Klaa Pariser Blut - Lutz Ullrich - E-Book

Klaa Pariser Blut E-Book

Lutz Ullrich

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Beschreibung

Tom Bohlan findet seinen Kollegen Steininger neben Felicitas Maurers Leiche. Die schöne Staatsanwältin wurde auf brutalste Weise in ihrem Schlafzimmer erstochen. Im Schrank finden sich Aufnahmen ihrer Liebesnächte, doch einige Filme fehlen. Steininger kann sich an nichts mehr erinnern. Während die Mordkommission verzweifelt versucht, Licht ins Dunkle zu bringen, braut sich im Stadtteil Heddernheim weiteres Unheil zusammen. Die Prinzessin der Klaa Pariser Fastnacht wird ermordet. Der Tathergang gleicht dem Verbrechen an Felicitas Maurer frappierend. Doch wie hängen die beiden Morde zusammen? Und wie tief ist Steininger in all das verstrickt? Und wie hängt das alles mit einem Streit um die Zukunft der Fastnacht zusammen? Der achte Fall für Kommissar Tom Bohlan

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LASP

 

 

Der Autor

 

Lutz Ullrich, Jahrgang 1969, studierte Politik und Rechtswissenschaften, schrieb für verschiedene Zeitschriften, betätigte sich in der Politik und arbeitet heute als Rechtsanwalt. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Frankfurt. Mehr Informationen gibt es unter www.lutzullrich.de.

 

 

In der Tom-Bohlan-Reihe sind bisher folgende Bücher erschienen:

Der Kandidat (2009)      

Tod in der Sauna (2010)

Tödliche Verstrickung (2011)

Stadt ohne Seele (2012)

Mord am Niddaufer (2013)

Das Erbe des Apfelweinkönigs (2014)

Kristallstöffche (2015)

 

Außerdem der Kurzkrimi:

Bohlan und das geheimnisvolle Manuskript

 

Außerdem erhältlich

Wie aus Herbert Willy wurde (2016)

 

Alle Bücher sind auch als E-Book erhältlich

 

 

 

 

 

 

Klaa Pariser Blut

Ein Kriminalroman von Lutz Ullrich

.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2017 Lutz Ullrich

Lektorat: Stefanie Reimann

LASP-Verlag, Schwalbach am Taunus – Frankfurt am Main

Cover-Foto: Lutz Ullrich

 

 

www.lasp-verlag.de

www.lutzullrich.de

 

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Prolog

Überraschung zeichnete sich in Felicitas Maurers Gesichtszügen ab, als sie ihrem Besucher in die Augen sah. In Erwartung eines anderen war sie voller Vorfreude zur Wohnungstür gestürmt und hatte diese arglos geöffnet. Doch als Staatsanwältin war sie darin geschult, knifflige Angelegenheiten gekonnt zu meistern und unerwartete Situationen mit Professionalität zu überspielen. So dauerte es nur ein paar Sekunden, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Fahrig fuhr sie sich mit beiden Händen durch die dunklen Locken, die sie mit dieser Geste freilich nicht bändigen konnte. Widerspenstig fielen die Haare in ihre Ausgangslage zurück. Maurer musterte den Besucher mit einem durchdringenden Blick.

»Du? Das ist eine echte Überraschung.«

»Ich dachte, ich besuche dich mal«, sagte er mit einem breiten Lächeln. »Hier, die sind für dich.« Ungelenk zog er einen Blumenstrauß hinter dem Rücken hervor.

»Vielen Dank«, entgegnete Maurer und nahm die ausgepackten Blumen genauso ungelenk entgegen.

»Ist was?«, fragte der Besucher.

»Nein, nein. Sie sind sehr schön. Ich bin überwältigt, vor allem weil du mir noch nie Blumen geschenkt hast.« Felicitas Maurer warf den Kopf in den Nacken und lächelte. »Komm rein!«

Der Besucher folgte ihr und schloss im Vorbeigehen die Eingangstür.

»Geh schon mal ins Wohnzimmer. Ich stelle die Blumen fix in eine Vase.«

Der Besucher ließ den Rucksack, den er die ganze Zeit getragen hatte, auf den Boden fallen und entledigte sich seiner Jacke, die er auf einen freien Bügel hängte.

»Eigentlich sollte ich sauer auf dich sein, nach deinem letzten Auftritt hier. Das war alles andere als die feine englische Art. Aber ich bin überhaupt nicht nachtragend.« Maurer stand mit der Vase in der Hand in der Mitte des Wohnzimmers. Ihr Besucher hatte sich auf die Sofakante gesetzt. Für einen Moment blieb ihr Blick an ihm hängen. Irgendetwas gefiel ihr nicht. Sie konnte nur nicht genau sagen, was es war. Vielleicht lag es daran, dass er nur auf der Kante saß, die Unterarme auf den Oberschenkeln abgestützt, so als wolle er gleich wieder aufspringen. Auch zog er die Schultern ein wenig zusammen, was auf eine innere Anspannung hindeutete. Wahrscheinlich war es das schlechte Gewissen, das ihn plagte, dachte Maurer und stellte die Vase auf dem Sideboard ab. Im selben Moment leuchtete das Display ihres Handys und erinnerte sie daran, dass sie genau in dem Moment einen Anruf hatte tätigen wollen, in dem es an der Tür geläutet hatte. Vorsichtshalber stellte sie das Telefon auf stumm und schob es neben die Blumenvase.

