten, grünen oder blauen Stoffen geschmückten Wagen und Ständen umher, an denen Händler unterschiedlichste Waren feilboten. Ein Wirrwarr lauter Stimmen mischte sich mit dem Gegacker von Hühnern und meckernden Ziegen. Im Zentrum des Platzes ragte ein weißer Obelisk aus dem Boden. An der Spitze ruhte ein kleines rötliches Oval, eingespannt zwischen zwei goldenen Klemmen.
»Stein symbolisiert Flamme«, erklärte Grrruuuargh. »Enthalten magisches Licht. Wenn droht Gefahr, rotiert und leuchtet.«
Elyjas’ Mund stand vor Staunen offen. Begierig versuchte er, all die verschiedenen Eindrücke aufzusaugen, während der Zottling ihn im Zickzack über den Platz führte. Schon oft war Elyjas auf dem Wochenmarkt in seiner Heimatstadt gewesen. Doch noch nie hatte er solch prächtige Dinge gesehen, wie er sie hier entdeckte. Er fand Stoffe und Tücher aus feinster Seide, in bunt schillernden Farben sowie Perlen in blassrosa oder weiß. Außerdem eiserne Truhen, gefüllt mit glänzenden Rubinen, Smaragden und Saphiren, an denen das Licht der Sonne brach. Zu seiner Linken entdeckte er eine Reihe Tiegel, aus denen zahlreiche Gewürze und Farbpulver ihren Duft verströmten. Es roch nach Pfeffer, Curry und Muskat, vermischt mit dem Aroma frischer Kräuter wie Minze, Koriander oder Salbei. Unmittelbar neben dem Stand gab es Federn, Tinte und Pergament, während auf der gegenüberliegenden Seite Schwerter, Dolche und Äxte klirrten, die soeben in mehreren Schichten aufgereiht wurden. Auch Pfeile und Bögen lagen dabei. An einem anderen Stand pries ein Mann mit blauem Hut und weißem Schnurrbart Steine, Amulette und andere eher unscheinbar aussehende Dinge an, in denen angeblich magische Kräfte ruhten.
Es wunderte Elyjas, dass niemand auf dem Platz von ihnen Notiz zu nehmen schien. Dass er selbst in dem Trubel nicht auffiel, konnte er noch verstehen. Aber sein pelziger kleiner Gefährte? Wahrscheinlich waren diese Menschen daran gewöhnt.
Als sie an dem Obelisken vorbeischritten, entdeckte Elyjas die Inschrift, die dort eingraviert worden war: Dúil mair.
»Was bedeutet das? Dúil mair?«
Sein Begleiter hob den Blick. »Bedeutet Hoffnung lebt.«
»Dúil mair«, prägte Elyjas sich die Worte ein und folgte Grrruuuargh bis zu einer zweiten Mauer, die den Platz, kaum niedriger als die Außenmauer, auf allen Seiten begrenzte. Wie am Hauptzugang befanden sich hier massive, eisenbeschlagene Tore, hinter denen Gassen in nördlicher, westlicher und östlicher Richtung verliefen, und auch sie wurden von Soldaten bewacht. Im Falle eines feindlichen Angriffs verriegelten die Wachen die Tore, wie Grrruuuargh erläuterte, um die Stadt, die dahinter stufenweise den Berghang hinaufwuchs, abzuschirmen.
Sie passierten das Nordtor und folgten der Straße zwischen den Wohnhäusern der Kaufleute und riesigen Speichergebäuden hindurch bergauf. Über jeder Tür knarrte ein Schild aus Holz oder Kupfer, auf dem das Zeichen der jeweiligen Gilde gemalt war, der der Kaufmann angehörte.
