Das Erbe des Apfelweinkönigs - Lutz Ullrich - E-Book

Das Erbe des Apfelweinkönigs E-Book

Lutz Ullrich

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Beschreibung

In einer Villa am Frankfurter Lerchesberg wird die bildschöne Erbin des legendären Apfelweinkönigs Heinz Wagenknecht ermordet. Auf dem Nachbargrundstück findet Kommissar Tom Bohlan die Tatwaffe und ein Foto, das eine alte Kelter in einem Kellergewölbe zeigt. Sehr schnell kommen die Kommissare zu dem Schluss, dass es sich dabei um den Hinweis auf ein weiteres Verbrechen handelt. Ein spannender Wettlauf mit der Zeit beginnt … Die Frankfurter Kripo ermittelt im Dunstkreis einer Apfelweindynastie, die ums Erbe streitet und dabei vor nichts zurückschreckt. Tom Bohlan jagt den Täter diesmal unter anderem in Eckenheim.

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LASP

Der Autor

Lutz Ullrich, Jahrgang 1969, studierte Politik und Rechtswissenschaften, schrieb für verschiedene Zeitschriften, betätigte sich in der Politik und arbeitet heute als Rechtsanwalt. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Frankfurt. Mehr Informationen gibt es unter www.lutzullrich.de.

In der Tom-Bohlan-Reihe sind bisher folgende Bücher erschienen:

Der Kandidat (2009)

Tod in der Sauna (2010)

Tödliche Verstrickung (2011)

Stadt ohne Seele (2012)

Mord am Niddaufer (2013)

Das Erbe des Apfelweinkönigs (2014)

Kristallstöffche (2015)      

Außerdem der Kurzkrimi:

Bohlan und das geheimnisvolle Manuskript

Alle Bücher sind auch als E-Book erhältlich

Das Erbe des Apfelweinkönigs

© 2016 Lutz Ullrich

Umschlag, Foto: Lutz Ullrich

Lektorat: Stefanie Reimann

LASP-Verlag, Schwalbach am Taunus – Frankfurt am Main

Satz: Udo Lange

ISBN 978-3-946247-17-3

www.lasp-verlag.de

www.lutzullrich.de

Neubearbeitete Ausgabe.

Die Originalausgabe ist 2014 im Röschen-Verlag erschienen.

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

Inhaltsverzeichnis

Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.

Prolog

Alina empfing ihren Gast mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen, das Freude und Aufgeschlossenheit signalisierte. Tatsächlich war es eine Maske, die ihre wahren Absichten verbarg. Sie hatte die oberen Knöpfe ihrer Bluse offen gelassen und den Rock ein wenig höher gezogen. Beides betonte ihre Figur und ließ erahnen, welche Reize das bisschen Kleidung verdeckte. Wäre doch gelacht, wenn ihre Fähigkeit, Männer zu verführen, diesmal nicht von Erfolg gekrönt wäre. Sie war fest entschlossen, alles dafür zu geben, um ihrem großen Ziel einen weiteren Schritt näher zu kommen. Mit ihrem Charme und ihren Reizen hatte sie es schon sehr weit gebracht. Sie besaß eine Villa in Frankfurts bester Lage. Sie fuhr ein teures, schnelles Auto und ihr Bankkonto war so gefüllt, dass sie bis zu ihrem Lebensende ausgesorgt hatte. Doch das war ihr nicht genug. Sie wollte mehr. Mehr Geld, mehr Macht, mehr Einfluss.

„Hallo, komm doch rein.“ Sie hauchte die Begrüßung eine Nuance tiefer, als es ihrer natürlichen Stimmlage entsprach.

Der Besucher ließ seinen Blick kurz über ihren Körper gleiten, während sie ihm die Wange hinhielt. Alina hatte pechschwarze lange Haare und einen sehr blassen Teint. Ihre grünen Augen verliehen ihr etwas Katzenhaftes.

Er verharrte auf der Türschwelle. Schließlich gab er sich einen Ruck und begrüßte sie mit der begehrten Geste. Küsschen links, Küsschen rechts. Der moosig holzige Duft von Paloma Picasso drang in seine Nase.

„Leg doch ab.“

Er zog seine Jacke aus und gab sie ihr.

„Es ist an der Zeit, das Kriegsbeil zu begraben“, sagte sie, während sie die Jacke über einen Bügel hängte. „Findest du nicht auch?“

„Haben das nicht schon unsere Anwälte erledigt?!“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Er war bemüht, seine Stimme möglichst neutral klingen zu lassen. Die vielen schlaflosen Nächte, die er ihretwegen verbracht hatte, konnte er nicht von heute auf morgen verdrängen.

„Vergiss die Vergangenheit“, sagte sie und ging voraus ins Wohnzimmer.

Wie lange war es her, dass er in diesem Haus gewesen war? Zwei, drei oder sogar mehr Jahre? Er konnte sich nicht daran erinnern. Die Einrichtung war geschmackvoll und teuer. Jedenfalls schien sie das Geld nicht zu verramschen, sondern in stilvolle Accessoires zu investieren. Auf dem Couchtisch, der vor einem ausladend großen weißen Ledersofa stand, lag ein Tablett mit einer Flasche Champagner nebst zwei Gläsern.

„Wir sollten jetzt an die Zukunft denken. Schließlich werden wir sie gemeinsam verbringen.“ Sie setzte sich auf das Sofa und schlug die Beine übereinander. Er sah sich im Wohnzimmer um und riskierte einen Blick durch das Fenster hinaus in den gepflegten und weitläufigen Garten.

