Das Brandhaus - Helene Tursten - E-Book + Hörbuch

Das Brandhaus Hörbuch

Helene Tursten

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Beschreibung

Die Bestseller-Serie aus Schweden! – Band 8

Zwei tote Teenager und ein Mörder, der das Handwerk der Täuschung versteht...

Göteborg im Mai: Im seichten Gewässer wird die Leiche eines Mädchens gefunden. Schnell stellt sich heraus, dass es sich um die 14-jährige Alexandra handelt, deren Verschwinden seit Tagen die lokale Presse beschäftigt. Seltsame Schnittverletzungen an ihrem Körper weisen auf ein brutales Gewaltverbrechen hin: Offensichtlich hatte der Mörder versucht, ein Muster in die Haut zu ritzen.

Die unterbesetzte Mordkommission – ohnehin schon mit dem Fall eines mysteriösen Leichenfunds in einem abgebrannten Haus befasst – gerät unter Druck, als bald darauf ein Spaziergänger im Wald ein weiteres totes Mädchen entdeckt. Auch ihr wurden ähnliche Verletzungen zugefügt. War es derselbe Täter? Kannten die Mädchen ihren Mörder womöglich? Als die Polizei den Internet-Aktivitäten der Teenager nachgeht, erhärtet sich der Verdacht von Irene Huss, doch bei den Ermittlungen gerät sie bald selbst in Bedrängnis …

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Zeit:3 Std. 31 min

Sprecher:Ulrike Hübschmann
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Det lömska nätet« bei Piratförlaget, Stockholm.
Für Anita und Stina: Jetzt geht Kommissar Sten Andersson in Pension!
Wie immer erlaube ich mir der geographischen Wirklichkeit gegenüber große Freiheiten. Ich bin der Überzeugung, dass ich meine Geschichten nicht an der Wirklichkeit zu orientieren brauche. Bei Bedarf muss sich die Wirklichkeit eben den Geschichten anpassen. Meine Romane sind immer fiktiv, das gilt auch für alle Figuren, die darin in Erscheinung treten. Dennoch wird in diesem Roman auch auf historische Ereignisse und Personen Bezug genommen. Die damit verbundenen Fakten stimmen natürlich. Obwohl ich mir große Freiheiten erlaube, steht es nicht in meiner Macht, Dinge zu ändern, die bereits geschehen und dokumentiert sind.
 
Helene Tursten
Elof Persson musste sterben. Es gab keinen anderen Ausweg, als ihn zu beseitigen. Obwohl er als Polizist beim Allgemeinen Sicherheitsdienst angestellt war, verstand der Idiot nicht, was für ein gefährliches Spiel er da trieb. Großmäulig und selbstsicher gab er sich. Seine Aggressivität hatte ihn schon erschreckt, als er vor etwas mehr als zwei Monaten mit ihm Kontakt aufgenommen hatte. Allein die körperliche Stärke des Sicherheitsmannes war furchteinflößend. Und dann hatte er ihm diese Stärke auch noch genüsslich demonstriert, indem er ihn gewürgt hatte. Eine schmerzende Rötung am Hals war zurückgeblieben, nach einem Tag allerdings wieder verschwunden.
Der Sicherheitsmann hatte ihn mit unverhohlener Verachtung mit seinem Spott überhäuft und ihn bedroht. Und er hatte einfach nur schockiert dagestanden und alles über sich ergehen lassen. Die Erkenntnis, dass der Mann, dem er gegenüberstand, seine ganze Zukunft zerstören konnte, hatte ihn erstarren lassen. Sein Vergehen war entdeckt worden. Und er hatte keine andere Wahl gehabt, als weiter für Elof Perssons Schweigen zu zahlen.
Das Schlimmste aber war Perssons Drohung, die Sache publik zu machen. Es würde zu einem Prozess kommen, und er würde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden. Die Zeitungen würden sich in seinem enthüllten Geheimnis suhlen. Eine unerträgliche Situation. Seine gesellschaftliche Stellung und seine Karriere wären ruiniert. Der totale Untergang. Er dachte sogar an Selbstmord.
Es hatte sich zugespitzt. Jetzt galt es: Ein Leben oder ein anderes. Seines gegen das Elof Perssons.
 