Nach einer Weile deutete Grrruuuargh auf eine schmale, unscheinbare Passage rechts von ihnen. »Kommen hier lang.«
»Wohin gehen wir?«
»Besuchen Freund. Müssen besprechen Wichtiges.«
Mehrere Stufen führten hinunter durch die Gasse, dann wieder hinauf, bis sie erneut einen runden Platz betraten. In der Mitte sprudelte klares Wasser in einem Brunnen aus weißem Stein.
»Sehen Burg dort oben?« Grrruuuargh wies auf ein nochmals vierzig Fuß höher liegendes Plateau. »Dort sitzt Tammorn.«
»Tammorn? Ist das der König?«
Der Zottling brummte. »Tammorn nicht König, ist Statthalter von Dh’Aschjar. Regiert über Drâea, bis König wiederkehrt.«
»Wo ist denn der König?«
»Thron seit Langem leer«, grummelte Grrruuuargh abermals. »Letzter König wurde überfallen auf Reise nach Osten, wenn Krieg nahmen Anfang.« Flüchtig huschten seine Augen zu Elyjas. »Sein Sohn nun rechtmäßiger König. Aber er verschollen nach Schlacht. Niemand weiß, ob lebt oder tot. Seitdem Nachfahren von Aeghal herrschen ohne Krone.«
»Also ist Tammorn mit dem König verwandt?«
»Nicht er. Seine Gemahlin Muirgael war Nichte von getötetem König, Cousine von rechtmäßigem Erben.«
Elyjas nickte. »Warum herrscht dann nicht Muirgael?«
»Sie gestorben kurz nach Geburt ihrer Tochter.«
»Oh!«
Sie waren der Straße bergauf gefolgt, an Trinkstuben vorbei, aus denen – ungeachtet der noch frühen Tageszeit – einige Trunkenbolde heraustorkelten. Frauen oder Burschen zogen auf Karren ihre Habe an ihnen vorüber, und aus einer der Seitengassen hörte Elyjas spielende Kinder lachen. Hierher war der Krieg noch nicht vorgedrungen.
»Wie lange warten die Menschen schon auf die Rückkehr ihres Königs?«
»Er mehr als vierzehn Jahre verschollen.«
»Und noch immer hoffen sie«, wunderte sich Elyjas. Dúil mair.
Die Straße schwenkte nach links, doch Grrruuuargh deutete in die entgegengesetzte Richtung, wo eine Brücke, kaum breit genug, dass ein Mann darauf schreiten konnte, eine vom Berg geworfene Falte überspannte. Dahinter, zwischen zwei schlanken, hohen Felsnadeln hindurch, die wie steinerne Versionen der Wachposten am Tor schienen, liefen sie geradewegs auf ein einzeln stehendes Gebäude zu. Das Haus unterschied sich nicht sonderlich von den übrigen Gebäuden, die Elyjas gesehen hatte: grauweißes Mauerwerk, zweigeschossig, mit hohem Giebeldach. Zu beiden Seiten wurde es von schlanken Rundtürmen begrenzt, während es im Rücken an den Berg lehnte. Elyjas stutzte jedoch, weil das Haus keinerlei Fenster besaß. Die einzige Öffnung bot die zwei Spannen breite schwarzbraune Holztür in der Mitte.
»Wohnt hier dein Freund?«
»Hier lebt Serekhil. Er leitet diese Schule.«
Ungläubig starrte Elyjas seinen Begleiter an. »Schule? Das da?«
»Scolai Dhrai. Größte Magierschule in Shaendâra.«
Elyjas konnte es nicht fassen. Eine Magierschule? Dieses trostlose Gebäude?
»A-aber hier gibt es nicht mal Fenster. Da drinnen muss es völlig duster sein.«
»Brrrasssarrroghuul ... barrr.« Grrruuuargh verdrehte die Augen und stapfte kopfschüttelnd zur Tür. »Nicht alles ist, wie scheint. Öffne Augen!«
Noch einmal sah Elyjas an der Fassade empor und runzelte die Stirn, während Grrruuuargh dreimal gegen die Tür klopfte.
