Mord am Niddaufer - Lutz Ullrich - E-Book

Mord am Niddaufer E-Book

Lutz Ullrich

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Beschreibung

Am Ufer der Nidda wird in unmittelbarer Nähe des Eschersheimer Schwimmbades eine kopflose Leiche gefunden. Der Frankfurter Stadtteil ist in heller Aufregung, die auch das örtliche Gymnasium erfasst, als sich herausstellt, dass es sich bei dem Opfer um eine Schülerin handelt. Tom Bohlan und seine Kollegen ermitteln in der Schule und werden mit einer ungeliebten Schulleiterin, einem Theaterstück, in dem es um Enthauptungen geht und Intrigen im Kollegium konfrontiert. Doch damit nicht genug: die neue Staatsanwältin macht dem Kommissar das Leben schwer. Wieder ein spannender Frankfurt-Krimi um die Ermittler Tom Bohlan und Julia Will, angereichert mit einer Menge Lokalkolorit.

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LASP

Der Autor

Lutz Ullrich, Jahrgang 1969, studierte Politik und Rechtswissenschaften, schrieb für verschiedene Zeitschriften, betätigte sich in der Politik und arbeitet heute als Rechtsanwalt. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Frankfurt. Mehr Informationen gibt es unter www.lutzullrich.de.

In der Tom-Bohlan-Reihe sind bisher folgende Bücher erschienen:

Der Kandidat (2009)

Tod in der Sauna (2010)

Tödliche Verstrickung (2011)

Stadt ohne Seele (2012)

Mord am Niddaufer (2013)

Das Erbe des Apfelweinkönigs (2014)

Kristallstöffche (2015)      

Außerdem der Kurzkrimi:

Bohlan und das geheimnisvolle Manuskript

Alle Bücher sind auch als E-Book erhältlich

Mord am Niddaufer

Ein Kriminalroman von Lutz Ullrich

© 2016 Lutz Ullrich

Umschlag, Foto: Lutz Ullrich

Lektorat: Jörg Burgold, Antje Lonsdale, Frank Demant

LASP-Verlag, Schwalbach am Taunus – Frankfurt am Main

Satz: Udo Lange

ISBN 978-3-946247-15-9

www.lasp-verlag.de

www.lutzullrich.de

Neubearbeitete Ausgabe.

Die Originalausgabe ist 2013 im Röschen-Verlag erschienen.

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Donnerstag
Freitag
Samstag
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Samstag
Sonntag

Prolog

Nachdem die Lustschreie verhallt waren, rollte sich ihr Liebhaber erschöpft zur Seite. Seine Haare waren voller Heu, ihre vermutlich auch. Es würde einige Zeit brauchen, bis sie das wieder in Ordnung gebracht hatte. Sie schaute verträumt nach oben. Das Dach der Scheune wirkte nicht besonders vertrauenswürdig. Durch die Ritzen drang ein warmer Luftstrom von draußen herein. Seit Tagen lag ein Hoch über dem Ort, das für Hitze und Sonne sorgte. Zum Glück gab es ein Schwimmbad, in dem sich die Dorfjugend traf. Nicht gerade groß, aber ausreichend, um sich zu erfrischen und ein wenig Spaß zu haben. Eigentlich war sie mit ihrem Freund, mit dem sie seit ein paar Wochen zusammen war, verabredet gewesen. Doch am späten Vormittag hatte er abgesagt. Angeblich weil er noch etwas Wichtiges zu erledigen hatte. Er hatte oft etwas Wichtiges zu erledigen. Sosehr sie ihn auch begehrte, es ärgerte sie, dass er noch andere Interessen hatte. Sie war es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Zwar hatte er versprochen, so schnell es geht nachzukommen, doch sie hatte ihm gesagt, dass er sich zum Teufel scheren solle. Natürlich war sie davon ausgegangen, dass er trotzdem irgendwann im Schwimmbad auftauchen würde, spätestens dann, wenn er seine wichtigen Dinge erledigt hatte. Um ihn zu ärgern, hatte sie mit dem anderen geflirtet. Ein groß gewachsener Typ, sportlich, muskulös und mit dunklen Augen. Sie hatte nicht vorgehabt, dass mehr aus dem Flirt wurde. Doch ihr Freund ließ auf sich warten. Viel zu lange. Es gab erste Berührungen. Irgendwann knutschten sie herum und dann fuhren sie zu dieser Scheune. Sie tobten herum, waren ausgelassen und es gab kein Halten mehr. Sie rissen sich die Kleider vom Leib, fielen übereinander her, vergaßen die Welt um sich herum.

„Hör mal, ich muss los. Es war schön mit dir. Sollten wir mal wieder machen.“ Er hatte sich wieder angezogen und stand mit einem unfassbar breiten Grinsen vor ihr. „Ist es für dich okay, wenn wir getrennt zurückfahren?“

„Klar. Wir wollen ja nicht, dass es Gerede im Dorf gibt, oder?“

„Genau.“

Sie beobachtete, wie er die Leiter vom Heuschober nach unten stieg und ihr noch einmal zuwinkte. Hatte sie es übertrieben? Hätte sie es vielleicht doch nicht so weit kommen lassen dürfen? Was soll’s. Jetzt war es passiert. Sie richtete sich auf und suchte ihre Klamotten zusammen. Als sie sich angezogen hatte, strich sie sich mit den Händen durchs Haar und versuchte, das Heu zu entfernen. Zu Hause würde sie sich eine lange und ausgiebige Dusche gönnen. Mal sehen, wann ihr Freund endlich auftauchen würde, dachte sie, als sie ein leises Rascheln vernahm. Erschrocken fuhr sie herum, doch es war nichts zu sehen. Wahrscheinlich war es eines dieser Kätzchen, die hier überall herumstreunten. Sie machte sich auf den Weg zur Leiter. Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf die oberste Sprosse und drehte sich herum. Die Leiter schien ein wenig zu schwanken, als sie den zweiten Fuß nachsetzte. Erschrocken schrie sie auf. Ihre Hände griffen nach der Kante des Heubodens und schafften es, sich daran festzuhalten. Gerade noch mal gut gegangen, dachte sie und stieg eine Sprosse tiefer. Wieder bewegte sich die Leiter. Sie blickte nach unten und sah eine Gestalt, die sich rüttelnd an der Leiter zu schaffen machte. Da wollte jemand die Leiter zur Seite stellen. Wer war das? Hatte man sie nicht gesehen?

„He, was soll das?“, schrie sie nach unten.