»Du warst auch alles andere als nett zu mir«, sagte die Stimme in ihrem Rücken. Sie klang etwas belegt. Die Worte flossen nicht wie gewohnt aus seinem Mund.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

Sie drehte sich langsam um. Er saß immer noch in der gleichen Position auf dem Sofa. Leicht verkrampft, von innerer Anspannung gezeichnet.

»Komm schon. Du brauchst mir nichts mehr vorzuspielen. Ich weiß Bescheid.«

»Worüber?«

»Als Staatsanwältin sollte man doch eigentlich wissen, dass man zur Videoüberwachung eine Genehmigung benötigt.«

»Ach, das meinst du!« Maurer lächelte die Verlegenheit weg, die sie befiel. »Das ist doch nur eine Spielerei. Das solltest du nicht so ernst nehmen.«

»Für mich ist es alles andere als das. Es gibt so etwas wie das Recht am eigenen Bild. Schon mal davon gehört?«

»Ja, natürlich. Das weiß ich. Wenn du damit Probleme hast, dann lassen wir das in Zukunft.« Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu. »So, und nun entspann dich mal. Du wirkst so verkrampft. Soll ich dir ein wenig den Rücken massieren?«

Der Mann verharrte weiter in seiner Position, begann allerdings, mit dem rechten Fuß nervös zu wippen.

Er stand offensichtlich unter enormem Druck. Sollte sie beunruhigt sein? Führte er etwas im Schilde? Felicitas setzte sich neben ihn und legte die Hände auf seine Schultern.

»Ach komm, jetzt sei nicht so spießig. Ich habe dir nie etwas versprochen. Und ich mache dir auch keine Vorschriften. Das Leben ist zu kurz, um es nicht zu genießen.«

Ihre Hände glitten über seine Schultern, kneteten sein Fleisch, lösten die Verspannungen. Sie konnte förmlich spüren, wie er lockerer wurde.

»Komm, lass uns ins Schlafzimmer gehen«, sagte sie mit fester Stimme und fasste ihn an der Hand. Bereitwillig stand er auf und ließ sich aus dem Wohnzimmer führen. Als sie durch den Flur gingen, langte er nach dem Rucksack.

Die Bewegung irritierte Felicitas, doch sie war sich ihrer Sache zu sicher, um auf der Hut zu sein. Der Gedanke daran, dass er womöglich das eine oder andere Spielzeug mitgebracht hatte, erregte sie.

Sie ließ seine Hand erst los, als sie vor dem Bett standen. Den Rücken ihm zugewandt, knöpfte sie ihre Bluse auf. Als sie sich mit einem verführerischen Lächeln umdrehte und die Bluse zu Boden gleiten ließ, realisierte sie, dass sie einen folgenschweren Fehler begangen hatte. Ihr Lächeln gefror. Ihr Herz pulsierte in einer ungewohnt schnellen Frequenz. Das Metall der Messerklinge vor ihren Augen blitzte auf, bevor es sich äußerst schnell auf ihre Brust zubewegte und in ihr Fleisch einschnitt. Sie wollte laut aufschreien, doch der Schrei blieb ihr im Halse stecken.

Sein Gesicht war voller Hass und Wut.

Als das Messer in ihr Fleisch eindrang, kostete es ihn Überwindung, es wieder aus der Wunde herauszuziehen.

Felicitas Maurer bäumte sich auf, schaffte es, ihre Hand schützend nach vorne zu strecken. Sie griff die messerführende Hand des Mannes und konnte verhindern, dass das Messer sich ein weiteres Mal in ihr Fleisch bohrte. Doch es war nur ein Aufschub. Der Mann umklammerte Maurers Handgelenk mit der freien Hand. Sie verlor die Kontrolle und musste für einen Moment loslassen.

Als sie wieder zufasste, erwischte sie statt des Unterarms die Messerklinge, die sich schmerzvoll in ihre Handinnenfläche ritzte. Reflexartig löste sie die Umklammerung. Das Nächste, was sie spürte, war die Hand, die sich um ihre Kehle legte und erbarmungslos zudrückte. Und dann ein Knie, das ihr auf den Magen drückte. Ihr Atmen ging mehr und mehr in ein Röcheln über. Sie blickte in stechende Augen, die zornig hin und her flackerten. Ihre Hände gaben jeglichen Widerstand auf. Sie begann zu wimmern und um Gnade zu flehen. Ihr Instinkt signalisierte jedoch längst, dass dies ein sinnloses Unterfangen war. Die messerführende Hand schoss in die Luft. Das Metall der Klinge blitzte erneut vor ihren Augen. Dann hämmerte es wie die Nadel einer Nähmaschine auf ihren Körper ein. Immer wieder. Es dauerte nicht lange, bis Staatsanwältin Maurer das Bewusstsein verlor und ihre Seele in ein weißes Nichts entglitt.

Als Jan Steininger wieder zu sich kam, saß er auf edlem Parkettboden, mit dem Rücken gegen einen Schlafzimmerschrank gelehnt. Er fühlte sich benommen und wusste für einen Augenblick nicht, wo er sich befand. Es kam ihm vor, als sei er aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht. Er wischte sich mit den Händen über die Augen und hob den Kopf. Seit fast zehn Jahren war er jetzt Kommissar bei der Frankfurter Mordkommission. Längst hatte er sich zu einer festen Größe in Bohlans Team entwickelt, war vom Jungspund zum gewieften Ermittler gereift. Schon lange hatte er seine unbeholfene, manchmal etwas unsichere Art abgelegt. Seit einiger Zeit ging er regelmäßig zum Boxtraining. Dort hatte er Härte und Durchsetzungsvermögen erlernt, was ihm auch bei seiner täglichen Arbeit zugutekam. Doch etwas war an diesem Morgen anders als sonst. Ein mulmiges Gefühl breitete sich aus seiner Magengrube wie ein Virus in seinem Körper aus. Seine Hand strich durch das volle dunkelblonde Haar, als er den Blick, nichts Gutes ahnend, durch das Zimmer schweifen ließ.

