Das Auge im Weltraum: Ein klassischer Science-Fiction-Roman - Gerd Maximovic - E-Book

Das Auge im Weltraum: Ein klassischer Science-Fiction-Roman E-Book

Gerd Maximovic

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Beschreibung

Das Frachtschiff TOPAS, im Zwischenraum unterwegs, gerät in der Nähe des Planeten Fulgor in erhebliche Schwierigkeiten. Alles in dem Raumschiff verrutscht, doch es verschieben sich auch die normalen Beziehungen, welche Raum und Zeit für gewöhnlich bestimmen. Seltsame und unheimliche Ereignisse treten unerwartet auf. Man findet Gold, wo kein Gold sein darf. Das Schiff wird wie aus eigenem Antrieb schwerer. Und sogar ein Besatzungsmitglied scheint von Bord verschwunden. Zu allem Überfluss dringt ein aus Energie bestehendes, krallenbewehrtes Monstrum in das Schiff ein.
Kapitän und Mannschaft müssen also dieses Rätsel lösen, das mit dem Planeten Fulgor und einem sich auf ihm befindlichen gigantischen Kristall zusammenhängt. Doch das ist alles andere als einfach, treten immer wieder unerwartete Komplikationen in den Vordergrund, die diese Mission zum Scheitern verurteilen …

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Gerd Maximovic

 

 

Das Auge im Weltraum

 

 

 

Ein klassischer Science-Fiction Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Neuausgabe

Copyright © by Author/Bärenklau Exklusiv 

Cover: © by Steve Mayer nach Motiven, 2023

Dieser Roman ist auf ausdrücklichen Wunsch des Autors in der alten deutschen Rechtschreibung verfasst und veröffentlicht.

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

11. 

12. 

13. 

14. 

15. 

16. 

Weitere Romane und Erzählungen von Gerd Maximovic, einem Meister der klassischen Science-Fiction, sind erhältlich oder befinden sich in Vorbereitung 

 

Das Buch

 

 

Das Frachtschiff TOPAS, im Zwischenraum unterwegs, gerät in der Nähe des Planeten Fulgor in erhebliche Schwierigkeiten. Alles in dem Raumschiff verrutscht, doch es verschieben sich auch die normalen Beziehungen, welche Raum und Zeit für gewöhnlich bestimmen. Seltsame und unheimliche Ereignisse treten unerwartet auf. Man findet Gold, wo kein Gold sein darf. Das Schiff wird wie aus eigenem Antrieb schwerer. Und sogar ein Besatzungsmitglied scheint von Bord verschwunden. Zu allem Überfluß dringt ein aus Energie bestehendes, krallenbewehrtes Monstrum in das Schiff ein.

Kapitän und Mannschaft müssen also dieses Rätsel zu lösen, das mit dem Planeten Fulgor und einem sich auf ihm befindlichen gigantischen Kristall zusammenhängt. Die entsprechenden Arbeiten erfolgen durch einen Zylinder, über welchen die Frau des Kommandanten in die gespeicherten Gedankengänge einer untergegangenen menschlichen Gattung eindringt. Wir erfahren, die Fulgorianer sind in ihrem Tatendrang vom streng wissenschaftlichen Wege abgewichen. Gold und andere Äußerlichkeiten rückten in den Vordergrund. Mit dem Ergebnis, daß ihr zu Forschungszwecken bestimmtes Supergehirn letztlich die eigenen Erschaffer zerstörte.

 

 

***

 

 

»Ich bin, sprach der Gott,

Ich bin das Auge der Welt.«

(Ovid: Metamorphosen)

 

 

***

 

 

1.

 

Plötzlich war es, als rutschten die Wände, verschiebe sich die Konsole, die Grafikebenen auf den Auswurftafeln wollten sich verlagern.

»Van Hoorn«, rief, völlig überrascht, Kahl, der Kapitän.

»Chef?«, antwortete dieser.

Mehr noch als eben geriet alles – einem kosmischen Erdbeben gleich – ins Gleiten. Dabei befanden sie sich doch auf einer langen Forschungs- und Erkundungsreise und kamen derzeit aus den galaktischen Randzonen, an Bord führten sie selbst ein paar auch wunderlich wirkende Hobbywissenschaftler und Amateurforscher mit sich, wie Kahl denken mußte. Und jetzt?

»Lisbeth«, sagte Josef Ferdinand Kahl hinüber.

Damit richtete er das Wort an Elisabeth, seine Frau (die sich, wie bei diesem Ehepaar üblich, mit an Bord befand). Diesmal aber sprach er so, als müsse er sich bei ihr in irgend einer Weise rückversichern.

Sie schwieg, weil sie ihn wohl da hinten auf den Bänken nicht zu hören vermochte. Nichts schien mehr sicher, nichts länger beständig. Selbst das, was sich unmittelbar vor Augen vollführte und zutrug, begann zu verschwimmen. Das überraschte ein wenig, denn es war dem nicht ganz unähnlich, was sich bisweilen beim Eintritt in den Zwischenraum abzuspielen pflegte. Denn, wohlgemerkt, in den substellaren Zonen steckten sie doch längst drinnen, die weitgereisten Fahrensleute, und auch die wißbegierigen, nach Informationen hungernden Passagiere. Und vor allem …

»Das war doch ein ganz normales wellendurchströmtes Gelände«, sprach Kahl halblaut zu sich selber.

»Nein, da war etwas«, gab Van Hoorn, sein I. Offizier, aus dem Rauschen, das die Zentrale erfüllte, zur Antwort.

»So, was denn?«

»Dort drüben bei der stellaren Wolke«, äußerte Van Hoorn.

Kahl bemühte sich zu denken. Das gestaltete sich unter den vorliegenden Umständen schwierig. Denn alles, was je gegolten hatte, schien sich aufzulösen. Der Bildschirm verschwamm milchig, wie wenn man Sterne und stellare Eindrücke aus ihm wegnahm.

»Was meinen Sie, was ist dort gewesen?«, wollte Kahl wissen.

Er versuchte, an die ganze routinemäßige Umgebung zu denken, in der sie geflogen waren und noch immer schwammen.

Er wartete auf Antwort.

Und tatsächlich, dann vernahm er Van Hoorn, seinen Ersten, wiederum röchelnd: »Da war dieser Planet, Käpten…«

»Der mit dem Lichtschein?«

»Der mit dem Glanz …«

»Sie meinen …«

»Das muß es sein, Chef …«

Schon möglich, dachte Kahl da, wie er sich zusammennahm. Vorhin noch hatten sie über besagten Himmelskörper gegrübelt oder gespöttelt. Fulgor, den Glänzenden, wollte einer der Passagiere ihn lächelnd benennen. Ob das wirklich ein Planet war? Sollte man ihn auf Grund seiner zumindest vorübergehenden Strahlkraft nicht eher als eine Art Sonne betrachten?

»Wir müssen raus hier, Chef.«

»Richtig.«

»Ob wir den wohl nehmen können, Käpten?«

Da folgte Kahl seinem Gefühl: »Vermutlich.«

Und er überlegte am Rande, daß sie neben ihren kaufmännischen Zielsetzungen also auch eine Forschungsreise unternahmen, mit besagten Touristen an Bord, einem katholischen Pfarrer, selbst einem Buddhisten.

Kahl war es für Momente, als könne er den soeben vollzogenen Übergangsprozeß, in dem einige der Besatzungsmitglieder noch immer steckten, vor sich sehen. Ihm wurde schwindlig, wie er daran dachte, fast mußte er sich übergeben, denn alles bildete sich in dieser Phase umgedreht, verkehrt ab. Fragwürdig seltsam auf den Kopf gestellt erschienen die Dinge. Selbst ihre Leiber, so war ihm, kehrten sich nach außen, und alles, wie er sich besann, verwob sich.

Für Augenblicke war es gewesen, als ob sie mit den Grünanlagen und Algenplantagen ihres eigenen Schiffes verschmelzen würden … Ihn schauderte, wie er nur daran dachte.

Und Licht war da gewesen … Licht, er vermochte diesen Gedanken nicht von sich zu schütteln, das eindeutig von dieser Welteninsel, dort von diesem unerklärten Planeten stammen mußte. Es pulste, flammte in Schichten, schwarz und rot strahlte es um sie, es brannte in den Tanks und beleuchtete die mitgeführten Waren und die Erze, man vermochte es glatt auszumachen, als gäbe es weder Metallschotts, noch Sicherheitsverschläge oder auch nur Wände …

Er brauchte Klarheit …

»Van Hoorn?« Kahl riß sich selbst aus der Erinnerung heraus, die ihn so sehr bedrängte, als müßten Möglichkeit und Wirklichkeit – hier an Bord oder zumindest in dieser Umgebung – ein für alle Mal verschmelzen.

»Käpten?«

»Wir brauchen den Spiegelraster.«

»Ich will es versuchen«, erwiderte jener knapp und bündig, er, der offenbar selbst schon an dieses hochleistungsfähige Instrument dachte.

Ihre Herzen schlugen höher. Das, wovon sie hier sprachen, war das Gerät, das ihnen Auskünfte, Informationen, Hintergrundmeldungen liefern würde, wenn sie dergleichen über die vertrackte Situation überhaupt je erlangen sollten. Gerade sie, vornehmlich auf der geschützten Brücke, mußten sich Kenntnisse über die erstaunliche Lage verschaffen, in der sie jäh befangen, noch bevor sie jemals wieder sinnvoll handeln oder – wie Kahl gar – Befehle erteilen konnten.

Der Spiegelraster … Unter all den funkelnagelneuen bordeigenen Stücken stellte er also ein besonderes, modernes Instrument dar. Die tüftelnden Erdingenieure hatten es auf die substellaren Bedingungen – Druck, Zug und Verformung in höchsten Graden, wie eben hier geschehen – zugeschnitten. Es bestand aus reflektierenden Oberschichten, aus normalen Spiegeln, vor allem aber aus in sich selbst zurückverschlungenen Verbindungen, damit man gar auf die unterbewußten Strömungen der Besatzung zugreifen könne.

Mit Hilfe dieses aus verdrehten, krumm über seinen Kardanwellen hängenden Organons erhoffte man sich, zu jeder Zeit und unter allen Umständen ein objektives Bild über die Zustände im und um den TOPAS zu erlangen. Praktisch eignete sich dies Gerät zunächst dafür, das Schiff auch und gerade nach dem schwierigen Abtauchen und dem ungestümen Eindringen in die Zwischenzonen noch zu erkennen. Denn letztere, die eine überlichtschnelle Raumfahrt ermöglichten, verzerrten alles.