Der Mann, der voller Nervosität in der dunklen Toreinfahrt wartete, umklammerte den Griff einer Tokarevpistole in seiner Manteltasche. Die Seitenbeschläge waren aus Plastik und vor Schweiß schon ganz feucht. Mit den Fingerspitzen spürte er das runde Markenzeichen mit dem fünfzackigen Stern. Die russische, halbautomatische Pistole war zwar nicht unbedingt die zuverlässigste und beste aller Pistolen, hatte dafür aber andere Vorzüge. Denn niemand wusste, dass er diese Waffe besaß. Und er konnte mit ihr umgehen. Seine Freunde hatten ihm gezeigt, wie sie funktionierte. Außerdem hatten die Russen diese Pistole vor und während des Zweiten Weltkrieges in großen Mengen hergestellt. Auf dem Schwarzmarkt gab es unzählige davon. Es war die perfekte Mordwaffe.
Er zog seinen Hut tiefer in die Stirn und warf einen Blick aus der Toreinfahrt. Vorsichtig bewegte er seine blutleeren Zehen in den feuchten Schuhen, um seinen Kreislauf in Gang zu halten. Das Zeitungspapier, das er als Einlegesohle verwendete, zog die Feuchtigkeit eher an, als vor ihr zu schützen. Doch ihm war keine bessere Maßnahme gegen das durch schadhafte Nähte eindringende Wasser eingefallen. Schuhe und Kleider bekam man mittlerweile nur noch auf Bezugsschein. Und die gab es erst wieder im Dezember. Doch er konnte sich ohnehin weder die Schuhe noch neue Kleider leisten, und schuld daran war der Mann, auf den er gerade wartete.
Die Straße war vollkommen dunkel. Alle hatten ihre Verdunklungsgardinen vorgezogen oder schwarze Pappe vor die Fenster geklebt. Die meisten schliefen sicher schon. Es war wichtig, dass er nicht von einer Streife entdeckt wurde. Er würde nicht erklären können, wieso er sich nach Einbruch der Dunkelheit hier aufhielt. Ein kühler Wind trieb raschelndes Herbstlaub über die regennasse Hornsgatan. Von der Toreinfahrt, in der er stand, zu der Haustür, aus der Elof Persson jeden Augenblick heraustreten musste, waren es nur ein paar Schritte.
Sie hatten sich im Tantolunden verabredet. Aber er hatte nicht vor, dort zu stehen und zu warten. Es war besser, den Mann zu überraschen, sobald er aus seinem Haus herauskam.
Der eingebildete Sicherheitspolizist war vermutlich nie auf die Idee gekommen, dass jemand seine eigene Adresse ausplaudern oder sein bemitleidenswertes Opfer zu einer Bedrohung seines eigenen Lebens werden könnte. Persson sah in dem Mann, den er erpresste, einfach nur einen eitlen Affen, den er ausnehmen konnte, wie es ihm gerade gefiel. Er war ein arrogantes Schwein, und das würde er nun büßen.
Ein Gefühl der Wehmut erfüllte ihn. Wenn sie mit dem Abbruch fertig waren, würde am Korsvägen nur noch ein einzelnes Holzhaus stehen. Es war renoviert, und in ihm waren ein paar kleinere Firmen und irgendeine Universitätsverwaltung untergebracht. Das prächtige Bauwerk stand natürlich unter Denkmalschutz und lag vornehm ein Stück den Hang hoch. Von seiner großen Glasveranda hatte man Ausblick auf die Straßenkreuzung unterhalb. Auf dem Weg zur Universitätsbibliothek oder zum Näckrosdammen kam man immer daran vorbei. Es war zwar schön, dass zumindest dieses Haus stehenblieb, aber zu schade, dass die anderen dermaßen stark von dem Brand beschädigt worden waren und nun abgerissen werden mussten.
Göran Jansson seufzte. Er war am Mölndalsvägen geboren und aufgewachsen, nur einen Steinwurf von dem Platz entfernt, an dem er jetzt stand. Die alten Holzhäuser am Korsvägen waren ihm sehr vertraut gewesen. Bereits Ende der 60er Jahre waren sie in einem schlechten Zustand, hatten dem belebten Verkehrsknotenpunkt aber einen gewissen Charme verliehen. Zwei seiner Freunde hatten in den Holzhäusern gewohnt, an deren Stelle man später das Weltkulturmuseum und das Universeum gebaut hatte.
Er war Vorarbeiter bei der Baufirma, die die Ruine des Brandhauses abreißen sollte. Seine Leute würden die Grube mit Erde auffüllen und die letzten Spuren beseitigen. Er empfand eine gewisse Wehmut, als er die Hand hob, um ihnen das Zeichen zum Loslegen zu geben.
Der Schornstein war solide aus braunrotem Ziegel aufgemauert. Mit Ausnahme der dicken Kellermauern aus Granitquadern war dies der einzige Teil des Gebäudes, der den Brand halbwegs unbeschadet überstanden hatte. Alles andere war im Feuer untergegangen. Laut Augenzeugen hatte das vollkommen trockene Holzhaus bereits innerhalb von zehn Minuten lichterloh gebrannt. Die Feuerwehrleute waren damit beschäftigt gewesen, das Feuer einzugrenzen. Die Brandursache ließ sich später nicht mehr feststellen. In den Flammen war ein Bewohner, ein alter Mann, umgekommen.
Jetzt ragte nur noch der windschiefe Schornstein auf, und man hatte beschlossen, die Ruine so schnell wie möglich abzureißen, denn es bestand die Gefahr, dass der Kamin bei stärkerem Wind einstürzte.
Schon donnerte die an einem Kran befestigte, schwere Stahlkugel gegen den Schornstein. Innerhalb einer halben Stunde brachte die Kugel ihn gänzlich zum Einsturz, und ein Bagger füllte Ziegel und Schutt in einen Lastwagen. Schließlich stand nur noch das Schornsteinfundament im Keller. Göran Jansson kletterte nach unten und betrachtete die massiven Mauern. Sie waren auf einer Seite ungewöhnlich dick, sahen irgendwie schief aus. Wir müssen diese Seite einreißen, ehe wir den Heizkessel aus dem Keller heben, dachte er.
Es war der erste sonnige Tag nach einer zweiwöchigen Regen- und Kälteperiode. Die Wärme war angenehm, aber er hatte sich zu dick angezogen. Er nahm den orangenen Schutzhelm ab und wischte sich den Schweiß mit dem Jackenärmel von der Stirn. Anschließend kletterte er wieder die Leiter hoch und bezog ein Stück von der Grube entfernt Position, um beim Einreißen des restlichen Schornsteins zuzusehen. Er fragte sich, warum die eine Seite der Kaminmauer so massiv aussah. Sie war mindestens einen halben Meter breiter als auf der anderen Seite. Vielleicht war dort einmal ein Warmwasserspeicher gewesen und man hatte die Nische später zugemauert? Oder ein Brennholzvorrat? Durchaus möglich, früher …
Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als die Stahlkugel erneut mit voller Kraft aufprallte. Aber es gab nicht den erwarteten dumpfen Knall, stattdessen fiel die Mauer nur knirschend in sich zusammen.
Göran Jansson sah es sofort. Er winkte heftig, um den Kranführer daran zu hindern, die Kugel ein weiteres Mal gegen die Mauer zu schleudern.
Der Zeuge, der um 9.14 Uhr die Notrufnummer gewählt hatte, hatte sich nicht getäuscht. Hinter der Klippe lag ein toter Mensch im seichten Wasser. Die Spurensicherung war rasch in Nötsund gewesen und hatte den Fundplatz abgesperrt. Nach zwei Stunden intensiver Arbeit waren sie fertig, und der Leichnam konnte aus dem Wasser geborgen und in einen Leichensack verpackt werden.
Kriminalinspektorin Irene Huss und ihr Kollege Jonny Blom standen dabei und warteten, bis die Leiche verstaut war. Irene betrachtete lange das aufgedunsene, grauweiße Gesicht, ehe sie den Reißverschluss zuzog.
»Alexandra Hallwiin«, sagte sie schließlich mit abgeklärter Stimme.
Sie hatten es geahnt. Und trotzdem stimmte sie die Tatsache, jetzt Gewissheit über den Tod des Mädchens zu haben, unerhört traurig. Solange sie nur vermisst gemeldet war, hatte die Kriminalpolizei mit dem »Fall Alexandra«, wie die Zeitungen getitelt hatten, nichts zu tun gehabt. Aber als der Fund einer Mädchenleiche aus Nötsund gemeldet wurde, hatte Irene in aller Eile zusammengesucht, was sie über die Ermittlungen in der Datenbank finden konnte. Während der Fahrt dorthin hatte sie Jonny Blom, der am Steuer saß, die Fakten laut vorgelesen.
Die vierzehnjährige Alexandra war seit fünf Tagen verschwunden. Laut ihren Eltern, die sie als etwas schüchtern beschrieben, war sie kein Ausreißertyp. Pferden galt ihre ganze Leidenschaft. In der Schule war sie ehrgeizig, ohne dass ihre Mitschüler ihr das übel genommen hätten. Lehrer und Mitschüler hatten dieses Bild bestätigt.
Das Gesicht von Alexandra war am Wochenende auf den Titelseiten sämtlicher Abendzeitungen abgedruckt. Ihre Eltern waren wohlhabend, und anfangs hatte der Verdacht bestanden, es könnte sich um Kindesentführung handeln. Auf jeden Fall ging die Polizei von einem Verbrechen aus. Denn auch ein Mädchen, das sich einfach eine Weile aus dem Staub machen wollte, versuchte in der Regel zumindest ein paar Kleider und etwas Geld mitzunehmen. Das Einzige, was Alexandra Hallwiin am Vorabend des 1. Mai mitgenommen hatte, waren ihr Portemonnaie, das laut ihrer Mutter maximal 300 Kronen enthalten hatte, sowie ihre Monatskarte. Außer den Kleidern, die sie trug, einem Taschenschirm und ihrem Handy hatte sie nichts dabei.
Ihren Eltern hatte Alexandra gesagt, sie wolle ein paar Mitschüler im Brunnsparken treffen. Trotz des strömenden Regens an diesem Tag wollten sie sich den traditionellen Umzug der Studenten von der Technischen Universität Chalmers ansehen. Danach hatte sie geplant, nach Torslanda zurückzufahren und eine Freundin zu besuchen. Spätestens um Mitternacht wollte sie wieder zu Hause sein. Ihre Eltern waren auf eine Party bei guten Freunden eingeladen und hatten keine Zeit, sie mit dem Auto zu fahren. Alexandra sollte also den Bus in die Stadt nehmen. An der Haustür hatte sie ihren Eltern noch einmal zugewinkt und tschüss gesagt. Danach hatte sie niemand mehr lebend gesehen.
Der Busfahrer konnte sich nicht an sie erinnern. Der 18.05-Uhr-Bus war sehr voll gewesen. Auch der Fahrer des nächsten Busses hatte sie nicht gesehen. Viele junge Leute waren um diese Zeit in die Stadt gefahren, um sich den Umzug anzuschauen.
Tatsächlich war aber keiner ihrer Mitschüler mit ihr im Brunnsparken verabredet gewesen. Nicht einmal die beiden Mädchen, die als ihre besten Freundinnen galten, wussten, was sie an diesem Abend vorhatte. Als sie sich am Tag zuvor über ihre Pläne für das Wochenende unterhielten, hatte Alexandra gesagt: »Ich will Prince für das Reitturnier am Sonntag trainieren.« Und da sie wussten, wie wichtig ihr das Pferd und die Turniere waren, hatten sie beide nicht weiter gefragt.
Deshalb konnte auch niemand mit Sicherheit sagen, ob das Mädchen wirklich mit dem Bus in die Stadt gefahren war. Als Alexandras Mutter nach Mitternacht besorgt versucht hatte, sie auf dem Handy zu erreichen, war dieses ausgeschaltet.
Ein spielender Labrador hatte sie aufgespürt. Der Hund war jung und freute sich natürlich unbändig, einen Spielgefährten gefunden zu haben, der sich so raffiniert versteckt hielt. Sekunden später registrierte seine empfindliche Nase einen seltsamen Geruch. Berauschend, durchdringend und beängstigend zugleich. Er begann immer aufgeregter zu bellen und näherte sich kreisend und geduckt dem interessanten Duft. Als ihn sein Herrchen zurückpfiff: »Elroy! Elroy, bei Fuß!«, schnappte er sich einen Stofffetzen, der auf der Erde lag und stolzierte mit seinem Fund im Maul auf sein Herrchen zu. Nach einem kurzen Kampf zwischen Hund und Mensch ließ Elroy schließlich von seiner Trophäe ab. Der Mann erschauderte: Er hielt einen zerfetzten blutigen String aus schwarzer Spitze in Händen. Auf dem winzigen dreieckigen Vorderteil stand »Sunday«. Das Wort war in eine Borte aus Rosenknospen eingestickt.
Die Leiche lag in eine Felsspalte verkeilt. Der Mörder hatte ein paar Steine und Zweige darübergeworfen, damit sie nicht so leicht zu entdecken sein würde.
 