Hätte er nicht bereits auf dem Boden gesessen, er wäre mit Sicherheit nicht auf den Beinen geblieben. Was er sah, glich einem Schlachtfeld. Keine zwei Meter von ihm entfernt lag Felicitas Maurer in einer Blutlache.

Es brauchte keine genauere Untersuchung, um festzustellen, dass sie tot war. Mehr als zwei Dutzend Einstiche auf den Körper überlebt niemand. Vor allem nicht, wenn der Körper dabei literweise Blut verliert. Fünf bis sechs Liter Blut hat ein erwachsener Mensch, abhängig von Größe, Gewicht und Geschlecht. Die schlanke Staatsanwältin mochte zu Lebzeiten vielleicht einen Liter weniger gehabt haben. Infolge der Verletzungen hatte sie bestimmt ein Viertel davon verloren. Außer der Lache unter der Leiche war der Raum mit Spritzern übersät. Auch ansonsten hatte der Täter ordentlich gewütet. Sämtliche Schubladen waren aus den Schränken und Kommoden herausgezogen. Die eine Hälfte des großen Schlafzimmerschrankes stand offen. Der Inhalt war herausgerissen und auf dem Boden verteilt.

Steininger betrachtete seine Hände. Was er sah, löste ein Herzrasen aus und trieb ihm unvermittelt dicke Schweißperlen auf die Stirn. Seine Hände waren blutverklebt und das Gleiche traf auf sein vormals weißes Hemd zu.

Hatte er etwa dieses Gemetzel angerichtet? War er ein Mörder? Wie hatte es dazu kommen können?

Am ganzen Körper zitternd, richtete er sich auf und stürmte aus dem Zimmer. Er flüchtete. Bloß weg von diesem Ort.

Das Bad lag direkt neben dem Schlafzimmer. Dorthin trieb es ihn. Er knallte die Tür zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Immer noch schlug sein Herz wie verrückt. Sein Atem ging gehetzt. Bitte lass das alles nur ein Alptraum sein! Jetzt schnell aufwachen und unter einer warmen, schützenden Decke liegen! Steiningers Wunsch wurde nicht erfüllt. Der Traum endete nicht. Er konnte nicht enden, denn er war bittere Realität.

Was war geschehen? Diese Frage hämmerte durch seinen Schädel. Doch er konnte sich beim besten Willen an nichts erinnern. Und dann fiel ihm diese verdammte Videokamera wieder ein, die er im Schlafzimmer entdeckt hatte. Und die vielen DVDs mit Filmaufnahmen. Maurer hatte ihre Liebesnächte dokumentiert und auf Silberlingen archiviert. Schön sortiert nach irgendwelchen Nummern. Natürlich waren auch Dokumente der Nächte dabei, die er mit Felicitas verbracht hatte.

Warum hatte sie das gemacht? War dies der Grund, dass er zum Mörder geworden war? Er wagte die drei Schritte zum Waschbecken und drehte den Hahn auf. Der Wasserstrahl schoss in das Designerbecken. Wie ein Verdurstender streckte Steininger die Hände nach vorn. Das Wasser färbte sich sofort knallig rot. Steininger griff nach der Seife, schrubbte panisch die Hände und anschließend das Waschbecken so lange, bis der letzte Rest Blut verschwunden war. Gierig trank er Wasser aus den Händen, bevor er den ganzen Kopf unter den Wasserstrahl hielt. Als er den Kopf anhob und in den Spiegel sah, erschrak er über das bleiche, schale Gesicht, das ihn anblickte.

1.

Bohlan war noch niemals so schnell durch die Stadt gefahren. Er überquerte mehrere rote Ampeln, schaffte es an manchen Kreuzungen nur mit Mühe einen Unfall zu vermeiden und ließ unzählige wild hupende Autos hinter sich. Als er den Lupo am Osthafen zum Stehen brachte, wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Sein Puls lag weit über normal und sein Herz pumpte wie verrückt.

Nach dem morgendlichen Anruf hatte er im Hausboot alles stehen und liegen lassen und war in Windeseile zu seinem Auto gehechtet. Er konnte noch nicht einmal sagen, ob er die Tür seines Bootes verschlossen hatte.

Nur drei Worte hatten Chaos und Hektik ausgelöst.

»Maurer ist tot.«

Immer wieder hallte der Satz durch seinen Kopf, erfasste jeden Zentimeter seines Körpers und drückte alle anderen Gedanken zur Seite.

»Maurer ist tot.«

Er hatte die hübsche Staatsanwältin nie besonders gemocht.

Sie war vor drei Jahren in Frankfurt aufgetaucht und hatte vieles durcheinandergewirbelt. In jede Ermittlung hatte sie sich eingemischt und ihn manches Mal zur Weißglut gebracht. Gut, in den letzten Monaten hatten sie sich zusammengerauft und einen Weg gefunden, professionell miteinander umzugehen.

»Maurer ist tot«, donnerte es wieder durch sein Gehirn.