Dieses Spiegelinstrument, obwohl eine der jüngsten Errungenschaften, galt bereits als zuverlässig, namentlich auch als unbestechlich. Mit anderen Worten, wie Kahl dachte, was während des substellaren Abdriftens keiner mehr mit seinen eigenen Augen (die mit abdrifteten oder vielmehr sich verdrehten) noch auszumachen vermochte… Er, der Spiegelraster, eben auf Grund seiner verwickelten Bauweise, sollte – endlich – gerade in solchen Extremfällen Erkenntnis ermöglichen (wenn auch nur in nachträglicher Überprüfung).

»Was ist das?« Kahl, dem der Schweiß über die Stirn tropfte, zögerte vor dem, was er auf dem Hauptschirm erblickte.

»Die Einstimmung auf die Vorgänge ist bestmöglich«, meldete Van Hoorn, bereit, mit seinem Chef die ungemütliche Lage auszuloten.

Kahl, der sich über seinen in der Tat kahlen Schädel wischte, warf einen Blick auf die Registratoren.

»Ich sehe es.« Er keuchte leicht.

»Aber was ist das?«, verlangte er dann zu wissen.

»Das sieht wie eine Lichtwelle aus, von der wir kommen.« Der Erste stutzte.

»Eine Lichtwelle, hier, an diesem Orte?«

Der Erste nickte. »Das muß ein entsprechender Strudel sein, aus dem wir rutschten.«

Tatsächlich, merkwürdige, ungewohnte, auch unverständliche Eindrücke flossen über den spiegelgesteuerten Bildschirm. Der normale substellare Raum, so, wie sie ihn kosmosweit kannten, schien während dieses Zwischenfalles, also im Verlaufe ihrer normalen Fahrt, verschwunden. Ohne daß sie die stattgefundene Veränderung auch nur im geringsten bemerkten oder verspürten.

Was war das? Mit dem ganzen großen, über alle Toppsegel und Masten geflaggten TOPAS glitten sie, wie es scheinen wollte, aus einer Lichterscheinung heraus und hinein in die nächste.

»Gilt hier das normale Verhalten im Zwischenraum nicht mehr?«, fragte Kahl atemlos vor dem Betrachteten.

Dabei war er sich wohl bewußt, daß selbst das sogenannte gewöhnliche Verhalten der substellaren Zonen erhebliche Anforderungen an ihr Auffassungsvermögen stellte.

»So? Was gilt dann?«, wollte Van Hoorn, treu dem Gedankengang seines Chefs folgend, erst gehorsam wissen.

Kahl erteilte ihm keine Antwort, denn er beschäftigte sich derzeit mit anderen unerläßlichen Dingen.

»Chef!«, rief da Van Hoorn schon wieder, dem sich im übrigen selbst der Magen geringfügig anhob.

»Pieter?«

»Wir wurden angezogen…«

»Tatsächlich…«

Selbst die Schwerkraftnadeln, jene einfachen, zuverlässigen Objekte, hier von dem Spiegelaufklärer entzerrt, wiesen demgemäß in eine bestimmte Richtung.

»Zeigt das nicht zu dem Planeten hin, Pieter?«

»Fulgor, Chef?«, fragte jener eher umständlich, um Zeit zu gewinnen.

»Ja, Fulgor«, lautete die Antwort.

Van Hoorn biß sich auf die Lippen.

»Können Sie das einmal überprüfen, Pieter?«

»Was genau, Chef?«

»Findet dorthin kein Strahlenabfluß statt?«

»Nach Fulgor?«

»Nach Fulgor.« Kahl nickte.

»Das will ich gerne überprüfen.«

Pieter van Hoorn strich sich erst durchs Haar, dann versetzte er: »Sehen Sie, Käpten?«

Kahl, der nicht alles alleine machen konnte, bemerkte es bereits selbst sehr wohl. Energie nämlich, die, nach allem Ermessen, nicht nur hin zu dem Planeten, sondern gleichzeitig auch in die gegenteilige Richtung abströmte. Noch immer ließen sich vehemente Lichtwellen verzeichnen, die auch sie selber und das Raumschiff einschlossen. In diesen chaotisch wirkenden Turbulenzen lag vermutlich auch der Grund, warum die eigentlich doch so zuverlässigen Instrumentennadeln des Spiegelrasters zitterten und schwankten und sich bisweilen geradezu haltlos drehten (von den überschwappenden Leuchtdioden einmal ganz zu schweigen). Obwohl sie alle innerhalb des Fahrzeugs sich in hervorragendem Schutz befanden, war es doch nicht nur unheimlich, sondern auch beängstigend, jenes gleichsam richtungslose Schauspiel zu gewärtigen, welches sich um sie zutrug.

»Haben Sie so etwas schon einmal gesehen, Pieter?«

»Nein, Chef«, erwiderte dieser, zusammengeduckt vor seinem Beobachtungsposten. »Was denken Sie, Chef?«

Kahl zögerte. Zwischenräumliche Energiedifferenzen. In der Abbildung und auch jetzt, zu Zeiten, welche sie als Gegenwart benennen konnten.

»Das erweckt den Eindruck«, brummte er dann, »als hätte uns jemand aus der uns vertrauten Wirklichkeit herausgenommen. Was meinen Sie?«

»Denken Sie?«, erwiderte Van Hoorn arglos.

Er begriff noch gar nicht, worauf sein Vorgesetzter möglicherweise anspielte. Dann stutzte er. Verdutzt schaute er bloß schräg von den Instrumenten und Leuchttafelnd herüber, wie wenn er den Blick nimmer von ihnen nehmen dürfe.

»Aus der uns vertrauten Realität, Chef?«, wollte er dann wissen, und mußte schlucken.

»Aus dem, was für uns als normal gilt.« Kahl nickte ganz entschieden.

»Wie kommen Sie darauf, Käpten?«

Er erhielt darauf zunächst keine Antwort. Kahl selbst schmunzelte trotz seiner eigenen Vermutung in all den Turbulenzen.

»Es besteht Gesprächsbedarf, Pieter«, versetzte er.

»Darüber, Chef?«

»Pieter, nur klare Gedanken helfen, egal, was sich rings um einen zuträgt.«

»Ganz meine Meinung, Chef.«

Es entstand eine kurze Pause, in der sie alle – ihren bislang eher stillschweigenden Zuhörer Swoboda inbegriffen – abwogen und nachdachten. Der eine sann über Gottes unerklärliche Allmacht nach, die sich dem Menschen nur ausschnittweise mitteilt; der andere grübelte über eigentlich perfekte Chronometer, die ihren Dienst dann doch nicht richtig versehen.

Van Hoorn, der Praktiker, meldete sich wieder als erster.

»Falls sich Unstimmigkeiten im Flugverlauf ergeben haben sollten«, versetzte er nämlich, »und das ist gut möglich, kann uns vielleicht der Chronograph darüber belehren. Was meinen Sie, Chef?«

Kahl dachte an die Uhren. Was wäre, sann er, wenn die gewohnt zuverlässige Welt denn doch auf dem Kopf stünde? Draußen zogen weiße Schwaden vorüber, unzweifelhaft Energie, die aus gewaltigen Umwälzungen im Zwischenraume stammte.

»Das prüfen wir als nächstes«, erklärte Kahl.

Auch der Erste schätzte per Augenmaß den Bildschirm und die Energie, die sich dort ballte.

Er murmelte: »Das ist wie immer. Oder?«

Er erhielt keine Antwort auf seine eher zuversichtliche Bemerkung.

»Ketelby«, bestimmte der Kommandant derweilen, »wir wollen den Chronograph in Augenschein nehmen.«

»Wird gemacht«, erwiderte dieser.

Alwin Ketelby war ihr Mann für alle möglichen Datenschreiber und Vermessungsinstrumente, intermedial und im normalen Weltraum.

Van Hoorn, vermutlich über die Wellenbewegung draußen beunruhigt, schaute inzwischen auf einen kleinen Energiezähler, der Sicherheitswerte unten aus den Heckstutzen sowie Außeneinflüsse auf den Raumschiffkörper auswies.

»Die Werte fallen und steigen wieder«, sagte er zu Kahl und wies auf die Leuchtdioden sowie auf die ergänzende Ausschlagnadel. »So, als ob vornehmlich dort draußen erhebliche Schwankungen stattfinden würden, die das Normalmaß übersteigen.«

»Ich weiß«, erwiderte dieser.

Auf eigenartige Weise überkam Van Hoorn da auf einmal die Empfindung, daß ihre eben geführte – theoretische – Betrachtung nicht gar so sinnentleert gewesen wäre, wie er vielleicht noch vor kurzem dachte.

»Wie fühlen Sie sich, Pieter?«

»Gut, Chef.«

»Auch in dieser chaotischen Energieumgebung?«

»Vollständig, Chef.«

»Auch wenn die Naturgesetze sich derzeit nicht völlig in unsere vorgefaßten Überlegungen einordnen lassen?«

»Darin kann ich für mich kein Problem erkennen.«

Es war gut, Van Hoorn so zu vernehmen.

Ketelby stand mittlerweile auf und löste sich, allerdings leicht torkelnd und schwankend, so, als ob ein Schwindel ihn befallen hätte, von den Bänken. Auch die letzten unter den übrigen Besatzungsmitgliedern rings um ihn, wie üblich in ihre Schutzriemen gebunden, waren zur endgültigen Beruhigung der Führungsleute längst wieder zu sich gekommen und hatten auch die theoretische Unterhaltung mit verfolgen können.

»Haben Sie die unterschiedlichen Energiezonen und zugehörigen Felder inzwischen überprüft, Pieter?«, wollte Kahl wissen.

»Ja«, antwortete dieser, denn er war auf Anordnung seines Vorgesetzten derweil nicht untätig gewesen, und verwies auf den örtlichen Energieregistrator.

»Es herrschte ein Energiegefälle in der Zentrale selber?«

»Ja, genau so.«

»Das hat uns geholfen?«

»Eindeutig.« Van Hoorn nickte.

Beide meinten damit – vor den eher verwirrenden Daten – die schlichte Tatsache, daß die Turbulenzen (und möglicherweise Zeiteffekte), durch die sie alle gegangen waren, sich in unterschiedlichen Teilen des TOPAS jeweils anders auszuwirken pflegten. Dazu mußte man wissen, Hauptraum und Konsolenbereich waren bezüglich ihrer Absicherungsmaßnahmen energetisch verschieden gelagert. Vorne verzeichnete man eine Vielfalt von in besonderer Weise geschützter Befehlsgeber, Taktmesser und Instrumente. Es galt, nachteilige Auswirkungen aus dem Raum, vor allem aber aus den substellaren Zonen zu vermeiden, die auf Grund des dort herrschenden jähen mächtigen Strahlenflusses mitunter auftraten.

