Kristallstöffche - Lutz Ullrich - E-Book

Kristallstöffche E-Book

Lutz Ullrich

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Beschreibung

Eine Joggerin entdeckt im Martin-Luther-King Park zwei blutverschmierte Koffer, die zerstückelte Leichenteile enthalten. Der Polizei gelingt es, Fingerabdrücke und DNA zu rekonstruieren und die Toten zu identifizieren: ein Ehepaar aus dem Obdachlosenmilieu. Außerdem werden Spuren von Crystal Meth nachgewiesen. Hauptkommissar Tom Bohlan und seine Kollegin Julia Will müssen all ihren Spürsinn unter Beweis stellen, um im Dickicht von Drogenschmuggel, Fitnesswahn und Beziehungsdrama den Überblick zu behalten …

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LASP-Verlag

Der Autor

Lutz Ullrich, Jahrgang 1969, studierte Politik und Rechtswissenschaften, schrieb für verschiedene Zeitschriften, betätigte sich in der Politik und arbeitet heute als Rechtsanwalt. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Frankfurt. Mehr Informationen gibt es unter www.lutzullrich.de.

In der Tom-Bohlan-Reihe sind bisher folgende Bücher erschienen:

Der Kandidat (2009)*

Tod in der Sauna (2010)*

Tödliche Verstrickung (2011)*

Stadt ohne Seele (2012)*

Mord am Niddaufer (2013)*

Das Erbe des Apfelweinkönigs (2014)*

Kristallstöffche (2015)

Außerdem der Kurzkrimi:

Bohlan und das geheimnisvolle Manuskript

Alle Bücher sind auch als E-Book erhältlich

)* im Röschen Verlag

Handlung und Personen sind – abgesehen von historischen Personen und solchen des Zeitgeschehens – frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kristallstöffche

Ein Kriminalroman von Lutz Ullrich

© 2015 Lutz Ullrich

Umschlag, Foto: Lutz Ullrich

Lektorat: Stefanie Reimann

LASP-Verlag, Schwalbach am Taunus – Frankfurt am Main

Satz: Udo Lange

1. Auflage

ISBN

Paperback 9783946247005

Hardcover 9783946247012

e-Book 9783946247029

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

1.

Tom Bohlan schob die Espressotasse zur Mitte des Tisches. Sie war leer. Nur an den Rändern und auf dem Boden hafteten dunkelbraune Kaffeereste. Von den Kreisen, die er noch vor wenigen Minuten mit dem Löffel gezogen hatte, fehlte jede Spur. Weggespült. Vernichtet. So einfach funktionierte das mit den Bildern in seinem Kopf nicht.

Bohlan wusste nicht, wie lange er hier schon saß. Die Tischnachbarn wechselten ständig. Koffer rollten über den Boden. Kinder zerrten ungeduldig an ihren Eltern. Draußen starteten und landeten die Flugzeuge im Sekundentakt. Nur in seinen Erinnerungen lächelte Tamara ihn an. Immer wieder. Sie lächelte und drehte sich um. Sie lächelte und drehte sich um …

Er wusste nicht, wie oft sich diese Szene in den letzten Minuten vor seinem inneren Auge abgespielt hatte. Immer wieder das gleiche Bild. Immer wieder die gleiche Handlung. Und täglich grüßt das Murmeltier, murmelte der Kommissar. Die Zeit um ihn herum raste davon. In seinem Kopf blieb sie stehen. Verschiedene Welten. Unterschiedliche Zeit-korridore. Gab es so etwas wirklich? Unterlag Zeit keiner Gesetzmäßigkeit? Konnte man sie anhalten, vor- oder zurückspulen? Ungeahnte Möglichkeiten tauchten am Horizont auf. Wenn das wirklich möglich wäre, dann …

Bohlan blieb keine Zeit, weiter zu sinnieren. Etwas pochte in seiner Brusttasche. Es war laut, fordernd und unzweideutig. Er könnte es weiter vibrieren lassen. Doch natürlich war es keine Option, den Rest seines Lebens an einer Flughafenbar zu verbringen und die Anrufe seines Chefs wegzudrücken.

Er zog das Smartphone heraus und räusperte sich. »Hey, Klaus, was gibt’s?«

»Wo steckst du, Tom? Wir warten seit über einer Stunde au dich.«

»Ich habe Tamara zum Flughafen gebracht und bin hier versackt. Sorry, nimm’s mir nicht übel. Ich brauche heute ein paar Stunden für mich. Mein Akku ist leer.«

Klaus Gerding antwortete nicht sofort. Für einige Sekunden hörte Bohlan nur den Atem des Chefs der Frankfurter Mordkommission. Dann erst folgte der erlösende Satz:

»Okay, Tom. Schlaf dich aus. Wir sprechen morgen in Ruhe.«

Bohlan drückte das Gespräch zufrieden weg und legte das Smartphone neben die Espressotasse. Für einige Minuten beobachtete er die Menschen um sich herum. Die junge Frau, die hinter dem Tresen stand und die Bestellungen entgegennahm. Die Gäste, die die Angebote auf großen Leuchttafeln studierten. Der Mann zwei Tische weiter, der einen Cheeseburger aß und nebenbei die Boulevardzeitung las. Das junge Pärchen, das zusammensaß, jeder eine Cola vor sich und das Handy im Blick. Sprachen sie noch miteinander oder kommunizierten sie per SMS oder WhatsApp? Bohlan kam wieder ins Grübeln. Wie verhält es sich eigentlich mit dem Küssen oder dem Sex in einer digitalen Welt? Gab es dafür auch eine App? Ging man für solche Erlebnisse in ein 4-D-Kino?

In seinem Kopf reifte die Erkenntnis, dass er keine Antworten finden würde. Nicht an diesem Morgen. Schließlich raffte er sich auf. Er nahm das Smartphone vom Tisch und schaltete es in den Flugmodus. Für heute war er weg von dieser Welt.