Und dann war da noch ein zweiter Satz, der für noch mehr Unruhe sorgte: »Steininger ist am Tatort.«

Bohlans junger Kollege Jan Steininger war den Reizen der Staatsanwältin von Anfang an erlegen. Irgendwann hatte Bohlan herausgefunden, dass die beiden miteinander ins Bett gingen. Steininger glaubte an die große Liebe. Bohlan war sich sicher, dass es die Staatsanwältin nur darauf abgesehen hatte, schneller an Ermittlungsinterna zu kommen. Wahrscheinlich lag die Wahrheit irgendwo dazwischen. Die Affäre der beiden hatte das Klima im Ermittlerteam vor die eine oder andere Zerreißprobe gestellt.

»Maurer ist tot. Steininger ist am Tatort.«

Es würde kein normaler Fall werden, so viel stand fest.

Eine tote Staatsanwältin und ein Kommissar mit persönlichem Bezug zum Opfer. Das konnte nur Unheil bedeuten.

Noch dazu, wenn ausgerechnet dieser Kommissar als Erster am Tatort auftaucht.

Bohlan stieß die Wagentür auf. Reifen quietschten, eine Hupe schallte durch die Straßenschlucht. Der Mercedes, der gerade mit Mühe Bohlans Wagentür ausgewichen war, kam ein paar Meter weiter am Straßenrand zum Stehen. Der SUV war schwarz, hatte getönte Scheiben und einen kleinen Totenkopfaufkleber auf der Rückscheibe.

»Hey, du Mattekopp, kannst nett uffbasse!?« Ein Mann, breit wie ein Bär, mit Glatzkopf und Goldkette, sprang aus dem Wagen und stürmte auf den Kommissar zu. Bohlan strich sich mit der Hand über den kahlen Kopf. Seine graubraunen Augen fixierten den Unruhestifter.

»Du kannst doch nett die Tür uffrobbe! Um een Haar wär isch in disch ennoi gerauscht.«

Das konnte heiter werden. Ein Choleriker am frühen Morgen war an und für sich schon nervraubend genug – in seiner gegenwärtigen Verfassung aber einfach unerträglich. Bohlan donnerte die Wagentür zu, zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn dem anstürmenden Ungetüm entgegen.

»Polizei. Im Einsatz!«

Der Typ kam wenige Zentimeter vor Bohlans ausgestrecktem Arm zum Stehen und starrte auf die Karte. Sein Gesicht war rot vor Aufregung, seine Halsschlagader pulsierte wie wild. Doch der Anblick eines Polizeiausweises schien bei ihm wundersame Beruhigungskräfte in sich zu bergen. Binnen Sekunden wurde aus dem wild gewordenen Tiger ein zahmes Lamm, das vor der Obrigkeit kuschte. Der Mann hob entschuldigend beide Hände.

»Des isch natürlisch ewes anneres. Isch wollt kan Erscher mache. Isch mach misch forrd!«

Der Mann drehte sich um und schlich zu seinem Wagen zurück.

Bohlan blickte ihm irritiert hinterher. Dass der Typ so schnell das Weite suchte, überraschte ihn. Er hätte mit mehr Gegenwehr gerechnet. Lautstarkes Gebabbel und Geschimpfe wäre das Mindeste gewesen. Und natürlich ein paar Hasstiraden.

Kurz darauf fuhr der Mercedes betont langsam zurück auf die Straße. Sein Fahrer setzte sogar ordnungsgemäß den Blinker. Bohlan wandte sich dem Neubau zu, in dem Maurers Wohnung lag, und studierte die Namensschilder. Nach kurzer Suche fand er den Klingelknopf mit der Aufschrift »Maurer« und drückte zweimal drauf. Es dauerte eine Minute, bis die Haustür summend aufsprang. Bohlans Nervosität kehrte im selben Moment zurück, in dem er den Hausflur betrat. Was würde ihn erwarten? Auf welche Art und Weise hatte Maurers Leben geendet und welche Rolle spielte Steininger dabei?

Doch zunächst wurde er vor ein ganz anderes Problem gestellt. In welche Etage musste er überhaupt? Sollte er die Treppenstufen emporsteigen und in jedem Stockwerk nach offenen Wohnungstüren Ausschau halten? Oder einfach laut nach oben rufen? Er entschied sich dazu, den Aufzugknopf zu drücken. Vielleicht befand sich im Aufzug ein Hinweis. Die Tür schob sich geräuschlos zur Seite. Bohlan trat ein und sah sich suchend um. Ohne Ergebnis. Dafür setzte sich eine Idee in seinem Kopf fest. Jemand wie Felicitas Maurer konnte nur oben wohnen. Alles andere hätte nicht ihrem Naturell entsprochen. Also drückte er den obersten Knopf. Die Tür surrte genauso geräuschlos wieder zu. Der Aufzug glitt lautlos wie ein Engel nach oben. Ob Felicitas Maurer von Engeln abgeholt worden war?, fragte sich Bohlan. Immerhin bedeutete ihr Name so erhabene Dinge wie Glück und Seligkeit. Oder war Maurer direkt in die Hölle gewandert, wo sie ihre Intrigen weiterspielen konnte?

Bohlan setzte den Fuß in den Hausflur, von dem zwei Türen abgingen. Eine stand offen. Es blieb also keine Zeit, sich mit derart philosophischen Fragen zu beschäftigen. Er drückte Maurers Wohnungstür mit dem Ellenbogen auf.

Abgesehen von dem markanten süßlichen Duft, den nur der Tod verströmen konnte, deutete nichts darauf hin, dass sich in der Wohnung ein Verbrechen ereignet hatte. Am ehesten bezeugte vielleicht die merkwürdige Stille, dass jede lebende Seele Reißaus genommen hatte. Wobei auch das nicht ganz stimmte, denn irgendwo musste schließlich Steininger stecken.