„Was stehst du so steif herum? Komm neben mich.“

Um der Aufforderung mehr Gewicht zu verleihen, strich sie mit der Hand über das glatte Leder. „Ein Glas Champagner wird dir die Hemmungen nehmen.“

„Ich bin nicht gekommen, um mit dir Champagner zu schlürfen“, entgegnete er.

„Nicht? Wollen wir gleich zur Sache kommen. Auch gut.“ Sie nippte an ihrem Glas, stand dann auf und schlenderte zu ihm. Als sie dicht vor ihm stand, legte sie ihre Arme um seinen Hals und spitzte die Lippen.

Er sah ihr einen Moment lang in die Augen. Sie drückte ihren schlanken Körper gegen seinen. Zweifelsohne war Alina eine begehrenswerte Frau. Aber er konnte sich unmöglich auf sie einlassen. Sie war nicht nur attraktiv, sondern auch hinterhältig, gefährlich und geldversessen. Das hatte er in den letzten Jahren zur Genüge spüren müssen. Und natürlich war das alles nur ein weiterer Versuch, um sich noch mehr Geld unter den Nagel zu reißen. Wenn er sich jetzt auf sie einließ, begönne er ein Spiel mit dem Feuer, das er unmöglich gewinnen konnte. Er legte seine Hände auf ihren Po und ließ sie über ihre Hüften gleiten. Dabei sah er ihr unentwegt in die Augen. Sie lächelte, fühlte sich auf der Siegerstraße. Seine Hände glitten weiter nach oben. Für einen Moment oblag er der Versuchung, über ihre Brüste zu streichen, doch er widerstand, wählte stattdessen den Weg zu ihren Armen, die immer noch um seinen Hals geschlungen waren. Er nahm ihre Hände. Gespannt wartete sie, was als Nächstes passieren würde. Doch sie wurde jäh enttäuscht. Seine Hände lösten ihren Griff und er ging auf Abstand. Unverständnis breitete sich über ihrem Gesicht aus.

„Ziehst du jetzt etwa den Schwanz ein?“

„Ich bin gekommen, um das Geschäftliche mit dir zu regeln.“

Er setzte sich auf das Sofa.

„Glaubst du etwa, dass du mir auf Dauer widerstehen kannst?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn herausfordernd an.

„Warum nicht?“

„Weil ich weiß, dass du schon lange auf mich scharf bist.“

„Wie kommst du darauf?“ Er lachte auf.

„Weil ich die Blicke sehe, die du mir heimlich zuwirfst. Weil ich deine Erregung spüren kann, wenn du mir nahe kommst.“

„Du überschätzt dich maßlos.“

„Ach ja?“

Sie kam aufreizend langsam zum Sofa. Sah ihm in die Augen, setzte sich auf seinen Schoß und begann ihre Bluse aufzuknöpfen. Er versuchte, an ihr vorbeizuschauen, doch die Ansätze ihrer Brüste lenkten ihn ab.

„Na, bekommst du Appetit?“

„Hör auf, Alina.“ Er schob sie unsanft zur Seite.

„Also gut. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“ Sie setzte sich ihm gegenüber auf einen der Sessel.

„Du willst mich nicht verstehen, oder?“

„Doch, doch. Du bist momentan nicht in Stimmung. Aber ich werde dich schon irgendwann herumbekommen. Ich bekomme immer, was ich will.“ Sie lächelte wieder. „Reden wir also über das Geschäft. Ich bin dafür, dass wir das Angebot der Russen annehmen.“

„Du weißt genau, dass das für mich nicht akzeptabel ist.“ Es fiel ihm schwer, die Fassung zu bewahren.

„Genau das ist der Punkt, den ich nicht verstehe. Wir verkaufen die ganze Firma und kassieren einen Haufen Kohle. Am Ende haben wir alle ausgesorgt und machen uns ein schönes Leben. Du kannst mit mir in die Karibik auswandern und ich besorg es dir jeden Tag. Kein Problem.“

„Du willst mich wirklich nicht verstehen.“

„Von mir aus kannst du das auch mit deiner Frau machen. Es ist für alle genug Kohle da.“

„Es geht mir nicht um das Geld. Ich will die Firma behalten. Sie ist mein Leben.“

„Ja, die Firma. Sie hat in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass wir alle gut von ihr leben konnten. Aber wer weiß, was die Zukunft bringt. Der Markt ist in Bewegung. Die Großen schlucken die Kleinen. Bist du dir sicher, dass wir mit dieser Entwicklung Schritt halten können?“

„Einen Versuch ist es allemal wert. Wir stehen so gut da wie seit Jahren nicht mehr.“

„Und genau das ist der Grund, jetzt zu verkaufen. Momentan können wir fast jeden Preis aushandeln.“

„Du redest schon wie Daniel. Dabei hast du dich doch sonst nicht für die Firmenpolitik interessiert.“

„Die Zeiten haben sich geändert. Jetzt interessiert es mich eben.“ Alina zuckte mit den Schultern und nippte an ihrem Glas.

„Wie auch immer. Du solltest noch einmal über meine Argumente nachdenken. Wenn du dir das alles in Ruhe durch den Kopf gehen lässt, wirst du einsehen, dass ich recht habe.“

„Ist das dein letztes Wort?“ Seine Stimme klang rau und belegt.

„Es gibt noch eine andere Lösung.“

Für einen Moment schlich sich Hoffnung in seine Gedanken.

„Du könntest mich auszahlen.“

„Welche Summe schwebt dir da vor?“

„Die Hälfte von dem, was uns die Russen zahlen würden.“

„Du spinnst komplett!“ Er sprang auf und stürmte wutschnaubend aus dem Zimmer.