Auf dem Weg über die Autobahn ließ er die vergangenen Wochen Revue passieren. Er hatte bis zum Hals in Ermittlungsarbeiten gesteckt. Die Morde vor dem Hintergrund des Erbschaftsstreits um den Frankfurter Apfelweinkönig Heinz Wagenknecht hatten ihm und seinem Team alles abverlangt. Die Mörderin hatte eine wahnsinnige Schnitzeljagd mit der Frankfurter Mordkommission veranstaltet.

Doch dieser Fall klang nicht so sehr in seinem Kopf nach wie die Affäre mit Tamara, die er sich geleistet hatte.

Gegen besseres Wissen hatte er sich auf sie eingelassen. Zum Teufel mit den Hormonen! Zur Hölle mit den Gefühlen!

Er hätte vor dieser Frau gewarnt sein müssen, war er ihr doch schon einmal auf den Leim gegangen. Das war Jahre her und eine andere Zeit gewesen. Zumindest hatte Bohlan das geglaubt. Eine Fehleinschätzung, wie sich nun herausstellte, guter Sex war eine, tiefgehende Gefühle eine ganz andere Sache. Oder handelte es sich doch nur um die zwei Seiten derselben Medaille?

Je länger die Sache mit Tamara andauerte, desto mehr sah er das böse Ende auf sich zukommen. Er war sehenden Auges in sein Unglück gerast. Das war das Schlimmste an der ganzen Sache. Jetzt war sie zu ihrer Familie nach Berlin zurückgekehrt und er saß hier alleine mit seinem ganzen Gefühlschaos. Selbst schuld, sagte er sich. Er hätte die Finger von dieser Frau lassen sollen. Bohlan bog von der Autobahn ab und kurvte durch Höchst, der Wörthspitze entgegen, wo sein Hausboot lag.

Allerdings war die Sache mit Tamara nicht die einzige Sorge, die ihn plagte. Vor wenigen Wochen hatte Klaus Gerding ihm eröffnet, im nächsten Jahr in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen. Im gleichen Gespräch hatte der Chef der Frankfurter Mordkommission ihn gefragt, ob er sein Nachfolger werden wolle. Seitdem schuldete Bohlan seinem alten Freund eine Antwort. Die Arbeit am aktuellen Fall war ein guter Vorwand gewesen, die Gedanken über die eigene Zukunft zu vertagen. Doch jetzt, wo der Fall geklärt war, gab es keinen Grund mehr, die Entscheidung weiter aufzuschieben. »Zum Teufel damit«, stieß Bohlan aus. Er hasste Veränderungen. Warum konnte nicht alles so bleiben, wie es war? Es gab zwei Fixpunkte in seinem Leben, die er nicht verändern wollte. Der eine war sein Wohnsitz. Nirgendwo fühlte er sich so wohl wie auf dem alten Kahn. Der andere war sein Ermittlerteam. Die Kollegen stellten eine Art Ersatzfamilie für ihn dar. Jeder hatte seine Eigenarten und Macken. Über jeden konnte man sich ab und zu trefflich ärgern, aber trotzdem stimmte die Mischung. Sollte er wirklich das alles eintauschen gegen einen Bürojob, noch dazu, wenn dieser damit verbunden war, Vorgesetzter zu werden? Jeder wusste doch, dass es dann vorbei war mit der lockeren Plauderei. Die anderen müssten ihm mit Respekt entgegentreten. Respekt war etwas anderes als Freundschaft. Taugte er überhaupt zum Vorgesetzten?

Alles sprach also gegen Gerdings Vorschlag. Und doch quälte er sich so lange mit einer endgültigen Antwort. Die Leuchtreklame des Supermarkts riss ihn aus den Gedanken. Er reagierte schnell und fuhr den Wagen auf den Parkplatz, schließlich herrschte in seinem Kühlschrank die gewohnte Leere. Er brauchte Proviant für den Tag an Bord.

Orientierungslos schob Bohlan den Einkaufswagen durch die endlos langen Supermarktgänge. Wahllos nahm er Waren aus den Regalen und warf dabei verstohlene Blicke in andere Wagen, in der Hoffnung, Einkaufsideen zu erhaschen. Kurz bevor er sich in die Schlange an der Kasse einreihte, betrachtete er prüfend den Inhalt der Karre: ein paar Flaschen Bier und Wein, Aufbackpizzen, ein Bund Basilikum, Kaffeebohnen, Milch, Butter, Cornflakes, Knäckebrot, Aufbackbrötchen, Wurst und Käse. Gar keine schlechte Ausbeute, dachte Bohlan. Lediglich das probiotische Trinkjoghurt stellte er im letzten Regal vor der Kasse wieder ab, wo es ein klägliches Dasein zwischen Deos und Duschgels fristete.

***

Julian Steinbrecher hatte die Schnauze gestrichen voll. Noch zwei Wochen bis zum Ende der Praxisstation. Dann war der Spuk in diesem Revier zu Ende und er konnte endlich wieder die Schulbank drücken. Er hoffte inständig, im nächsten Praxisdurchgang in ein anderes Revier eingeteilt zu werden. Seit er die Polizeischule besuchte, war dies der mit Abstand nervigste Einsatzort. Er hatte mit seinem Vater, der seit über dreißig Jahren bei der Mordkommission seinen Dienst tat, schon viele Stunden über diese Situation diskutiert. Und letztlich gab es nur eine einzige Strategie: Augen zu und durch.

In einer guten halben Stunde nahte das Ende seiner Schicht. Dann ab nach Hause und ausruhen.

»Steinbrecher! Kommen Sie mal!« Die laute, durchdringende Stimme des Revierleiters erfüllte die Räume. Julian Steinbrecher beeilte sich, zu seinem Chef zu kommen.