»Jan!«, rief Bohlan in den leeren Flur. Doch außer dem leisen Echo seiner eigenen Stimme erfolgte keine Reaktion. »Jan!!!« Bohlans Stimme wurde lauter, während er einen Schritt nach dem anderen setzte und dabei vorsichtig durch die offen stehenden Türen in die Räume spähte, die er passierte. Sie wirkten nicht übermäßig aufgeräumt, aber keinesfalls verwüstet. Geschirr und Kleidung standen und lagen herum. Hier eine Flasche und Gläser, dort ein Oberteil. Die Blumen auf dem Sideboard wirkten frisch. Die Geschirrspülmaschine in der Küche blinkte. Bohlan näherte sich dem Ende des Flurs, als er ein leises Schluchzen vernahm, das lauter wurde, je dichter er dem Schlafzimmer kam. Die Tür stand offen und der Kommissar brauchte nicht lange, um die Szenerie zu erfassen.

Felicitas Maurers lebloser Körper lag zusammengekauert auf dem Fußboden, nur wenige Zentimeter vom großen Metallbett entfernt, das den Raum dominierte. Maurers Position erinnerte an einen Embryo. Die Beine angezogen, die Arme vor dem Körper verschränkt. Das alles garniert mit verschmiertem, teilweise getrocknetem Blut, das aus einer Unmenge von Wunden geflossen sein musste, die den Körper übersäten. Von den schwarzen Strapsen abgesehen, die akkurat die Beine bedeckten, war Maurer vollkommen nackt.

Bohlan wandte den Blick ab. Zum einen, um den drohenden Brechreiz zu unterdrücken, zum anderen, um sich Jan zu widmen, der ebenfalls zusammengekauert auf dem Boden saß und am ganzen Körper zitterte. Er lehnte mit dem Rücken an einer halb zur Seite geschobenen Schranktür und starrte ausdruckslos in den Raum. Sobald Bohlan sich neben ihn setzte und den Arm um seine Schultern legte, begann Jan sich an ihm festzukrallen.

»Warum? Warum? Warum?«, stammelte er immer wieder.

Bohlan wusste keine Antwort. Was hätte er auch sagen sollen? Dass es so etwas wie Schicksal gab, das man nicht abwenden konnte? Dass die Welt voll von Verbrechern und Mördern war? Oder gar, dass Gott es so gewollt hatte?

Nichts von alledem hätte eine vernünftige Erklärung abgegeben. So begnügte er sich damit, ein paar Minuten für seinen Kollegen da zu sein und mit ihm zu trauern.

Bohlan ließ den Blick durch Maurers Schlafzimmer wandern. Es war offensichtlich, dass dieser Raum im Leben der Staatsanwältin eine besondere Rolle gespielt hatte. Das übergroße Bett, die Spiegel an den Wänden und das auf dem Boden verteilte Sexspielzeug, das aus einer aus dem Schrank gezerrten Kiste gefallen sein musste, gaben Zeugnis davon, dass er sich auf Maurers Spielwiese befand. Auch die Reizwäsche, die auf einem Haufen vor dem Schrank lag, sprach Bände. Und noch etwas erweckte Bohlans Aufmerksamkeit. Direkt neben ihm stapelten sich unzählige beschriftete CDs. Was diese wohl enthielten? Daten? Filme?

Der Kommissar war versucht eine CD aufzuheben, doch der Gedanke an die Spurensicherung hielt ihn davon ab.

»Komm, Jan«, sagte er stattdessen und erhob sich.

Eine knappe Stunde später stand Bohlan mit seinen Kollegen Julia Will und Walter Steinbrecher zusammen und lauschte den Ausführungen, die Rechtsmediziner Dr. Spichal zum Besten gab. Zuvor hatte Bohlan Jan Steininger in die Obhut einer Polizeipsychologin übergeben. Sein Kollege war bereitwillig mitgegangen. Ein sicheres Indiz dafür, dass er komplett von der Rolle war.

In der Wohnung war die Spurensicherung zugange, nahm Fingerabdrücke, fotografierte und suchte nach verwertbaren Spuren.

»Etwa dreißig Stichverletzungen, über den ganzen Körper verteilt. Dazu Würgemale. Die Einstiche erfolgten aus den unterschiedlichsten Richtungen. Bauch, Brust, Rücken, Kehle, selbst die Hände. Das muss ein tierisches Gemetzel gewesen sein. Die Maurer hat sich gewehrt, so viel steht fest«, führte Dr. Spichal wie immer mit sonorer Stimme und einem leicht überheblichen Tonfall aus. Während die Worte des Rechtsmediziners auf Bohlan einprasselten, lief vor seinem inneren Auge ein wahrer Horrorstreifen ab. Immer wieder sah er das blanke Metall einer Messerklinge aufblitzen und auf den Körper der Staatsanwältin einstechen. Blut spritzte durch die Gegend und Maurer schlug im Todeskampf wild um sich, bis ihre Bewegungen schwächer wurden. Sie sank zu Boden. Aber auch dann schien der Angreifer nicht ablassen zu wollen und stach weiter auf den schwächer und schwächer werdenden Körper ein. Bis auch die letzten Zuckungen verebbten.

»Tom?! Ist alles in Ordnung?«

Bohlan hob den Kopf. Der Film stockte. Er sah in Julia Wills braune Rehaugen. Das dunkelbraune, leicht gewellte Haar fiel ihr ins Gesicht. Ihre Hände rüttelten an seinen Schultern. Während er Maurers letzte Minuten in seiner Fantasie durchlebt hatte, musste er rücklings gegen die Wand getaumelt sein. War er ohnmächtig geworden?