Unter dem bergenden Mantel unmittelbar vor der Konsole saßen somit auch alle diensthabenden, vor Ort eingesetzten Offiziere. Auf diesen Umstand bezogen sich die beiden, als sie soeben nebenbei die geringfügig unterschiedlichen Wirkungen des kritischen Phasendurchgangs auf die einzelnen Besatzungsmitglieder erwähnten.

Während der TOPAS bei gedrosselten Motoren mit zerfetzten Segeln durch die angrenzenden Zonen trieb, ringsum immer wieder von Energieböen erschüttert oder von glänzenden Lichtkaskaden überstrichen, eilte Ketelby erst durch die Bankreihen. Wenige Momente später langte er an seinem Bestimmungsort an, einem von mehreren, in einem vorgelagerten Bunker untergebrachten Chronografen.

»Kommen Sie klar, Alwin?«

»Es geht schon, Chef«, gab Ketelby, offensichtlich noch ein wenig torkelig auf seinen Beinen, zur Antwort.

Kahl beobachtete ihn und sein Bemühen mit nicht geringer Spannung. In gewisser Weise wußte er schon, was der Datenmann finden würde. Man mußte ihm nur ein wenig Zeit gewähren, die Zeit zu überprüfen…

»Glauben Sie, er wird etwas entdecken?« Van Hoorn schob neugierig den Kopf vor.

Kahl lächelte bloß. »Wir werden sehen.«

Ketelby beschäftigte sich derweil vor einem der ausgesuchten Schränke. Während Kahl ab und zu einen Blick zu ihm hinwarf, zog er selbst die Sonne Fulgors über die Entfernungsautomatik näher. Sie wirkte sogar intermedial eindrucksvoll, wie sie sich ihnen aus den Zwischenzonen heraus darbot.

Er stutzte.

»Nicht wahr, sie ist sehr unruhig«, bemerkte Van Hoorn, der jegliche Operation, auch die mit dem Zentralgestirn, überaus aufmerksam verfolgte.

»In der Tat.«

»Sie wackelt und zittert.«

»Ja, so sieht es aus.«

Fulgor-S wirkte grau, von Streifen überwoben. Unbefangen würde man gemutmaßt haben, sie stünde kurz vor einem Ausbruch, wie Kahl – bei zunehmend trockenem Munde – dachte.

Auch sein Erster nahm die Bilder erneut in Augenschein. »Der Eindruck, den dieser Körper hinterläßt, hängt unmittelbar mit unserer Befindlichkeit zusammen, nicht wahr?«

»Sieht so aus«, knurrte Kahl.

Behutsam zog er das verschwommene, in der unberechenbaren Strömung sogar tanzende Abbild näher. Er überprüfte den Lichtdruck mittels der Elektronik auf mehreren Stufen, ähnlich wie Van Hoorn eben. Noch nie hatte er eine Sonne betrachtet, die intermedial so sehr schwankte. Das war ja furchtbar: von Stabilität ließ sich kaum etwas erahnen. Unstet wirkte sie über all ihre Ränder, wie verdoppelt oder verdreifacht. Es schien aussichtslos, ihre Konturen auch nur einigermaßen festhalten zu wollen.

In diese Vorgänge waren sie, wie der Erste ganz richtig feststellte, unmittelbar einbezogen. Aber was bedeutete das? überlegte Kahl und tastete über die Leuchtdioden und drehte an den Okularen. Sein Mund blieb trocken. Das mußte er genauer sehen. Konnte das, was er soeben betrachtete und erlebte, wahr sein? Gerade jetzt, wie er darüber sann, trat unwiderlegbar ein anderes, seinem Gedanken von eben genau entgegengesetztes Motiv auf. Nein, er tastete abermals über Leuchtpunkte, drehte wieder an den Reglern, es bestand kein Zweifel. Auch die Schreibinstrumente, welche Papierfahnen flüsterleise auswarfen, wiesen die veränderte Entwicklung (gewissermaßen zum Mitlesen) nach. Ein erfreulicher Vorgang bahnte sich an. Die Sonne Fulgor-S wurde, genau, wie der Erste es soeben behauptet hatte, mit der Betrachtung jeden Augenblick stabiler.

»Stimmt das, Chef?«, wollte Van Hoorn abermals wissen.

Diesmal schwang seine Stimme voller Hoffnung, denn wenn sie stabiler wurden, so stabilisierte sich auch die Sonne.

»Das stimmt, Pieter«, erwiderte sein Vorgesetzter, fest und entschlossen.

Sie, die sich Blicke zuwarfen, tauschten sich kurz über den Verlauf der Festigkeitsgrade jener Sonne aus.

»Welche Schlüsse können wir daraus ziehen, Chef?«, fragte der Erste dann unbehaglich, nachdem er mit seinem Vorgesetzten die Zuverlässigkeit des vorliegenden und immer weiter neu hereingespielten Sonnenmateriales geprüft hatte.

Die Antwort lautete, wie erwartet: »Bitte, keine voreiligen Folgerungen, Pieter.«

Kahl zog, Ketelby immer im Auge behaltend, das Bild näher heran. Er schaltete über den Spiegelraster in die jüngste Vorvergangenheit hinunter. Das stellte die Zeit dar, die sie alle, wie bei solchen Sprüngen üblich, im gewöhnlichen Bewußtsein verloren. Wie im Schlaf ist das, sann Kahl nebenbei, dessen tägliche acht Stunden im Oberbewußtsein fehlen. Im Unterbewußtsein sind sie und mehr noch allerdings sehr wohl vorhanden.

»Sie suchen etwas, Chef?«, wollte Van Hoorn vorsichtig wissen.

»Ja.«

»Und darf ich fragen, was?«

»Ich weiß es selbst nicht ganz genau, Pieter.«

Kahl mußte unvermeidlich den Gesamtzusammenhang bedenken, in welchem sie sich befanden. Mit dem Raumschiff scheinbar mechanisch durch das Raumzeitkontinuum zu gleiten, ist keineswegs eine so schlichte und alltägliche Sache, wie es sich vielleicht anhört. Das klingt simpel: wir sind von A nach B gefahren, so wie man sich dies auf der Erde vorstellt, einem Planeten, der einem dann womöglich auch noch flach vorkommt.

Kahl sah Van Hoorn an.

»Chef?«, fragte dieser, erhielt indes keine Antwort.

Aber steuere einmal dabei durch die Raumzeitverkrümmung, namentlich durch den Zwischenraum also. Ganz außerhalb jeder Erwägung bleibt bei einer solchen Fortbewegung nämlich, was sich an außergewöhnlichen Dingen wirklich zuträgt. Vorstellungen treten ein, die den normalen Verstand notwendigerweise sprengen müssen, selbst wenn man sich noch so sehr an sie gewöhnt zu haben meint.

»Chef!« Der Erste drängte jetzt ein wenig.

»Ich komme gleich …«

Ketelby, bemerkte Kahl, hatte nun den Chronografenschrank geöffnet und beugte dort unten bereits den Rücken erwartungsvoll krumm über das Gerät.

Ein solcher intermedialer Sprung stellt jegliches Verständnis aller von der Erdoberfläche her gewohnten Zusammenhänge in Frage. Kahl schluckte, wie er dies dachte. Der scheinbar unveränderlich gleich lange Raum voraus etwa wird um Potenzen kürzer. Das ist etwas, sann er, was man niemals verstehen würde, wenn es in der konkreten Raumfahrt sich nicht wirklich bewährte. Die Praxis beweist es. Das zeigten in Ansätzen schon vor Jahrhunderten die ersten Kenntnisse, die man auf dem Beobachtungswege über die reale Beschaffenheit des Weltraums in Erfahrung brachte.

»Was machen die Uhren, Pieter?«

»Die normalen?«

»Die gewöhnlichen Chronometer.« Kahl nickte.

»Haben sich nicht verändert.«

»Es ist kein weiteres Vorrücken oder Stehenbleiben aufgetreten?«

»Nichts dergleichen.«

»Danke, Pieter.«

Entgegen allen unseren geläufigen Vorstellungen ist der Raum unvermeidlich gekrümmt, sann Kahl weiter. Daß er nicht beliebig endlos ins scheinbare Nichts hinauslaufen könne, war philosophisch schon bald klar gewesen. Anders kann es nicht sein, denn es gibt keine unerfüllten, leeren Unendlichkeiten, die in Wirklichkeit demnach also nur Einbildung sind.

In diesem Zusammenhang als sehr eindrucksvoll erwiesen sich die beigebrachten Fotos. Sie zeigen eine ferne Galaxis, und die sich unmittelbar hinter ihr befindlichen Sterne. So gab es (Kahl grübelte weiter) beispielsweise ein in seinem Aufbau charakteristisches, unverwechselbares Sternbild, und zwar hinter jener Galaxis. In der Ablichtung verzeichnet sich jene einmalige Sterngruppierung nicht nur einmal, wie man vielleicht erwartet hätte, sondern gleich viermal. Genau dasselbe, nur ein einziges Mal vorkommende Sternbild steht über der Galaxis, unter derselben, und nochmals links wie rechts neben ihr. Dabei handelt es sich eindeutig immer um dieselben Sonnen.

Was ist mit der Ablichtung, die ein und dieselbe Sternkonstellation viermal wiedergibt, geschehen? Offensichtlich läuft das Licht der hinter der Galaxis stehenden Sternkonstellation um diese im Vordergrund des Bildes sich befindende Milchstraße herum. Das kann das Licht aber nur, wenn der Raum gekrümmt ist. Seine Krümmung selbst erfolgt durch die Schwerkraft eben dieser Galaxis.

Van Hoorn versuchte es wieder. »Chef, ich glaube, es tut sich etwas.«

»Gleich, Pieter«, erwiderte Kahl, dessen Blick sehr wohl zu seinem Stellvertreter hinwanderte.

Von dieser fotografisch dokumentierten Erkenntnis der Krümmung des Raumes, die schon im zwanzigsten Jahrhundert erfolgte, bis hin zur Zwischenraumtechnik, die sich eben diese nachgewiesene Verformung des Raumes zunutze machte, lag allerdings noch eine weite Strecke an Arbeit. Doch der Grundsatz stellte sich unabwendbar und eindeutig. Wie immer führt die Theorie, also die entsprechende Einsicht, zur Praxis. Damals schon ahnte man, daß es möglich sein mußte, sich diesen gekrümmten Raum irgendwie zunutze zu machen. Und heute, nicht nur mit dem TOPAS, war längst erwiesen, man vermochte durch das substellare Medium zu tauchen, um so den langen Weg an der Oberfläche abzukürzen.