»Was gibt’s?«

»In Zimmer eins ist ein Mann. Der will eine Anzeige machen. Ein guter Job für dich. Da kannst du deine Fähigkeiten mal so richtig unter Beweis stellen.«

»Aber meine Schicht ist in einer halben Stunde zu Ende …«, setzte Steinbrecher an. Doch er wusste, dass es sinnlos war.

»Egal, dann mach halt kurzen Prozess mit dem Kerl. Der hat sowieso nicht alle Latten am Zaun.«

Missmutig schlurfte Steinbrecher über den Flur. Wieder einmal hatte man ihm einen undankbaren Job zugewiesen. Es gab genug Spinner, die sich über Gott und die Welt beklagten und Anzeige erstatten wollten. Revierarbeit und Streifefahren, das war einfach nichts für ihn. Er wollte zur Mordkommission. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg.

Der Mann, der in Raum eins auf ihn wartete, machte auf den ersten Blick einen verwahrlosten Eindruck. Er trug eine schmutzige Cordhose und unter dem offen stehenden Parka ein ausgeleiertes T-Shirt. In der Mitte seines Gesichts prangte eine viel zu große Nase. Seine Haare waren fettig, die Wangen unrasiert. Noch dazu stank er zum Himmel. Steinbrecher schätzte ihn auf vierzig, plus minus. Auf dem Boden vor ihm stand die Plastiktüte eines Discounters. Steinbrecher setzte sich hinter den Schreibtisch und schaute den Mann an.

»Sie wollen also eine Anzeige zu Protokoll geben!?«

»Ja, das sagte ich Ihrem Kollegen bereits.«

»Gut. Name, Geburtsdatum, Adresse.« Steinbrecher leierte die Fragen desinteressiert herunter.

»Hagedorn, Sven. 23.7.1970. Hügelstraße 85.«

Steinbrecher schaute auf. Er hätte Tod und Teufel darauf gewettet, dass sein Gegenüber auf der Straße lebte. Tatsächlich schien er aber einen festen Wohnsitz zu haben. Er musste das unbedingt später überprüfen.

»Und wen oder was wollen Sie anzeigen?«

»Robert De Niro.«

Steininger nahm die Finger von der Tastatur und versuchte, ernst zu bleiben, konnte sich ein Lachen aber nicht verkneifen.

»Und Dustin Hoffman«, fügte Hagedorn mit todernstem Gesicht hinzu.

»Wollen Sie mich veralbern?«

Hagedorn schaute Steinbrecher an, ohne etwas zu sagen. Beinahe lautlos öffnete und schloss er immer wieder den Mund. Nur das Aufeinandertreffen und Lösen der Lippen verursachte ein leichtes Pochen. Speichel rann über sein Kinn. Kein besonders appetitlicher Anblick. Wahrscheinlich hatte er einen Tick, vermutete Steinbrecher. Oder er nahm irgendwelche Medikamente.

»Keineswegs«, sagte Hagedorn.

»Okay. Der Reihe nach. Wegen was wollen Sie Robert De Niro und Dustin Hoffman anzeigen?«

»Stalking.«

Wieder zuckte Hagedorns Mund. Auf und zu, immer wieder.

»Wann soll das gewesen sein?«

»Vor zwei Stunden. Sie senden mir Signale. Jede Nacht. Ich kann kaum noch schlafen.«

Sein Chef hatte recht gehabt. Hagedorn hatte wirklich nicht mehr alle Sinne beieinander. Steinbrecher musste schnell aus dieser Nummer herauskommen. Nur wie? Noch zwanzig Minuten bis Dienstschluss. Er überlegte fieberhaft, wie er das anstellen konnte.

»Vielleicht sollten Sie den Fernseher ausschalten. Hören Sie Musik. Lesen Sie ein Buch.«

»Das nützt nichts. Es sind übrigens nicht nur De Niro und Hoffman. Vor zwei Wochen war es Bruce Willis und davor …«

»Schon gut, schon gut. Es haben sich also alle Hollywoodgrößen gegen Sie verschworen, stimmt’s?«

»Es macht den Anschein.«

»Und was verlangen sie von Ihnen?«

»Sie können nichts dafür. Der CIA setzt sie unter Druck. Der Geheimdienst hat sie auf mich angesetzt. Sie sollen mich fertigmachen. Weil ich sein Treiben durchschaut habe. Ich bin eine Gefahr für die. Wissen Sie?!«

Steinbrecher hatte aufgehört, sich Notizen zu machen. Der Fall war zu eindeutig. Hagedorn stand entweder unter Drogen oder er litt an Verfolgungswahn. Beides war schlimm, rechtfertigte aber keine Strafanzeige gegen die führenden Protagonisten Hollywoods.

»Warum sollten Sie für den CIA gefährlich sein?«

»Nicht für den CIA, für die Herrschenden. Für die, die die Welt in den Händen und uns alle als Sklaven halten. Ich habe das System durchschaut. Ich weiß die Wahrheit und nun will man verhindern, dass ich das Geheimnis verrate.«

»Nehmen Sie Medikamente? Sind Sie in ärztlicher Behandlung?« Steinbrecher musste diese Frage irgendwann stellen, das war unvermeidlich. Hagedorns Gesicht verfinsterte sich. Die Zuckungen in seinem Gesicht nahmen zu. Es brodelte in ihm.

»Sie gehören auch zu denen, stimmt’s? Verdammter Mist. Ich bin in die Falle getappt.«

Hagedorns Augen flackerten wild hin und her. Er begann, mit dem rechten Bein nervös zu wippen. Immer schneller. Steinbrecher fühlte sich zunehmend unwohl. In seinem Gegenüber braute sich Unheil zusammen. Er brauchte Unterstützung. Nur zur Sicherheit. Kein Mensch konnte einschätzen, was Hagedorn in seinen wirren Gedanken ausbrütete.