Im gleichen Moment trat von oben ein Fuß gegen ihre Hand. Sie spürte einen leichten Schmerz und blickte entsetzt nach oben. Die Leiter schwankte bedrohlich. Verzweifelt versuchte sie, das Gleichgewicht zu halten und ihr Gewicht in die Richtung der rettenden Wand zu drücken. Doch es war ein vergeblicher Versuch. Als die Leiter nach hinten wegkippte, realisierte sie, was passiert war. Doch es war zu spät. Wenig später schlug sie auf dem Boden auf. Die Welt um sie herum verschwand in einem unendlichen Weiß und sie spürte nichts mehr. Alles Leid, aller Schmerz waren wie weggeblasen.

Donnerstag

Die Spätsommersonne knallte vom Frankfurter Himmel herab. Über der Stadt schwebte eine Dunstglocke, die dafür sorgte, dass sich die Wärme in den Schluchten der Hochhäuser zu stauen begann. Der Sommer war in diesem Jahr wieder äußerst bescheiden gewesen und schien in seinen letzten Tagen alles nachholen zu wollen, was er bislang versäumt hatte. Für das Wochenende waren über dreißig Grad Celsius vorhergesagt und es wurde mit einem Ansturm auf die städtischen Bäder gerechnet. Hauptkommissar Tom Bohlan fläzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem alten Holzstuhl und blickte durch die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille. Vor ihm stand ein Latte Macchiato nebst einem Stück Butterstreusel. Das Wasser lief in seinem Mund zusammen. Er schwang die Gabel, trennte die erste Ecke ab und schob das Stück in den Mund. Was für ein Tag, dachte Bohlan. Butterstreusel mochte er für sein Leben gern. Manche Bäcker versuchten, den Kuchen mit einer Puddingschicht aufzupeppen. Er hingegen liebte ihn schlicht und einfach. Ein dünner Hefeteig und drüber schön dick die Streusel. Gerade als Bohlans Gabel zum zweiten Mal in den Kuchen piksen wollte, schrillte sein iPhone. Resignierend, aber immer noch bester Laune, ließ er die Gabel sinken und kramte das Smartphone aus der Innentasche seiner Jacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte.

„Julia, was gibt’s?“ Ein kurzer Blick auf das Display hatte ihm verraten, dass es seine Kollegin war. Er hoffte inständig, dass sie in irgendeinem Eiscafé saß und das Leben ebenso genoss wie er.

„Tut mir sehr leid, dass ich dich stören muss, es gibt ein kleines Problem.“

Wenn es nur ein kleines Problem wäre, würde Julia nicht anrufen, dachte Bohlan und sah seine gute Stimmung dahinkriechen.

„Jetzt hör mal zu, Schätzchen. Vor mir steht einer der leckersten Streuselkuchen der Stadt. Ich hoffe, du hast einen triftigen Grund, um mich bei diesem Genuss zu stören.“

„Den habe ich in der Tat, Tom. Ich stehe hier am Ufer der Nidda. Vor mir liegt eine Leiche und um mich herum ist der Teufel los. Lauter Schaulustige, die gerade das Eschersheimer Freibad verlassen.“ Aus Wills Stimme war jegliche Ruhe gewichen. Sie klang ein wenig schrill, überschlug sich beinahe.

„Tom. Bist du noch dran?“

„Ja, verdammt! Was soll ich tun?“

„Lass dir deinen verdammten Kuchen einpacken und beweg deinen Arsch hierher.“

Das war mehr als deutlich. Deutlicher war Julia Will noch nie geworden. In all den Jahren, die Bohlan mit ihr zusammenarbeitete, war sie eigentlich meist die Ruhe in Person gewesen. Was immer sich vor dem Eschersheimer Freibad zugetragen hatte, es musste Will völlig außer Fassung gebracht haben. Der Kommissar klemmte einen Zehneuroschein unter den Kuchenteller und verließ das Café, nicht ohne sich noch einen großen Bissen vom Kuchen in den Mund zu schieben.

Als Bohlan am Tatort eintraf, sah er bereits die Meute lauern. Der Anblick ähnelte dem eines Schwarms von Aasgeiern, die über ihrer Beute kreisten. Wer auch immer die These aufgestellt hatte, es gäbe so etwas wie Schwarmintelligenz, er wurde hier Lügen gestraft. Den Schwimmbadbesuchern stand alles andere als Intelligenz ins Gesicht geschrieben. Entsetzen, Angst oder Abscheu trafen eher zu. Eine merkwürdige Stille lag in der Luft, nur aus der Ferne klangen die begeisterten Schreie spielender Kinder herüber, die sich gerade die Rutsche hinab in das kühlende Nass stürzten. Bohlan bahnte sich einen Weg durch die Menge. Schon von Weitem erblickte er Julia Will in einem geblümten Sommerkleid. Eigentlich machte sie immer eine gute Figur, egal ob sie sich im Präsidium bewegte oder auf einem Ball. Selbst auf der Judomatte war sie bestimmt eine Augenweide, dachte Bohlan. Hier aber wirkte das flatternde bunte Kleid ein wenig deplatziert. Offensichtlich hatte sie aber vorbildlich gearbeitet. Ufer und Straße waren durch uniformierte Einsatzkräfte und rot-weiße Bänder weiträumig abgeriegelt. Steinbrecher und Steininger standen mit Julia Will zusammen, der Böschung zur Nidda demonstrativ den Rücken zugekehrt. Plötzlich legte sich eine Hand auf Bohlans Schulter.

„Na, dass wir mal zeitgleich am Fundort auftauchen, hat Seltenheitswert.“ Bohlan wandte den Kopf zur Seite und blickte in Dr. Spichals Gesicht. Der groß gewachsene Rechtsmediziner grinste ihn an.

„Soll ja ein ziemlich spektakulärer Fund sein, was man so hört.“

Bohlan verzog sein Gesicht und murmelte etwas Unverständliches.

Als sie das Absperrband erreichten, grüßte Bohlan die Einsatzkräfte, während Dr. Spichal das Band anhob und dem Kommissar den Vortritt ließ. Bohlan eilte zu seinen Kollegen. Will, deren Gesicht nichts von der üblichen Lebendigkeit aufwies, fasste ihn am Arm. „Es ist das Schrecklichste, was ich jemals gesehen habe.“ Mit einer leichten Kopfbewegung deutete sie zum Ufer, wo der Kommissar nichts weiter bemerkte, als eine an zwei Sträuchern befestigte Vereinsfahne des FC Heddernheim.

„So schlimm sehen die Vereinsfarben nun auch wieder nicht aus.“ Bohlan bereute seine Worte, kurz nachdem sie seinen Mund verlassen hatten.

„Es ist nun wirklich der falsche Zeitpunkt für irgendwelche Scherze“, raunte Will. „Die Fahne wurde uns freundlicherweise vom benachbarten Verein zur Verfügung gestellt. Wir müssen die Kinder, die vorbeilaufen, unbedingt vor diesem Anblick schützen, sonst brauchen wir hier jede Menge Psychologen.“

Bohlan wurde allmählich immer unruhiger. Was auch immer hinter der Fahne lag, es musste ein grausiger Anblick sein.