»Chef«, meldete sich Van Hoorn abermals, diesmal mit einer Spur von Verzweiflung in der Stimme, obwohl er doch wußte, was es bedeutete, fing sein Vorgesetzter erst einmal an zu denken, »ich glaube, er hat etwas gefunden.«

»Ketelby …« Kahl schrak aus seiner Betrachtung hoch. »Ach ja, schauen wir einmal …«

Der Kommandant lugte über den Bildschirm nach unten. Der Datenmann stand noch immer an derselben Stelle, der Rücken allerdings noch ein wenig mehr gekrümmt als vorher, und beugte sich über den Chronografen. Diese Vorrichtung stellte demnach nur eine von mehreren solcher Maschinen dar, die aus Umsichts- und Vorsichtsgründen selbst in den entlegensten Winkeln des Schiffes ihren für unerläßlich erachteten Dienst versahen. Jeder von ihnen oblag unter anderem die einfache Aufgabe, die jeweils verflossene Zeit zu überprüfen und inhaltlich festzuhalten.

Denn wenn ein Fahrzeug zum Tauchflug durch die substellare Krümmung ansetzt, so gerät mitunter alles aus den Fugen, weil die Zeit ja nicht unabhängig vom Raum und insbesondere von der Schwerkraft ist. Die Chronographen sollten gegen jedwede solche zunächst scheinbar unerklärliche Vorkommnisse das nötige Maß an Sicherheit verschaffen. In jedem Falle würde man nämlich nachträglich immer überprüfen können, was sich während der Aufhebung jeglicher normaler Ordnung zutrug.

»Alwin, Sie sind auf etwas gestoßen?«, fragte Kahl hinüber.

»Ja, Chef«, erwiderte jener zunächst wortkarg.

Der Kapitän ließ seinem Spezialisten Zeit, wartete, musterte derweil den Chronografen. Dieser war eine klotzige, schwere Maschine. Seine Wuchtigkeit verdankte er dem Umstand, daß er allem Ungemach widerstehen mußte, also nicht nur den normalen Sturmböen und den üblichen schlagenden Wettern, die ein Schiff wie den TOPAS an den entlegensten Orten und in den heikelsten Situationen zu überraschen pflegten. Sondern auch unwägbaren raumzeitlichen Zwischenfällen hatte dies Gerät zu trotzen. Und natürlich, auch deswegen war er so klobig, damit man ihm mit gewöhnlichen Händen – sei es per Mißgeschick, sei es per Zufall – überhaupt nicht zu Leibe rücken konnte. Er wie der auf den Verstand zugreifende Spiegelraster waren eben dazu da, solch verschleierte und verwickelten Vorkommnisse zur späteren Entschlüsselung aufzuzeichen.

»Probleme mit der Zeitabfolge, Alwin?«

»Ja, mit derselben, Chef.«

Der wuchtige, halb durchsichtige Deckel des Geräts indes (sann Kahl weiter, während er dem Datenmann zusätzliche – normale – Zeit gewährte) war mit leichtem, ja hauchdünnem Scharnierwerk versehen. Einer verschraubten Spieldose gleich, vermochte man den Chronografen mit ein paar raffinierten, ausgeklügelten Drehungen und Wendungen verblüffend leicht zu öffnen, sofern man die einzelnen durchdachten Schritte kannte. Das stellten freilich zu leistende, wohl ausgewogene Handgriffe dar, die ihrerseits in ihrer ausgearbeiteten Struktur keinerlei Spielraum für jeglichen Zufall boten.

»Da stimmt etwas nicht.« Ketelby schöpfte Atem, die ungeduldigen Blicke im Rücken.

Er spähte durch die abdeckende Glasschicht, unterhalb derer unter anderem die Räder des Zählwerks im Inneren des Kastens sich vergleichshalber auch in einem gewöhnlichen Uhrzeitsinne drehen sollten.

»Was stimmt denn nicht?«, wollte Van Hoorn endlich ebenfalls wissen.

Die Frage beantwortete sich wenig später mit den Bildern, die Ketelby zu ihnen herüberschickte. In dieser angespannten Situation (und damit ihnen nicht der Hauch einer möglicherweise lebensnotwendigen Information verloren gehe) packte er zu allererst ein dünnes Aufnahmestativ über die Schulter. Darüber hinaus hingen – wie eigentlich überall, zumindest aber an allen neuralgischen Stellen des Schiffes – Fotolinsen von den Wänden und Decken. Ihre Bestimmung bestand darin, aufzuzeichnen, was an vordergründiger Nachricht sie je zu erlangen vermochten. Der Chronograf, um sicher zu gehen und alles im Überblick zu behalten, wurde also seinerseits aufgezeichnet.

»Hier, sehen Sie, Chef«, versetzte Ketelby, sich längst gewiß, daß alle Aufmerksamkeit nur noch ihm galt.

Er drehte sich sogar zu einer der Kameras hoch oben an der Decke halb um und wies auf den Kasten nach unten.

Primitive, die Zeit registrierende Räder drehten sich also vor ihm. Infolge ihrer Einfachheit und Robustheit wirkten die Schwungkränze klotzig, fast ein wenig so, als ob sie überaus fernen, vielleicht mittelalterlichen Epochen entstammen würden. Dabei wirkten sie zur Zeitbestimmung selbstverständlich über atomaren Zerfallsprozessen. Nur hier sollte ihre klotzige Umgebung jeden unsachgemäßen Eingriff verhindern, insbesondere aber auch jegliche Art von schädlicher Strahlung abwehren.

Ketelby wies noch immer mit Nachdruck auf den schlichten Kasten und Registrator und versetzte: »Da hat jemand fünf Minuten weggenommen.«

»Fünf Minuten?«, stieß Van Hoorn fast pfeifend hervor.

»Sind Sie sicher, Alwin?«, erkundigte sich Kahl geradezu aufreizend gelassen.

»Aber wie ist das zu deuten, Chef …«

Da schien ein Lufthauch, eine Brise durch das Raumschiff zu wehen, etwas das sie wach machte, sie elektrisierte. Mehrere im Zentralsaal drängten sich um die Bildanlage. Moustakos, Mann von den Zeitschaltanlagen, befand sich unter ihnen.

Kahl wandte sich an ihn. »Was meinen Sie, Giorgos?«

»Das sind wenigstens dreißig Minuten, von hier oben betrachtet«, antwortete dieser mit zitternder Stimme. »Was meinst Du, Gezy?«

Gezy Barnabas war auch ein Experte, der etwas von chronologischen Abfolgen und diesbezüglichen Prozessen verstand. Darüber hinaus hatte er sich insbesondere auch schon mit den Mängeln und Ausfällen beschäftigt, die bei substellarer Überlichtgeschwindigkeit in den Zeiträderwerken auftreten können.

»Ob sich bloß die Bolzen verschoben haben, Giorgos?«, gab er – aller Klotzigkeit des Gerätes zum Trotz – trocken zu bedenken.

Ketelby, der sich weiter über die Maschinen beugte, schien kaum Kenntnis von dem in seinem Rücken geführten Wortwechsel zu nehmen. Statt dessen schickte er über die Vergrößerung selbst die Feinbilder nach oben, damit sie alle erkannten, was er – über die besondere Augenlinse – wahrnahm.

Beim Chronografen handelte es sich jedenfalls zunächst um fünf parallel geschaltete Räder, nicht unähnlich den gleichlaufenden Trommeln eines primitiven Spielautomaten. Doch da hörte der Vergleich bereits auf. Denn dieselben rotierten nicht etwa gleichlaufend, wie auch der einfachste Techniker inzwischen wußte. Sondern sie bewegten sich nach einer sinnreich ausgeklügelten Zufallsschaltung, mit der eben das normale – oder lineare – Zeitmoment ausgeschieden werden sollte. Setzte man später aber – ähnlich der nahezu perfekten Verschlüsselungsmaschine Enigma aus dem zweiten Weltkrieg – ihre Trefferfolge nach dem ihnen zugrunde liegenden irregulären Muster wieder zusammen, so ließ sich ihr Ergebnis statistisch ausgewiesener variabler Zahlen selbst für den Laien mit Leichtigkeit ablesen.

»Sie sind unleugbar alle auf der mit ›nein‹ ausgewiesenen elektronischen Ziffernfolge stehen geblieben«, vermeldete Ketelby das, was sie nunmehr erkannten, nach oben.

»Also läßt sich das mechanisch erklären?«, wollte Van Hoorn eher arglos wissen.

»Wohl kaum.« Die Antwort kam von Campos, einem Starkstromtechniker, von drüben.

»So, und warum nicht?«

»Weil die anderen auch alle angehalten haben.«

»Alle Chronografen?«

»Alle Chronografen.«

»Auch die Kontrollgeräte?«

»Alle. Überall dasselbe Bild.«

Auf Weisung Kahls nämlich hatte man mittlerweile jedenfalls die schnell verfügbaren und leicht zu erreichenden Vergleichsmaschinen in Angriff genommen. Campos gehörte zu jenen, die an einer solchen dienten.

»Kann ich weitermachen, Chef?«, fragte Ketelby.

»Bitte, Alwin!«

Es erschien ihnen allen sinnvoll, in solch heiklen, gar strittigen Fragen ganz langsam, Schritt für Schritt, vorzugehen. Der Experte nahm also im nächsten Bemühen einen ausgefeilten Lichtschreiber aus der Tasche. Mit diesem begann er, das verflixte Gerät wie nach einem geheimen, wohl nur einem anderen Fachmann verständlichen Ritual auszuleuchten. Man erachtete eigentlich mittlerweile die Walzen als endgültig blockiert. Wie der Fachmann aber eben nur den dünnen hellen Strahl über die Trommeln, ihren Unterbau und selbst über den Zufallsgenerator lenkte, fingen diese Rollenkörper erst ruckend und zögernd, dann bald flüssig und rasch wieder an, sich erneut zu drehen.

»Das sieht ziemlich normal aus«, murmelte Ketelby schlicht, die Lampe zwischen den Zähnen.

Nun spähte er im Inneren des Zylinders um die Ecke – wohin genau, vermochte niemand zu erkennen –, nahm die Lichtkugel aus dem Munde und leuchtete abermals tiefer in irgendwelche unbekannten, ihm verdächtig erscheinenden Winkel. Er berührte und zupfte, bewegte hier und da ganz sachte, eindeutig bemüht, nur ja nichts in Unordnung zu bringen oder am Ende gar unbotmäßig auszulösen. Die Bildschirmmuster von anderen Stellen des Schiffes zeigten im übrigen, er war nicht als einziger einer verstohlenen Sache im Bauche des TOPAS auf der Spur.

»Nun?«, fragte Kahl nach einer Weile.

»Tja«, murmelte Ketelby, obwohl den Lichtgriffel derzeit in den Händen, schier unvernehmlich – wie einer, der darauf bedacht ist, sich noch nicht festzulegen, weil er sich nämlich auch irren könnte.