»Wollen Sie vielleicht einen Kaffee oder ein Wasser?« Steinbrecher erhob sich. Hagedorn hörte auf, nervös mit dem Bein zu wippen.

»Kaffee«, sagte Hagedorn.

Steinbrecher war erleichtert. Sein Plan schien zu funktionieren. Er konnte unter einem Vorwand den Raum verlassen und Unterstützung holen. Als er Hagedorn passierte, hielt er die Luft an. Der beißende Geruch, den der Mann verströmte, war widerlich. Er erreichte die Tür. Seine Hand legte sich auf die Klinke.

»Halt«, donnerte Hagedorn und sprang auf. »Wo wollen Sie hin?«

»Kaffee holen.«

»Nein!«, schrie Hagedorn. Er stand jetzt direkt vor Steinbrecher. Metall blitzte auf. Steinbrecher hatte keine Ahnung, wie es Hagedorn geschafft hatte, plötzlich ein Messer hervorzuzaubern.

»Schön hiergeblieben. Ich lass mich nicht so leicht verarschen, Bürschchen. Du willst doch nur die Anderen holen und mich einbuchten. Du gehörst zu denen.«

Hagedorn drückte sich mit seinem gesamten Körpergewicht gegen Steinbrecher, der der Masse nicht standhalten konnte. Er taumelte rücklings gegen die Tür. Hagedorn setzte nach. Das Messer war Steinbrechers Gesicht gefährlich nahe. Doch dann erlangte der junge Polizist die Kontrolle zurück. Er griff Hagedorns Arm und konnte ihn von sich wegdrücken. Hagedorn wankte und fiel nun seinerseits gegen den Schreibtisch. In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und zwei Kollegen kamen zu Hilfe. Gerade noch rechtzeitig, bevor sich Hagedorn wieder auf Steinbrecher stürzen konnte.

2.

Als Bohlan erwachte, war es draußen längst hell. Die Sonne knallte flirrend heiß durch die Fensterscheibe und erhitzte das Schlafzimmer. Noch bevor er die Augen öffnete, wusste er, dass der Tag fürchterlich werden würde. In seinem Schädel hämmerte und ratterte es, als führen Bagger hinter seiner Stirn im Kreis herum. Durch die offen stehende Schlafzimmertür drang Musik. Immer wieder die gleichen Zeilen und Takte, unterbrochen durch ruckartiges Geknackse.

»I’d run right into hell and back. I would do anything for love, I’ll never lie to you and that’s a fact.«

Bohlan versuchte zu verstehen, was vor sich ging. Endlich kehrten die Erinnerungen zurück. Zu später Stunde hatte er seine alte Plattensammlung durchgesehen und eine Zeitreise in die musikalische Vergangenheit unternommen. Und diese Platte hatte eindeutig einen Sprung. Immer wieder sprang die Nadel zurück. Es war zum Verrücktwerden. Bohlan erhob sich, schlurfte ins Wohnzimmer und befreite das Vinyl von der quälenden Nadeltortur. Auf dem Rückweg stolperte er über eine auf dem Boden stehende halbleere Weinflasche. Der Bordeaux ergoss sich einer Blutlache gleich über die Holzplanken. Bohlan zerrte ein Küchenhandtuch herbei und ließ es auf die rote Lache fallen. Die Baumwolle saugte sich in Windeseile mit dem gegorenen Traubensaft voll. Das war kein gutes Omen. Diese Vorkommnisse bestätigten Bohlans Befürchtungen. Dieser Tag konnte nur misslingen. Missmutig füllte er den Kaffeekocher mit Wasser, schaufelte Espressopulver in das Sieb, setzte die Einzelteile zusammen und stellte die Kanne auf den Herd. Dann warf er sich zwei Aspirin ein und flüchtete unter die eiskalte Dusche. Nach einer Minute fröstelte es ihn. Nach zwei Minuten stellte er das Wasser ab, griff nach einem Handtuch und trocknete sich ab. Er warf sich einen Bademantel über, goss Kaffee in einen Becher und presste den Saft einer ganzen Zitrone dazu. Oma Wills Spezialrezept hatte schon manchen Tag nach einer durchzechten Nacht erträglicher gemacht. Er setzte sich mit dem Kaffeepott an Deck und beobachtete die Schwäne, die lautlos durch das Wasser glitten. Als ihm die leicht fischig riechende Luft bewusst wurde, entschloss er sich, das Smartphone aus dem Schlaf zu erwecken. Eine folgenschwere Entscheidung.

***

Tom Bohlan wusste genau, wohin er fahren musste. Er kannte den Weg aus dem Effeff. Viele Male hatte er Julia Will nach Hause gebracht. Meist abends, wenn die Einsätze länger gedauert hatten. Das war, bevor sie sich einen kleinen Wagen geleistet hatte. Jetzt parkte er den Lupo am Ende einer Stichstraße und lief die wenigen Meter zu seinem Ziel, das nur ein paar Straßenzüge von Wills Haus entfernt lag. Wie alles in der Nordweststadt, war auch der Martin-Luther-King-Park in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts künstlich angelegt worden. Eine Retortenstadt im Grünen, entstanden in einer Zeit, in der Worten wie ›Fortschritt‹ und ›Aufbruch‹ ein verführerischer Klang anhaftete. Als er den Park betrat, stachen ihm zwei Dinge ins Auge: ein Zirkuszelt, dessen Plane rot und grün leuchtete, und ein paar Meter dahinter rot-weißes Absperrband, das nicht minder auffällig war. Es umspannte ein Areal, das wie ein kleiner Wald aussah, aber natürlich nur eine Ansammlung von Bäumen und Büschen sein konnte. Mittendurch führte ein Spazierweg. Ein idyllisches Plätzchen, dachte Bohlan und marschierte in diese Richtung, wohl wissend, dass der Anschein zumindest an diesem Morgen trügerisch war.