„Sprachst du nicht von einer Wasserleiche?“, bemerkte Dr. Spichal.

„Ich habe sie bereits aus dem Wasser ziehen lassen“, antwortete Will.

„Keine Sorge. Natürlich haben wir alles fotografisch festgehalten, was Lage und Stellung im Wasser und so weiter angeht.“

Dr. Spichal nickte. „Ich habe nichts anderes erwartet.“

Die drei hatten die Fahne erreicht und gingen um sie herum. Bohlans Blick traf den aufgeschwemmten Körper und er spürte eine säuerliche Flüssigkeit aus seinem Magen nach oben steigen.

„Da kommt wohl wirklich jegliche ärztliche Hilfe zu spät.“ Der Rechtsmediziner streifte sich Plastikhandschuhe über. „Schon ein oberflächlicher Blick zeigt, dass längst die Leichenfäulnis eingesetzt hat. Natürlich einmal abgesehen von dem fehlenden Kopf.“

Bohlan wandte sich ab und ging zusammen mit Julia Will zurück zu Steinbrecher und Steininger, die in der Mordkommission immer nur ‚die Stones‘ genannt wurden. Auch ihre Gesichter waren weißer als jemals zuvor.

„Die Fakten. Aber kurz“, sagte er zu Julia Will gewandt.

„Der Leichnam wurde vor zwei Stunden von einem Spaziergänger entdeckt. Er lag ziemlich versteckt unter Ästen und Gestrüpp. Dem Anschein nach wohl schon einige Tage.“

Bohlan hob den Kopf und blickte nach links und rechts. „Er könnte auch angeschwemmt worden sein.“

„Eher unwahrscheinlich. Nur wenige Meter weiter befindet sich ein Wehr.“

„Und der Kopf, ich meine irgendwelche Anzeichen?“

Will und die Stones blickten verständnislos.

„Habt ihr das Gelände absuchen lassen? Irgendwo muss der doch sein. Wer nimmt denn einen Kopf mit nach Hause?“

Eine gute Stunde später wurde der Leichnam im Institut für Rechtsmedizin eingeliefert. Bohlan hatte sein gesamtes Team zur Leichenschau mitgenommen und zusätzlich einen Fotografen der Spurensicherung. Kurze Zeit später erschien Felicitas Maurer, die zuständige Staatsanwältin. Sie war Mitte vierzig, hatte dicht gelockte dunkelbraune Haare und strahlte eine hanseatische Kühle aus. Sie hatte sich zu Beginn des Jahres von Hamburg nach Frankfurt versetzen lassen und für frischen Wind in der hiesigen Staatsanwaltschaft gesorgt. Über die Beweggründe ihrer Versetzung waren die wildesten Spekulationen im Umlauf. Bohlan hatte bislang versucht, sie zu ignorieren, was in Anbetracht der täglichen Updates seiner Kollegen mehr als schwierig war. Zweifelsohne strahlte Maurer eine gewisse Aura aus und sah zudem noch ziemlich gut aus, aber der Kommissar war zu sehr mit der holprig gewordenen Beziehung zu Barbara Weber beschäftigt, als dass er sich Gedanken um eine hübsche Staatsanwältin machen konnte. Seitdem Weber zum neuen Gesicht der samstäglichen Sportsendung im Fernsehen aufgestiegen war, verbrachte sie mehr Zeit in Mainz als in Frankfurt. Sie gönnte sich dort sogar eine Zweitwohnung, was Bohlan für arg überzogen hielt.

Dr. Spichal begann mit der äußeren Leichenschau. Zunächst stellte er fest, dass es sich um eine weibliche Leiche handelte, die lediglich mit einem T-Shirt und einem kurzen Rock bekleidet war. Weitere Kleidungsstücke oder gar Ausweispapiere waren bislang nicht gefunden worden. Bohlan hoffte inständig darauf, dass der Körper irgendwelche besondere Merkmale aufwies. Ansonsten sah er für die weiteren Ermittlungen ziemlich schwarz. Dr. Spichal deutete auf schlitzförmige Stoffdefekte im Brustbereich des T-Shirts. „Sieht nach Messerstichen aus.“ Vorsichtig zog er das T-Shirt nach oben. Mehrere Einstichverletzungen im Brustbereich kamen zum Vorschein. Dr. Spichal beugte sich über die Verletzungen und stellte nach einiger Zeit fest: „Fünf leicht schräg gestellte Einstiche, jeweils knapp zwei Zentimeter lang, und zwar sowohl im T-Shirt wie auch in der Brust.“ Er blickte zu Bohlan.

„Also wurden die Einstiche durch das T-Shirt ausgeführt?“

„Exakt.“

„Warum weist das Shirt keine Blutflecken auf?“, wollte Steininger wissen.

„Vermutlich ausgewaschen“, antwortete Dr. Spichal. „Die Tote hat sich mit dem Shirt eine lange Zeit im Wasser befunden.“

„Wie lange genau?“, hakte Will nach.

„Das kann ich noch nicht sagen. Ein paar Tage werden es schon gewesen sein. Aber dazu muss ich noch weitere Untersuchungen anstellen. Kommt ruhig näher und schaut euch die Haut an“, sagte er mit einer einladenden Handbewegung. „Ich weiß, dass Wasserleichen kein schöner Anblick sind. Trotzdem kann man viel aus der Leiche herauslesen.“

Etwas zögerlich näherte sich Bohlan dem Leichnam. Er hatte in seiner langen Dienstzeit schon einige Leichen gesehen, doch Wasserleichen waren stets die Ausnahme gewesen. Vorsichtig ließ er seinen Blick über den Körper der Toten wandern. Die Haut war zu großen Teilen graugrün verfärbt, ein Ergebnis fortschreitender Leichenfäulnis. An manchen Stellen hatten sich ganze Hautpartien abgelöst und baumelten wie Stofffetzen nach unten.

„Hier. Waschhaut“, stellte Dr. Spichal fest und deutete auf die Handflächen. Steininger schaute ihn fragend an.

„Wenn man sich längere Zeit im Wasser aufhält, quillt die oberste Hautschicht auf und saugt sich mit Wasser voll.“ Dr. Spichal blickte wieder auf die Hände, die kreideweiß verfärbt waren. „Hier kann man deutlich sehen, dass sich die Hornhaut komplett verwandelt hat. Um diesen Zustand zu erreichen, muss der Körper ein paar Tage im Wasser gelegen haben.“

„Aber da sind auch grünliche Stellen“, stellte Will fest.