Er zupfte wieder im Ungewissen. Da hingen und schwebten, antimagnetisch getragen, wie in völliger Losgelassenheit, unzählige Spulen, Blätter, selbst Zahnräder im verwickelten Chromgestänge. Alles schien sich – jedenfalls für den Außenstehenden und stillschweigenden Beobachter – überaus gewöhnlich, harmlos und lautlos zu drehen oder ineinander zu schlingen. Doch galt dies anscheinend absolut nicht für den fachlichen Zeitausdeuter, den ob des Vorgefundenen unverkennbar eine tiefe Unruhe erfüllte.

»Haben Sie etwas gefunden, Alwin?« Kahl erkundigte sich überaus behutsam, so, als ob er seinen Experten und dessen Gedankenkreise nicht wirklich stören dürfe.

»Ja«, erwiderte dieser leicht heiser und trocken.

»Und was, wenn ich fragen darf?«

Da stand er, Alwin Ketelby, nunmehr halb aufgerichtet, vor dem Kasten. Er wirkte, als ob er sich stützen müßte. Ob ihn wohl ein Schwindel oder Schwächegefühl überfallen hatte? Für einen Moment hielt er sich tatsächlich, wenn auch vorsichtig, an dem in Wirklichkeit trick- und sinnreichen Gerät fest. Noch zögerte er. Leuchtete ein weiteres Mal nach unten, abermals in eigentlich unerreichbare Winkel, offenbar, um sich zu vergewissern.

»Chef, wir haben keine Zeit verloren«, vermeldete er dann nüchtern.

»So?«

»Nein, Chef.«

»Sondern?«

Ketelby sicherte nun, augenscheinlich von seiner Entdeckung zutiefst überzeugt, einen Schalter. Dann klappte er den Deckel des Chronografen, der so weit und einladend offen stand, behutsam, doch entschlossen zu. In seiner endgültigen Bewegung schien ein ebenso unumstößliches Urteil enthalten. Er blickte nach oben.

»Zeit fehlt nicht«, murmelte er wie nebensächlich, »wir haben Zeit gewonnen.«

»Wir haben Zeit gewonnen?« Kahl stutzte.

Ketelby schaute jetzt direkt in eine der Kameras, und zwar dem Kapitän, aber auch allen anderen, die dies gewärtigten, gewissermaßen unmittelbar in die Augen.

»Ja, es ist ein Überschuß an Epoche aufgelaufen …«

Eine Pause trat ein, von anderen Chronografen lief dasselbe Ergebnis ein, so daß sie gleichsam Boden unter ihrer aller Füße gewannen.

Ausgerechnet Vacaos, ein Maat, eröffnete die sich anschließende folgenschwere Diskussion, indem er die bereits halblaut geäußerten Vorstellungen in schlichten Worten zusammenfaßte. »Was, bitteschön, heißt das eigentlich: Zeit gewonnen? Ein epochaler Überschuß?«

»Daß man Zeit verliert«, schloß Van Hoorn sich an, »kann man ja noch verstehen. Aber welche zu gewinnen?«

Kahl überprüfte derweil die entsprechenden und sehr wohl beunruhigenden Informationen, die mittlerweile von einem ganzen Bündel anderer Chronografen selbst von den geschützten Stellen des TOPAS einliefen.

Auch um allen anderen einen vollständig klaren Einblick zu vermitteln, forderte er den Experten auf: »Können Sie bitte nochmals deutlich zeigen, woraus Sie entnehmen, daß wir Zeit gewonnen haben, Alwin?«

Ketelby war in seinen Überlegungen augenscheinlich schon weiter.

»Aber es ist doch durchaus möglich, daß wir substellar Zeit gewinnen, Chef, oder?«, fragte er nämlich zurück.

»Das ist schon möglich«, brummte Kahl.

»Ich meine«, murmelte Ketelby, »wenn wir relativ schnell fliegen…«

»Gewiß, Alwin«, unterbrach ihn Kahl, der jetzt keine Darlegung der Einsteinschen Theorie hören wollte. »Zeigen Sie uns doch zunächst bitte nochmals, was Sie im Konkreten vor sich sehen!«

»Das Gerät stand noch eben auf der ›neun‹, Chef, nicht wahr?«, gab der Datenexperte zurück.

»Ja, und weiter?« Kahl verglich und nickte.

»Hier, sehen Sie, das ist der gewöhnliche Ablauf…«

Der Zeitspezialist spielte nun für alle das Bewegungsgeschehen der Abgleichung hoch, wie sie es aus den Durchtrittsmanövern in die substellaren Zonen zumindest schematisch kannten. Dann aber drückte er mit unbedingter Sicherheit, sich seiner Sache völlig gewiß, zielstrebig zwei, drei Knöpfe am Vorbau der geschlossenen Trommel.

»Sehen Sie den Unterschied?«, wollte er dann wissen.

»Nein«, versetzte Van Hoorn, »ich wüßte nicht…«

Kahl sagte: »Bitte, deutlicher, Alwin!«

»Sehr wohl, Chef!«

Einem Hexenmeister oder Zauberkünstler gleich, rief er abermals ein Planbild auf, in welchem die bloßen Zeitzahlenziffern wie im Zeitraffer sich vermehrten.

»Nun«, rief er siegesgewiß nach oben.

»Nochmals, aber bitte langsam, Alwin«, bat Kahl ihn.

»Natürlich«, erwiderte Ketelby unverdrossen, um die Aufzeichnung der Trommel sogleich zurückzuspulen.

Das, was er bereits ursprünglich zu zeigen gedachte, nahm Gestalt an. Denn tatsächlich, was vor ihnen in der Dokumentation jenes kritischen Zeitabschnittes vorüberströmte, das bildeten vergleichsweise nackte, nichtssagende Ziffern. Deren Folge wies eine ›zwei‹ oder auch eine ›drei‹ als vorgegebene Größe aus, ihr schloß sich in der Entwicklung alsbald übergangslos und sprunghaft die ›neun‹ an.

Das kann, nach allem menschlichen Ermessen, nicht sein, dachte auch Kahl, dabei hatten sie alle es doch erlebt oder durchlitten, es schwindelte ihnen noch von dem Verfahren.

»Sie bemerken den Unterschied zwischen beiden Zeitabfolgen?«, fragte Ketelby, sich nunmehr dessen versichernd, was ihm selbstverständlich sein mußte.

»Ja, danke, Alwin«, lautete die Antwort.

»Also?« Der Spezialist hob abermals den Blick nach oben.

»Lassen Sie uns bitte überlegen, Alwin«, sagte Kahl zu ihm.

Bei den Zeitchronografen handelte es sich um unvorstellbar exakt ausgerichtete Geräte, besann sich Kahl nochmals auf diesen grundlegenden Gedanken. Eben ihre klobigen, gegen jegliche Strahlung geschützten Trommeln liefen, allen denkbaren Umständen zum Trotz, zuverlässig und beständig. Das war ja ihr Sinn, so waren sie ausgerichtet. Die neun folgte, lächerlich, dies zu bedenken, im Normalverfahren immerzu der acht, etwas anderes hätten die robusten Kolben im Gleichlauf sowieso niemals zugelassen. Folgte aber, wie hier, die neun auf die drei, dann hob sich – fürwahr – ihre gewöhnliche Alltagswelt aus den Angeln.

»Der Zusammenhang ist nur nicht deutlich«, erklärte Van Hoorn.

Seine Bedenken deckten sich in Anbetracht der verwirrenden Überlegungen und Zahlen und überhaupt der sich ihnen gleichwohl so unmißverständlich darbietenden Umstände mit denen der meisten, die derweil die Gruppe im Kommandoraum umstanden.

»Nein?« Ketelby, vermutlich derzeit mehr an den mechanischen Problemen interessiert, schaute zu ihm herüber, als könne auch er, doch in anderer Hinsicht, nicht verstehen.

Fast triumphierend hielt er Van Hoorn einige der mittlerweile aus der Trommel übernommenen Überspielungen sowie anderes, aus den übrigen Chronografen zu ihm gelangtes, auf Scheiben gespeichertes Material entgegen.

Van Hoorn beharrte, unbeeindruckt von dem Material, das der Kollege in der Hand wog.

»Ich meine die Vermehrung«, ließ er sich vernehmen.

»Aber die Fakten sind eindeutig.« Der Zeitfachmann zeigte sich unbeirrbar.

»Entschuldige mal«, versetzte der Erste, »aber das ist doch wohl etwas ungewöhnlich, oder?«

»Wie meinst Du das?«, fragte Ketelby.

»Also erstens«, knurrte Van Hoorn, »nach meinem Dafürhalten, wenn auf die drei unmittelbar die neun folgt, dann fehlen doch die Ziffern dazwischen. Oder?«

Der Fachmann lächelte. »Man darf das nicht als reine Mengenrechnung betrachten.«

»Nein? Sondern, bitte?«

»Die Ziffern zeigen nur rein mechanisch die Abfolge an. Es fehlt nichts, Herr Kollege. Wir entnehmen den Ziffern eindeutig und vor allem, daß sie abrupt steigen.«

»Und was, nochmals bitte, folgerst Du daraus?«, wollte Van Hoorn abermals wissen.

»Du mußt das Gerät verstehen«, erwiderte Ketelby.

»Wenn die neun unmittelbar der drei folgt, so fehlt nichts dazwischen?«, erkundigte sich der Erste, halb belustigt.

»Nein, das ist kein Sprung, wie es scheinen möchte, sondern ein inhaltlicher Ausweis.«

»Welcher Art, bitte?«

»Es wird doch, von der drei auf die neun gehend, angegeben, daß etwas war, wir es aber nicht sehen. Doch aus der Ziffernfolge können wir es schließen.«

»Den scheinbaren Inhalt – vier, fünf, sechs, sieben, acht – wird man sich also dazu denken müssen?«, erkundigte Van Hoorn sich.

Ketelby nickte.

»Das ist ja gerade das Aufschlußreiche«, bekannte er dann, »daß wir nämlich, von den Zwischenzahlen unterstützt, eindeutig einem verborgenen Inhalt auf die Spur kommen.«

Van Hoorn, wie er dies vernahm, begann sehr wohl, sich auf diese, wenn auch etwas geheimnisvolle Gedankenführung einzustellen. Kahl ließ die beiden die ganze Zeit über gewähren. Auch er selbst war kein sonderlich ausgewiesener Fachmann in chronografischen Angelegenheiten. Doch andererseits wußte er gewiß, so etwas, wie sie es hier verzeichneten (oder gar erlebten), gab es normalerweise nicht.