»Ah, du bist schon da. Sehr gut!« Julia Will kam ihm entgegen. Wie immer verbreitete sie hektische Betriebsam-keit.

»Ich habe mich beeilt, aber du hast einen klaren Standortvorteil«, knurrte Bohlan. Immerhin hatte der Kopfschmerz nachgelassen.

»Das war überhaupt kein Vorwurf, Tom.« Sie lächelte ihn an. Der Kommissar war sichtlich irritiert. Er hätte mit einem Rüffel gerechnet, nachdem er gestern den Dienst geschwänzt und sich seitdem nicht mehr gemeldet hatte. Doch die neuesten Vorkommnisse überschatteten offensichtlich alles Gestrige

»Was ist passiert?«

»Heute Morgen ging ein Anruf in der Zentrale ein. Eine junge Frau hat bei ihrer morgendlichen Joggingrunde zwei blutverschmierte Koffer in diesem Wäldchen gefunden.« Will deutete auf den Weg, der hinter dem Absperrband entlangführte.

»Aha. Und sonst?«

»Was meinst du mit ›und sonst‹?«

»Spuren, andere Zeugen?«

»Noch nicht, wir haben erst einmal alles abgesperrt. Die Jungs von der Spurensicherung sind auch noch nicht lange da.«

»Ist in den Koffern das, was wir vermuten?«

Will zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, was du vermutest. Ich habe sie noch nicht angerührt.«

Bohlan wurde immer klarer, dass er keineswegs mit Verspätung aufgetaucht war. Trotz der durchzechten Nacht und seines durchaus desolaten Zustands war er pünktlich am Einsatzort erschienen. Der Blick auf das Handy erwies sich in der Rückschau wie eine glückliche Fügung, wenn nicht sogar Intuition. Er hob das Flatterband an und ließ Julia Will den Vortritt. Seit an Seit schritten sie in das Wäldchen.

»Tamara ist weg«, stieß er hervor.

»Zurück nach Berlin?«

»Ja.«

»Damit war zu rechnen, oder?«

»Natürlich. Aber trotzdem – es war eine schöne Illusion.«

»Da hinten«, sagte Will und deutete nach rechts hinter einen Busch. Jetzt sah Bohlan die beiden etwas größeren Reisekoffer, der eine braun, der andere schwarz. Die roten Flecken an den Griffen und der Oberseite konnten getrocknetes Blut sein. Bohlan beugte sich nach vorne, um eine bessere Sicht zu haben. Will fasste ihn am Arm.

»Was ist?«, zischte der Kommissar.

»Nichts. Aber wir sollten alles so lassen, wie es ist. Jede Spur kann hilfreich sein.«

»Natürlich.« Bohlan wich zurück.

Eine Gruppe weißer Gestalten tauchte auf. Beamte in weißen Overalls. Sie schleppten Koffer und anderes Gerät.

»Können wir uns irgendwo in Ruhe zusammensetzen?«, fragte Bohlan.

»Vielleicht im Zirkuszelt. Das müsste jetzt noch frei sein.«

»Was ist denn da überhaupt los?«

»Ein Schulprojekt. Und abends gibt’s Kultur für den Stadtteil«, erläuterte Will und wendete sich um: »Hallo, Andi.«

Andi arbeitete bei der Spurensicherung. Er war Ende dreißig, immer freundlich und zuvorkommend. Außerdem sah er blendend aus. Vor ein paar Jahren hatten sie ein bisschen miteinander geflirtet, aber dann hatte Will Alex Feth kennengelernt.

»Habt ihr schön eure Spuren hinterlassen?«, flachste Andi und grinste breit, sodass seine Zähne zum Vorschein kamen. »Wo sind die Leichen?«

»Wenn es welche gibt, dann in den Koffern. Kann aber alles auch ganz harmlos sein. Wir sind hinten beim Zirkuszelt.«

Andi nickte. »Los, Jungs, ihr wisst, was zu tun ist!« Die Spurensicherung nahm routiniert ihre Arbeit auf. Der Fotograf packte seine Gerätschaften aus.

»Wer hat die Koffer entdeckt?«, fragte Bohlan.

Sie hatten sich auf den Zuschauerbänken des Zirkuszelts niedergelassen.

»Lilly Ernst. Eine junge Frau. Ich schätze mal Ende zwanzig. Sie hat die Koffer heute Morgen beim Frühsport entdeckt. Sie wohnt ganz in meiner Nähe.«

»Kennst du sie?«

»Nein, nicht näher. Vielleicht habe ich sie schon einmal gesehen. Ich weiß nicht.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Ich habe sie nach Hause geschickt und gesagt, dass sie sich zur Verfügung halten soll. Sie war ganz verschwitzt.«

»Von der kurzen Strecke?«

Will sah Bohlan verständnislos an.

»Das sind doch keine tausend Meter von hier zu dir.«

»Keine Ahnung, wo sie schon überall langgelaufen ist. Hinter dem Wäldchen ist so ein neuer Fitnessparcours. Vielleicht hat sie sich da ausgetobt …« Will wurde vom Lärm unterbrochen, den hereinstürmende Kinder verursachten. Sie drängten zur Manege. Kurz bevor sie dort ankamen, machten sie halt und zogen die Schuhe aus. In Socken betraten sie das rotgelbe Tuch, das auf dem Boden lag, und setzten sich in einen Kreis. Erwartungsvoll blickten sie in Richtung Vorhang. Kurz darauf erschienen ein Mann und eine Frau. Beide lässig in Jeans und T-Shirt gekleidet. Sie begrüßten die Kinder mit aufgesetzter Freundlichkeit, wie sie Animateuren eigen ist. Dann bemerkten sie Bohlan und Will.