Alina blieb sitzen. Als die Tür laut krachend ins Schloss fiel, schreckte sie kurz zusammen. Zugegebenermaßen war das Treffen nicht ganz so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte gedacht, leichter ans Ziel zu kommen. Aber es gab noch andere Mittel und Wege. Sie war der festen Überzeugung, am längeren Hebel zu sitzen. Nachdem sie den Rest des Glases geleert hatte, ging sie in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm den Rinderbraten heraus. Sie stellte ihn auf die Arbeitsplatte und sah aus dem Fenster hinaus in den Garten. Es war ein sonniger Tag. Der Himmel war blau und wolkenlos, die Vögel zwitscherten. Ab und an wurde die fast idyllische Ruhe allerdings von einem vorüberfliegenden Flugzeug gestört. Seit die neue Landebahn am Frankfurter Flughafen fertig war, kam dies leider immer öfter vor. Ein Grund dafür, dass sich die Stimmung in der Siedlung, die von Einfamilienhäusern und Villen geprägt war, deutlich verschlechtert hatte. Auch jetzt schwirrte wieder etwas durch die Luft. Allerdings war es sehr viel kleiner als ein normales Verkehrsflugzeug, flog deutlich leiser und auch bei weitem niedriger als die großen Jumbojets. Das Objekt schwebte beinahe lautlos über den Gartenzaun. Es sah aus wie ein Modellflugzeug und nahm nunmehr Kurs auf ihr Haus. Was hatte das zu bedeuten? Und wo kam es her? Das Nachbargrundstück, von dem aus sich das unbekannte Flugobjekt näherte, stand seit einiger Zeit zum Verkauf. In den vergangenen Wochen waren dort hin und wieder Makler mit Interessenten aufgetaucht, aber bislang hatte sich noch niemand zum Erwerb entschließen können. Das Flugobjekt schwebte jetzt vor dem Küchenfenster wie ein Helikopter vor der Landung. Es stand beinahe in der Luft. Alina stutzte, versuchte mehr von dem merkwürdigen Fluggerät zu erfassen. Vor einigen Wochen waren Meldungen durch die Gazetten gegangen, dass die großen Versandhäuser darüber nachdachten, die Bestellungen zukünftig durch Drohnen ausliefern zu lassen. Schwebte vor ihrem Fenster etwa ein Prototyp dieser Geräte? Oder war es ein Spionagehelikopter, den man auf sie angesetzt hatte? Das Ding flatterte immer noch vor ihrem Fenster. Fast schien es so, als grinste seine Schnauze sie an. Ein perfide wirkendes Lächeln. Hinterhältig und gemein. Sie lehnte sich nach vorne. Ihr Kopf war nur noch Millimeter von der Fensterscheibe entfernt. Was hatte das zu bedeuten? Irgendetwas blinkte jetzt an der Unterseite. War da nicht eine kleine Öffnung, die sich auf sie richtete? Das Blinken wurde stärker. Es erinnerte sie an einen Countdown. Plötzlich sonderte das Gerät einen Gegenstand ab. Er war nicht besonders groß. Ein kleiner giftiger Pfeil. War er metallen oder schwarz? Alina konnte es nicht genau erkennen. Genaugenommen war es auch kein Absondern. Es war ein Abfeuern. Und der Gegenstand raste mit einer irren Geschwindigkeit auf die Fensterscheibe zu, durchdrang sie in Sekundenbruchteilen und bohrte sich in Alinas Kopf. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. Oder war es Entsetzen? Die Zeit, die ihr noch blieb, reichte nicht aus, um das Geschehen in Gänze zu erfassen. Sie spürte, wie ihre Knie weich wie Butter wurden und schließlich einknickten. Sie taumelte und fiel rücklings auf den Küchenboden.

1.

Tom Bohlan, braungebrannt und um fünf Kilo leichter, saß auf der Terrasse eines runden Bungalows und blickte den Hang hinunter über sattes Grün. Viel weiter unten schimmerte das Mittelmeer, präziser gesagt die Istrische Adria. Links und rechts der Terrasse stand jeweils ein Olivenbaum. Ein Grashüpfer, der irgendwo in der Umgebung saß und auf Brautschau war, machte Lärm für eine ganze Kolonie. Aber das störte den Kommissar nicht. Bohlan war entspannt.

Seit fast zwei Wochen weilte er im kroatischen Nirgendwo. Kein Handy, kein Fernseher, keine Zeitung. Der nächste Supermarkt lag dreißig Kilometer entfernt, was eine Fahrt von über einer halben Stunde über Landstraßen bedeutete. Zwei Dörfer weiter gab es einen kleinen Laden, der die wichtigsten Grundnahrungsmittel führte. Der Ort, an dessen Rand sein Feriendomizil lag, war eher eine Ansammlung von Häusern. Es gab eine Kirche und ein kleines Restaurant. Straßennamen hingegen nicht. Jedes Haus hatte einfach eine Nummer. Es war genau der Ort, den Bohlan brauchte. Es war die Ruhe, nach der er sich gesehnt hatte. Nein, er litt weder an allgemeiner Erschöpfung noch brauchte er eine Burn-out-Prophylaxe. Er wollte einfach seine Ruhe haben. Andere wären in seiner Situation vielleicht in einen Single-Urlaub mit Dauerparty und Stampfmusik geflüchtet. Aber zu dieser Spezies gehörte Bohlan nicht. Er war jemand, der Problemsituationen mit sich alleine austrug. Seitdem sich das Horrorszenario als Realität entpuppt hatte, sah er dieser mit festem Blick in die Augen. Seine ExFreundin tobte mit einem Markus-Lanz-Verschnitt durch die Betten – eine unerträgliche Vorstellung. Aber was konnte er dagegen tun? Richtig. Überhaupt nichts. Er musste sein Leben neu ausrichten, und der beste Anfang dafür war, sich erst einmal von dem ganzen Rummel zurückzuziehen. Nach einiger Suche hatte er das Haus im Internet gefunden und sofort für zwei Wochen gebucht. Er war über Tausend Kilometer mit dem Auto gefahren und hatte dabei alte CDs gehört. Eagles, Stones, Toto und anderes, das seit Jahren ungehört in seinem Regal vor sich hin dümpelte.