»Wer da?«, ertönte eine Stimme.
»Cara sol.«
»Wie lautet euer Begehren?«
»Shírwail ord nan Vy’is.«
Elyjas verstand kein Wort.
»Andyr’stu en cairdeas«, antwortete die Stimme, und die Tür öffnete sich.
Kaum waren sie eingetreten, bestätigte sich, was Grrruuuargh gesagt hatte.
»Wahnsinn«, hauchte Elyjas ehrfürchtig.
Vor ihnen erstreckte sich ein schier endlos erscheinender Flur in den Berg hinein. In regelmäßigen Abständen flankierten meterhohe graue Steinsäulen den Gang, zwischen denen schmalere Korridore nach rechts und links abzweigten. Obwohl nirgendwo im Fels ein Spalt existierte, durch den Tageslicht hereindrang, war der gesamte Raum hell erleuchtet von strahlenden Lichtkugeln, die hoch oben an der blaugrauen Decke wie Sterne funkelten.
Ein Mann mit längerem schwarzen Haar und einer hakenförmigen Nase näherte sich ihnen. Er begrüßte den Zottling flüchtig, bevor sein Blick forschend über Elyjas glitt. »Wer ist Euer Freund?«
Elyjas fühlte sich unbehaglich. Irgendetwas störte ihn. Zögernd streckte er dem Fremden die Hand entgegen. »Elyjas Dobbins.«
»Und was ...?«
»Slâkdh, Gulga!«, unterbrach Grrruuuargh ihn wirsch. »Keine Zeit für Plaudereien. Müssen Serekhil sprechen.«
»Schön.« Gulga verzog ungehalten das Gesicht. »Folgt mir.«
Zügig durchschritten sie den länglichen Raum. Als sie nach links abbogen und einen neuen Korridor betraten, entbrannte über ihren Köpfen ein winziges hellgoldenes Licht, das vor ihnen schwebte und ihnen den Weg wies. Elyjas starrte einen Moment lang derart fasziniert nach oben, dass er Gulga beim erneuten Richtungswechsel beinahe in die Fersen getreten wäre.
Die Flure, die in den Berg geschlagen waren, sahen für Elyjas alle gleich aus. Nackter Fels zeichnete ihre Wände, die rau und spröde wirkten. Doch als Elyjas’ Hand darüberglitt, fühlte der Stein sich völlig eben an. Eine Wendeltreppe führte sie hinauf in den ersten Stock, wo sie abermals im Zickzack die Gänge durchquerten, bis sie vor einer hohen schwarzen Holztür stehen blieben.
Wie zuvor Grrruuuargh klopfte Gulga dreimal. »Taechta coime.«
»Andyr’stu«, kam die Antwort von der anderen Seite.
»Ihr dürft nun eintreten.«
»Takkpa, Gulga«, bedankte sich Grrruuuargh.
»Stets zu Diensten.« Gulga machte eine kaum merkliche Verbeugung und verabschiedete sich. Sein Blick durchbohrte Elyjas, ehe er sich abwandte.
Die Kammer, die Elyjas nun betrat, glich eher einer Höhle. Auch hier bestanden die Wände aus nacktem Fels, an dem ringsherum Regale bis an die nahezu sechs Meter hohe Decke ragten. Zwischen den schwarzbraunen Holzgerüsten flogen Bücher, Pergamente, Karten, Federkiele und andere Schreibutensilien wild durcheinander, auf der Suche nach einem neuen Ruheplatz.
»Verzeiht das Chaos«, sagte jemand hinter ihnen. »Ich dachte, es ist an der Zeit, ein bisschen Ordnung zu schaffen.« Der Mann hinter dem dicken braunen Schreibtisch in der Ecke des Raumes lächelte sympathisch. Das silbergraue Haar hing ihm bis auf die Schultern, und er trug einen langen, bauschigen Bart. Um die Augen verkündeten zahlreiche Fältchen sein hohes Alter. Dennoch war sein Blick hellwach, und er strahlte Würde und Weisheit aus.