Bohlan richtete sich auf und zog seinen Pullover glatt.

»Geht schon.«

»Wirklich?«

»Ja.«

Will und Dr. Spichal sahen ihn zweifelnd an.

»Ja, verdammt noch mal. Ist schließlich nicht die erste Leiche in meinem Leben.«

»Kannst du schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«, fragte Will.

»Arme und Beine sind starr. Dunkelviolette Totenflecken sind ebenfalls zu erkennen. Wenn man auf sie drückt, verschwinden sie für einen kurzen Moment. Die Körpertemperatur ist deutlich vermindert. Ein paar Stunden ist sie auf jeden Fall tot.«

»Also irgendwann im Laufe der Nacht«, stellte Will fest. »Wer hat sie eigentlich gefunden?«

Diese Frage war an Bohlan gerichtet. Gute Frage, dachte der Kommissar. Er konnte sie aber nicht beantworten. Wenn er sich richtig erinnerte, war er vom Präsidium angerufen worden. Nachgefragt hatte er nicht.

»Kann ich dir nicht sagen. Nur dass Steininger zuerst hier war. Warum und weshalb, weiß ich nicht.«

Nachdem die Kommissare Maurers Wohnung verlassen hatten, spazierten sie nachdenklich in Richtung Main. Nach wenigen Minuten ließen sie die Europäische Zentralbank hinter sich und orientierten sich zur Ruhrorter Werft. Nicht genutzte Bahngleise führten über Wiesen und Kopfsteinpflaster. Auf der gegenüberliegenden Mainseite hatte jemand in übergroßen Lettern »Stadt für alle!« an eine Steinwand gesprayt. Vereinzelt standen alte Ladekräne und restaurierte Zugwaggons herum. Dahinter lud ein weitläufiges Gelände zum Verweilen und Sporteln ein.

»Wisst ihr eigentlich, dass das hier früher der Hauptumschlagplatz für das schwarze Gold war?«, fragte Bohlan, um auf andere Gedanken zu kommen.

»Kohle?!« stieß Will fragend hervor.

Bohlan nickte. »Der Main war der Haupttransportweg. Hier wurden die Schiffe entladen und das schwarze Gold auf Züge und Wagen verladen. Die verschiedenen Kaiabschnitte waren alle nach Hafenstädten benannt, damit sich die Schiffsführer besser orientieren konnten.«

»Dann hat sich die EZB den passenden Standort ausgesucht. Früher Kohle, heute Geld«, sagte Steinbrecher sarkastisch. Walter Steinbrecher, weit über fünfzig und trotzdem in Jeans und Lederjacke gekleidet, steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel. »Da drüben stand mal die Großmarkthalle. Die ›Gemieskirch‹ versorgte den ganzen Großraum.«

Die Kommissare erreichten das Oosten. Steinbrecher ließ die halb gerauchte Zigarette auf den Boden fallen und zertrat die Glut. Dann öffnete er die Tür zum Gastraum. Die Plätze waren nur zur Hälfte besetzt. Es war noch nicht die Zeit für den Mittagstisch. Die Kommissare entschieden sich für einen der auf alt getrimmten Holztische im hinteren Bereich, die in einem bewussten Kontrast zur Waschbetonwand standen, an der bunte Bilder zum Kauf angeboten wurden. Jeder hatte eine Tasse Latte vor sich stehen und hing seinen Gedanken nach. Die Ereignisse des Morgens hatten tiefe Spuren im Seelenleben der Kommissare hinterlassen. Draußen joggte ein Läufer vorbei. Ab und an tuckerte ein Lastenboot über den Main. Nach einiger Zeit unterbrach Will die Stille und fragte vorsichtig:

»Glaubt ihr, dass Jan etwas mit der Sache zu tun hat?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, herrschte Steinbrecher ungehalten Will an. »Der kann doch keiner Fliege was zuleide tun. Dreißig Messerstiche. Ein Blutbad. Nein, das passt ganz und gar nicht.«

»Es gibt Situationen, da gerät alles außer Kontrolle. Da passieren Dinge, die an und für sich unvorstellbar sind.« Will hielt das Latte-macchiato-Glas mit beiden Händen umklammert, als wolle sie sich aufwärmen. In der Tat schien sie zu zittern.

»Du meinst also, dass Jan von Maurer derart provoziert worden ist, dass er mit einem Messer ...«

»... ich meine überhaupt nichts«, fuhr Will Steinbrecher dazwischen. »Ich weiß nur nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll.«

»Aber du würdest so etwas für möglich halten«, fasste Steinbrecher nach.

»Sollten wir nicht grundsätzlich alles für möglich halten?«

Steinbrecher kratzte sich nachdenklich über die Wange. Will wandte sich an Bohlan: »Was ist mit dir? Du bist so still.«

»In jedem Fall steckt er ganz schön in der Scheiße.« Bohlan starrte nachdenklich durch die metergroße Fensterscheibe hinaus, von wo Main und Skyline ihm entgegenlachten, als sei es ein stinknormaler Tag. Dann fuhr er sich mit der Hand über den Kopf. »Mein Gott, Julia, ich weiß doch auch nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll. Tatsache jedenfalls ist, dass er als Erster am Tatort war. Er hätte also genügend Zeit gehabt, Dinge zu verändern, wenn er gewollt hätte. Und Tatsache ist auch, dass er allen Grund hatte, auf Maurer wütend zu sein. Und das Schlimmste daran ist, dass ich dafür die Schuld trage.«

Will und Steinbrecher sahen Bohlan irritiert an.