Die Hausverwalter hatten ihn ein wenig irritiert angesehen, als er sie bei der Ankunft darum gebeten hatte, den Fernseher aus dem Haus zu entfernen. Zunächst hatten sie angeboten, das alte Röhrengerät gegen ein modernes auszutauschen, doch Bohlan hatte auch das ebenso brüsk wie resolut zurückgewiesen. Er wollte absolute Ruhe. Und dazu gehörten auch Abende und Nächte ohne Glotze. Natürlich hätte er es auch einfach unterlassen können, den Fernseher einzuschalten. Doch er wusste, dass er schwach werden würde, wenn die Langeweile ihn befiel und die Versuchung vor dem Sofa stand. Nach einigem Hin und Her hatten die Verwalter das Gerät in ihr Auto geschleppt und waren kopfschüttelnd davongerauscht, nicht ohne Bohlan zuvor auf die Möglichkeit hinzuweisen, das WLAN-Netz verwenden zu können. Natürlich gegen Aufpreis. Selbstredend hatte er auch diese Option freundlich abgelehnt. Die zwei Dutzend Bücher, die er sich eingepackt hatte, mussten als Unterhaltung für den Urlaub reichen.

Die Tage waren tatsächlich genauso eintönig und gleichmäßig verlaufen, wie er sich dies gewünscht hatte. Bohlan schlief, so lange er konnte, frühstückte auf der Terrasse und verbrachte den Vormittag in einer Hängematte, die zwischen zwei Feigenbäumen gespannt war. Wenn es ihm zu heiß wurde, sprang er in den Pool. Mittags aß er einen Salat und machte sich nach der Siesta auf den Weg zum Strand, wo er eine halbe Stunde im Meer schwamm und sich anschließend auf einem der Felsen sonnte. Gegen Abend lief er zurück zu seinem Bungalow, stellte sich unter die Dusche und brach gegen acht Uhr in den kleinen Ort auf, dessen einzige Attraktion ein kleines Restaurant war. Hier speiste er zu Abend, trank ein Bier und kehrte gegen zehn zurück. Bei Kerzenschein las er, gegen die Müdigkeit kämpfend, in einem der Krimis. Eigentlich las Bohlan keine Bücher, schon gar keine Krimis. Mord und Totschlag gab es in seinem realen Leben genug. Doch irgendwie hatte ihn die fixe Idee befallen, dass er aus dem Leben der fiktiven Kommissare Rückschlüsse auf sich selbst ziehen konnte. Erstaunlicherweise handelte es sich bei den meisten Krimihelden um wahrhaft verschrobene Existenzen. Einige soffen, andere kifften, wiederum andere hatten permanent Stress mit ihrer Frau. Die Krimiwelt wimmelte von neurotischen Gestalten, sexsüchtigen Ermittlern und lebensuntauglichen Kommissaren. Wirklich glücklich schien keiner von ihnen zu sein. Die Fiktion kam Bohlan seltsam real vor und doch machte ihm das Lesen Spaß. So verschroben die Kommissare auch waren, sie schafften es doch immer, den Fall aufzuklären und dabei zu überleben. Und das gab Bohlan Mut. Zur Hälfte des Urlaubs beschloss er daher, entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten, eine Postkarte zu schreiben. Aber nur eine einzige. Wahllos nahm er sie aus dem Kartenständer des kleinen Ladens. Er schrieb die Karte direkt vor Ort, versah sie mit einer Marke und warf sie in den Briefkasten. Es standen nur zwei Sätze drauf: „Danke für die Krimi-Tipps“ und „Freundliche Urlaubsgrüße an den besten Buchhändler der Welt“. Adressiert war die Karte an Udo Falkenstein, der in einer Buchhandlung im Nordwestzentrum arbeitete und das Lektürepaket zusammengestellt hatte. Tatsächlich reichten die Bücher genau für den Urlaub. Er hatte noch zwanzig Seiten in dem letzten Buch zu lesen und morgen würde er abreisen. Bohlan tauschte T-Shirt und Badeshorts gegen Hemd und Leinenhose und machte sich auf den Weg zum Restaurant. Bei dem Gedanken an den Teller mit frischem Fisch und Gemüse lief ihm das Wasser im Munde zusammen.

„Was ist los mit dir?“ Veronique Wagenknecht strich ihrem Mann über die Wangen. Sie lagen nebeneinander im Bett, hatten wieder einmal versucht, sich zu lieben.

„Ich weiß auch nicht“, entgegnete Johannes. Seine Stimme klang abwesend. „Es ist momentan einfach alles so viel. Der Stress in der Firma. Die Streitereien mit Alina. Die ungewisse Zukunft.“

Er sah Veronique an, versuchte, Blickkontakt zu ihr zu halten. Doch er schaffte es nicht. Ihre kiwigrünen Augen blickten besorgt zurück.

„Manchmal denke ich, es wäre das Beste, wenn du die Kelterei verkaufen würdest.“ Sie strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht.

„Die Kelterei verkaufen?! Niemals. Sie ist schon immer im Familienbesitz. Ich will nicht in die Geschichte als derjenige eingehen, der das, was Generationen vorher aufgebaut haben, an reiche Geldsäcke verscherbelt.“

„Das verstehe ich. Andererseits …“, Veronique brach ab.