„Exakt“, antwortet Dr. Spichal. „Erste Ansätze für einen Algenfilm, so wie bei einem Korallenriff.“

„Interessant“, murmelte Maurer. „Wie lange muss man dafür im Wasser liegen?“

„Schwer zu sagen“, antwortete Dr. Spichal. „Für solche Phänomene gibt es keine zeitlichen Gesetzmäßigkeiten. Das hängt von vielen Faktoren ab, genauso wie bei der Leichenfäulnis und der Waschhautbildung. Aber wie gesagt, ein paar Tage müssen es schon gewesen sein, sonst wären die Zeichen nicht so deutlich erkennbar.“

Julia Will war bemüht, die aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen.

„Ist alles okay?“, wollte Bohlan flüsternd wissen.

„Geht schon“, sagte Will und kramte in ihrer Handtasche.

„Können Sie schon etwas mehr zu den Stichverletzungen sagen?“ Es war Felicitas Maurer schneidige Stimme, die den Raum erfüllte. Dr. Spichal musterte die Staatsanwältin mit einem durchdringenden Blick. „Der Stoff ist glatt durchgetrennt und weist keine aufgerissenen Ränder auf. Das spricht für ein scharfes Messer.“

Maurer nickte und fügte beiläufig hinzu: „Dafür spricht auch die Enthauptung.“

„Diese Wunde habe ich mir noch nicht näher angesehen. Sie können aber davon ausgehen, dass die Tote erst erstochen und dann enthauptet wurde.“

„Irgendwelche Hinweise auf ein Sexualverbrechen?“, fragte Maurer.

„Auch dazu kommen wir noch, wobei der ganze Verwesungszustand die Sache nicht gerade erleichtert.“ Dr. Spichal wandte sich dem Genitalbereich zu: „Auf den ersten Blick sehe ich keine Verletzungsspuren.“

Nachdem der Rechtsmediziner den Körper auf den Bauch gedreht hatte, beugte er sich interessiert über die rechte Schulter. „Das ist ja interessant.“ Bohlan vernahm einen plötzlich an ihm vorüberziehenden Geruch, der sich deutlich vom Leichengeruch abhob und auch weit angenehmer war. Er drehte sich in einer Art Reflex zur Seite und blickte auf Maurers Lockenpracht, die sich dicht an ihn gedrängt hatte und den Kopf nach vorne in Richtung Leichnam reckte.

„Das ist eindeutig eine Tätowierung. Sieht aus wie eine Blume oder so etwas.“ Bohlan und Maurer stürzten nach vorne, um Dr. Spichals Entdeckung zu begutachten, behinderten sich dabei aber gegenseitig.

„Kann ich dann auch mal bitte?“, raunzte der Fotograf, nachdem sich der Reihe nach alle über das Tattoo gebeugt hatten. „Es kann dann ja jeder einen Abzug bekommen.“

Die Kommissare wichen zurück. Der Fotograf richtete sein Objektiv auf das Tattoo. Mehrere dicht aufeinanderfolgende Klacker zeugten von der ausgelösten Serienbildfunktion. Nachdem er fertig war, drehte Dr. Spichal mithilfe seiner Assistentin den toten Körper wieder auf den Rücken, griff zu seinen Werkzeugen und schaute kurz zu den Umstehenden.

„Ich werde jetzt mit dem Aufschneiden beginnen. Ich stelle es jedem frei, dieser Prozedur beizuwohnen. Allerdings kann ich niemanden dazu raten. Der Anblick wird nicht schöner und der Verwesungsgeruch stärker.“

Durch kurzen Blickkontakt verständigten sich die Kommissare und Bohlan verkündete: „Alles klar, wir werden mal kurz draußen die Lage besprechen. Sollte etwas sein, kannst du uns verständigen.“

Dr. Spichal nickte und wartete, bis die Kommissare, gefolgt von dem Fotografen die Tür erreicht hatten. Sein Blick traf Felicitas Maurer, die wie angewurzelt an ihrem Platz stehen geblieben war.

„Ich bleibe, wenn Sie gestatten“, sagte sie knapp.

„Ich kann niemanden zu seinem Glück zwingen“, knurrte Dr. Spichal und setzte das Skalpell an.

„Mann bin ich froh, dass wir um die innere Leichenschau herumgekommen sind“, sagte Steinbrecher und zündete sich eine Zigarette an. Bohlan sog den aufsteigenden Qualm ein. „Das ist einer der wenigen Momente, in denen Zigaretten richtig gut riechen“, entgegnete er.

Die vier standen auf dem Parkplatz vor dem Institut für Rechtsmedizin.

„Immerhin haben wir einen wichtigen Ansatzpunkt“, sagte Will und wandte sich an den Fotografen, der damit beschäftigt war, das Equipment in einen Koffer zu verstauen. „Können wir das Tattoo noch mal sehen?“

Der Fotograf unterbrach seine Packaktion und hielt Julia das Display der Digitalkamera vor die Nase.

„Wir bräuchten davon so schnell es geht eine Datei. Dann können wir die Vermisstenmeldungen durchsehen. Wenn wir Glück haben, ist jemand dabei, der solch ein Tattoo hat.“ Steinbrecher nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und blies den Qualm gen Himmel.

„Und hoffentlich wurde das besondere Merkmal bei der Vermisstenmeldung angegeben“, sagte Will.

Bohlan nickte. „Ja, hoffentlich. Ansonsten stehen wir ziemlich blöd da. Wenn’s irgendein Mädchen aus dem Osten ist, das die Menschenhändler hier eingeschleust haben, wird die Identität nie geklärt.“

„Wie kommst du denn darauf?“, wollte Steininger wissen.

„Wenige Meter vom Tatort befindet sich ein Campingplatz und da lungert so manches Volk herum.“

Felicitas Maurer beobachtete schweigend und ohne sichtbare Regung jeden Handgriff des Rechtsmediziners. Lediglich in dem Moment, als dieser das Skalpell zum ersten Mal in die verwesende Haut ritzte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit einem Döschen Wick zu. Sie hatte den Deckel geöffnet, den Zeigefinger kurz in die cremige Masse gerieben und eine dünne Schicht unter der Nase verteilt. So sah sie sich gegen den Angriff auf ihre Geruchssinne gewappnet, der in wenigen Augenblicken bevorstand.

„Die Einstiche sind ziemlich tief“, stellte Dr. Spichal fest. „Drei von ihnen haben das Brustbein durchbohrt. Die Wucht muss gewaltig gewesen sein.“

„Also Fremdeinwirkung“, sagte Felicitas Maurer.

Dr. Spichal sah überrascht auf. „Was denn sonst? Oder glauben Sie, dass sich jemand selbst den Kopf abhaut?“

„Nein natürlich nicht“, antwortete Maurer. Zum ersten Mal zeigte sich der Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht der Staatsanwältin.