»Die sommerlichen Mädchenmorde haben also bereits Anfang Mai begonnen. Und dann gleich zwei an einem Tag!« Kriminalinspektor Jonny Blom seufzte.
Seine Kollegen nickten resigniert. Zwei Morde dieser Art zur gleichen Zeit stellten schon eine ziemlich große Belastung für das Dezernat dar. Insbesondere da auch der Bandenkrieg wieder ausgebrochen war. An dieser Front war es im Februar und fast den gesamten März recht ruhig gewesen, aber in der Osterwoche hatten sie es dann innerhalb von drei Tagen gleich mit zwei Morden zu tun gehabt. Zwei Männer, ein vierunddreißigjähriger Vater mit drei Kindern und ein Dreiundzwanzigjähriger. Sie hatten jeweils einer der beiden verfehdeten Banden angehört, dem kriminellen Netzwerk Asir beziehungsweise der Rockerbande Bandidos.
Im Rahmen der Tötungen war es auch zu einem Bombenanschlag auf einen Pkw gekommen, bei dem jedoch nur eine Person leicht verletzt wurde. Das Auto war auf einen Kleinkriminellen zugelassen, der seinen krummen Geschäften unter dem Deckmantel des Restaurantbesitzers nachging. Wahrscheinlich hatte er sich geweigert, den Bandidos oder einer anderen Gruppierung Schutzgeld zu zahlen. Von welcher der Banden er erpresst wurde, war noch nicht geklärt. Leute, die freiwillig oder unfreiwillig mit Rockerbanden zu tun bekommen, reden nie mit der Polizei. Die meisten Menschen besitzen einen gewissen Überlebenswillen. Zwischen Asir und Bandidos stand es nach den Morden mit einem Toten pro Gruppe eins zu eins. Die Frage lautete nicht, ob es zur Vergeltung kommen würde, sondern wann, und wer zuerst zurückschlagen würde.
Kriminalinspektorin Irene Huss hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie hatte immer noch das Bild der toten Alexandra vor Augen. Als sie das Gesicht des Mädchens betrachtet hatte, war ihr etwas aufgefallen, was der vorläufige Obduktionsbericht bestätigte. Um den Hals des Mädchens lag fest angezogen eine Art Plastikleine, vielleicht eine dünne Wäscheleine. Zweifelsfrei war es Mord.
Die Begegnung mit den Eltern am Vortag war wie üblich furchtbar gewesen. Irene und Jonny wollten am Nachmittag noch einmal nach Torslanda fahren, um ein weiteres Mal mit ihnen zu sprechen und sich dann auch das Zimmer des Mädchens anzusehen. Die Spurensicherung würde hoffentlich im Verlauf des Vormittags ihre Arbeit dort abschließen.
Die Tür zum Korridor stand auf. Die Kriminalbeamten warteten auf ihre Chefin Efva Thylqvist. Wahrscheinlich würde der stellvertretende Kommissar gleichzeitig eintreffen. Das war Tommy Persson, der zusammen mit Irene die Polizeihochschule besucht hatte.
Nach dem Examen waren Irene und Tommy beide nach Göteborg gekommen, jetzt arbeiteten sie schon seit mehr als zwanzig Jahren zusammen. Sie hatten sich die ganze Zeit über sehr nahe gestanden, ungewöhnlich nahe für Kollegen unterschiedlichen Geschlechts. Und es hatte natürlich zu Gerüchten Anlass gegeben. Da diese jedoch vollkommen unbegründet waren, hatte ihre Freundschaft fortbestanden. Ehe Tommy und Agneta sich vor vier Jahren scheiden ließen, hatten sich die Familien recht oft getroffen. Manchmal waren sie sogar gemeinsam in den Urlaub gefahren. Sie hatten gegenseitig die Patenschaft für ihre Kinder übernommen. Achtzehn Jahre lang hatten sich Irene und Tommy außerdem ein Büro beim Dezernat für Gewaltverbrechen geteilt. Bis vor einem Jahr, da war ihr alter Chef, Kommissar Sven Andersson, zur Cold-Cases-Gruppe versetzt worden, und das Dezernat hatte eine neue Leitung bekommen.
Irenes und Tommys ehemaliges gemeinsames Zimmer hatte ganz am Ende eines Korridors gelegen, weit vom Eingang entfernt. Doch Kommissarin Efva Thylqvist wollte ihren Stellvertreter in der Nähe haben, so dass die Räume rasch umverteilt worden waren und Tommy jetzt das Zimmer neben der Kommissarin hatte, ganz am anderen Ende des Korridors.
»Das ist doch sicher nett, nach so vielen Jahren endlich ein eigenes Zimmer zu bekommen«, hatte Efva Thylqvist gesagt und ihre manikürte Hand leicht auf Irenes Arm gelegt.
Doch Irene empfand ein eigenes Zimmer überhaupt nicht als angenehm, nur als einsam. Jetzt hatte sie niemanden mehr, mit dem sie reden oder an dem sie ihre Ideen erproben konnte. Es hatte sie sehr viel Selbstüberwindung gekostet, die Hand der Kommissarin nicht einfach abzuschütteln.
Das war überhaupt das Problem mit Kommissarin Efva Thylqvist. Zunächst hatten alle einen sehr guten Eindruck von der neuen Chefin gehabt. Sie war freundlich und schien aufrichtig an ihren neuen Mitarbeitern interessiert. Nach einer Weile hatte Irene jedoch einsehen müssen, dass ihr Interesse vor allen Dingen die Männer betraf. Männer lächelte sie immer an und nahm sich Zeit für angeregte Gespräche mit ihnen. Alle Männer des Dezernates waren sehr von ihr eingenommen. Efva Thylqvist war eine hübsche Brünette Anfang vierzig mit kräftigem schulterlangem Haar. Sie war schlank, besaß aber trotzdem Rundungen an den richtigen Stellen. An ihr sah auch ein äußerst konservatives Kostüm noch gut aus, und die Blusen und Tops, mit denen sie ihre Kostümjacken kombinierte, waren in der Regel tief ausgeschnitten. Außerdem trug sie immer hohe Absätze. Irene vermutete, dass sie so ihre geringe Größe ausgleichen wollte. Sie selbst kam sich mit ihren 1,80 m ohne Schuhe plump vor, wenn sie neben ihrer zierlichen Chefin stand.
Sie waren etwa gleich alt, Irene vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Gerüchten zufolge war Efva Thylqvist zu Beginn ihrer polizeilichen Karriere verheiratet gewesen. Ihr Mann sei jedoch recht rasch von der Bildfläche verschwunden. Jedenfalls hatte sie keine Kinder. Auch von ein paar Beziehungen mit Vorgesetzten war die Rede, einige von ihnen angeblich verheiratet. Der Wahrheitsgehalt dieser Gerüchte ließ sich natürlich nicht überprüfen. Wenn sie es positiv sehen wollte, dachte Irene, dass dies genau dem Gerede entsprach, gegen das jene Frauen zu kämpfen hatten, die die Männer auf der Karriereleiter überholten. Sie hielt es allerdings auch nicht für vollkommen ausgeschlossen, dass ein Körnchen Wahrheit daran war. Es lag auf der Hand, dass Kommissarin Thylqvist eine glänzende Karriere hingelegt hatte. Und Irene tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie wohl kaum bis zu ihrer Pensionierung im Dezernat für Gewaltverbrechen bleiben würde.
Nach etwa einem Monat hatte Irene erkennen müssen, dass sich ihre neue Chefin nicht sonderlich für ihre Ansichten interessierte. Die Kommissarin wandte sich selten persönlich an Irene, nicht einmal, wenn es um etwas Wichtiges ging. Meist schickte sie einfach eine Mail. Einmal hatte sich Irene vorsichtig erkundigt, warum sie ihr eigentlich immer Mails schickte. Mit einem kleinen Lächeln hatte Efva Thylqvist erwidert: »Damit mir der weite Weg erspart bleibt.« Irenes Büro lag eben ganz hinten, weit vom Zentrum der Macht entfernt. So hatte Irene das jedoch früher nie erlebt. Im Gegenteil, Tommy und sie hatten die Lage ihres Zimmers immer als ideal empfunden. Sie hatten dort die nötige Ruhe für ihre Arbeit gehabt und um offen über alles zu reden.
Jetzt landeten vor allem Routineangelegenheiten auf Irenes Schreibtisch, und sie fühlte sich immer stärker zurückgesetzt. Ihr Selbstvertrauen hatte einen Knacks erhalten, das erkannte sie nun. Aber manchmal ging es auch aufwärts, wenn sie mal wieder an der operativen Arbeit teilnehmen durfte. Wie gestern, als die Sache mit dem toten Mädchen in Nötsund reingekommen war. Aber das hatte wohl hauptsächlich daran gelegen, dass außer Jonny und ihr niemand verfügbar gewesen war.
Ein anderer Grund, warum sich Irene einsam fühlte, war, dass Birgitta Moberg-Rauhala vom Dezernat beurlaubt war. Letzten Herbst hatte sie ihr Jurastudium aufgenommen. Sie musste noch mindestens ein Jahr weiterstudieren, anschlie ßend konnte sie sich um gehobene Positionen innerhalb der Polizei bewerben. Als sie vor etwa einem Monat rasch zusammen zu Mittag gegessen hatten, hatte Birgitta angedeutet, dass sie vielleicht noch länger studieren würde und dass sie überlege, ob sie nicht Anwältin oder Staatsanwältin werden sollte. Das Studium lief gut, und sie hatte Blut geleckt. Ihr Mann, Hannu Rauhala, arbeitete noch beim Dezernat und war laut Birgitta mit allem einverstanden. Ihr Sohn Timo war inzwischen fast fünf, und sie hatten entschieden, dass sie keine weiteren Kinder wollten. Die Trauer nach einer späten Fehlgeburt, die Birgitta vor einigen Jahren erlitten hatte, war einfach zu groß gewesen. Hannu hatte damals seinen Kollegen vom Dezernat nichts davon erzählt. Der eisig blonde Finne aus dem Tornedal hatte sich wie immer nichts anmerken lassen.
Irene war im Augenblick die einzige weibliche Inspektorin des Dezernats, und sie hegte den Verdacht, dass das Kommissarin Efva Thylqvist ausgezeichnet passte.
Gerade, als sie diesen Gedanke hatte, betrat die Kommissarin gefolgt von Tommy Persson das Besprechungszimmer.
»Guten Morgen allerseits. Sind alle mit Kaffee versorgt?«
Efva Thylqvist ließ ihren Blick über die Belegschaft schweifen und lächelte. Irene fiel auf, dass der Blick der Kommissarin rasch an ihr vorbeigeglitt. Sie hatte den Eindruck, dass sie es vermied, ihr in die Augen zu schauen. Geradezu so, als befände sie sich nicht im Zimmer. Auf dem hübschen Gesicht Fredrik Stridhs blieb der Blick der Kommissarin jedoch haften. Dieser war frisch verheiratet und würde Ende August Vater werden. Zum allgemeinen Erstaunen hatte sich der ewige Junggeselle und Schürzenjäger des Dezernats vergangenes Frühjahr auf einer Urlaubsreise nach Barcelona bis über beide Ohren in eine Krankenschwester verliebt. Dann war alles rasend schnell gegangen: Heirat an Sylvester, Umzug in eine größere Wohnung, und jetzt war auch schon was Kleines unterwegs.
In diesem Augenblick keimte ein seltsames Gefühl in Irene auf. Sie erkannte es schwach wieder und realisierte, dass es schon eine ganze Weile in ihr geschwelt haben musste. Es dauerte eine Weile, bis sie dieses Gefühl identifiziert hatte. Wut. Sie war schlicht und ergreifend wütend. Im nächsten Augenblick fasste sie einen Beschluss. Jetzt kam es auch nicht mehr darauf an, sie würde sich von Efva Thylqvist nicht mehr wie ein minderwertiges Wesen behandeln lassen. Sie würde sich mit der verächtlichen Haltung dieser Frau nicht länger abfinden, auch, wenn es nicht leicht werden würde. Kommissarin Thylqvist war die Chefin, und sie würde nicht zögern, ihre Position klar zu machen, wenn sie sich bedroht fühlte.
Vor sich auf dem Tisch hatte Jonny Blom den vorläufigen Obduktionsbericht über Alexandra Hallwiin liegen. Irene beugte sich vor und schnappte sich die Papiere, bevor er reagieren konnte. Er warf ihr einen wütenden Blick zu und öffnete den Mund, als wollte er protestieren. Irene lächelte ihm jedoch beruhigend zu, und der Ärger in seinen Augen wich allmählich einer gewissen Verwirrung. Ehe er noch etwas sagen konnte, ergriff die Kommissarin das Wort:
»Jetzt fangen wir an.«
Sie lächelte und sah Fredrik Stridh an.
»Was Neues über die Autobombe?«
Er schien sich über ihre Aufmerksamkeit zu freuen und antwortete rasch:
»Nein. Aber wir haben einen neuen Zeugen, den ich heute treffe. Ein Mann war mit seinem Hund spazieren und bemerkte einen Benz, ein älteres Modell, der neben dem nigelnagelneuen Jaguar von Holken ›der Hüne‹ Hansson parkte. Der Zeitpunkt ist interessant. Es war etwa Viertel nach elf. Der Hüne verließ zur üblichen Zeit sein Restaurant, also kurz nach halb zwei. Wie wir wissen, knallte es, als er die Tür öffnete.«
»Wie schwer wurde er eigentlich am Fuß verletzt?«, erkundigte sich Kommissarin Thylqvist.
»Nur eine Fleischwunde. Die Sprengkraft der Bombe war auf die Beifahrerseite gerichtet. Wahrscheinlich war sie falsch platziert.«
»Verdammte Stümper. Können die denn nie was richtig machen?«, sagte Jonny Blom halblaut.
Efva Thylqvist verzog leicht den Mund und wandte ihm ihre Aufmerksamkeit zu.
»Hat sich im Alexandra-Fall was ergeben?«
Ehe Jonny noch etwas sagen konnte, ergriff Irene die Initiative.
»Durchaus. Wir haben heute Morgen den vorläufigen Obduktionsbericht bekommen. Die Gerichtsmedizin wird ihn heute am Spätnachmittag noch ergänzen. Mit dem endgültigen Bericht können wir vermutlich erst in ein paar Tagen rechnen«, sagte sie.
Rasch überflog sie die Papiere, die vor ihr lagen.
»Die Identifizierung ist zweifelsfrei, Zahnstatus und Röntgenaufnahmen des Gebisses. Es handelt sich um Alexandra Hallwiin. Sie verschwand in der Walpurgisnacht, und wahrscheinlich lag sie von da an im Wasser. Also circa vier Tage. Als man sie fand, hatte sie ein fest angezogenes, dünnes Elektrokabel um ihren Hals. Mit größter Wahrscheinlichkeit wurde sie also erdrosselt. Abgesehen von einem schwarzen Spitzen-BH war sie nackt. An der Innenseite der Oberschenkel und an den Brüsten fanden sich mehrere zentimetertiefe Schnittwunden. Es handelt sich jedoch nicht um Stichverletzungen, der Täter hat die Haut vielmehr mit einem Messer eingeritzt. Verletzungen des Anus und der Vagina deuten auf Penetration mit einem stumpfen Gegenstand hin. Obwohl die Obduktion noch nicht abgeschlossen ist, lässt sich schon jetzt sagen, dass die Tote sexueller Gewalt ausgesetzt worden ist. Auch der Unterleib weist Messerschnitte auf. Dem Gerichtsmediziner zufolge hat der Mörder versucht, ihr ein Muster in die Haut zu ritzen.«
Irene beendete ihre Lektüre und sah von ihren Papieren hoch. Efva Thylqvist betrachtete sie mit ausdrucksloser Miene. Schließlich wandte sie sich an Jonny und fragte:
»Und es gibt immer noch keine Zeugen, die Alexandra gesehen haben, nachdem sie kurz nach sechs am Vorabend des 1. Mai verschwunden ist?«
»Nein«, antwortete Irene schnell, noch ehe Jonny den Mund öffnen konnte.
Ohne Irene anzusehen, sagte die Kommissarin mit neutraler Stimme:
»Jonny ist für die Alexandra-Ermittlung verantwortlich.«
Dann wandte sie sich rasch an Hannu Rauhala:
»Was wissen wir bislang über das andere Mädchen?«
»Sie konnte ebenfalls mit Hilfe des Zahnstatus identifiziert werden. Moa Olsson. Geboren am 2. September 1992. Fünfzehn Jahre alt«, antwortete Hannu.
Alexandra Hallwiin ist fast genau ein Jahr jünger gewesen als Moa, dachte Irene.
»Sie wohnte nicht sonderlich weit vom Fundplatz entfernt. Luftlinie sind es nur zweieinhalb Kilometer. Sie wohnte in der Salviagatan. Ihre Leiche fand man in dem Wäldchen am Gårdstensbergen. Diesem Naherholungsgebiet mit Fitnessparcours. Aber an dem 1.-Mai-Wochenende war es kalt und regnerisch. Deswegen waren dort also nicht sonderlich viele Leute unterwegs. Laut ihrer Mutter ist Moa schon am Wochenende zuvor von zu Hause verschwunden. Wahrscheinlich am Sonntag, den 28. April. Die Mutter heißt Kicki Olsson und bezieht Frührente. Psychische Probleme und Alkoholmissbrauch. Sie ist am Sonntagmorgen um neun Uhr nach Hause gekommen und erinnert sich nicht, ob Moa zu Hause war, glaubt es jedoch.«
»Wann wurde sie vermisst gemeldet?«
»Am Dienstag.«
»Dann war sie also … sieben oder acht Tage lang verschwunden«, meinte die Kommissarin und dachte einige Augenblicke lang nach.
»Wer hat sie vermisst gemeldet?«, fragte sie dann.
»Ihre Mutter. Sie war zu diesem Zeitpunkt wieder einigermaßen nüchtern«, antwortete Hannu sachlich.
»Also ernste Alkoholprobleme«, konstatierte die Kommissarin.
»Ja. Es gab auch einen älteren Bruder, der sich vor drei Jahren zu Tode gefahren hat. Mit siebzehn, ohne Führerschein und betrunken. Eine Viertelstunde bevor es knallte hatte er das Auto am Angereds Torg gestohlen. Anschließend war Kicki Olsson arbeitsunfähig.«
»Was für eine Arbeit hatte sie vorher?«
»Putzfrau bei IKEA in Bäckebol.«
Die Kommissarin sah ihn nachdenklich an.
»Gibt es in der Familie auch einen Vater?«
»Keiner, der dort gemeldet ist. Die Kinder hatten verschiedene Väter.«
»Hm. Wir müssen die Väter überprüfen. Beide. Außerdem müssen wir die Frage klären, ob die Mutter einen neuen Mann hatte. Diesen müssten wir dann auch überprüfen. Was haben die Gerichtsmediziner über die Todesursache herausgefunden?«
»Sie können noch nichts mit Sicherheit sagen. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt. Tiere hatten sich an der Leiche zu schaffen gemacht. Sie haben entomologische Proben entnommen. Nach Einschätzung der Ärzte hat sie wahrscheinlich mindestens eine Woche dort gelegen. Auch gibt es Anzeichen für sexuelle Gewalt. Gewisse Verletzungen deuten darauf hin. Sie war vollkommen nackt. Der Hund, der die Leiche fand, kam mit ihrem Slip in der Schnauze angelaufen. Er war offenbar runtergefallen, als der Mörder die Leiche den Berg hochgeschleppt hat, um sie in der Felsspalte zu verstecken.«
»Berg? Ist er mit der Leiche einen Berg hochgeklettert?«, fragte Jonny entgeistert.
»Eine felsige Anhöhe. Ein schmaler Pfad führt hinauf«, erwiderte Hannu.
»Kann man mit dem Auto bis zu dieser Anhöhe heranfahren?«, wollte Tommy Persson wissen.
»Ja. Etwa hundert Meter vom Fundort entfernt gibt es einen Parkplatz. Von dort führt ein Weg bis zu dem Hügel. Ein Kiesweg, der jedoch mühelos befahrbar ist. Die Kriminaltechniker haben einige Reifenabdrücke gesichert. Das Problem ist allerdings, dass es nach ihrem Verschwinden so viel geregnet hat.«
Die Kommissarin nickte. Dann zuckte sie zusammen, als sich Irene erneut zu Wort meldete.
»Irgendwie ist es im Augenblick alles etwas viel. Die laufenden Ermittlungen türmen sich, und ständig kommen neue dazu … Ich würde gerne wissen, wann wir eine Vertretung für Birgitta bekommen?«, fragte sie ruhig.
»Für diese Diskussion haben wir jetzt keine Zeit«, fertigte sie die Kommissarin ab.
»Aber ich glaube, dass wir alle gerne wissen würden, ob die Möglichkeit besteht, Verstärkung zu bekommen«, fuhr Irene fort.
»Robert Backman wurde uns für drei Monate zugeteilt«, antwortete Efva Thylqvist schroff.
»Ja. Aber das war vor Weihnachten. Anschließend hatten wir dann keinen Ersatz mehr für Birgitta.«
Du sparst Geld, dachte Irene und bemühte sich um eine unergründliche Miene. Man sah Efva Thylqvist ihre Verlegenheit an.
»Das ist nicht so einfach … ab Juni machen alle Urlaub«, wehrte sie sich.
»Ich bin Irenes Meinung. Seit Neujahr und bereits das ganze Frühjahr hindurch stehen wir unter enormem Druck. Wir brauchen so bald wie möglich eine Vertretung.«
Irene war überrascht und erstaunt, dass sich Tommy auf ihre Seite schlug. Die Verlegenheit der Kommissarin nahm noch weiter zu, und es gelang ihr nicht mehr, ihren Ärger zu überspielen.
»Alle Dezernate haben dasselbe Problem! Es gibt niemanden. Birgitta Mobergs Sabbatical endet im August. Vielleicht kommt sie dann ja zurück.«
»Das tut sie nicht«, sagte Hannu.
Er musste das schließlich wissen. Nicht einmal Efva Thylqvist erdreistete sich, ihm zu widersprechen. Stattdessen hellte sich ihre Miene plötzlich auf, und sie meinte freundlich:
»Ach? Hat sie sich entschlossen, weiterzustudieren? Aber dann müssen wir uns ja an diese neue Gegebenheit anpassen.«
Die Kommissarin lächelte weiter.
Als hättest du das nicht schon gewusst, dachte Irene. Hannu und sie wussten, dass Birgitta schon vor mehreren Wochen die Verlängerung ihrer Beurlaubung beantragt hatte.
Die Gegensprechanlage knisterte.
»Hallo? Sind Sie da? Frau Kommissarin Thylqvist?«, fragte eine Frauenstimme.
»Ja. Ich bin hier«, antwortete die Kommissarin und beugte sich zu dem Kasten auf dem Tisch vor.
Du bist Efva wirklich ganz schön angegangen«, meinte Tommy Persson.
Irene saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. Sie wandte sich ihm zu und betrachtete sein Profil. Konnte es sein, dass seine Stimme vorwurfsvoll klang?
»Irgendjemand musste das endlich mal sagen. Danke, dass du für mich Partei ergriffen hast«, erwiderte sie leichthin.
»Ich bin ganz deiner Meinung, dass die Arbeitsbelastung langsam unhaltbar ist. Aber vielleicht war es ja nicht der richtige Zeitpunkt, das zur Sprache zu bringen.«
Er hielt seinen Blick immer noch auf die Straße gerichtet. Irene kam es vor, als wollte er etwas sagen und wagte nicht, damit herauszurücken.
»Vielleicht nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass es irgendwie nie der richtige Zeitpunkt ist, Probleme im Dezernat zur Sprache zu bringen. Mit diesen beiden Mädchenmorden … wird es einfach zu viel. Das war mein Eindruck. Irgendjemand musste etwas sagen.«
»Efva ist sehr ehrgeizig und will natürlich, dass die Arbeit im Dezernat so reibungslos wie möglich erledigt wird. Sie hat aber auch selbst viel um die Ohren. Ich sehe schließlich, wie sie sich abrackert …«
Tommy beendete den Satz nicht. Es war deutlich, dass er für die Kommissarin in die Bresche sprang. Das stimmte Irene zwar etwas traurig, erstaunte sie aber kaum. Efva Thylqvist war eine gute Polizistin und konnte außerdem unerhört charmant sein, wenn sie nur wollte. Und soweit Irene wusste, war sie Tommy gegenüber immer charmant, und er hatte sich jetzt ein Jahr lang im Bannkreis dieser Frau aufgehalten.
»Jonny hat ein richtig langes Gesicht gemacht, als du darauf bestanden hast, mit mir zusammen zum Korsvägen zu fahren«, fuhr er fort.
»Efva hat doch gesagt, er solle die Alexandra-Ermittlung leiten. Da fand ich es nur selbstverständlich, dass er auch den Bericht schreibt. Schließlich fällt das in seine Zuständigkeit«, meinte Irene unbekümmert.
Sie war sogar sehr zufrieden damit, wie sie die Situation gemeistert hatte. Denn wenn es der Kommissarin so wichtig war, Jonny die Verantwortung für diese Ermittlung zu übertragen, dann konnte er auch die langweilige Schreibarbeit übernehmen. Schließlich war sie nicht seine Privatsekretärin. Ihm war nicht mal eine gute Ausrede eingefallen. Widerwillig hatte er sich den vorläufigen Obduktionsbericht geschnappt, der vor Irene gelegen hatte, ehe diese mit einem leichten Lächeln das Besprechungszimmer verlassen hatte.
»Vergiss nicht, wohin wir auf dem Weg sind. Eine weitere Leiche. Offenbar eingemauert. Mit etwas Glück ist es hundert Jahre her, dass sie hinter Stein verschwand. Ansonsten haben wir einen weiteren Mordfall am Hals«, sagte sie in derselben unbeschwerten Art, die sie schon während der gesamten Autofahrt an den Tag legte, die allerdings auch nicht sonderlich lange währte. Denn vom Präsidium zum Korsvägen war es nur ein knapper Kilometer.
 