„Was denn andererseits?“

„Es macht auch keinen Sinn, bis zur Erschöpfung zu schuften. Erst recht nicht, wenn dabei unsere Beziehung und unsere Familie in die Brüche gehen.“ Veronique hatte all ihren Mut zusammengenommen, um das Unaussprechbare zu sagen.

„Aber wir sind momentan auf einem wirklich guten Weg. Apfel trifft Holunder hat wie eine Bombe eingeschlagen und Niklas Volkmann hat noch ein Menge in petto.“

„Wenn du meinst.“ Veronique zuckte mit den Schultern und stand auf.

„Wo willst du hin?“, rief ihr Johannes hinterher. Doch sie hatte bereits die Schlafzimmertür erreicht.

„Ins Bad. Duschen“, rief sie über die Schulter zurück.

Im Bad angekommen, schlüpfte sie in die Kabine, zog die Tür hinter sich zu und betätigte den Duschknopf. Das Wasser prasselte auf ihre Haut. Es war eine Wohltat, die Körper und Seele wieder zum Leben erweckte. Sie nahm den Kopf in den Nacken und ließ das Wasser über ihre Haare sprudeln. Ihre Gedanken kreisten um Johannes. Seit geraumer Zeit war er meist gestresst und genervt. Er hatte nichts mehr gemeinsam mit dem Mann, in den sie sich einst verliebt hatte. Der ganze Ärger hatte kurz nach dem Tod seines Vaters angefangen. Heinz Wagenknecht, der Übervater. Der Familienpatriarch, der stets alle Fäden in den Händen gehalten hatte. Immer begleitet von Daniel Servatius, dem begnadeten Finanzjongleur. Gemeinsam hatten sie aus der kleinen Kelterei ein mittelgroßes Getränkeunternehmen gemacht. Im Zuge des wirtschaftlichen Erfolgs war Wagenknecht in die High Society Frankfurts aufgestiegen. Er war ein gern gesehener Gast auf den Partys, versprühte überall gute Laune und richtete pompöse Feste aus.

Mehr Probleme indes hatte er mit seinem Privatleben gehabt. Seine Frau, Johannes’ Mutter, war früh verstorben. Seitdem war sein Liebes- und Sexleben aus dem Ruder gelaufen. Er hatte unzählige Affären und zeigte sich den Geliebten gegenüber immer mehr als großzügig. Kein Wunder also, dass er auch im hohen Alter noch im Stande gewesen war, junge, gut aussehende Frauen zu seinen Eroberungen zu zählen. Alina hatte er schließlich geheiratet und zur Miterbin gemacht. Ein Umstand, der dazu führte, dass die seit einigen Jahren wirtschaftlich schwierige Lage der Kelterei auch noch mit einem saftigen Erbstreit belastet wurde. Seit einigen Wochen indes schien es an dieser Front etwas Beruhigung zu geben. Einerseits freute sich Veronique darüber. Weniger Stress in der Firma könnte auch bedeuten, dass es zwischen ihr und Johannes wieder besser lief. Aber diese Hoffnung hatte sich bislang nicht erfüllt. Im Gegenteil. Und seit es Gerüchte gab, Johannes würde sich mit Alina ohne Anwälte treffen, keimte in ihr ein schlimmer Verdacht.

2.

Tom Bohlan stieß die Tür zum Kommissariat mit einer kräftigen Armbewegung auf. Beinahe ein wenig zu schwungvoll. Die Tür schwang zur Seite, rappelte gegen den Kleiderständer, der hinter ihr stand, und brachte diesen bedrohlich ins Wanken. Erschrocken rissen Will, Steinbrecher und Steininger die Köpfe nach oben und gingen in Habachtstellung, als gelte es, das Kommissariat mit Klauen und Zähnen gegen jedwede Art von Eindringlingen zu verteidigen. Natürlich wussten die drei, dass von der aufgestoßenen Tür keine wirkliche Gefahr drohen konnte. Die einzigen störenden Besucher, die hier ab und an auftauchten, waren Klaus Gerding und Felicitas Maurer. Und selbst die machten sich in der letzten Zeit ziemlich rar. Gerding, der Chef der Mordkommission, war merklich zahmer geworden, seit Maurer in Frankfurt aufgetaucht war. Die neue Staatsanwältin erschwerte den Kommissaren das Leben dadurch, dass sie sich mit Vehemenz in die Ermittlungsarbeit einschaltete und meistens anderer Meinung war als Bohlan. Gerding fühlte sich mehr und mehr bemüßigt, seine Truppe moralisch zu unterstützen. Ein weiterer Grund war, dass er in großen Schritten auf die Pension zusteuerte, was zu einer beinahe täglich wachsenden Altersgüte führte.

Felicitas Maurer hingegen unterhielt seit einiger Zeit eine Affäre mit Jan Steininger und wollte diese möglichst nicht an die große Glocke hängen, zumal Bohlan ihnen auf die Schliche gekommen war. Daher hatte sie mit Bohlan eine Art Burgfrieden geschlossen. Einer der Punkte auf dem ungeschriebenen Vertrag war, dass man die gegenseitigen Territorien respektierte und nicht unaufgefordert in sie eindrang.

Also konnten sich Will, Steininger und Steinbrecher in ihrem Büro ziemlich sicher fühlen. Doch wer denkt schon vernünftig, wenn ein lautes Rumpeln wie aus dem Nichts heraus erschallt. Und die Intensität, mit der die Tür zunächst gegen den Schirmständer und anschließend gegen die Wand knallte, war durchaus einer Explosion vergleichbar. Die Gesichtszüge der Kommissare entspannten sich aber merklich, als sie Bohlan erblickten.