„Sehen Sie hier!“ Dr. Spichal deutete auf die Arme. „Lauter kleinere Schnitte und Kratzer. Das sind typische Anzeichen für Abwehrverletzungen.“

„Es hat also einen Kampf gegeben?“, fragte Frau Maurer.

„Davon ist auszugehen. Im Verlaufe des Kampfes hat der Täter mit brutaler Gewalt zugestochen. Einer der Stiche traf sie direkt ins Herz. Ein solcher Stich führt den Tod innerhalb kürzester Zeit herbei“, antwortete Dr. Spichal. „Nach dem Ableben hat dann die Enthauptung stattgefunden.“

„Dann sollten wir dies abschließend mit den Kommissaren besprechen“, sagte Felicitas Maurer. Ihre Stimme klang abgeklärt und rational.

„Ja, lassen Sie uns nach draußen gehen.“ Er legte sein Skalpell zur Seite und blickte zu seiner Assistentin. „Können Sie hier bitte weitermachen?“ Dann beeilte er sich, Felicitas Maurer zu folgen, die bereits die Tür erreicht hatte. Ein Anzeichen dafür, dass sie den Raum schneller verlassen wollte, als sie vorgegeben hatte.

„Warum markieren Sie die starke Frau? Das haben Sie nicht nötig!“

Die Staatsanwältin drehte kurz den Kopf zur Seite und lächelte.

„Wie kommen Sie darauf, dass ich Ihnen etwas vorspiele?“

„Das habe ich nicht behauptet.“

„Der Tod gehört zum Leben dazu und Mordopfer gehören zu unserem Leben. Ich habe jeden Tag Tote auf meinem Tisch und scheußliche Bilder vor den Augen. Klar härtet das ab. Trotzdem lassen mich diese Bilder nicht kalt.“

„Das ist ja alles sehr interessant. Aber warum erzählen Sie mir das?“

„Weil Sie versuchen, den Anschein zu erwecken ...“

„Ich versuche keinen Anschein zu erwecken. Ich bin dafür verantwortlich, dass ein Mord, noch dazu ein ziemlich widerwärtiger, aufgeklärt wird.“ Ihre Stimme schnitt durch die Luft. Der Rechtsmediziner gab jeden weiteren Versuch auf, hinter die Maske zu schauen, die die Staatsanwältin trug. Als er die Tür zum Hof aufstieß, sah er die Kommissare zusammenstehen.

„Meine Herren, Julia, ich bin zum vorläufigen Abschluss der Obduktion gekommen.“ Die Kommissare schauten auf, während Dr. Spichal, gefolgt von Felicitas Maurer, über den Kies auf sie zukam. Der Rechtsmediziner berichtete von den tiefen Stichwunden und seiner Vermutung, dass ein Kampf stattgefunden hat.

„Das ist mit Abstand der widerwärtigste Mord meiner Karriere“, sagte Maurer, nachdem Dr. Spichal seinen Bericht beendet hatte. „Ich muss wohl niemanden daran erinnern, dass Sie mit höchster Präzision ermitteln müssen. Pannen können wir uns nicht leisten. Herr Bohlan, ich zähle auf Sie.“ Sie schaute Tom Bohlan in die Augen, nickte dann kurz den anderen zu und stiefelte zu einem Porsche 911, der auf dem Parkplatz stand. Bevor sie die Fahrertür aufmachte, wandte sie sich noch einmal um. „Wir hören voneinander.“

„Heißes Gerät“, bemerkte Steinbrecher, nachdem der Porsche vom Parkplatz gerollt war.

„Ich würde eher sagen, Stinkstiefel“, entgegnete Will.

„Ich meinte nicht die Staatsanwältin, sondern den Porsche“, sagte Steinbrecher. „Die Maurer ist kühler als der Nordwind.“

„Gebt ihr eine Chance“, warf Dr. Spichal ein. „Sie trägt die Schminke nicht nur im Gesicht, sondern auch auf dem Herzen.“

Bohlan blickte Dr. Spichal an. „Bist du jetzt auch Seelenklempner?“

Dr. Spichal hob die rechte Augenbraue. „Soweit liegen diese Metiers gar nicht auseinander. Wer wie ich in das Innere schauen kann, der hat auch ein besonderes Faible für die Seele.“ Er drehte sich um und ging die Stufen zum Eingang nach oben.

„Was ist mit dem Bericht?“, rief Bohlan ihm hinterher. Dr. Spichal, der die Hälfte der Treppe erklommen hatte, hob den rechten Arm.

„Liegt morgen auf deinem Schreibtisch.“

Gegen zwanzig Uhr rieb sich Julia Will mit den Händen über das Gesicht. Ihre Augenlider waren von dem langen, intensiven Lesen am Bildschirm schwer geworden. Sie hatte Mühe, sich auf die Buchstaben zu konzentrieren. Doch mit einem Mal durchzuckte sie ein Adrenalinstoß, der alle Müdigkeit auf einen Schlag verdrängte. Ein Kribbeln breitete sich in ihrer Magengegend aus und erfasste binnen Sekunden den ganzen Körper. In den vergangenen Stunden war sie die Vermisstenmeldungen im Computersystem INPOL durchgegangen. Mehr als fünfzehntausend Fälle waren in dem System gespeichert, darunter circa sechstausend Personen, die in Deutschland als vermisst gemeldet waren. Ein gewaltiges Datenmaterial stand also zur Verfügung. Zum Glück erledigte sich die Hälfte der Vermisstenfälle innerhalb der ersten Woche. Meistens waren es Probleme in der Schule, mit den Eltern oder schlicht Liebeskummer, die zum zeitweisen Verschwinden führten. Da zwei Drittel der Vermissten männlich waren, verringerte sich die Zahl der möglichen Treffer zwar beträchtlich, doch ein leichtes Unterfangen war es trotzdem nicht. Zunächst war Will die Fälle aus dem Rhein-Main-Gebiet durchgegangen. Es gab drei vermisste Mädchen, die in ihr Ermittlungsraster passten, doch bei keinem hatte sie etwas von einem Tattoo finden können. Daraufhin hatte sie die Suche auf ganz Deutschland erweitert. Sogleich hatte sich die Anzahl der Vermissten schlagartig vermehrt. Die ganzen Meldungen durchzugehen hätte Stunden gedauert. Trotzdem hatte sie mit dieser Sisyphusarbeit begonnen, doch nach eineinhalb Stunden war ihr diese Arbeit mehr als sinnlos vorgekommen. Einem Instinkt folgend, hatte sie noch mal die drei Fälle aus dem Rhein-Main-Gebiet aufgerufen. Bei der vermissten Nummer eins handelte es sich um eine fünfzigjährige Frau, die als korpulent beschrieben wurde. Nummer zwei war eine über Achtzigjährige, die aus einem Pflegeheim in Rödelheim verschwunden war. Blieb noch Vermisste Nummer drei, ein siebzehnjähriges Mädchen. Die Eltern hatten sie vor vier Tagen als vermisst gemeldet. Sie wohnte mit ihrer Familie in der Straße ‚Im Geeren. Die Adresse ließ Will aufschrecken. Das Neubaugebiet lag in Eschersheim, nur wenige Kilometer vom Leichenfundort entfernt. Will schaute sich die Meldung genauer an. Das Mädchen hieß Lea Schuster, 170 cm groß, schlank, schwarze Haare, grüne Augen, blasser Teint. Als besonderes Merkmal war eine Narbe über der rechten Augenbraue angegeben. Die elektronische Akte enthielt noch drei Fotos. Das erste zeigte Leas Gesicht. Will vergrößerte das Bild und musterte das junge Mädchen. Sie lächelte in die Kamera, kokettierte fast ein wenig. Das Gesicht zeigte Aufgeschlossenheit und Neugierde. Will klickte auf das nächste Foto. Es war schon etwas älter. Die Gesichtszüge wirkten ein wenig jünger. Die Haare waren kürzer. Das dritte Bild zeigte Lea Schuster wieder mit längeren Haaren in einem schwarzen Sommerkleid. Sie hielt ein Blatt Papier in die Kamera. Will konnte auf Anhieb nichts weiter erkennen, als einen länglichen schwarzen Fleck. Sie begann, das Bild aufzuzoomen. Mit jedem Klick stieg ihre Anspannung, wurde das Kribbeln in ihrem Magen stärker.