Der Mann klatschte einmal in die Hände, und der bunte Wirrwarr über ihren Köpfen verebbte abrupt.
»Grrruuuargh, mein Freund«, begrüßte der Alte ihn und trat hervor. Sein Gewand war weiß mit je einem goldenen Streifen am unteren Saum und an den Ärmeln. »Es ist lange her, dass wir uns zuletzt sahen. Ich hoffe«, sagte er verheißungsvoll, »dein Besuch kündet bessere Zeiten an.« Seine Augen streiften Elyjas unauffällig.
Grrruuuargh nickte. »Cait ôrzcha, Serekhil.«
»Und wie lautet dein Name?«, wandte Serekhil sich lächelnd an Elyjas.
Anders als zuvor bei Gulga war dieser dem alten Mann sofort zugeneigt. »Ich bin Elyjas Dobbins«, antwortete er höflich und streckte erneut die Hand aus.
»Nun, willkommen in der Scolai Dhrai, Elyjas Dobbins. Mein Name ist Serekhil, und ich bin der Direktor dieser Schule.«
»Dann sind Sie ein echter Zauberer?«, fragte Elyjas aufgeregt.
Schmunzelnd hob Serekhil eine Augenbraue. »Gibt es denn unechte Zauberer?«
»Ähm, ich schätze nicht.«
»Dann bin ich wohl in der Tat ein wahrhafter Zauberer. Und du bist sicher hungrig nach eurer langen Reise«, vermutete Serekhil, was Elyjas’ Magen im gleichen Moment mit lautem Knurren bestätigte. »Die Küche wird euch etwas zubereiten«, bot Serekhil an und schwenkte eine kleine silberne Klingel, die jedoch keinen Ton erzeugte.
Elyjas runzelte die Stirn.
»Nehmt Platz«, lud Serekhil seine Gäste ein. Und noch bevor Elyjas fragen konnte, wo sie denn Platz nehmen sollten, erschienen aus dem Nichts zwei große grüne Plüschsessel. Während Grrruuuargh in den linken sprang, ließ Elyjas sich dankbar in den rechten fallen. Sekunden später öffnete sich ein Spalt im Felsen hinter Serekhils Schreibtisch, und eine silberne Platte mit dampfenden Leckereien kam zum Vorschein.
Elyjas atmete tief ein, sog den köstlichen Duft von gebratenem Hühnchen, Kartoffeln und marinierten Maiskolben ein, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Auf einer zweiten Platte folgten marmeladengefüllte Teigwaren und eine große Schüssel Schokopudding.
»Bitte greift zu.« Serekhil schob Elyjas und Grrruuuargh je einen gläsernen Kelch zu, in dem eine rötliche Flüssigkeit schwappte.
»Was ist das?«
»Es wirkt wärmend und verscheucht Müdigkeit.«
Vorsichtig kostete Elyjas den Trank, der nach reifen Beeren schmeckte.
Serekhil beobachtete Elyjas achtsam, während dieser ein großes Stück Fleisch, mehrere Kartoffeln, den Mais und etwas Pudding verschlang. »Bhan arri’s?«, fragte er an Grrruuuargh gerichtet.
»Gaek da.«
»Faech dun ôrzcha?«
»Norbh«, verneinte Grrruuuargh, und Serekhil nickte zufrieden.
Elyjas lauschte immer noch kauend dem geheimnisvollen Gespräch, als der Zottling unerwartet aufsprang und zur Tür stapfte. »Werde überbringen Nachricht.«
»Gehen wir schon?«, fragte Elyjas hörbar enttäuscht.
Serekhils Augen begegneten seinen. »Grrruuuargh wird alleine gehen.«
»Was?«
»Habe Aufgabe zu erledigen. Du bleibst hier«, meinte Grrruuuargh.