Dort angekommen stiegen sie eine Leiter in den Keller hinunter und kletterten dann über Schutthaufen. Der Bauleiter Göran Jansson führte sie zum Schornstein. Der Durchmesser des Loches in der Mauer betrug etwa einen halben Meter, und es lag ungefähr einen halben Meter über dem Boden. Aus dem Loch hing ein Jackenärmel in einer dunklen Farbe, aus dem eine Hand hervorragte.
Irene und Tommy traten auf das Loch zu und schauten hinein. Die Leiche saß vornübergebeugt in dem Hohlraum. Im Lichtstrahl ihrer Taschenlampe grinste sie ein Totenschädel mit eng über den Knochen gespannter pergamentbrauner Haut an. Die gelbweißen Zähne funkelten.
»Eine Mumie«, stellte Irene fest.
»Der Kleidung nach zu urteilen ein Mann«, meinte Tommy.
Irene versuchte, sich ein besseres Bild von der Kleidung des Leichnams zu verschaffen. Er war von einer dicken Mörtelund Staubschicht überzogen, die beim Abbruch entstanden war. Nur der Jackenärmel und ein Paar dunkle lange Hosenbeine waren deutlich zu sehen.
»Eine gefütterte Nylonjacke. Eine Art Daunenjacke, aber nicht so dick. Er ist keine hundert Jahre alt. Leider.« Sie seufzte.
»Wohl kaum«, pflichtete ihr Tommy bei.
»Ich glaube nicht, dass Efva erspart bleibt, eine Vertretung für Birgitta einzustellen. Wir haben dringend Hilfe nötig.«
Irene versuchte, nicht allzu aufmüpfig zu klingen. Ein Seitenblick Tommys verriet ihr jedoch, dass er ihren Tonfall sehr wohl zu deuten wusste. Statt zu antworten, wandte er sich an Göran Jansson.
»Wie kam es, dass Sie die Leiche entdeckten?«
»Das war wirklich furchtbar. Als die Kugel die Schornsteinwand durchschlug, sah es fast so aus, als würde sie mir den Arm entgegenstrecken. Ich sah, wie die Hand aus der Wand herausfiel. Da habe ich dann gleich Janne zugerufen, dass er die Abrissbirne stoppen soll. Aber … also diese Leiche … hat wohl trotzdem einiges abgekriegt. Der ganze Schutt, der da runterkam …«
»Sicher. Aber weil Sie so aufmerksam waren, konnte Schlimmeres doch noch verhindert werden«, meinte Tommy und lächelte ihm aufmunternd zu.
Göran Jansson antwortete mit einem schwachen Lächeln. Die Entdeckung der Leiche war ein unerwartetes und nervenaufreibendes Erlebnis. So etwas in einem Fernsehkrimi zu sehen war eine Sache, es in Wirklichkeit zu erleben etwas ganz anderes.
»Wollen Sie einen Kaffee?«, fragte er und deutete auf einen Bauwagen in einiger Entfernung zu der Ruine.
»Gerne. Wir müssen die Abrissstelle absperren, bis die Kriminaltechniker fertig sind. Sie sind im Augenblick noch anderweitig beschäftigt. Die Spurensicherung kann frühestens in einer Stunde da sein. Sie müssen die Arbeit einstellen, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind«, sagte Tommy.
Die Miene des Bauleiters verfinsterte sich einen Augenblick lang, aber dann sah er ein, dass er nichts machen konnte. Eine eingemauerte und mumifizierte Leiche ließ sich eben nicht ignorieren.
 