„Bingo.“ Sie blickte zu Bohlan, der die ganze Zeit den Bericht der KTU durchgesehen und nebenbei die Fotos vom Tatort sortiert hatte.

„Tom, ich habe sie gefunden.“

Tom Bohlan wusste sofort, was seine Kollegin meinte. In manchen Momenten schien es ihm, als sei sie für ihn ein offenes Buch. Die Erlebnisse der vergangenen Jahre hatten sie fest zusammengeschweißt. Sie waren zu einem Team geworden, kannten die Gewohnheiten und Reaktionen des Anderen. Sie hatten gelernt, sich gegenseitig einzuschätzen und zu vertrauen. Will, die im letzten Jahr die dreißig übersprungen hatte, war längst von einem abenteuerlustigen, aber etwas naiven Mädchen zu einer gestandenen Kommissarin gereift. Bohlan stand jetzt hinter Will und blickte mit ihr zusammen in die gleiche Richtung, auf das gleiche Foto, welches ein junges Mädchen zeigte, das sein ganzes langes Leben noch vor sich zu haben schien. Aber eine kleine Zeichnung, die sie in den Händen hielt, konnte der Vorbote eines grausigen Schicksals sein: die gezeichnete Lilie.

Sorgenvoll stand Natascha Weller unter einer Straßenlaterne und blickte zum Haus der Familie Schuster. Sie war erst vor wenigen Minuten den Berkersheimer Weg hinaufgelaufen, nachdem sie viele lange Minuten an der geschlossenen Bahnschranke gestanden hatte. Entgegen ihrer Gewohnheit war sie nicht den Weg über die nur wenige hundert Meter entfernt stehende Fußgängerbrücke gelaufen, die durch eine waldähnliche Anlage entlang des Sportplatzes führte. Schon zu normalen Zeiten hatte dieser Weg etwas Geheimnisvolles, beinahe Gespenstiges. Hinter jedem Stamm oder Busch konnte jemand stehen. Natascha Weller war kein ängstliches Mädchen und sie ging diesen Weg oft, bei Tag und auch in der Nacht, und trotzdem war sie jedes Mal froh, wenn sie die Straße erreicht hatte. Doch jetzt, nach Leas Verschwinden und dem grausigen Leichenfund, hatte sie der Mut verlassen. Wilde Gerüchte waren im Umlauf über eine verstümmelte Leiche, schlimm zugerichtet, zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Freilich hatte niemand die Leiche gesehen, aber die Tatsache, dass die Polizei den Fundort weiträumig abgesperrt und zudem mit einer Fahne verhängt hatte, ließ die wildesten Gerüchte wie Kraut in den Himmel schießen. Die Eingemeindung Eschersheims lag über hundert Jahre zurück, doch der Stadtteil war ein Dorf geblieben, vor allem im alten Ortskern waren viele Leute miteinander bekannt. Es gab eine evangelische Kirche mit Gemeindehaus, den Turnverein, die Freiwillige Feuerwehr und den einen oder anderen weiteren Verein – also genug Berührungspunkte für ausgeprägte Klatschgeschichten. Soviel Natascha mitbekommen hatte, handelte es sich um eine Wasserleiche. Seit einigen Tagen wurde ihre Freundin Lea vermisst. Wenn sie es richtig durchdacht hatte, war es Montag gewesen, als sie sie zuletzt gesehen hatte. Heute war Donnerstag. Dass Lea für mehrere Tage von der Bildfläche verschwand, war mehr als ungewöhnlich. Sie war eine ziemlich zuverlässige Person. Man konnte sich auf sie tausendprozentig verlassen. Die beiden verband eine lange Freundschaft. Sie waren zusammen durch dick und dünn gegangen, seit sie sich in der Sandkiste kennengelernt hatten. Damals war das Baugebiet gerade im Entstehen gewesen. Sie hatten zusammen die Grundschule besucht und waren dann auf das Gymnasium gewechselt. Natürlich hatte es mal den einen oder anderen Streit gegeben, wie es in einer Mädchenbeziehung üblich ist, doch letztlich hatten sie sich spätestens nach zwei Tagen wieder zusammengerauft. Umso merkwürdiger war es, dass Lea nun einfach verschwunden war. Sie hatte sich in den letzten Wochen zwar etwas merkwürdig verhalten, war distanzierter als sonst gewesen und hatte nicht jeden Tag angerufen. Natascha hatte den Verdacht, dass irgendein Junge dahinterstecken musste. Doch so sehr sie auch versucht hatte, etwas aus Lea herauszubekommen, es war ihr nicht gelungen. Normalerweise hätte Natascha dieses Abblocken kränken müssen. Schließlich hatten sie sich in der Vergangenheit ausnahmslos alles über ihre Freunde erzählt. Doch auch sie selbst hatte über ihre aktuelle Beziehung Lea gegenüber kein Wort verloren. Aber das war eine andere Geschichte. Oder war es doch keine andere Geschichte? Vielleicht hing Leas distanzierte Art direkt damit zusammen? Die Vorstellung, dass Lea etwas über ihre aktuelle Beziehung herausgefunden hatte und das der Grund für ihr Verhalten gewesen sein könnte, stimmte Natascha traurig. Sie hätte gerne mit Lea darüber gesprochen, doch das war ihr nicht möglich gewesen. Sie hatte mit niemandem über ihre Beziehung gesprochen.