»Aber ...«
»Du gut aufgehoben in Scolai. Lernen wichtige Dinge.«
Für einen Moment hielt Elyjas die Luft an. »Ich soll hier lernen? Magie?«
»Du wirst vieles lernen, was nötig ist«, stellte Serekhil klar und verabschiedete dann Grrruuuargh. »Leb vorerst wohl mein Freund. Auf dass sich unsere Hoffnung erfüllen möge.«
»Mmmpff. Wir sehen uns wieder, Elyjas Dobbins.«
Elyjas sah Grrruuuargh verwundert nach.
»Ich denke«, begann Serekhil, »wenn du fertig bist, beginnen wir mit einem Rundgang durch die Schule, damit du dich hier zurechtfindest.« Er stand auf, und Elyjas tat es ihm gleich. Ehe sie den Raum verließen, winkte Serekhil flüchtig in Richtung des Schreibtisches, wo sich das benutzte Geschirr stapelte, bevor die beiden Silberplatten durch den Felsspalt schwebten und verschwanden. Im Hinausgehen schnippte er kurz mit dem Finger, und über ihnen flogen erneut die Objekte umher. »Begleite mich!«
Erneut liefen sie durch einen langen, gewundenen Korridor. Nach einigen Schritten standen sie auf einer Brüstung, deren Rand ein kunstvoll verziertes Geländer schmückte und von deren Seiten eine Treppe in die höher gelegenen Stockwerke oder in die Halle unter ihnen führte.
»Dies ist unser Versammlungsort. Hier kommen alle Schüler der Scolai beim Klang der Glocke zusammen«, führte Serekhil aus. Er deutete auf eine acht Fuß hohe goldene Glocke, die unbefestigt über ihnen in der Luft schwebte. Sie besaß keinen Klöppel, und Elyjas rätselte, wie man ihren Ton hören sollte. Die Schelle, die Serekhil in seinem Büro geschwenkt hatte, um die Speisen zu ordern, schoss ihm in den Sinn. »Wie ...?«
»Du wirst feststellen, dass deine Ohren viel mehr hören können, als sie es bislang getan haben. Du musst sie nur offen halten«, antwortete Serekhil, der bereits den Stufen in den nächsten Stock folgte. »Vierzehn ist ein besonderes Alter.«
Elyjas stutzte. Diese Worte hatte er schon früher gehört.
»Du fragst dich nicht, woher ich dein Alter kenne?«
»Nun, Sie sind ein Zauberer«, meinte Elyjas. »Ich nehme an, Sie wissen vieles, das man Ihnen noch gar nicht erzählt hat.«
Serekhil schmunzelte. »Ja. Ich weiß manches.«
»Wieso ist vierzehn ein besonderes Alter?«
»Mit vierzehn offenbart sich die Magie in denen, die auserwählt sind, ihren Pfad zu beschreiten.«
»Wie geschieht das?«
»Die Magie zeigt sich auf vielerlei Wegen. Meist beginnt es mit der Wahrnehmung von Ereignissen, die weit entfernt stattfinden ...«
Meine Träume.
»... oder mit der unbewussten Freisetzung magischer Energie.«
»Man zaubert also, ohne dass man es weiß?«
Serekhil bejahte. »Oft bewirkt man leichte Zaubereien, ohne zu ahnen, dass es sich um Magie handelt. Man spürt lediglich ein schwaches Kribbeln in den Fingern, wenn die Energie sich konzentriert. Und wenn man weiß, worum es sich handelt, kann man es noch nicht kontrollieren.«
»Darum kommt man hierher, um zu lernen, wie man die Magie richtig nutzt«, vermutete Elyjas.