Sie standen vor dem Bauwagen und tranken den frisch aufgebrühten Kaffee. Die Sonne schien, und im Windschatten war es richtig angenehm. Irene lehnte sich an die Bretterwand und ließ ihr Gesicht von der Sonne bescheinen. Die Sonne hatte lange durch Abwesenheit geglänzt, wie ihre Mutter Gerd sich ausgedrückt hätte.
»Ich bin in dem Backsteinhaus da drüben aufgewachsen«, sagte Göran Jansson und deutete Richtung Mölndalsvägen.
Dann drehte er sich um und zeigte auf das Universeum und das Museum der Weltkulturen auf der anderen Seite des Kreisverkehrs.
»In den Holzhäusern, die dort standen, bevor dieses Angebermuseum gebaut wurde, wohnten meine Freunde.«
»Und wissen Sie auch, wer in diesem Haus wohnte?«, fragte Tommy und nickte in Richtung der Mauerreste vor ihnen.
»Nein. Im Erdgeschoss war eine Art Büro untergebracht. Aber es wohnten auch normale Mieter hier. Es gab zwei oder drei Wohnungen in dem Haus. Ich erinnere mich, dass eine meiner Lehrerinnen mit ihrer Schwester in einer dieser Wohnungen wohnte. Die beiden waren aber schon damals recht alt. Sie müssen schon recht lange tot sein.«
»Wann war das?«
Der Ingenieur dachte nach und antwortete dann: »Mitte der sechziger Jahre. Ich wurde 1962 eingeschult.«
»Soweit ich weiß, ist nur ein alter Mann, der im Augenblick in dem Haus wohnte, in den Flammen umgekommen«, fuhr Tommy fort.
»Ja. Im Erdgeschoss war ein Architekturbüro. Wir haben Überreste von Computern und Ähnlichem gefunden. Aber davon ist nichts mehr zu retten, das taugt nur noch für die Müllkippe.«
»Alles wurde also zerstört?«
»Ja. Das Feuer breitete sich in Sekundenschnelle aus. Sie haben den Alten nicht mehr retten können. Das ganze Haus brannte schon lichterloh, als die Feuerwehr eintraf.«
»Wissen Sie etwas über die Brandursache?«
Göran Jansson drehte sich um und deutete auf einen kleinen Tabak- und Süßwarenladen am Fuße der Treppen am Korsvägen.
»Keine Ahnung. Was ich weiß, hat mir Anna erzählt, die Frau, der der Tabakladen an der Ecke gehört. Wir kennen uns aus der Schule.«
»Sie ist also in diesem Viertel wohnen geblieben«, stellte Tommy fest.
»Ihre Eltern haben den Laden damals gekauft. Super Lage! Sie wohnt auch noch in derselben Wohnung, in der sie aufgewachsen ist.«
Göran Jansson deutete erneut zu dem Haus hinüber, in dem er seine Kindheit verbracht hatte.
»Nicht weit zur Arbeit«, meinte Tommy.
»Sie haben sonst nichts von Interesse in der Ruine gefunden?«, wollte Irene wissen.
»Nein. Oder vielleicht doch … ein Raum war mit leeren Flaschen vollgestellt. Aber die haben wir bereits weggeschafft. Ein ganzer Raum voll. Bis zur Decke!«
»Wein- und Schnapsflaschen, vermute ich?«
»Genau. Jemand muss wirklich ziemlich gesoffen haben.«
»Wo lag dieser Raum?«
»Am anderen Ende des Kellers, vom Schornstein aus gesehen.«
Sie tranken ihren Kaffee aus und dankten dem Bauleiter.
»Dann gehen wir jetzt und unterhalten uns mit Ihrer ehemaligen Schulkameradin mit dem Süßigkeitenladen. Wie heißt sie übrigens mit Nachnamen?«, fragte Tommy.
»Svensson. Anna Svensson. So hieß sie jedenfalls mit Mädchennamen. Weiß der Teufel, wie ihr Mann heißt. Die Tochter ist jedenfalls mit einem Neger verheiratet. Ich habe sie letzte Woche unten im Laden getroffen, als ich mir vor dem Abriss schon einmal einen Überblick verschafft habe.«
Irene biss die Zähne zusammen. Sie presste die Lippen aufeinander, damit ihr kein unbedachtes Wort entschlüpfte. Ein Neger. Ihre Tochter Katarina war seit zweieinhalb Jahren mit Felipe Medina zusammen, dessen Vater Brasilianer und dessen Mutter Schwedin war. Felipe war so dunkelhäutig, dass er sich so einiges anhören musste. Neger. Sie verabscheute dieses Wort. Felipe war farbig, dunkelhäutig, dunkel, was auch immer, aber er war kein Neger.
 