Tom Bohlan war lange nicht durch Eschersheim gefahren. Die Zeiten, in denen er der Batschkapp, einer Diskothek, Besuche abgestattet hatte, lagen schon Jahrzehnte zurück. Er nahm am Weißen Stein die Abbiegung, raste an einer Eisdiele vorbei, die freilich bereits geschlossen hatte, und bog wenig später in die Zehnmorgenstraße ein. Etwa in Höhe des Fußballplatzes nahm er die Abbiegung zum Neubaugebiet. Moderne Reihenhäuser standen dicht an dicht, meist parkten schicke Autos davor. Bohlan verlangsamte das Tempo und hielt vor dem Haus der Familie Schuster.

„Bringen wir es hinter uns.“

Als Natascha um die Ecke bog, sah sie einen Wagen vor Schusters Haus halten. Ein Mann und eine Frau stiegen aus. Lea fühlte sich wie von einem Blitz getroffen. Obwohl sie noch nie im Leben mit der Polizei zu tun gehabt hatte, wusste sie sofort, dass es zwei Polizisten waren. Dies konnte nichts Gutes bedeuten. Natascha beschloss, noch nicht nach Hause zu gehen. Sie wollte sehen, wie sich die Sache hier weiter entwickelte, und blieb an der Straßenecke stehen. Sie wich lediglich einen Schritt zurück, um nicht im Schein der Straßenlaterne zu stehen. Die Minuten krochen quälend langsam dahin. Das Warten war schier unerträglich. Obwohl es immer noch ziemlich warm war, fröstelte es Natascha und sie sehnte sich nach einer Jacke. Die beiden Polizisten waren bereits gefühlte Stunden bei den Schusters. Natascha trat nervös von einem Bein auf das andere. Hätte sie jemand gefragt, warum sie hier stand und wartete, sie hätte ihm keine vernünftige Antwort geben können. Ihr Kopf war voller Fragen, ihr Herz voller Gefühle. Sie kramte eine Zigarettenpackung aus ihrem Rucksack, entnahm eine Zigarette, steckte sie in den Mund und zündete sie an. Der erste Zug war wie eine Erlösung. Sie sog das Nikotin tief in sich ein, um es dann wieder auszuatmen. Der blaue Dunst entstieg ihrem Mund und zog gen Himmel. Natascha schaute ihm nach. Der Himmel war sternenklar. Was, wenn es tatsächlich Lea war, die man aus der Nidda gezogen hatte? Würde sie jetzt auf einem dieser Sterne sitzen und auf sie herabschauen? Oder würde ihre Seele durch die Sommerluft schwirren und dicht an ihr vorbei ziehen?

Die Sorgen und die Angst der vergangenen Tage standen Herrn und Frau Schuster ins Gesicht geschrieben. Offensichtlich hatten sie viel geweint und wenig geschlafen. Tom Bohlan kam ohne viele Umwege zum Punkt, zumal er davon ausgehen musste, dass sich der Leichenfund im Stadtteil schnell herumgesprochen hatte. In knappen Worten berichtete er vom Leichenfund, wobei er aus Pietät den verschwundenen Kopf außen vorließ. Die Schusters hatten schon genug Kummer ertragen, den er nicht zusätzlich mit üblen Bildern überfrachten wollte. Immerhin wäre es noch möglich, dass es sich bei der gefundenen Leiche doch nicht um Lea Schuster handelte. Stattdessen sprach er nebulös von Schwierigkeiten bei der Identifizierung und kam auf das Foto in der Vermisstenakte zu sprechen, auf dem Lea Schuster mit der Skizze einer Lilie abgebildet war.

„Wie Sie sicher schon erfahren haben, wurde heute ein Leiche …“ Bohlan brach ab, als er seinen Blick von Herrn zu Frau Schuster schwenkte. Ihr zuvor angsterfülltes Gesicht zeigte nun tiefes Entsetzen. Mit einem Aufschrei sank sie in den Armen ihres Mannes zusammen.

„Sie müssen meine Frau entschuldigen. Sie ist mit den Nerven am Ende“, sagte Herr Schuster. Das Sprechen fiel ihm schwer und er war mehr als bemüht, die Contenance zu wahren. Bohlan überlegte, wie er weiter verfahren sollte. Er war in seiner langen Laufbahn schon oft der Überbringer schlechter Nachrichten gewesen, doch selten war ihm das mehr an die Nieren gegangen als jetzt. Schon der Verlust des eigenen Kindes konnte ausreichen, ein ganzes Leben zu zerstören. Die Mordumstände dieses Falles steigerten die Unerträglichkeit um ein Vielfaches.

„Hatte Ihre Tochter irgendwelche besonderen Merkmale?“

„Vor wenigen Woche hat sie sich eine Lilie auf die Schulter tätowieren lassen“, antwortete Schuster. „Warum fragen Sie?“

„Berufsneugierde. Natürlich muss es sich bei der Toten nicht um Ihre Tochter handeln“, sagte er schließlich und kam sich unglaublich albern vor. „Wir müssen einen DNA-Test machen.“

Eigentlich hatte Natascha bei den Schusters klingeln wollen, doch sie hatte sich nicht getraut. Irgendetwas hatte sie davor zurückgehalten. Normalerweise war sie nicht der schüchterne Typ. Sie ging offen auf alles zu, hatte keine Scheu, unangenehme Dinge auszusprechen. Doch an diesem Abend war das nicht möglich. Vielleicht war es eine Art Selbstschutz. Unverrichteter Dinge ging sie nach Hause und schmierte sich in der Küche zwei Brote. Danach lugte sie ins Wohnzimmer und wünschte ihren Eltern eine gute Nacht. Sie stellte die Brote in ihrem Zimmer ab, ging ins Bad, wo sie sich auszog und duschte. Dann streifte sie sich den Schlafanzug über und setzte sich an den Computer. Die Neuigkeiten auf Facebook waren schnell gelesen. Natürlich drehten sich viele Kommentare um die gefundene Leiche. Merkwürdigerweise brachte niemand den Fund mit dem Verschwinden Lea Schusters in Verbindung. Warum? War das Naheliegende wirklich unvorstellbar? Nach einiger Zeit klickte sie Facebook weg und wechselte zu ihren E-Mails. Einige Freunde hatten ihr etwas geschrieben, aber es war nichts wirklich Wichtiges dabei. Die wichtigste E-Mail hatte sie sich für den Schluss aufgehoben. Sie war von dem Mann, den sie mehr liebte als alles andere auf der Welt. Leider war die Beziehung kompliziert. Es gab noch eine andere Frau und sie konnten sich nicht so oft sehen. Aber sie schrieben sich jeden Abend und träumten von einer gemeinsamen Zukunft. Heute würde ihre E-Mail allerdings anders aussehen als üblich. Heute schrieb sie nicht von der Liebe, sondern von dem, was sie draußen beobachtet hatte. Sie schrieb von den dunklen Gefühlen und von der Angst, Lea für immer verloren zu haben. Mit niemandem sonst hatte sie über all dies gesprochen, nur er war es wert, das alles zu wissen. Es war bereits nach Mitternacht, als sie den Computer ausschaltete und sich ins Bett legte. An Schlaf allerdings war lange nicht zu denken.