»Ja.«
Sie bogen mal nach links, mal nach rechts ab, während Serekhil weitersprach. Er erklärte Elyjas, dass jeder, der um Aufnahme in die Magierschule bat, sich zunächst einer Prüfung zu unterziehen hatte. Wurden dabei dunkle Absichten im Herzen des Anwärters enttarnt, blieb ihm die Aufnahme in die Scolai verwehrt. Elyjas erfuhr, dass die Grundausbildung eines Zauberers drei Jahre dauerte und mit einer schweren Prüfung abschloss. Erst nach einer weiteren dreijährigen Lehrzeit, in der man mit einem einzigen Mestar umherzog, durfte man den Titel eines Adepto, eines Gelehrten, tragen und galt als vollwertiger Zauberer. Bis dahin hieß man entweder Imri, ein Schüler, oder Printi, Lehrling.
Serekhil führte Elyjas zu den Schlafräumen der Jungen, die im westlichen Teil der Schule lagen. Die Schlafsäle der Mädchen befanden sich im östlichen Abschnitt. Entsprechend den drei Jahrgängen von Schülerinnen und Schülern gab es Quartiere auf drei Ebenen. Serekhil wies Elyjas einen Schlafplatz im vierten Stock zu, in einem Saal, in dem bisher acht Jungen untergebracht waren. Momentan lag der Raum leer, da alle beim Unterricht weilten. Der Saal war in mehrere Nischen unterteilt, in denen jeweils für zwei Schüler Betten, Schreibtische, Bücherregale und hohe Schränke standen.
Noch immer konnte Elyjas nicht fassen, dass ein Junge wie er, der noch dazu durch Zufall aus einer anderen Welt hierhergelangt war, magische Fähigkeiten erlernen sollte. Doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr fügte sich alles zusammen. Seine Träume – Bilder aus einer anderen Welt. Und sie hatten erst kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag angefangen. Hatte er das Weltentor also gar nicht zufällig entdeckt?
»Magie existiert seit Anbeginn der Zeit. Es sind uralte Kräfte, die niemals planlos fungieren. Hinter allem, was geschieht, steckt ein Sinn, auch wenn wir diesen nicht immer sofort erkennen«, legte Serekhil dar, als hätte er Elyjas’ Gedanken erraten. »Zwei Pole – das Licht und der Schatten, Wärme und Kälte, Schwarz und Weiß –, die gleichermaßen nebeneinander existieren und die Welt im Gleichgewicht halten. Es kann das eine niemals ohne das andere geben.«
»Aber manchmal wird das Gleichgewicht zerstört«, entgegnete Elyjas, »wie jetzt in Shaendâra, und eine Seite herrscht mehr als die andere.«
»Ja. Manchmal strebt eine Seite nach der alleinigen Macht und bringt die Waage aus der Balance.«
»Und die geschwächte Seite versucht dann mithilfe der Magie, das Gleichgewicht wieder herzustellen«, überlegte Elyjas.
Serekhil nickte zustimmend.
»Wenn die Magie einen Plan hat ...« Fragend sah Elyjas Serekhil an. »Heißt das, dass sie mich absichtlich nach Shaendâra geführt hat?«
»Es geschieht nichts ohne Grund.«
»Aber ich komme aus einer anderen Welt.«
»Die Magie wirkt nicht nur in Shaendâra. Sie existiert überall in Avaaru, dem allumschließenden Raum.«
Elyjas zögerte. »Selbst wenn ich tatsächlich dazu bestimmt wäre, magische Kräfte zu besitzen und sie hier zu lernen, was wirklich cool wäre ...«, sagte er, »weiß ich nicht, was ich tun kann, um Shaendâra zu helfen. Es gibt doch hier viel bessere und stärkere Zauberer. Wie soll ausgerechnet ich der Magie nützen?«
Wie schon bei Grrruuuargh, hatte Elyjas das Gefühl, als wäge Serekhil seine Worte sorgfältig ab, bevor er sprach.