»Du? Wieso denn das? Hast du ihm die Maurer ausgespannt?«, blaffte Steinbrecher.

»Um Himmels willen, nein!«, stieß Bohlan aus. »Aber ich habe ihm gewisse Informationen über ihre Vergangenheit zugesteckt und er hat Nachforschungen angestellt.«

»Nachforschungen? Ich verstehe nur Bahnhof. Wovon redest du da eigentlich?«

»Also, ich habe von einem Kollegen aus Hamburg die Info, dass es schon dort wegen Maurers sexueller Eskapaden Probleme gegeben hat. Sie hatte wohl ein ausschweifendes Liebesleben und nutzte ihre sexuellen Abenteuer dazu, Vorteile im internen Ränkespiel der Staatsanwaltschaft zu ziehen. Ich will da jetzt nicht ins Detail gehen. Jedenfalls verstärkte sich mir der Verdacht, dass Jan in Frankfurt nicht ihr einziger Gespiele war. Mich hat das nicht sonderlich überrascht, ihn schon. Für ihn war es viel mehr als eine Affäre. Das steht ja mal fest.«

»Vielleicht hat er sie zur Rede gestellt und es ist dann zum Streit gekommen«, resümierte Will.

»Nein, ich glaube, dass das zu einfach ist. Du hättest Jan sehen müssen, als ich heute Morgen in die Wohnung kam. Er war ein kümmerliches Häufchen Elend, saß schluchzend und zitternd in der Ecke.« Bohlans Blick verlor sich in einem Gitarrenspieler, der knallig bunt hinter Will an der Wand hing.

»Wenn er die Maurer im Affekt getötet haben sollte, dann ist ihm erst danach alles klar geworden. Eine Kurzschlusshandlung.«

»Warum brichst du so schnell den Stab über deinen Kollegen?«, fragte Steinbrecher scharf.

»Das mache ich gar nicht. Ich zähle nur eins und eins zusammen. Mehr nicht.«

Steinbrecher schob das Glas von sich weg und lehnte sich mit verschränkten Armen nach hinten.

»Mir passt die ganze Richtung unseres Gesprächs nicht. Wir reden über Jan wie über einen Mörder und wissen doch kaum etwas über den Tathergang. Solange es keine eindeutigen Indizien gibt, die gegen ihn sprechen, sollten wir äußerst vorsichtig sein.«

»Ja, du hast recht«, räumte Will ein. »In dubio pro reo.«

»Trotzdem haben wir ein Problem. Wir können Jan unmöglich im Team belassen. Dafür ist er zu betroffen«, stellte Bohlan fest.

»Hm«, knurrte Steinbrecher, dem anzumerken war, dass ihm das alles andere als recht war. Aber er wusste genau, dass Bohlan nicht anders konnte.

»Was hast du vor?«, fragte Will.

»Letztlich ist es Gerdings Entscheidung. Er ist der Chef der Mordkommission. Entweder wird er ihn versetzen oder vorübergehend vom Dienst suspendieren.«

»Gerding wird dich nach deiner Meinung fragen. So leicht kannst du dich also nicht aus der Affäre ziehen.«

Bohlan trank sein Glas leer und dachte einen Moment nach. Natürlich hatte Julia recht. Gerding würde wissen wollen, wie er die Sache einschätzte, und er würde auch endlich wissen wollen, ob er seine Nachfolge antreten würde. Diese Entscheidung schob er sowieso schon viel zu lange vor sich her.

»Wenn ich an Gerdings Stelle wäre, würde ich Steininger versetzen, sobald er wieder dienstfähig ist. Zu Hause kommt der nur auf dumme Gedanken, ermittelt womöglich auf eigene Faust und bringt alles durcheinander.«

Nach der Rückkehr ins Präsidium erkundigte sich Bohlan nach Steiningers Verbleib. Er fand ihn in Gerdings Besprechungsraum zusammen mit Anne Müller. Die blonde Polizeipsychologin mit hellblauen Augen und rosafarbenen Schmolllippen kümmerte sich seit dem Vormittag intensiv um ihn. Bei einer kurzen Unterredung signalisierte sie, dass sein Zustand stabil und eine weitere Vernehmung problemlos möglich sei. Bohlan entschied sich nach Rücksprache mit Klaus Gerding dazu, zunächst alleine mit Steininger zu sprechen. Gerding sollte dann später dazustoßen.

Steininger machte einen gefassten Eindruck, als Bohlan das Zimmer betrat. Er saß auf einem Sofa und hörte Musik über Kopfhörer. Auf einem Couchtisch vor ihm lagen diverse Magazine und Zeitungen. Als er Bohlan bemerkte, zog er die Stöpsel aus den Ohren und schaltete den MP3-Player aus.

»Gut, dass du da bist, Tom!« Steininger sprang auf und stürmte auf Bohlan zu. Seine Umarmung entpuppte sich schnell als ein Festklammern. Offensichtlich gierte er nach Nähe und Halt. Die kräftigen Hände drückten auf Bohlans Schulter.

Der Kommissar ließ ihn einige Zeit gewähren, bevor er mit Mühe die Umklammerung löste.

»Anne ist nett«, sagte Bohlan.

»Ja, das stimmt! Ich hätte es schlimmer treffen können«, entgegnete Steininger. Die junge Polizeipsychologin war erst seit einem knappen Jahr dabei.

»Ich kann mich noch gut erinnern, als damals mein Partner erschossen wurde.« Bohlan griff zu der Cola-Flasche auf dem Tisch und schenkte sich ein Glas ein. »Hab ich dir jemals davon erzählt?«

Steininger schüttelte den Kopf.