„Tom! Schön, dass du wieder da bist. Du siehst grandios erholt aus.“ Steinbrecher sprang als Erster auf und herzte den Heimkehrer, als sei dieser von einer Weltraumexpedition zurückgekehrt. Bohlan klopfte ihm beruhigend auf die Schultern. Julia Will war als Nächste an der Reihe. Sie drückte sich kurz an Bohlan, der ihre Begrüßung mit Küsschen auf die Wangen erwiderte. Eins links, eins rechts. Da ihr Parfum weitaus angenehmer als Steinbrechers Zigarettenduft roch, hielt er Julia danach an beiden Schultern fest.

Jan Steininger hingegen unterließ eine Umarmung und reichte Bohlan stattdessen die Hand. Danach setzten sie sich an den Besprechungstisch, Bohlan wartete mit Urlaubsberichten auf, während Steininger Kaffee aus dem Automaten zog. Noch vor zwei Tagen hatte Bohlan das Ende seines Urlaubs bedauert. Nun, da Steinbrecher seine Zigaretten drehte und Will Unmengen Zucker in den Kaffee schüttete, fühlte er sich wieder zu Hause. Zurück im Leben sozusagen.

„So und nun zu euch? Was gibt’s Neues“, fragte Bohlan, nachdem er alles Wesentliche aus Kroatien berichtet hatte.

„Stell dir vor“, begann Will. „Du warst kaum auf der Autobahn, da wurden wir zu einem Tatort gerufen. Ein Familienvater war auf offener Straße erschossen worden.“

„Und? Wie weit seid ihr mit den Ermittlungen?“ Bohlan war aufgesprungen.

„Ruhig, Brauner“, sagte Steinbrecher. „Du kannst dir den Bericht gleich durchlesen.“

„Wie? Bericht?“

„Liegt auf deinem Schreibtisch. Wir haben den Fall in einer Woche abgeschlossen. Es war eine Beziehungstat.“ Will lächelte Bohlan an, und dieser wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Offensichtlich war er nicht so unersetzlich, wie er immer gedacht hatte.

„Und ihr seid euch ganz sicher, dass ihr keinen Fehler gemacht habt?“

„Ganz sicher.“

„Nicht dass der Falsche in der Zelle schmort!“

„Die Falsche“, erwiderte Will.

Bohlan blickte irritiert.

„Die, nicht der. Es war eine Frau. Aber um ganz sicherzugehen, solltest du dir wirklich den Bericht durchlesen. Punkt für Punkt. Komma für Komma. Vielleicht findest du doch noch eine neue Spur.“

„Das mach ich auch. Keine Sorge.“ Bohlans Blick fiel auf seinen Schreibtisch, der ziemlich leer war, abgesehen von einer Akte und einem Päckchen. Bohlan stand auf.

„Ein Willkommensgeschenk? Das wäre aber nicht nötig gewesen.“ Er stellte das Päckchen vor sich auf den Tisch. Es hatte die Größe eines dicken Taschenbuchs.

„Ist nicht von uns“, sagte Steininger. „Kam per Post.“

Bohlan betrachtete das Äußere. Tatsächlich wies es seinen Namen als Empfänger auf. Dazu eine gestempelte Briefmarke. Von einem Absender allerdings fehlte jede Spur.

Bohlan hob es in die Luft und drehte es hin und her, beäugte es von oben und unten. Merkwürdig, wer schickte ihm ein anonymes Päckchen, noch dazu ins Kommissariat? Die Anschrift befand sich auf einem Aufkleber. Wahrscheinlich ein Computerausdruck. Abgestempelt war die Sendung in Frankfurt.

„Habt ihr es checken lassen?“, fragte er misstrauisch in die Runde. „Nicht dass uns das alles hier gleich um die Ohren fliegt.“

„Keine Sorge“, erwiderte Steinbrecher. „Das Ding ist harmlos.“

Vorsichtig riss Bohlan das Päckchen auf und zog ein Kästchen heraus, das er vor sich auf den Tisch stellte. Es war schwarz, hatte eine glatte Oberseite. Bohlan suchte vergeblich nach einer Aufschrift oder Hinweisen, die Rückschlüsse auf den Inhalt ermöglichten. Es war eines jener Schächtelchen, die man in jedem Schreibwarenladen kaufen und als Aufbewahrungsbox für allerlei Krimskrams verwenden konnte. Oder eben als Geschenkbox. Er hob den Deckel vorsichtig an und erblickte Kartonschnipsel. Vorsichtig begann er, mit den Fingern in den Teilchen zu wühlen. Doch es blieben Schnipsel, nichts als Schnipsel. Hunderte.

„Und? Was ist drin?“, fragte Will neugierig.

Statt zu antworten, drehte Bohlan die Box mit einer schnellen Bewegung herum. Die Teile purzelten auf den Tisch. Bohlan zerteilte den Haufen mit den Händen und fühlte sich an seine Kindheit erinnert. Er sah sich in seinem Kinderzimmer sitzen und Karten eines Memoryspiels mischen oder Teile eines Puzzles sortieren. Die Hoffnung, doch noch etwas anderes außer Pappteilen zu finden, zerstob, als jedes Teil für sich lag.

„Seit wann stehst du auf Puzzles?“, fragte Will.

„Ist mein liebstes Hobby“, knurrte Bohlan zurück.

„Was hast du denn heute Morgen eingenommen?“ Steinbrecher sah Bohlan irritiert an.