»Jedes Lebewesen trägt einen Teil der schöpferischen Quelle in sich, aus der wir alle entsprungen sind. Durch sie wirkt ein jeder von uns in der Welt, und sie führt uns dorthin, wo wir sein sollen, zur passenden Zeit, an den richtigen Ort. Du bist hier, weil es dir bestimmt war, in diesem Moment in Dh’Aschjar zu weilen.«
»Damit ich lerne, wie man Magie richtig einsetzt?«
»Ja«, bestätigte Serekhil. »Unter anderem. Die Magie entfesselt gewaltige Mächte, die Gutes, aber auch Schlechtes hervorzubringen vermögen. Derjenige, der ihren Pfad beschreitet, muss stets auf der Hut vor sich selbst sein, um nicht dem Sog dieser Macht zu verfallen.« Serekhil hielt einen Augenblick inne. »Du trägst die Magie in dir, Elyjas. Gebrauche sie weise.«
Elyjas nickte. Er würde ein echter Zauberer werden, staunte und zweifelte er zugleich. Vielleicht konnte er ja doch helfen, dass in Shaendâra bald wieder Licht strahlte. Wenigstens ein bisschen, damit diese Monster nicht siegten. Das durften sie nicht! Dúil mair.
»Dein Unterricht beginnt morgen früh«, sagte Serekhil im nächsten Moment.
»Aber was ist mit der Prüfung, die jeder vor der Aufnahme in die Schule ablegen muss?«
Serekhil lächelte. »Du hast sie bereits bestanden, Elyjas Dobbins.«
Verwundert schaute Elyjas ihn an. Dann lächelte auch er.
Nachdem Serekhil Elyjas den Weg zu den Unterrichtsräumen gezeigt hatte, machte er ihn mit den Regeln der Scolai vertraut. Zurzeit absolvierten zweihundertdreiundvierzig Jungen und Mädchen ihre magische Grundausbildung in der Zauberschule, neunundsiebzig im ersten Jahr, vierundachtzig im zweiten und achtzig im Abschlussjahr. Der Unterricht begann morgens um acht, nach dem Frühstück, das alle Schülerinnen und Schüler zusammen im Gemeinschaftsraum einnahmen. Der Stundenplan gliederte den Tag in sieben Einheiten zu je sechzig Minuten, vier am Vormittag und drei am Nachmittag. Dazwischen gab es eine einstündige Pause, in der sich alle erneut zum gemeinsamen Mittagessen trafen. Die Zeit nach dem Unterricht konnten die Schüler selbst einteilen, sofern am Nachmittag keine Prüfungen stattfanden. Sie durften das Schulgelände jedoch nicht ohne Erlaubnis verlassen. Der Tag endete mit einer gemeinschaftlichen Andacht nach dem Abendessen. Ab halb elf herrschte Bettruhe.
Am Wochenende gab es keinen Unterricht, und es stand den Schülern frei, den Markt zu besuchen, Einkäufe zu tätigen oder sich in Dh’Aschjar umzusehen. Einzig die Trinkstuben waren ihnen verboten. Neben dem Unterricht erledigte jeder Schüler innerhalb der Scolai bestimmte Aufgaben. Dabei handelte es sich um generelle Pflichten wie die Sauberhaltung der Schlafquartiere und den ordentlichen Umgang mit magischen Utensilien. Darüber hinaus mussten die Schüler abwechselnd im Gewächshaus und bei der Vorbereitung der Andacht helfen, in der sie abwechselnd spezielle Funktionen übernahmen. Manchmal begleiteten sie auch einen Lehrer, um bei den Gildenleuten in der Stadt Besorgungen für die Schule zu machen.
Serekhil händigte Elyjas einen Stapel Bücher, eine Schreibfeder, ein Tintenfass und eine Rolle Pergament aus. »Damit bist du fürs Erste ausgestattet«, meinte er und wies Elyjas auf die Alte Bibliothek hin, die im nördlichen Teil der Zauberschule tief unter den Bergen eingerichtet worden war und in der die Schüler jederzeit eigenständig Nachforschungen betreiben durften.