»Haben Sie die Zettel nicht gelesen? Eltern sind bei den Proben nicht erlaubt. Die Vorstellung ist heute Abend.«

Bohlan und Will sahen sich überrascht an. Bohlan musste grinsen.

»Mist, erwischt!«, sagte Will. »Komm, Schatz, wir gehen.«

Die Kommissare standen auf und gingen zum Ausgang. Dort standen zwei Frauen, die mit den Kindern im Zelt erschienen waren. Vermutlich die Lehrerinnen. Jede hielt eine Tasse Kaffee in der Hand.

»Wo haben Sie den her?«, fragte Bohlan und deutete auf die Tasse.

»Aus dem Versorgungszelt. Aber das ist kein öffentlicher Verkauf.«

Bohlan bedankte sich für die Auskunft und stapfte Will hinterher, die die Eingangsplane zur Seite schob. Die Sonne blendete. Bohlan spürte seine Kopfschmerzen zurückkehren.

»Das muss da drüben sein, Schatz«, rief er Will zu.

»Was?«

»Das Versorgungszelt.«

Auf der anderen Seite des Fußweges stand ein weißes Zelt. Durch die Plastikfenster waren Tische und Bänke zu erkennen und eine Gestalt, die aufzuräumen schien. Zielstrebig nahm Bohlan auf sie Kurs.

»Guten Morgen, wir hätten gerne zwei Kaffee.«

Die türkische Frau sah den Kommissar verwundert an.

»Nicht offen. Erst heute Abend.« Sie wandte sich wieder dem Putzeimer zu.

»Aber die beiden Lehrerinnen haben auch einen Kaffee bekommen, und es riecht hier nach frischen Bohnen.«

»Lehrerinnen sind Ausnahme. Kinder im Zelt.«

»Wir auch Ausnahme. Polizei.«

Die Frau ließ den Lappen in den Eimer fallen.

»Ist was passiert?«

»Vielleicht.« Bohlan deutete durch das Fenster auf die Absperrung. Die Frau folgte seinem Blick.

»Ah, deshalb. Ich mich schon gewundert. Was los?«

Bohlan zuckte mit den Schultern. »Wir wissen noch nichts Genaues. Aber Kaffee können Sie bestimmt jede Menge verkaufen und Börek auch.« Bohlans Blick fiel auf einen Teller, der auf der Theke stand.

»Moment. Ich hole Kaffee. Börek nachher frisch.«

Die Frau füllte zwei Pappbecher mit Kaffee. Will schüttete Unmengen Zucker hinein. Bohlan nahm ihn schwarz.

»Ist gut. Schön stark«, lobte der Kommissar nach dem ersten Schluck. Er wollte zu einer Frage ansetzen, als er einen Mann vom Wäldchen her auf das Zelt zurennen sah.

Bohlan lächelte die Türkin entschuldigend an, bevor er sich umdrehte und hinaustrat.

»Leichenteile«, presste der Beamte aufgeregt hervor. Er wirkte abgehetzt. Mit dem Zwanzigmetersprint hatte er sich völlig verausgabt. Bohlan trank den Kaffee in einem Zug und warf den Becher in einen Müllsack. »Komm mit, Julia!«

Die drei marschierten zurück zum Wäldchen. Keiner sagte ein Wort.

***

»Gruselig«, würgte Will heraus, als sie an der gleichen Stelle standen wie vor einer Viertelstunde. Die Spurensicherung hatte die Koffer nebeneinander aufgereiht und die Deckel geöffnet. Bohlan kniff die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können. Obwohl die Verwesung bereits fortgeschritten war, konnte er die einzelnen Leichtenteile deutlich erkennen. Bohlan glaubte, einen Mann und eine Frau zu erkennen. Die Kleidung schien seine Vermutung zu bestätigen. Ein übler Gestank lag in der Luft.

»Vermutlich zwei Leichen«, sagte Andi. »Ein Mann und eine Frau. Für jeden ein Koffer.«

»Praktischer als Särge«, erwiderte Bohlan trocken. »Zum Transport, meine ich.«

»Spar dir deinen Sarkasmus«, entgegnete Will.

»Also das volle Programm!«, raunzte Bohlan.

Der Mann von der Spurensicherung nickte. »Rechts-medizin und Staatsanwaltschaft sind schon verständigt.«

»Na bravo.« Bohlan verzog das Gesicht. »Ich habe schon heute Morgen gespürt, dass das kein schöner Tag wird. Komm, Julia.«

***

Ein schwarzer Porsche rollte über den Kies. Der Motor dröhnte, wurde aber von Steinbrechers Harley Davidson noch übertönt.

»Muss die hier reinfahren? Ich parke doch auch draußen.«

Will zuckte mit den Schultern. Die Türen des Sportwagens schwangen auf. Felicitas Maurer und Jan Steininger stiegen aus.

»Morgen, Chef«, sagte Steininger.

Bohlan nickte Steininger zu. »Guten Morgen, Frau Staatsanwältin.«

Felicitas Maurer, Mitte vierzig, mit dicht gelockten, dunkelbraunen Haaren, steckte wie immer in einem schwarzen Kostüm, das ihre sexy Figur hervorragend zur Geltung brachte. Der Umstand, dass Jan Steininger mit im Porsche gesessen hatte, deutete darauf hin, dass die beiden die Nacht miteinander verbracht hatten. Maurer hatte sich im letzten Jahr von Hamburg nach Frankfurt versetzen lassen und pfuschte seitdem in Bohlans Ermittlungsarbeit hinein. Noch dazu hatte sie eine Affäre mit seinem Kollegen begonnen, was dem Kommissar alles andere als gefiel. Er misstraute Maurer von Anfang an und unterstellte ihr, seinen Kollegen nur deshalb mit ins Bett zu nehmen, um Informationen aus erster Hand zu erhalten. Ohne den Schlenker über den Dienstweg.