»Es fehlt nichts in dieser reinen Massenanzeige«, wiederholte Ketelby beharrlich. »Sondern das Gegenteil hat eindeutig statt gefunden, die Zeit ist in ihrem Vorkommen – in etwa – verdreifacht.«

Van Hoorn lächelte, bemüht, diese Vorstellung aufzugreifen. »Du willst damit also andeuten, daß wir aus diesen schlichten Ziffern eine Vervielfältigung der Wirklichkeit entnehmen?«

Der Chronoexperte nickte. »Das ist der zu folgernde Hauptpunkt.«

Van Hoorn stutzte wieder.

»Du unterstellst demnach«, bemerkte er dann folgerichtig, »daß wir alle in einem Übergangszustand ein Mehrfaches an Wirklichkeit erlebt haben, als uns normalerweise bewußt ist. Ist das so richtig?«

Ketelby senkte zustimmend das Haupt mit den grauen Schläfen. »Im wesentlichen, ja.«

Van Hoorn lachte leise. Allmählich schien er Gefallen an der dargebotenen Theorie, wohl aber mehr noch an ihren Schlußfolgerungen zu finden.

»Wie oft«, versetzte er schmunzelnd, »habe ich nicht schon Zeit ›verloren‹.«

»Was meinen Sie, Pieter?«, fragte Kahl, der nicht wußte, worauf sein Erster hinaus wollte.

»Durch unnütze Beschäftigung«, fuhr dieser unbeirrt fort, »weil ich mir bestimmte Dinge falsch zurecht legte, deswegen überflüssige Wege gehen mußte. Wenn ich zur Lösung eines theoretischen Problems an der falschen Stelle suche …«

»Sie überprüfen den uns geläufigen Wortsinn, Pieter?«

Jener nickte.

»Weil die Sprache nicht dumm ist? Weil ihre Redewendungen und Worte die Erfahrung vieler Generationen speichert?«

Der Erste nickte abermals, um dann fortzufahren: »Nicht wahr, dann ist Zeit verloren. Das versteht jeder. Aber Zeit gewonnen? Was ist das?«

Er schaute fordernd um sich.

»Ein Überschuß an Zeit ist aufgelaufen?«, sagte Vacaos, wohl in dieselbe Kerbe schlagend, behutsam zu Ketelby. »Wir haben Dich doch richtig verstanden?«

»Daran besteht nicht der geringste Zweifel«, gab der Chronospezialist zur Antwort.

»Zeitverlust, wenn ich das nochmals begründen darf«, erklärte der Erste Offizier.

»Bitte, Pieter.«

»Ich habe mich, wie eben erwähnt, überflüssig und falsch verhalten. Also Zeit verloren. Zeitgewinn bedeutet demnach, ich habe mich klug verhalten, demzufolge etwas dazu gewonnen. Es wäre dies folglich eine aus meiner bedachten Vorgehensweise entspringende Überfülle, die mir zuteil wurde?«

Er musterte, wie er dies versetzte, verstohlen die beiden Geistlichen an Bord des Schiffes, die zunächst noch schwiegen. Ob sie zur Beantwortung dieser Frage wohl beizutragen vermögen? schien sein Blick zu sagen.

»Ich sehe schon, worauf Sie hinauswollen, Pieter«, sagte Kahl zu ihm.

Dieser bemerkte unverdrossen: »Wo, bitteschön, ist das Übermaß an von Dir vorgestellter Zeit oder vielmehr an Wirklichkeit geblieben?«

Kahl, der sein ganzes Vorwissen längst nicht preisgegeben hatte, erklärte: »Das alles läßt sich überprüfen, Pieter.«

»Wir alle haben in einer begrenzten Zeitspanne also mehr erlebt als gewöhnlich?«, beharrte Van Hoorn.

»Leute«, versetzte sein Vorgesetzter, »die intensiv und angereichert leben, erleben bekanntlich in demselben nackten, objektiv gleichmäßig verstreichenden Zeitraum bekanntlich mehr Erfüllung wie Inhalt als andere eher passive, saumselige Leute.«

»Ihr Leben gestaltet sich sinnlicher, ihr Inneres durchwandert ganz andere Welten als jene, welche die Zeit nur gelangweilt zubringen?«, warf Van Hoorn ein.

Kahl nickte. »Zeit als Funktion des Inneren und der Seele, müßte man also denken.«

Die beiden Geistlichen schienen darauf nur gewartet zu haben. Sie mußten sich aber noch eine kleine Weile gedulden.

Van Hoorn faßte nämlich nach: »Zeit wäre also nicht etwas ›an sich‹, ohne bestimmten Inhalt, sondern immer individuell für den einzelnen gegeben, je nach dem, was man aus ihr macht, aus ihr herausholt, mit ihr anstellt?«

Kahl nickte. »So ist es.«

»Aber die objektiv verlebte Vergleichszeit beider Gruppen, nämlich die mit der armen, inhaltsleeren Uhr gemessene, wäre jeweils gleich geblieben?«

Kahl bestätigte erneut.

»Doch das ist auch nur ein uns zugängliches Beispiel«, gab er zu bedenken, »um sich vorzustellen, wie in gleicher nackter Zeit – nach der Uhr gemessen – der eine mehr lebt als der andere.«

Nun senkte der Erste zustimmend und beifällig den Kopf. Das jedenfalls entsprach seiner Auffassung und ließ sich wohl verstehen.

»Aber hier, in unserer Situation«, bemerkte er dann scheinbar listig, »geht es nicht nur um ein Empfinden, etwa mehr aus einer für alle gleich verstreichenden Zeit herauszuholen, sondern um eine wirkliche Verdreifachung des Geschehens, auch wenn sie uns zunächst unbewußt geblieben wäre. Ist das richtig?«

»Das ist eindeutig richtig«, bemerkte Ketelby.

»Du mußt aber entschuldigen«, versetzte Van Hoorn, »das ist doch eine Vorstellung, die mir in gewisser Weise trotzdem äußerst fremd vorkommt, nicht wahr.«

Ketelby lächelte.

»Nicht wahr«, erklärte er dann, »das ist doch, wie vorhin schon erwähnt, vergleichbar damit, daß wir mit höchster Geschwindigkeit fliegen.«

»Du meinst die Zeitdehnung, wenn sich die Geschwindigkeit der des Lichtes nähert?«, fragte Van Hoorn zurück.

Ketelby nickte.

»Ist das wirklich so einfach?«

»Wie erklärt man sich das anders?«

»Aber wir sind – Verzeihung – in diesem Sinne doch nicht schneller geflogen«, sagte Van Hoorn.

»Gewiß, aber wir verzeichnen dem entsprechende Wirkung.«

»Laß uns das doch bitte etwas klären«, sagte Van Hoorn.

»Bitte.«

»Wir wissen«, eröffnete der Erste, »daß sich in unserer Welt die physikalischen Werte niemals beliebig ins Unendliche steigern lassen. Einverstanden?«

Er schaute den Zeitmann prüfend an.

»Das klingt richtig«, räumte dieser ein.

»Ein beliebiges Aufhäufen von Zahlen – immer mehr und immer weiter – erscheint in der real begründeten Natur als abwegig, als Unsinn?«

Ketelby wirkte unschlüssig.

»Nun ja«, versetzte er zögernd.

»Die Natur«, fuhr Van Hoorn unerbittlich fort, »schiebt einer solch schlechten oder leeren Unendlichkeit einen Riegel vor, nicht wahr?«

Wieder zögerte der Zeitmann, er wußte offenbar nicht, worauf der I. Offizier hinauswollte.

Dieser aber fuhr fort: »Sie, die Natur, anstatt sich mit leeren, anmaßenden Gedanken abzugeben, erfüllt alles mit Inhalt.«

»Natürlich. Leere Zahlenspiele wären niemals sinnvoll.«

»Nachweislich«, beharrte Van Hoorn, »lassen sich Geschwindigkeiten, wie man dies früher einmal annahm oder erhoffte, nicht beliebig ins Unendliche steigern.«

Ketelbys Gesicht, wie er sich auf die Lichtgeschwindigkeit besann, hellte sich auf. »Nein, gewiß nicht.«

»Nachgewiesen ist dies an der Geschwindigkeit des Lichtes«, bestätigte der Erste ausdrücklich.

»So ist es.« Der Chronoexperte nickte.

»Es wurde gemessen, daß in dieser materiellen Welt und an ihrer Oberfläche nichts jemals schneller als das Licht sein kann.«

»Gewiß«, erwiderte Ketelby.

»Wenn man also an diese Geschwindigkeit – die des Lichtes nämlich – herankommt, verändern sich die Dinge. So verändern sich damit unsere Vorstellungen und Begriffe.«

»So kann man es sagen.« Ketelby lächelte vom Bildschirm.

»Gut.« Van Hoorn leckte sich abermals die Lippen.

»Bei bis zum äußersten erhöhtem Tempo«, fuhr er fort, »also dann, wenn man in die Nähe der Lichtgeschwindigkeit gelangt, gerät etwas anderes, und zwar unsere scheinbar wohlvertraute lineare Zeit aus den Fugen.«

»So ist es.«

»Und zwar ist das genau so«, brummte, geradezu versöhnlich, der Erste, »wenn ein Raumschiff sehr schnell fliegt, sich folglich dem Lichttempo annähert, dann wird die Zeit in ihm und für die Besatzung nachweislich weitaus langsamer als in einer vergleichbaren, stillstehenden Umgebung draußen verstreichen.«

»Gewiß«, stimmte Ketelby zu.

»Wenn wir also«, versetzte Van Hoorn unbeirrt, »die beiden – das schnelle Raumschiff und die langsame Umgebung – unmittelbar nebeneinander halten, so würden die Zeiten ebenso wie die unterschiedlich erfüllten Inhalte auseinander fallen. So ist es doch, nicht wahr?«

Ketelby nickte. »Das ist hinreichend nachgewiesen.«

Van Hoorn, sich zu vergewissern, setzte nach: »Von drei auf neun gehend, wird eben ein solcher Effekt für uns hier an Bord des TOPAS ausgewiesen. Also zeitlich dichtere Erfüllung, die wir alle erlebten?«

»So muß man dies sehen«, erwiderte der Chronoforscher.

»Dies ist nicht möglich, weil wir etwa die Geschwindigkeit erhöhten«, sagte der Erste.

»Nein, gewiß nicht.«

»Was wir, nebenbei bemerkt, technisch gar nicht könnten«, versetzte Van Hoorn.

»Nein, bestimmt nicht.«

»Sondern«, brummte der I. Offizier, »weil wir die Ebene, vom normalen Weltraum hin in die substellaren Zone, gewechselt haben.«

»Bei jedem Tauchmanöver wechseln wir die Zone«, gab Kahl, der dem Wortwechsel mit höchstem Interesse folgte, zu bedenken.

»Ohne diesen Effekt?«, wandte der Erste prompt ein.