„Nur den besten Stoff. Frisch vom Schwarzmarkt.“ Bohlans Stimme war eine Mischung aus Grummeln und Ironie. Seine Hände schoben die Teile wieder zusammen. „Kannst ja heute Abend vorbeikommen. Wir setzen uns aufs Deck, rauchen einen Joint und hören Pink Floyd.“

„Warum nicht?“ Steinbrecher schien tatsächlich hellauf begeistert. „Acht Uhr?“

„Gute Zeit“, antwortete Bohlan. Er hielt die Schachtel an den Tisch und schob die Teile über den Rand, sodass sie in die Schachtel zurückfielen. Zu guter Letzt setzte er den Deckel wieder auf das Kästchen.

„Wie? Was jetzt? Ihr wollt euch bekiffen?“ Steininger, der den Wortwechsel mit offenem Mund angehört hatte, stotterte die Worte heraus.

„Klaro, kannst auch gerne kommen.“

„Danke. Ich hab was Besseres vor.“

„Ich kann mir auch schon denken, was“, erwiderte Bohlan mit einem vielsagenden Blick. Steininger fühlte sich offensichtlich ertappt und zog sich an seinen Schreibtisch zurück. Bohlan lächelte in sich hinein. Die Sache mit Maurer und Steininger machte ihm zunehmend Spaß. Er brauchte nur eine kleine Andeutung zu machen und schon hatte er jedes Wortgefecht gewonnen. Vergnügt entsorgte er die Verpackung des Pakets im Mülleimer und stellte das Kästchen auf seinen Schreibtisch. Das Lesen der Akte vertagte er auf später. Stattdessen entschied er sich dazu, Klaus Gerding einen Besuch abzustatten.

Daniel Servatius kochte innerlich, war aber bemüht, sich dies möglichst wenig anmerken zu lassen. Wer erfolgreich Gespräche führen wollte, musste seine Emotionen unter Kontrolle halten. Diesen Grundsatz hatte Heinz Wagenknecht ihn einst gelehrt. Servatius beherzigte ihn seit Jahren überaus erfolgreich. Er thronte hinter seinem Schreibtisch und spielte mit einem goldenen Kugelschreiber. Auf der anderen Seite des ausladenden Tisches saß Niklas Volkmann, wie immer lässig gekleidet, und grinste ihn unverfroren an. Zweifelsohne war Volkmann ein ausgewiesener Fachmann auf seinem Gebiet. Ein Produktentwickler par excellence. Die Ideen sprudelten förmlich aus ihm heraus. Das war auch der Grund, warum man ihn engagiert hatte. Und das zu einem Gehalt, das sich am oberen Rand der Möglichkeiten befand. Seine Einstellung war auf Betreiben Johannes Wagenknechts erfolgt. Servatius, der für die Finanzen in der Firma zuständig war, hatte sich lange dagegen gesträubt. Doch er musste zugeben, dass sich die Investition – entgegen seiner Erwartungen – durchaus rentierte. Dank neuer Produkte war die Kelterei in die Gewinnzone gerutscht. Und nun stand ein weiterer Meilenstein bevor. Für diesen allerdings musste Volkmann mitspielen, und dem war der Erfolg des letzten Jahres zweifelsohne zu Kopf gestiegen. Servatius hielt Volkmann für einen dahergelaufenen Schnösel.

„Was halten Sie von einer saftigen Gehaltserhöhung?“ Es war so ziemlich der letzte Joker, den Servatius ziehen konnte.

„Gegen eine Gehaltserhöhung habe ich natürlich nichts“, blaffte Volkmann zurück. „Aber das ändert nichts an meiner grundsätzlichen Einstellung.“

Touché, dachte Servatius und versuchte weiterhin gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

„Die neue Limo ist cool, stylish und trendy“, holte Volkmann aus. „Wir haben schön geformte Flaschen entworfen und die Leute reißen sie uns aus den Händen. Ich sehe keinen Grund, warum wir an unserem Konzept irgendwas ändern sollten.“

„Ich stimme Ihnen voll und ganz zu. Und das Konzept soll auch bleiben, wie es ist. Es geht doch nur darum, einige Dinge …“ Servatius blickte kurz an Volkmann vorbei, auf der Suche nach dem passenden Wort, „… zu optimieren“, schloss er ab.

Volkmann lächelte Servatius ungerührt an. „Ich weiß, was Sie meinen, wenn Sie ‚etwas optimieren‘ sagen. Aber genau das ist doch der Punkt. Das Getränk enthält keinerlei Aromen, keine Konzentrate und keine Geschmacksverstärker. Es ist aus Direktsaft gemacht und Wasser. Dazu kommen Rohrzucker, Minze und andere frische Zutaten. Alles von Biobauern, die höhere Preise bekommen als auf dem Weltmarkt und deshalb faire Löhne und Sozialleistungen zahlen können. Die Grundidee ist doch, dass wir nicht nur irgendein Designergetränk verkaufen, sondern auch ein Vorbild sein wollen.“

Servatius konnte das idealistische Geschwätz nicht mehr hören. Er hatte Tage damit zugebracht, Kosten und Einsparungsmöglichkeiten durchzurechnen, und das Ergebnis hatte ihn schier von den Socken gehauen. Wenn man nur ein klein wenig von dem hohen Biostandard abrückte, wäre die Kelterei ein für alle Mal saniert. Man könnte das Marketingkonzept lassen, wie es war. Selbst der Aufdruck Bio konnte bestehen bleiben. Servatius unternahm einen weiteren Versuch, obwohl er ahnte, dass auch dieser nicht zum Erfolg führen würde.