Freitag

Tom Bohlan hatte schlecht geschlafen und war dementsprechend müde, als er mit einer Brötchentüte das Polizeipräsidium betrat. Gestern Abend war es spät geworden. Nach dem Besuch bei den Schusters hatten Will und er noch einige Kleidungsstücke und andere Proben im Labor abgegeben. Mithilfe dieser Dinge war ein DNA-Abgleich mit der Leiche möglich. Im Laufe des Tages würde es also Gewissheit darüber geben, ob es sich bei der Toten wirklich um Lea Schuster handelte. Obwohl Bohlan ein unverbesserlicher Optimist war, stellte er sich innerlich auf diesen Fall ein. Er hatte am Abend lange auf dem Deck seines Hausbootes gesessen, Löcher in die Luft gestarrt und Überlegungen angestellt, wie er an diesen Fall herangehen sollte. Wenn es sich bei der Toten um Lea Schuster handelte, dann galt es, ihr Leben zu durchwühlen. Es würde Befragungen in der Schule geben müssen, genauso wie in ihrem privaten Umfeld. Natürlich würde es einigen Wirbel geben und die Presse würde über jedes Detail berichten. Wenn Kinder oder Jugendliche Opfer von Gewalttaten wurden, führte das meist zu einer gewissen Hysterie in der Öffentlichkeit. Einen kleinen Vorgeschmack hatte die Pressestelle der Polizei bereits gestern erhalten, als sie im unmittelbaren Anschluss an den Leichenfund mit Anrufen schier bombardiert worden waren. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten versucht, alles unter Kontrolle zu behalten, doch der Fund einer Leiche in unmittelbarer Nähe zum Eingang eines der größten Frankfurter Schwimmbäder war auch mit höchster Geheimhaltungsstufe nicht zu verbergen. Irgendeiner der Passanten kannte mit Sicherheit jemanden von der Presse, wenn er nicht sogar selbst dort arbeitete. So war es keineswegs verwunderlich, dass sowohl die seriösen Zeitungen als auch das Boulevardblatt Wind von der ganzen Sache bekommen hatten. Selbst die örtlichen Rundfunkanstalten waren wenige Stunden nach dem Fund aufgescheucht. Bohlan war heilfroh, dass er einen guten Teil des gestrigen Tages außer Haus gewesen war. So war er für die Geier nicht erreichbar gewesen und alles war in der Pressestelle zusammengelaufen. Dort hatte man tatsächlich ganze Arbeit geleistet und vorgefertigte, knappe Erklärungen verfasst und stereotyp wiederholt. In wenigen Sätzen wurde der Leichenfund bestätigt. Man wisse noch nicht, um wen es sich handelte, die Leiche sei schlecht identifizierbar, es gäbe aber erste Hinweise. Der Kommissar hatte es bislang vermieden, die heutigen Ausgaben der Frankfurter Zeitungen zu lesen. Einerseits war er gespannt darauf, was die Pressefuzzis aus den wenigen Informationen gemacht hatten, andererseits schreckte ihn die Aufregung zurück, die solche Artikel ihm meist bescherten. Bohlan hatte schon immer ein gespaltenes Verhältnis zur Presse gehabt. Zwar wusste er, dass sie durchaus von Nutzen sein konnte, beispielsweise dann, wenn man einen Verdächtigen suchte und ein Bild veröffentlichen wollte. Auch bei der Aufdeckung brisanter Skandale konnte die Presse eine nützliche Einrichtung sein, ein Umstand, den Bohlan aus eigener Erfahrung kannte. Vor zwei Jahren konnte er einige Morde aufklären, die im Umfeld der Steuerfahnder-Affäre passiert waren, es blieb ihm jedoch untersagt, die Hintermänner der ganzen Geschichte zu verfolgen, weil man ihm die Kompetenzen entzogen und dem LKA übertragen hatte. Als einziges Beweisstück war ihm ein Computerstick geblieben, der dann auf mysteriöse Weise bei einem Journalisten landete, der darauf spezialisiert war, politische Skandale zu recherchieren. Wenige Monate später war es dann so weit gewesen und ein Minister hatte zurücktreten müssen. Bei diesem Gedanken fühlte Bohlan einen gewissen Stolz, wenn er auch für die Früchte seiner Arbeit niemals eine Belobigung bekommen würde, denn er hatte beschlossen, im Dunkeln zu bleiben und sein Wissen mit ins Grab zu nehmen.

Bohlan erreichte den Aufzug und fuhr zu seinem Arbeitsplatz im vierten Stock. Als er das Kommissariat erreichte, strömte ihm der Duft von frisch gebrühtem Kaffee entgegen. Ein sicheres Indiz dafür, dass zumindest einer seiner Kollegen bereits vor Ort war. Tatsächlich traf er auf Steinbrecher und Steininger, die Kaffee trinkend am Besprechungstisch saßen und die morgendliche Presse durchgingen.

„Morgen zusammen“, sagte Bohlan und legte die Brötchentüte auf den Tisch. „Und? Weiß die Zeitung mehr als wir?“

„Diesmal nicht. Die tappen ziemlich im Dunklen“, sagte Steinbrecher und konnte sich eine leichtes Lächeln nicht verkneifen.

„Lass mal sehen“, knurrte Bohlan und zog den Zeitungsstapel zu sich, während er den ersten Schluck Kaffee trank. Tatsächlich war die Berichterstattung in den seriösen Blättern recht knapp gehalten und orientierte sich an der offiziellen Erklärung der Pressestelle. Lediglich die Boulevardzeitung berichtete auf der ersten Seite über den Leichenfund und fragte in großen Lettern ‚Wer kennt die mysteriöse Tote?‘ Der Artikel las sich wie ein Schauermärchen. Kopfschüttelnd legte Bohlan die Zeitungen beiseite.

„Ist sonst irgendwas passiert?“

„Ja, der Obduktionsbericht ist schon da. Dr. Spichal muss eine Nachtschicht eingelegt haben.“