»Schon irgendwelche Erkenntnisse?«, fragte Maurer.

»Die Teile stammen von zwei Personen, wahrscheinlich ein Mann und eine Frau. Die Spusi vermutet, dass es für jede Leiche einen Koffer gab. Ansonsten stehen wir ganz am Anfang. Die Gegend um die Fundstelle ist abgesperrt. Die weißen Overalls grasen alles ab.«

Maurer nickte. »Irgendwelche Zeugen?«

»Nur die Finderin«, sagte Will. »Wir werden sie gleich noch einmal vernehmen.«

»Was ist das für eine Zirkusveranstaltung?« Maurer blickte in Richtung Zelt.

»Ein Schulprojekt für die Grundschulen. Morgens spielen die Kinder Zirkus, am Abend finden Kulturveranstaltungen für Erwachsene statt. Filme, Theater, Lesungen. Die Bewirtung wird vom türkischen Kulturverein gemacht«, erläuterte Will.

»Wer koordiniert das alles?«

»Das Quartiersmanagement. Das Büro ist in der Thomas-Mann-Straße.«

»Haben Sie da schon einmal nachgefragt?«

»Nach was?«

»Vielleicht gibt es so etwas wie eine Nachtwache? Die Zelte wird man doch nicht unbeaufsichtigt lassen können. In dieser Gegend.«

Bohlan, der dem Dialog zwischen der Staatsanwältin und seiner Kollegin mit zunehmendem Missfallen gelauscht hatte, platzte gleich der Kragen.

»Natürlich haben wir das schon in Erwägung gezogen. Aber eins nach dem anderen.«

»Natürlich will ich Ihnen nicht in Ihre Arbeit reinreden. Sie kennen mich doch. Ich wollte nur helfen.« Maurer lächelte Bohlan an. »Sie bekommen das bestimmt prima hin. Da bin ich mir sicher. Ich werde mir den Fundort ansehen. Kommt jemand mit?« Maurer sah von Steininger zu Steinbrecher. Ihr Blick signalisierte unzweideutig, dass dies keine Frage, sondern eine Aufforderung war.

»Wolltest du mich auflaufen lassen?«, raunzte Bohlan zu Will, nachdem die drei außer Hörweite waren.

»Wieso?«

»Warum wusste ich noch nichts von der Kulturwoche und dem ganzen Kram?«

»Wollte ich dir noch erzählen.«

»Aha.«

»Wirklich, Tom, ich wollte dich nicht auflaufen lassen. Aber irgendwas musste ich der Maurer doch erzählen. Du weißt doch, wie sie ist.«

»Hm«, grummelte Bohlan. »Woher weißt du das eigentlich alles?«

»Das war nicht viel Arbeit. Hat mir meine Oma alles beim Abendbrot erzählt.«

»Hä!?«

»Sie arbeitet in der Organisation mit.«

Julia Will wohnte, seit sie vor Jahren zur Frankfurter Kripo gekommen war, im Haus ihrer Oma. Annegret Will, eine lebensfrohe, rüstige Dame knapp über siebzig, ließ kein Fest im Nordwesten Frankfurts aus. Von daher war es nicht verwunderlich, dass sie auch bei dieser Veranstaltung ihre Finger im Spiel hatte.

»Sie präsentiert übrigens auch ihr Buch über Niederursel. Übermorgen ist Premiere im Zelt.«

»Wenn es die Ermittlungen zulassen, komme ich.«

»Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, entgegnete Will. »Wie wollen wir weitermachen?«

»Wir schicken die Stones zum Quartiersmanagement und wir zwei gehen zu Lilly Ernst. Aber erst, wenn die Maurer das Weite gesucht hat«.

3.

»In das Haus wollte ich schon immer mal rein.« Will ließ ihren Blick über die verspielte Fassade wandern. Fachwerk und massive Bauweise wechselten sich vielschichtig ab. Es gab zahlreiche Gauben, Giebelchen und Türmchen. Efeu rankte an der rechten Hausseite hoch und war dabei, die Fassade zu erobern.

»Hat etwas Verwunschenes«, pflichtete Bohlan bei.

Die Frau, die im Türrahmen stand, passte überhaupt nicht zu dem Haus. Sie war jung, schlank und blass. Ihr Gesicht wirkte mädchenhaft. Zwei graugrüne Augen schauten Bohlan an. Die Frau steckte in Sportklamotten und hatte die braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen-gebunden.

»Ja, bitte?« Ihre Stimme war fest und selbstbewusst.

»Hauptkommissar Bohlan. Das ist meine Kollegin Julia Will. Wir kommen …«

»… wegen der Blutkoffer im Park, schon klar. Kommen Sie rein.« Sie drückte den Türöffner. Bohlan und Will liefen durch den leicht verwilderten Vorgarten. Wenig später saßen sie in einem Esszimmer, umgeben von edlen Möbeln, jeder eine Tasse Tee vor sich.

»Was soll ich sagen? Ich bin hier so gegen halb neun los. Meine übliche Runde, wie jeden Tag. Im Park, dann durch das Wäldchen. Dahinter liegt der neue Fitnessparcours. Ist eigentlich für Senioren, aber man kann da ganz gut die eine oder andere Übung machen.«

Will warf Bohlan einen vielsagenden Blick zu: Siehst du, ich hatte recht.

Lilly Ernst sprach ungerührt weiter. »Aber so weit kam ich dann nicht mehr. Wegen der Blutkoffer. Ich habe sofort die Polizei angerufen und dann gewartet.«

»Hätten Sie vielleicht Zettel und Stift?«, fragte Bohlan. »Ich habe heute Morgen mein Notizbuch zu Hause vergessen.«

»Selbstverständlich. Moment bitte.«

Ernst verließ für kurze Zeit das Zimmer.