»Glaubst du, dass Anna Svensson oder wie immer sie jetzt mit Nachnamen heißt, etwas über unsere Mumie weiß?«, fragte Irene, als sie mit Tommy die Stufen zum Korsvägen hinunterging.
»Man kann es nie wissen. Falls einer der Bewohner des Hauses irgendwann mal verschwunden ist, müsste ihr das eigentlich zu Ohren gekommen sein. Schließlich hat sie ihr ganzes Leben lang hier gewohnt und gearbeitet. Das würde uns Zeit bei der Ermittlung sparen. Und dann würde ich auch noch gerne mehr über den alten Mann erfahren, der bei dem Brand umgekommen ist.«
Tommy hielt Irene galant die Türe auf, als sie den kleinen Laden betraten. Von dem Regal mit den Süßigkeiten und dem kleinen Backofen in der Ecke schlug ihnen ein süßlicher Geruch entgegen und vermischte sich mit dem Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee. Auf wenigen Quadratmetern sammelten sich Süßwaren, Tabakwaren, Zeitungen, eine Lottoannahmestelle und ein Café. Sogar ein kleines Stehtischchen hatte noch vor dem Schaufenster Platz gefunden. Das eigentliche Kunststück bestand jedoch darin, dass der Laden nicht unordentlich wirkte.
Mit Ausnahme einer hochschwangeren jungen Frau waren sie die Einzigen im Laden. Diese nahm gerade eine Zigarettenschachtel aus einem Karton und stellte sie auf ein Bord neben der Kasse. Sie trug das lange rote Haar hoch auf dem Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Hallo«, sagte sie und lächelte fröhlich.
Tommy ging auf sie zu, stellte sich und Irene vor und erkundigte sich, ob sie mit Anna Svensson sprechen könnten. Sie hätten ein paar ergänzende Fragen zu dem Brand des alten Holzhauses.
»Anna Svensson? Meine Mutter heißt Jonsén. So heißt sie jetzt auch schon seit fast dreißig Jahren«, entgegnete die junge Frau.
Sie stellte ein paar weitere Schachteln Marlboro auf das Bord und meinte dann: »Ich bin Petra.«
Ehe Tommy seine Frage noch wiederholen konnte, fuhr sie fort:
»Mama ist zu Hause. Vielleicht ist sie aber auch mit Felix draußen. Felix ist ihr Hund. Sie fängt hier immer erst um drei an.«
»Wohnen Sie auch in der Nähe?«, erkundigte sich Irene.
»Nicht wirklich … aber sonderlich weit ist es auch nicht. Ich wohne in Kålltorp.«
»Dann haben Sie den Brand vor drei Wochen also nicht beobachtet?«
»Nein. Es passierte erst am späten Abend. Mama und Papa haben es aber gesehen.«
»Können Sie uns die Adresse und Telefonnummer Ihrer Mutter geben? Es wäre gut, wenn wir diese Fragen möglichst rasch klären könnten«, sagte Tommy und lächelte.
Petra nickte und schrieb ihm beides auf einen Zettel.
Das Haus bestand aus düster braunroten Ziegelsteinen. Unerschütterlich ruhte es auf einem Fundament aus Granit. Über der Haustür stand die Jahreszahl 1906. Ein altertümlicher Fahrstuhl transportierte sie unter quietschendem Protest ins vierte Stockwerk.
Die Wohnungstür wurde geöffnet, und die Kriminalbeamten empfing nicht derselbe angenehme Duft wie eben. Die Wohnung war vollkommen eingeraucht. Ein schwarzer Zwergpudel kläffte und sprang an ihren Beinen hoch. Das wütende Kläffen hallte im Treppenhaus wider.
Anna Jonsén wirkte etwas farbloser als ihre Tochter, besaß aber denselben Körperumfang, der ihr jedoch nicht sonderlich zum Vorteil gereichte, schließlich war Petra hochschwanger. Anna Jonsén hatte jedoch ein nettes Gesicht, und sie war sorgfältig gekleidet mit einem Jeansrock und passender hellblauer Bluse. Ein Blau, das zu ihrer Augenfarbe passte. Ihr herzliches Lächeln wirkte echt.
»Treten Sie doch ein. Ich fürchte nur leider, dass ich Ihnen nicht sonderlich viel erzählen kann. Ich habe nicht gesehen …«
Der letzte Satz ging in einem Gemurmel unter, als sie vor ihnen her durch einen langen Flur ging, der in ein großes Wohnzimmer führte.
»Nehmen Sie doch Platz. Ich habe gerade Kaffee gekocht. Sie trinken doch sicher eine Tasse?«
Sie nahmen dankend an. Irene fand, dass der Tag doch noch gut angefangen hatte: Das würde ihre sechste Tasse vor dem Mittagessen.
Sie setzten sich auf seidenbezogene Stilmöbelsesselchen. Der dunkelaltrosa Stoff war wie der des Sofas stark verblichen. Die Sessel waren hart und unbequem. Eine kleine Kommode mit Marmorplatte schien ebenfalls zum Ensemble zu gehören. Auf der Platte standen gerahmte Fotos und kleine Puppen in Tracht. Durch eine offene Schiebetür sah Irene ein bequemes Ledersofa und einen dazu passenden Fernsehsessel mit Hocker. Offenbar das Fernsehzimmer mit der gemütlicheren Sitzgruppe, auf der Herr und Frau Jonsén ihre Zeit verbrachten, wenn sie allein waren. Irene konnte sie verstehen, denn die seidengepolsterten Möbel eigneten sich kaum zum Sitzen.
Anna Jonsén betrat mit einem Tablett das Zimmer und stellte es vorsichtig vor den Beamten auf den Tisch. Die noch lauwarmen Schnecken auf einem Teller dufteten nach Zimt. Vermutlich dieselben Zimtschnecken, die sie schon in dem Süßwarenladen gesehen hatten.
»Ihr ehemaliger Mitschüler Göran Jansson sagt, dass Sie hier schon Ihr ganzes Leben wohnen und einen guten Überblick über die Gegend haben«, begann Tommy.
»Guter Überblick ist zu viel gesagt. Das ist beim Korsvägen unmöglich. Hier herrscht immer ziemlich viel Verkehr, und so viele Leute kommen hier durch …«
»Das versteht sich natürlich. Ich dachte auch mehr an die Leute, die hier wohnen. Die müssten Sie doch eigentlich recht gut kennen.«
»Doch … vielleicht einige von ihnen.«
»Wir interessieren uns natürlich für alles, was Sie über das Haus wissen, das abgebrannt ist. Wir möchten gerne so viel wie möglich über den alten Mann erfahren, der dabei umgekommen ist. Aber vielleicht wollen Sie ja gerne erst etwas über sich erzählen.«
»Tja … meine Güte …«
Sie verstummte und schien nachzudenken. Dann holte sie tief Luft.
»Wir sind hierher gezogen, als ich fünf Jahre alt war. Vorher wohnten wir in Annedal. Papa kaufte den Tabakladen, und etwa gleichzeitig zogen meine Eltern in diese Wohnung hier. Ich war im siebten Himmel, denn ich bekam ein eignes Zimmer. Vorher hatten wir nur ein Zimmer und Küche und jetzt plötzlich drei Zimmer und eine Kammer. Stellen Sie sich das mal vor!«
Sie biss von ihrer Schnecke ab und kaute genüsslich, dann fuhr sie fort:
»Papa war herzkrank und starb 1973 an einem Herzinfarkt. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich schon seit ein paar Jahren mit im Geschäft. Ich habe es dann gemeinsam mit meiner Mutter weiterbetrieben, bis diese vor elf Jahren starb.«
Sie verstummte und biss sich auf die Unterlippe.
»Haben Sie vor elf Jahren auch in dieser Wohnung gewohnt?«, fragte Tommy.
Anna Jonsén lächelte zärtlich, als sie antwortete:
»Ich war ein Einzelkind. Meine Mutter war sehr lieb … Lasse und ich wohnten in einer Zweizimmerwohnung in Johanneberg. Als wir unser zweites Kind erwarteten, schlug meine Mutter vor, dass wir mit ihr die Wohnung tauschen sollten. Sie fand, ihre sei für sie allein zu groß, und wir bräuchten mehr Platz. Also tauschten wir. Das war 1982, in dem Jahr, in dem Jessica zur Welt kam.«
»Und jetzt werden Sie selbst Großmutter«, sagte Irene und lächelte sie an.
»Das bin ich bereits. Es ist Petras zweites Kind.«
Sie erhob sich, trat auf die kleine Kommode zu und griff zu einem Foto in der Mitte.
»Axel«, sagte sie stolz und reichte Irene ein gerahmtes Porträt.
Der Junge war vielleicht zwei Jahre alt. Er lachte den Fotografen an, und seine kleinen Schneidezähne hoben sich weiß von seiner dunklen Haut ab. Sein dunkelbraunes Haar war gelockt. Sein Blick sprudelte vor Lebensfreude. In der einen Hand hielt er ein kleines rotes Auto, das er an die Brust drückte.
»Großmutters Prinz«, sagte Anna Jonsén und stellte das Foto zurück.
Sie lächelte immer noch stolz, als sie wieder auf dem Sofa Platz nahm.
»Wissen Sie, ob hier in der Gegend mal jemand verschwunden ist?«, fragte Tommy.
»Verschwunden … wann denn?«, fragte sie ratlos zurück.
»Das wissen wir nicht recht. Wahrscheinlich im Laufe der letzten fünfzig Jahre.«
Anna Jonsén schüttelte den Kopf. Dann sagte sie:
»Davon weiß ich nichts. Das müsste ich eigentlich wissen … nein. Höchstens bevor wir hierher gezogen sind.«
Tommy nickte, fragte aber nicht weiter. Er wechselte das Thema.
»Erzählen Sie uns von dem Brand vor drei Wochen«, sagte er.
»Ich habe nicht gesehen, wie es angefangen hat. Erst als wir gerade zu Bett gehen wollten, hörte ich die Feuerwehr. Ich bemerkte, dass die Feuerwehrwagen ganz in der Nähe hielten. Und als ich aus dem Fenster schaute, sah ich das Holzhaus brennen. Das Feuer breitete sich in Windeseile im ganzen Haus aus. Das war ganz unheimlich. Dann sah ich auch schon die Feuerwehrleute … auch solche … wie heißt das schon wieder … mit solchen Rauchmasken. Sie versuchten Calle Adelskiöld zu retten. Es gelang ihnen jedoch nicht.«
»Hieß er so?«, unterbrach sie Tommy.
Er schrieb sich den Namen sicherheitshalber auf, obwohl man ihn wirklich leicht im Gedächtnis behalten konnte.
»Ja. Carl-Johan Adelskiöld. Er sagte immer, wir sollten ihn ruhig Calle nennen, Calle mit C. Er bestellte immer ganz bestimmte Zigarillos bei mir im Laden. Seine bevorzugte Sorte wurde dann nicht mehr importiert, und er ging die letzten Jahre zu Davidoff Long Panatellas über. Er kaufte sie immer freitags und gab gleichzeitig seine Tippscheine fürs Trabrennen ab. Immer ein ganzes Bündel! Damit fing er schon an, als er noch kaum hier eingezogen war.«
»Und wann war das?«
»Das war 1980, im selben Jahr, in dem Petra zur Welt kam.«
»Vor achtundzwanzig Jahren also«, meinte Irene.
»Ja. Er war in Rente gegangen und nach Göteborg zurückgekehrt. Er sagte immer, es sei schön, wieder in dem von ihm so geliebten Lorensberg zu wohnen.«
»Wissen Sie etwas über ihn? Hatte er Familie?«
»Soweit ich weiß nicht. Ich sah ihn immer nur allein. Doch, er hatte einen Cousin. Calle erzählte, dass sein Cousin und er beim Außenministerium angestellt gewesen seien. Besonders wenn er eine Fahne hatte, war er redselig. Und eine Fahne hatte er manchmal. Recht oft, um ehrlich zu sein.«
Sie lächelte nachsichtig. Ein älterer, alleinstehender Herr hatte wohl etwas Aufmunterung in Form eines Cognacs und einiger Zigarillos nötig. Dafür musste man Verständnis haben.
»Aber in den letzten Jahren war es recht oft sein Cousin, der die Zigarillos holte und die Tippscheine abgab. Calle war schließlich schon neunzig. Dieser Cousin ist allerdings auch nicht mehr ganz jung.«
»Rauchen und saufen und trotzdem neunzig werden. Ich frage mich, was diese Gesundheitsfanatiker dazu sagen würden?«, meinte Tommy und lächelte.
Anna Jonsén griff nach einer Schachtel Zigaretten und hielt sie ihnen einladend hin. Irene und Tommy lehnten ab. Sie zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief und genüsslich.
»Wissen Sie, wie dieser Cousin heißt?«, fragte Tommy.
»Nein. Er war nicht so gesprächig wie Calle.«
Sie unterbrach sich, hustete einige Male und fuhr dann fort:
»Er war durchaus nicht unfreundlich. Ganz und gar nicht. Aber er war … korrekter. Ein feiner Herr … gewissermaßen.«
Sie stellten Frau Jonsén ein paar weitere Fragen, kamen aber rasch zu dem Schluss, dass sie von dem alten Mann nicht viel mehr wusste.
Der kläffende Felix und sein freundliches Frauchen begleiteten sie zur Tür.
Jonny und ich fahren nach Torslanda«, sagte Irene und schlüpfte in ihre Jacke.
»Und ich muss also den Bericht über unsere Untersuchungen am Korsvägen schreiben«, stellte Tommy fest.
Seine Stimme klang säuerlich, und er versuchte das erst gar nicht zu verbergen. Irene tat so, als würde sie es nicht bemerken.
»Tja … die Chefin hat doch angeordnet, dass du dich um die Mumie kümmern sollst. Bye-bye!«
Mit einem spöttischen Lächeln verschwand sie durch die Tür seines neuen Dienstzimmers, das näher beim Zentrum der Macht lag als sein altes, sprich ihr jetziges.
 