»Es war bei einem Einsatz. Ich war danach total deprimiert und habe den Dienst für Jahre quittiert. Eine bessere Betreuung hätte das vielleicht verhindert.« Bohlan trank das Glas zur Hälfte leer. »Na ja, was soll’s. Ist Jahre her und längst verjährt. Siehst du jetzt ein wenig klarer als heute Morgen?«

»Sagen wir es einmal so ...«, setzte Steininger an. »Ich konnte meine Gedanken etwas sortieren. Wenn du Zeit hast, erzähl ich sie dir.«

»Klar, hab ich Zeit, dafür bin ich schließlich da.«

»Ja, natürlich.« Steininger trank einen Schluck Wasser. »Erinnerst du dich an den Tag, an dem du mir von der Sache in Hamburg erzählt hast? Dass Felicitas massive Probleme wegen Mobbing und sexuellen Übergriffen hatte.«

Bohlan nickte.

»Anfangs war ich sauer auf dich. Doch je länger ich über die Sache nachdachte, desto mehr Merkwürdigkeiten fielen mir auf. Und dann habe ich sie in flagranti erwischt. In der Staatsanwaltschaft. Erst hat sie sich in einem der Zimmer mit einem Justizbeamten vergnügt. Und dann mit Alexis am Telefon geflirtet.«

»Alexis?«

»Das ist der junge Inhaber vom Akropolis, dem griechischen Restaurant am Gericht. Die Einzelheiten erspare ich dir.« Steininger machte eine kurze Pause und musste peinlich berührt daran denken, wie er auf die Damentoilette geflüchtet war. Dort hatte er auf dem Klositz gekauert, während Felicitas mit dem Griechen telefonierte. Um ein Haar wäre er von Maurer ertappt worden. In den folgenden Tagen fühlte er sich angeschlagen wie ein Boxer, der auf dem Boden liegend angezählt wurde. Doch dann hatte er sich dazu entschlossen, den Kampf wieder aufzunehmen und zu fighten. Neue Runde, neue Chance. Zwei Tage später hatte er, während Felicitas unter der Dusche stand, ihren Schrank durchsucht und dabei die Kisten voller CDs gefunden.

»Du hattest recht. Felicitas hat sich auch mit anderen Männern getroffen. Ich war beileibe nicht der Einzige. Du hast mich immer gewarnt, ich weiß, aber Liebe macht blind und taub.«

Bohlan verkniff sich jeden Kommentar und versuchte, ein möglichst neutrales Gesicht zu machen.

»Jan ... « Bohlan hielt kurz inne und suchte nach den richtigen Worten. »Du bist schon eine ganze Zeit lang bei mir im Team. Und du leistest hervorragende Arbeit. Das steht völlig außer Frage. Aber ich muss dich von diesem Fall abziehen.«

»Mich von dem Fall abziehen? Ausgeschlossen!« Steininger sprang mit weit aufgerissenen Augen auf. Er machte ein paar Schritte auf Bohlan zu, blieb stehen und taxierte ihn wie ein angriffsbereiter Boxer.

»Jetzt setz dich mal wieder hin. Das macht doch alles keinen Sinn.« Bohlan sah Steininger ruhig an, der allmählich begriff, wie albern er aussehen musste. Innerlich murrend nahm er wieder Platz.

»Sieh mal«, sagte Bohlan mit sanfter Stimme. »Deine Freundin wurde ermordet. Du warst als Erster am Tatort. Die Wohnung ist voll mit deinen Fingerabdrücken. Was würdest du an meiner Stelle machen?«

Steininger verschränkte die Arme vor seinem Bauch und brabbelte Unverständliches vor sich hin.

»Selbst wenn du der beste Ermittler der Welt wärst, müsste ich dich vom Fall abziehen. Du gehörst in jedem Fall zu den Tatverdächtigen.«

»Glaubst du im Ernst, ich hätte Felicitas umgebracht?«

»Nein. Das glaube ich nicht«, erwiderte Bohlan mit fester Stimme. »Und darum geht es auch nicht. Aber mir sind die Hände gebunden. Du kennst die Dienstvorschriften.«

»Heißt das, ich bin suspendiert?«

»Nein. Du bist vom Fall abgezogen, und wir werden eine andere Aufgabe für dich finden. Gerding hört sich gerade in den anderen Dezernaten um.«

»Wenigstens das.«

»Kopf hoch, Jan. Wenn der Fall geklärt ist, kommst du natürlich zurück!« Bohlan betrachtete Steininger, der wie ein Häuflein Elend vor ihm hockte. »Trotzdem kannst du uns helfen.«

»Und wie?«

»Wenn du irgendwelche Anhaltspunkte und Ideen hast, wer warum Maurer getötet haben könnte, solltest du sie mir sagen.«

Steininger zuckte mutlos mit den Schultern. »Wenn ich die mal hätte.«

»Du sagtest vorhin, es gäbe da diesen Griechen ...«

»Alexis.«

»Genau. Weißt du über ihn Näheres?«

»Nein. Nur dass ihm dieses Restaurant gehört.«

»Okay«, Bohlan machte sich ein paar Notizen. »Dann wäre da noch der junge Justizangestellte. Weißt du, wie der heißt?«

»Nein, leider nicht. War so ein muskelbepackter Typ mit kurzen blonden Haaren.«

»Aber du würdest ihn auf einem Bild wiedererkennen?«

»Ich denke schon.«

»Gut, damit müsste sich schon mal was anfangen lassen.«