Kahl nickte. »Es ist nunmehr hierbei geschehen, indes unfreiwillig.«

Da war das Offenkundige ausgesprochen.

Van Hoorn ächzte. »Unfreiwillig, gewiß. Und wer, bitteschön«, er schaute seinen Chef forschend an, »veranlaßte oder bewegte uns zu einer solchen Veränderung?«

»Ich möchte nochmals etwas Grundsätzliches klären«, bemerkte der Kommandant dazu, »selbst wenn es auf den ersten Blick weit hergeholt erscheinen könnte.«

»Nämlich?«

»Je mehr Gedanken und Vorstellungen wir entwickeln und hegen, desto besser«, fuhr der Kommandant fort, »meinen Sie nicht auch?«

»Zweifellos«, bestätigte Van Hoorn.

 

*

 

»Schauen Sie bitte einmal«, versetzte Kahl daraufhin bezüglich ihrer derzeit nicht mehr anwesenden Passagiere, »was unsere beiden erleuchteten Mitreisenden machen?«

»Swoboda und Zingli?«

»Swoboda und Zingli.«

Kahl nickte. Sein Erster setzte sich zunächst nur langsam in Bewegung. Obwohl er seinem Chef im Grunde beipflichtete, wirkte er doch unschlüssig. Nach einer Weile erschienen alle drei vor der Konsole. Die beiden Religionswissenschaftler, neugierige Gäste an Bord des Schiffes, ließen sich neben Van Hoorn durchaus selbstbewußt in freien Sesseln nieder. So hatten sie, den Andeutungen von vorhin gemäß, also auf diese Unterredung gewartet. Bei näherer Betrachtung wirkten allerdings beide von der Übergangsphase, die sie alle mitmachten, noch leicht mitgenommen. Kahl verzeichnete dies aus den Augenwinkeln.

»Nun, wie ist die Lage?« Swoboda richtete das Wort umgehend an den Allgewaltigen des Schiffes, wobei nicht klar wurde, bezog er sich auf die erst abflauende Schlingerbewegung des TOPAS oder auf die angestrebten anderen tieferliegenden Dinge.

Kahl kam ohne Umschweife zur Sache. »Wir haben ein Problem zu lösen.«

Swoboda, ein ansprechender Mann von fünfzig Jahren mit gepflegten grauen Haaren, wies unbefangen nach draußen, obwohl er sich wie alle anderen der heiklen Lage, in welcher sie steckten, bewußt war.

»Das Problem da?«, wollte er dann wissen.

Der Kommandant senkte zustimmend den Kopf.

»Das bildet ein Unsicherheitsmoment, nicht wahr?«, brummte Swoboda, der ganz weltlich gekleidete buddhistische Gelehrte.

Kahl nickte, schwieg aber noch immer.

Zingli saß daneben. Er trug den dunklen Anzug des katholischen Priesters, mit weiß versteiftem Halskragen.

»Was meinen Sie mit Unsicherheitsmoment?«, begehrte er dann von seinem Kollegen zu wissen.

Kahl, dies vernehmend, lächelte trotz der angespannten Lage vor sich hin. Sie mußten bereits in ihrer Abwesenheit von der Kontrollstation aneinander geraten sein. Swoboda zögerte mit einer Antwort, offenbar nicht bereit, Öl ins – theologische – Feuer zu gießen.

Van Hoorn nahm die Gelegenheit wahr und wies nach draußen. »Und was ist das, bitte?«

Swoboda schaute, ein wenig ungläubig, über den Bildschirm in die angegebene Richtung. Er war wohl auch etwas zwischenraumerfahren, und so wollte er, was seine Augen anscheinend neu erblickten, nicht so recht glauben. Doch er besann sich.

»Wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Kapitän, erscheint Ihnen dieses Problem«, er wies nach draußen, »so schwerwiegend, daß Sie sich auch gerne mit einer theoretischen Untermauerung dieser Fragen versehen würden. Und zwar von uns beiden. Ist das richtig?«

»Völlig richtig«, bestätigte Kahl.

»Das alles«, fuhr der Buddhist fort, »begibt sich nicht zufällig, wie man gerne denken möchte? Korrekt?«

Kahl lächelte wieder.

»Wir sind mitten drin«, erteilte er dann knapp Auskunft.

»Wir sind Teil davon?«, fragte Van Hoorn, einer plötzlichen Eingebung folgend.

Und er zwinkerte mit den Augen, als ob eine Fliege dort hinein gelangt sei.

»Sie bemerkten eben«, sagte Kahl zu Swoboda, »daß wir uns in einer Unschärfe befinden.«

»Ja, eine Unsicherheit«, brummte dieser mit seiner tiefen Stimme.

»Das sind extreme Verhältnisse«, versetzte Kahl und wies nach draußen, auf Lichtwelle und Brandung.

»Gewiß sind sie das«, bestätigte Zingli.

»Für den Zwischenraum«, knurrte Kahl.

»Ja, gewiß.«

»Nicht wahr«, brummte Kahl, »der Zwischenraum selbst – er legt sich bekanntlich substellar unter die gewöhnliche Raumkrümmung – ist im Normalfall schon immer extrem oder ungewöhnlich.«

»Ja.«

»Doch nun wird er selber, der bereits einen Grenzfall darstellt, in gleicher Weise in Mitleidenschaft gezogen.«

Beide Theologen blickten Kahl an. Erst jetzt schien das Ungewöhnliche des außerordentlichen Verhältnisses, in welchem sie alle sich befanden, klar zu werden. Und auch, warum die beiden geistlichen Herren womöglich zur Lösung dieser doppelt vertrackten Frage beitragen könnten.

»Glauben Sie«, fragte der Kommandant, »daß uns jemand oder etwas aus den wirklichen Gegebenheiten herausnehmen könnte?«

Swoboda vermochte ihm sofort zu folgen.

»Sie meinen, mittels der Zwischenzonen sind wir aus den gewöhnlichen Raumverhältnissen herausgefallen. Und jetzt nimmt uns jemand oder etwas auch noch aus dieser ohnehin besonderen Stellung?«

Kahl nickte. Er blickte ruhig um sich, lehnte sich dabei mit leichtem Druck gegen die Konsole. Er sann nebenbei kurz darüber nach, daß um dieselbe offensichtlich ein geschützter Bereich lag. Dieser war Van Hoorn, ihm und womöglich noch weiterem Personal in bislang ebenfalls unerörterter Weise zugute gekommen. Auch diesen Umstand zu ergründen, trug gewiß zur Lösung ihres Problems bei.

Swoboda sagte: »Auf das, was Sie vortragen, gibt es eine allgemeine Antwort, Herr Kapitän.«

»Bitte.«

»Es ist unmöglich«, erklärte der Buddhist mit einem Blick auf die weiterhin über den Bildschirm fließenden Lichtkaskaden, »daß man jemanden, also uns etwa, aus Sein und Wirklichkeit vollständig herausnimmt.«

»Wir sind immer drinnen und beteiligt?« Der Kommandant betrachtete den Buddhisten nicht ohne Interesse.

Jener senkte zustimmend den Kopf.

»Es gibt kein Hinaus, kein Entkommen oder Entrinnen?«, wollte Kahl wissen.

»Nie wirklich.«

»Wir sind in ihm, dem Sein, und so sind wir immer in ihm drinnen?«

Swoboda lächelte. »So kann man es sagen oder begreifen.«

»Aber wenn man irgendwo drin ist«, bemerkte Kahl, »dann kann man sich darin doch auch orientieren oder finden?«

»Das ist abhängig vom eigenen Standpunkt«, versetzte Zingli.

Und Swoboda sagte: »In dem Sinn, daß man das Sein nur dann verstehen kann, wenn man mit ihm verbunden ist.«

Van Hoorn lauschte in Anbetracht ihres überaus realen Problemes ein wenig ungehalten den weitgespannten Erörterungen. Obwohl selbst an solchen Fragen interessiert, wußte er noch nicht wirklich, worauf sein Chef hinaus wollte. So bezweifelte er zu der Zeit gar, welchen Sinn eine solche Grundlagenbesprechung je haben könnte (das sollte sich noch ändern).

Nun schaltete er sich ein. »Chef, sehen Sie das?«

Er bezog sich auf Passagen in der Projektion, an denen sich tiefe Risse zeigten. Das Schiff, überlegte sein Vorgesetzter, fuhr derzeit natürlich vollautomatisch. Der Computer, ein rein abstraktes Rechengehirn, ohne Spur von Seele, führte den TOPAS über die ausgesucht brüchigen Örtlichkeiten im Raum-Zeit-Gefüge, denn dort wollten sie nicht unbedingt scheitern (nicht an den Schwachstellen, die sie zu erkennen vermochten).

Tatsächlich, aktiv war er, der Rechner, er tastete hier und versuchte es dort an jener Position. Oftmals glitt er in regem Bemühen zur Seite, gelegentlich schwamm er rückwärts, während tausend abgeschaltete Sonnen über ihnen, um sie und unter ihnen brannten. Das wirkte schon seltsam, die zögernden Versuche des Computers in diesen komprimierten substellaren Zonen zu verfolgen, jedenfalls für jemanden, der sie und ihren raumverkürzenden Charakter nicht einzuschätzen wußte.

»Was meinen Sie?«, fragte Kahl seinen Ersten.

»Alles wirkt brüchig«, erwiderte dieser.

Und: »Schauen Sie sich einmal die Uhren an, Chef.«

Kahl hatte es vorhin schon bemerkt. Aber sie würden es getrennt überprüfen müssen, jetzt ließ sich nichts machen. Fordernder als noch eben erhob sich in ihm der Gedanke: sie waren in das Gesamtgeschehen – räumlich, zeitlich – eingebunden. Schritt für Schritt würden sie nachvollziehen und endlich begreifen müssen. Auch wenn Van Hoorn es derzeit noch nicht in vollem Umfange würdigte, eine Grundlagenerörterung erschien nun doch dringender als vorhin.

»Ich habe es gesehen, Pieter«, sagte Kahl zu seinem Ersten.

Ob man aus Sein und Zeit herausgenommen werden könne? So unschlüssig kam Kahl die Frage jetzt gar nicht mehr vor, namentlich, wie er die Vorgänge draußen (die Brüche, Frakturen, Spaltungen) durchsann. Das Gerät, der Spiegelraster, vermochte auch auf das Unbewußte zuzugreifen, überlegte er. Das stellte ein verhältnismäßig unerprobtes Verfahren dar, das der Tatsache von vornherein Rechnung trug, daß sie sich – namentlich in die spiegelbildlichen Zonen – immer eingebunden sahen.

»Chef?«

»Pieter?«

»Glauben Sie, daß wir uns hier herauslösen werden?«

»Ganz sicher.«

»Wirklich?«

»Wirklich, Pieter. Aber, bitte, eins nach dem andern.«

Van Hoorn schwieg nun.