„Es geht um ein paar Gramm mehr Zucker, ein paar Aromen und Farbstoffe. Das merkt doch kein Mensch. Im Gegenteil: Geschmack und Optik würden auch ein wenig optimiert.“

„Nennen Sie es, wie Sie wollen. Es bleibt Trickserei. Wenn wir damit anfangen, sind wir keinen Deut besser als all die großen Getränkekonzerne.“

„Wenn wir die Produktion nicht billiger hinkriegen, werden wir auf Dauer nicht am Markt bestehen können. Das muss Ihnen doch klar sein. Am Ende müssen wir uns mit einem der ganz Großen des Getränkebusiness zusammenschließen. Soll ich Ihnen sagen, was dann passiert? Der wird ganz schnell die Verträge mit den Fair-Trade-Kooperationen kündigen und stattdessen seine eigenen billigen Lieferanten installieren. Dann können wir uns das Biosiegel sonst wohin schmieren.“

„So weit wird es nicht kommen. Für Bioprodukte gibt es immer einen Markt und der wird stetig größer.“ Volkmann schlug die Beine lässig übereinander.

„Herr Volkmann, vielleicht überlassen Sie die Dinge, von denen Sie nichts verstehen, lieber mir. Sie sind auf Ihrem Gebiet ein wirklicher Meister. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Fähigkeiten und überlassen mir den Rest. Dann können wir alle davon profitieren.“

Volkmann erhob sich aus dem Sessel. „Ich denke, wir lassen es für heute gut sein.“ Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum. Servatius pfefferte den Kugelschreiber auf die Tischplatte. Konnte das wirklich wahr sein? Warum ist dieser hochintelligente Mann so verbohrt? Wen juckt es schon, wenn man ein paar künstliche Aromen beimischt? Kein Mensch merkt so etwas. Er konnte sich noch immer dafür in den Hintern beißen, dass er Volkmann ein Mitspracherecht bei Veränderungen in der Rezeptur vertraglich zugebilligt hatte. Ohne Volkmanns Zustimmung war sein gesamtes Finanzkonzept Makulatur. Er musste noch einmal mit Wagenknecht reden. Vielleicht hatte er Mittel und Wege, Volkmann auf Spur zu bringen. Andernfalls müsste er selbst andere Saiten aufziehen. Und dann stand auch immer noch das Übernahmeangebot der Russen im Raum. Die ganze Situation war zum Verzweifeln.

Um kurz vor fünf setzte Julia Will ihren Computer in den Stand-by-Modus. Der Tag war dahingeplätschert wie ein müder Bergbach im Sommer. Sie hatte ihren Schreibtisch aufgeräumt, mit Steinbrecher zu Mittag gegessen und sogar mit Jan Steininger ein Schwätzchen gehalten. Die beiden Kommissare waren genauso lang in Bohlans Team wie sie selbst. Aufgrund ihrer Nachnamen – und weil sie meist ein Team bildeten – wurden sie die Stones genannt. Ansonsten hätten sie unterschiedlicher kaum sein können. Steinbrecher, Mitte fünfzig und etwas beleibt, steckte meist in Jeans oder Leder, rauchte wie ein Schlot und fuhr eine Harley Davidson. Steininger hingegen war – wie Will auch – Anfang dreißig. Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit hatte sie mit ihm nicht allzu viel anfangen können, wirkte er doch recht unscheinbar und fiel nicht gerade durch Eigeninitiative auf. Das hatte sich aber vor zwei Jahren erheblich geändert. Er war sportlich geworden, hatte mit Boxen angefangen und war seitdem ziemlich selbstbewusst geworden.

Von Tom Bohlan hatte sie – nach seinem morgendlichen Auftritt – nichts mehr gesehen. Die Akte mit dem Bericht lag immer noch unangetastet auf seinem Schreibtisch, ebenso das merkwürdige Paket samt Inhalt. Ob er heute überhaupt noch einmal auftauchen würde? Vielleicht hatte er sich in dem riesigen Labyrinth des Polizeipräsidiums verlaufen? Konnten zwei Wochen Kroatien einem gestandenen Kommissar die Orientierung rauben? Nein, das konnte nicht sein. Bohlan war zuweilen kauzig, aber Anzeichen für eine beginnende Alzheimererkrankung hatte es bislang keine gegeben. Wahrscheinlich dackelte er von Tür zu Tür, sprach mit Hinz und Kunz. Reflexartig fuhr Wills Arm nach vorne, streckte sich nach dem Kästchen. Ihre Hand ergriff es und holte es zu sich. Sie öffnete den Deckel und kippte die Einzelteile auf den Schreibtisch. Das leise Poltern führte dazu, dass die Stones aufblickten.

„Was hast du vor?“, wollte Steininger wissen.

„Nach was sieht’s denn aus?“, raunzte Will zurück. Sie war längst damit beschäftigt, die Teile zu sortieren.

„Ist das nicht Toms Aufgabe?“

Will lachte kurz auf. „Wenn’s danach geht, steht die Schachtel Weihnachten noch hier.“

„Wenn du meinst.“

Will hatte jetzt alle Teile mit der Oberseite nach oben vor sich liegen und suchte die Randteile zusammen. Das Puzzle wies keine besonderen Schwierigkeiten auf, Will schätzte es auf circa fünfhundert Teile. Es dauerte nicht lange, bis sie den Rahmen zusammenhatte. Nun galt es, den Innenraum mit Leben zu füllen. Je mehr Teile sie zusammenfügte, umso deutlicher wurde, dass sie das Gesicht einer Frau zusammensetzte. Also doch, dachte Will. Bohlan hatte etwas Neues am Laufen. Er musste vor seinem Urlaub irgendwo diese reizende Schönheit aufgerissen haben. Äußerlich war sie das genaue Gegenteil von Barbara Weber, Bohlans langjähriger Freundin. Grüne Augen, blasser Teint, pechschwarze Haare. Er hatte überhaupt nichts von ihr erzählt. Was Will allerdings etwas irritierte, waren die schwarzen Striche, die sich über das Foto zogen.