Die protzige Villa aus sahneweißen Ziegeln lag auf einer Anhöhe. In der einen Richtung bot sich eine Aussicht über die Dächer der unterhalb gelegenen Häuser, in der anderen sah man auf den Torslandavägen. Das Haus hatte große Fenster und großzügige Terrassen in drei Himmelsrichtungen. Eine richtige Schärenvilla, die abgeschieden auf einer Halbinsel liegen müsste, dachte Irene. Aber dann hätte sie vermutlich ein paar Millionen mehr gekostet.
Der Garten war von einer grünenden Hecke umgeben. Bei der Auffahrt stand eine Garage. Ein schmiedeeisernes Tor trennte die gepflasterte Auffahrt von der Straße. Jonny drückte die vergoldete Klinke herunter, und sie gingen auf eine blau lackierte Haustür zu. In Kopfhöhe befand sich ein bullaugenrundes Fenster. Sie betonen wirklich das Maritime, dachte Irene, obwohl das Meer einige Kilometer entfernt liegt.
Die Haustür öffnete sich erst, nachdem Jonny eine Ewigkeit geklingelt hatte. Der Mann, der die Tür aufriss, war Alexandras Vater, Jan Hallwiin, den sie bereits am Vortag getroffen hatten. Da hatte er mit versteinerter Miene in einem Sessel gesessen und sich stumm Irenes Bericht angehört, wie die Polizei seine Tochter gefunden hatte. Seine Frau Marina war auf einem Hocker vor dem offenen Kamin niedergesunken und hatte geweint. Bereits da hatte es Irene verwundert, dass sich die Eltern so weit voneinander entfernt platziert hatten. Für gewöhnlich rückten Menschen, die Trauernachrichten erhielten, zusammen, umarmten sich und versuchten sich gegenseitig zu trösten. Jan Hallwiin hatte nicht den geringsten Versuch unternommen, sich seiner Frau zu nähern. Menschen, die einen Schock erlitten, benahmen sich aber oft irrational, auch das hatte Irene im Laufe der Jahre erlebt.
»Meine Güte, müssen Sie so klingeln!«, brüllte Jan Hallwiin.
Er stand schwankend in der offenen Tür. Auch aus mehreren Metern Entfernung merkte Irene, dass er alkoholisiert war.
»Wir haben uns für drei Uhr angekündigt«, erwiderte Jonny gelassen.
Jan Hallwiin entgegnete nichts, sondern sah sie nur mit seinen blutunterlaufenen Augen an.
»Dürfen wir reinkommen?«, fragte Irene.
Ehe er noch antworten konnte, hatten Jonny und sie sich auch schon an ihm vorbei in die Diele gezwängt. Sie behielten ihre Jacken an, obwohl es ein warmer Tag war. Jonny drehte sich zu dem Mann um, der immer noch die Tür aufhielt. Wahrscheinlich war es nur gut, dass er sich irgendwo abstützte.
»Ist Ihre Frau zu Hause?«
Jan Hallwiin deutete nach oben, sagte aber nichts. Daraus schloss Irene, dass Marina Hallwiin sich im Obergeschoss befand. Auf dem Weg nach oben vernahm Irene halbersticktes Schluchzen. Sie folgte dem Geräusch und öffnete eine angelehnte Tür.
Zweifellos war das Alexandras Zimmer. Ihre Mutter saß auf dem Bett. Sie hatte ihr Gesicht im Kopfkissen des Mädchens vergraben. Vielleicht versuchte sie, ihr Schluchzen zu ersticken. Vielleicht wollte sie auch den Geruch ihrer Tochter einatmen, der noch in dem Kissen hing.
Irene trat auf Marina Hallwiin zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Die Frau auf dem Bett zuckte zusammen.
»Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte Irene beruhigend.
»Nein … ich …«, murmelte Marina.
Ihr Gesicht war verquollen, und sie wirkte verwirrt. Vorsichtig beugte sich Irene über sie und atmete diskret, aber tief ein. Nur Schweiß und ein anderer undefinierbarer Geruch. Hatte Trauer einen Geruch? Zumindest hatte Marina Hallwiin keinen Alkohol getrunken.
Das Zimmer war groß und hell. An einer Wand stand ein breites Bett. Von der Decke hing ein durchsichtiger weißer Stoff. Irene wusste, wie beliebt solche Bettvorhänge bei Mädchen waren. Die Farben waren dafür relativ ungewöhnlich: ein kirschroter Bettüberwurf, limonengrüne Kopfkissen, ein rot-grün-weißgestreifter Teppich und weiße Wände, die aber nur zu ahnen waren, da sie mit Bildern von Pferden verschiedenster Rassen tapeziert waren. Eines der Bilder hatte sofort Irenes Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Über dem Bett hing ein großes Plakat eines schimmernden, kohlschwarzen Pferdes. Es bäumte sich mit wehender Mähne vor einem sommerblauen Himmel auf. Auf seinem Rücken saß ein junger Mann. Seine eingeölten, gebräunten Muskeln funkelten in der Sonne. Das war deutlich zu sehen, denn er war vollkommen nackt.
Auf dem Schreibtisch verrieten ein paar Kabel und ein Drucker, dass die Kriminaltechniker den Computer des Mädchens mitgenommen hatten.
»Bekommen wir … ihre Sachen zurück?«, schluchzte Marina Hallwiin.