Kahl wandte sich wieder den beiden Theologen zu, indem er die Beobachtung von eben einbezog.

»Glauben Sie, daß die Dinge immer zeitlich linear ablaufen?«

Vorhin schon hatte er ein seltsames Gefühl im Herzen empfunden, vergleichbar einer Erinnerung oder Mahnung. So, als würde man dadurch auf etwas aufmerksam gemacht, was bis dahin noch nicht klar sei. Geschah dies eben zu der Zeit, da sie in Fulgors Einfluß- oder Herrschaftsbereich gelangten? Er war sich nicht sicher.

»Zeitlich linear?« Swoboda zögerte, offensichtlich hegte er Bedenken.

»Ja, zeitlich linear.«

»Eins nach dem andern?«

»Ja.«

»Erst A, dann B, dann C?«

»Ja, genau so.«

Der buddhistische Gelehrte bedachte sich, um dann zu versetzen: »Wir verstehen zu wenig von der Welt, als daß wir dies vollständig beurteilen könnten.«

»Und was glauben Sie persönlich?«

Kahl musterte aber den katholischen Priester und Dominikaner. Er mußte dabei an die wohlbekannten Ordnungsgrößen von Schöpfung und Weltuntergang im christlichen Glauben denken. Anfang und Ende also, wie sie meinten. Lineares Denken.

Zingli fühlte sich augenscheinlich angesprochen.

»Welcher Anhaltspunkt veranlaßt Sie zu dieser Frage?«, wollte er, nicht ungeschickt, wissen.

Van Hoorn saß ruhig daneben. Auch er wog ab, freilich auf etwas andere Weise als sein Vorgesetzter.

»Die Uhren«, bemerkte der Erste nämlich, »sie laufen ja unter allen Umständen linear. Und sollten sie das nicht tun, so würden wir es auf irgend eine Weise merken und somit überprüfen können.«

Er, der Praktiker, lächelte dünn bei diesem Vorschlag, der sich sehr wohl auf ihr bordeigenes technisches Arsenal stützte. Er wurde aber gleich wieder ernst. Sein Chef, fiel ihm ein, pflegte insbesondere in kritischen Situationen wie dieser niemals überflüssige Fragen zu stellen. Zunehmend weiterführende Vorstellungen tauchten in Van Hoorns Kopf auf, Erwägungen dergestalt, daß er sich geradezu unwohl fühlte. Kahl sprang ihm unabsichtlich zur Seite.

»Also?«, fragte der Kapitän den Dominikaner, für den er sich derzeit allem Anschein nach entschieden hatte.

»Soll ich Ihnen jetzt einen Vortrag über den Zeitablauf nach christlicher Lehrauffassung halten?«, verlangte dieser und schaute vom Kommandanten zum Ersten und vom Ersten zum Kommandanten.

»Nein«, erwiderte der Kapitän. »Sie sollen uns nur mitteilen, ob die Zeit – nach Auffassung Ihrer Lehre oder selbst nach Ihrer persönlichen Auslegung – immer stetig abläuft, oder ob es davon Ausnahmen geben könnte.«

Der Dominikaner und ehemalige Soldat der Schweizer Garde schluckte denn doch wieder. Nicht wahr, dies ist etwas anderes, sann Kahl, ob man theoretisch allgewaltig über die Welt, ihr Sein und die umgreifenden Zusammenhänge grübelt, oder ob man sich in einer konkreten Situation, gar Notlage zu dergleichen Problemen in dringlicher Weise äußern müßte. Wer wußte das schon, selbst ihrer aller Leben würde am Ende noch davon abhängen, wie richtig oder falsch der notwendige Denkansatz ausfiel.

»Die Welt hat einen Anfang und ein Ende«, antwortete Zingli, genau, wie es seinem Glauben entsprach, also wie zu erwarten.

»Und, wenn wir einmal vom Anfang wie vom Ende absehen wollen«, fragte Kahl, »wie steht es mit dem Zeitablauf dazwischen?«

Zingli lächelte breit, selbst überlegen, aber er hatte das Problem mit den Uhren noch nicht gesehen oder erfahren.

»Sie wissen«, versetzte er, »daß nach unserer Auffassung die Welt aus Gott hervorgeht?«

Kahl nickte und fragte behutsam: »Er hat sie aus dem Nichts geschaffen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte der Dominikaner.

»Vor der Weltentstehung war also nichts?«

»Gewiß, ja.«

»Und wo, wenn da nichts war, ist Gott gewesen?« Kahl betrachtete den Geistlichen ruhig.

»Gott steht außer oder über der Welt«, gab jener zur Antwort.

»Auch wenn es die Welt nicht gibt, so gibt es Gott trotzdem?« Kahl musterte ihn wieder.

Es entstand eine kurze Pause, dann versetzte der Dominikaner: »Sie wollen aber wissen, ob Gott allgegenwärtig oder allmächtig wäre?«

»Durchaus«, murmelte Kahl, ohne weiter auf die Gedankenspaltung des Paters einzugehen, »namentlich, wenn wir das Problem, vor dem wir uns höchst aktuell befinden, betrachten.«

»Da ist ein rätselhafter Faktor der Allmacht oder auch nur des Unverständnisses, der uns in dieser heiklen Lage berührt«, ergänzte Van Hoorn von der Seite.

»Ich verstehe schon«, sagte Zingli.

»Ist er oder irgend etwas demnach allmächtig?«, fragte Kahl durchaus höflich.

»Ja und nein«, versetzte der Dominikaner. »Verzeihen Sie, bitte. So wie Sie fragen, oder nach dem, was man sich bei Ihrer Frage denken muß, kann man nicht einfach antworten.«

»Aus welchem Grund auch immer«, beharrte der Kapitän, ihr eigenes aktuelles Problem vor Augen, »er könnte aber jegliches beginnen, wenn er denn nur wollte?«

Zingli nickte wägend. »Ja und nein, wie ich schon sagte. Er ist allgegenwärtig und allmächtig. Es gibt nichts, was ihm nicht möglich wäre.«

»Er greift doch gewiß ein, nach Ihrer Auffassung oder Lehre«, warf Van Hoorn wiederum von der Seite ein. »Er wirkt nämlich Wunder, oder?«

»Er offenbart sich«, antwortete Zingli. »Darum wissen wir von ihm.«

»Wunder«, bemerkte Kahl verhalten, »sind jene Ereignisse, die außerhalb des normal erklärbaren Zusammenhanges fallen. Die gleichsam Raum und Zeit sprengen. Ist das richtig?«

»Wunder fallen außerhalb der für den Normalfall vorgesehenen Ordnung«, erwiderte Zingli.

»Das betrifft uns aber ja gerade«, brummte Van Hoorn.

»Er könnte also auch«, sann der Kapitän, »wenn er dies wollte, in den von ihm vorgesehenen normalen Zeitablauf eingreifen?«

Zingli nickte. »Er vermag grundsätzlich alles, so er denn nur will.«

»Aber er tut es nicht?«

»Nein.«

»Und warum nicht?«

Zingli lächelte dünn. »Weil er kein Falschspieler ist.«

»Er hat diese Welt mit Vorbedacht geschaffen?«

»So ist es.«

»Er hätte auch eine andere Welt schaffen können?«

»So ist es.«

»Also ist diese seine Welt die beste?«

»So ist es.«

»In der er darum aber also nicht herumpfuscht?«

»Genau so.«

»Aber gelegentlich geschehen doch Wunder?«

»In der Tat.«

»Das liegt in seinem unerklärlichen Ratsschluß?«

»So ist es.«

»Er arbeitet also nicht beliebig, wie Sie sagen, sondern im Normalfall immer sinnvoll?«

»So ist es.« Zingli nickte zufrieden, weil man ihm so rasch und wie anstandslos folgte.

Kahl durchforschte seinen religiösen Gesprächspartner von oben bis unten mit Blicken.

Er sagte: »Ich muß dies noch einmal aufgreifen.«

»Bitte.«

»Seine Ordnung«, wiederholte der Schiffskommandant, »ist nicht zufällig und willkürlich, sondern durchdacht?«

»Absolut.«

»Und es gäbe keine bessere Ordnung als diese?«

»So ist es.«

Kahl schürzte die Lippen. »Gilt das auch für den Zeitablauf?«

»Es gilt für alles. So für dieses«, erwiderte Zingli, von seiner Überzeugung durchdrungen.

Kahl betrachtete ihn abermals ruhig. »Dies ist also eine geschaffene, mithin wohlgeplante Ordnung, auch wenn sie sich unserem näheren Verständnis nicht oder nur unvollständig erschließen sollte?«

»Allerdings.«

»Gott ist also kein Stümper oder Pfuscher, der sein eigenes ursprüngliches Werk verbessern oder berichtigen müßte?«

Zingli schmunzelte. »Er ist in der Tat alles andere als ein Stümper.«

»Das gilt auch für den Zeitablauf?«

»Das gilt für alles.«

»Die Uhren, Chef«, mahnte Van Hoorn wieder.

Kahl hatte sie indes nicht vergessen. »Warten Sie bitte noch einen Augenblick, Pieter. Wir kommen gleich zur Sache.«

Allerdings konnte sich der Erste denn doch nicht enthalten. Er wies auf die Zeitnehmer und auf das offenkundige Problem mit ihnen.

»Glauben Sie im Ernst«, wollte er dann geradezu entrüstet wissen, »daß wir es hier mit einem Eingreifen oder einer Offenbarung Gottes zu tun haben?«

»Pieter«, sagte Kahl, der ihn sehr wohl verstand. »Dies ist ein Grenzfall, wir sind durch ihn gegangen oder befinden uns noch immer in ihm. Lassen Sie uns das bitte in aller Ruhe klären, nach allen Seiten abwägen. Ja?«

»Gewiß, ja.« Der Erste seufzte.

»Würden Sie«, begehrte Zingli, den Gedankengang fortsetzend, »von einem Allmächtigen etwas anderes als Stetigkeit und Unbeirrbarkeit in seinem Werk erwarten?«

»Nein«, murmelte Kahl, »einem Allmächtigen würde man allerdings auch zeitliche Überlegenheit zugestehen müssen.«

Zingli lächelte, von Genugtuung durchdrungen. »Er kann alles, aber die Moral gebietet ihm, nur auf das Beste hinzuwirken.«

 

*

 

»Soweit also grundsätzliche Erwägungen in diese Richtung«, sagte Kahl.

»Was denken Sie denn«, fragte Van Hoorn, »welchem Umstand wir diesen Zeiteffekt verdanken, Chef?«

»Im Normalfall«, erwiderte Kahl, »wird sich zu jeglichem Ergebnis die zugehörige Ursache finden lassen.«