»Siehst du, der Fitnessparcours. Hab ich dir doch gesagt«, flüsterte Will in Bohlans Ohr.

Ernst kehrte mit Zettel und Stift zurück.

»Laufen Sie immer die gleiche Strecke?«

»Ja.«

»Können Sie sie mir beschreiben?«

»Wozu ist das wichtig?«

»Reine Neugierde. Ich laufe auch, aber meistens an der Nidda.«

»Die Strecke ist nichts Besonderes. Hier raus, dann über den Bach, ein wenig die Felder entlang. Dann durch das Hochhauslabyrinth zum Park, eine Runde zum Parcours.«

»Wie lange sind Sie dafür unterwegs?«

»Eine halbe Stunde. Dann brauche ich noch zwanzig Minuten für die Fitnessübungen. Ist ja nur zum Wachwerden.«

»Und dann?«

»Wie: und dann?«

Lilly Ernst musterte Bohlan, als habe sie die Frage nicht verstanden.

»Was machen Sie dann?«

»Studieren. Sport. Nachmittags trainiere ich eine Mädchenmannschaft. Fußball.«

»Und davon kann man sich so ein Haus leisten?« Bohlan sah Ernst mit durchdingendem Blick an.

Ernst lachte auf. »Nein, natürlich nicht. Das ist auch nur so ein Job. Ich wohne hier nur vorübergehend. Als Aufpasserin. Die Besitzer sind im Ausland.«

Bohlan schrieb ein paar Gedankenstützen auf den Zettel.

»Kein schlechter Job. Wie lange machen Sie das schon?«

Lilly Ernst schien kurz zu überlegen. »Vielleicht vier Wochen, oder so.«

»Und wem gehört das Haus?«

»Das kann ich Ihnen gar nicht so genau sagen. Eine Bekannte hat mir den Job vermittelt. Sie hat mir auch die Schlüssel gegeben.«

Es gab wirklich interessante Nebenjobs, dachte Bohlan. Gerade für Studenten musste Haussitting wie ein Sechser im Lotto sein. Wohnungen waren ein knappes Gut. Und teuer.

»Okay, Frau Ernst. Ich denke, das war’s fürs Erste.« Bohlan faltete das Papier zusammen und steckte es in seine Jackentasche. »Und vielen Dank für den Tee.«

***

Zum Mittagessen gab es Börek in verschiedenen Ausführungen. Fleisch, Käse, Spinat. Die Kommissare saßen im Versorgungszelt zusammen. Die Spurensicherung war immer noch im Gelände unterwegs und suchte verzweifelt nach verwertbaren Spuren.

»Felicitas hat die Obduktion der Leichen angeordnet«, sagte Jan Steininger.

»Grandiose Entscheidung. Respekt.« Bohlan biss in den Börek. Blätterteig blieb in seinem Mundwinkel hängen.

»Deinen Sarkasmus kannst du dir sonst wohin schmieren«, entgegnete Steininger.

»Warum so empfindlich?«

»Kannst du nicht mal aufhören, immer auf dieser Sache herumzuhacken? Nur weil du mal wieder Pech in Sachen Frauen hattest.«

»Halt bloß die Klappe«, polterte Bohlan und wischte sich mit dem Unterarm über die Mundwinkel. Der Teig blätterte auf den Tisch.

»Hört aus zu streiten!«, fuhr Will dazwischen. »Wir haben Wichtigeres zu tun.«

»Ich streite nicht. Ich will Jan nur vor einem großen Fehler bewahren.«

Wut und Ärger stiegen in Steininger empor. Seine Lippen bebten. Er war kurz davor aufzuspringen.

»Das haben wir verstanden«, entgegnete Will mit fester Stimme und sah Steininger besänftigend an. »Das führt doch alles jetzt nicht weiter. Jan, vielleicht kannst du berichten, was ihr im Stadtteilbüro herausgefunden habt.«

Steininger rümpfte kurz die Nase, schien sich aber wieder zu beruhigen. Die Anspannung wich aus seinen Gliedern.

»Wir haben dort Andrea Büttner angetroffen. Sie ist die Quartiersmanagerin. Engagierte Frau, Mitte fünfzig, meist mit einem kleinen Hund unterwegs. Sie arbeitet für eine kirchliche Institution.«

»Was genau macht denn eine Quartiersmanagerin?«, hakte Will nach.

»Sie nimmt sich der sozialen und kulturellen Probleme im Stadtteil an, stößt Projekte an. All so was. Sie hat auch die Sache mit dem Zirkus und der Kulturwoche in die Wege geleitet. Ich habe hier eine Liste der Personen, die damit irgendwie in Verbindung stehen.« Steininger zog ein Blatt Papier aus der Hosentasche und faltete es auseinander. »Ich weiß zwar nicht, ob uns das weiterhilft, aber einen Ansatzpunkt gibt es vielleicht: Dimitri Wasovic. Er ist Leiter eines Security Services, und die sind nachts für die Bewachung des Zeltes zuständig. Vielleicht hat der etwas gesehen.«

»Dimitri Wasovic«, wiederholte Bohlan.

»Deutsch-Russe. Baut sich gerade eine eigene Existenz mit der Security auf. Jedenfalls, wenn man Andrea Büttner Glauben schenkt.«

»Also auch so ein Projekt?«

»Vermutlich.«

»Habt ihr ihn schon erreicht?«

»Ja, er ist auf dem Weg. Wie war’s bei euch?«

Will berichtete in knappen Sätzen über den Besuch bei Lilly Ernst und schloss mit den Worten: »Wahrscheinlich wird sie uns nicht viel weiterhelfen können. Sie war eben zur falschen Zeit am falschen Ort.«