Tödliche Verstrickung - Lutz Ullrich - E-Book

Tödliche Verstrickung E-Book

Lutz Ullrich

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Beschreibung

Die Anwältin Miriam Faust will ganz nach oben und spielt dabei ein übles Spiel, in dem Moral keine Rolle zu spielen scheint. Zunächst scheint alles nach Plan zu laufen, doch dann hängt ein Privatdetektiv halbnackt und tot an der Decke seines Schlafzimmers. Als Hauptkommissar Tom Bohlan und seine Kollegin Julia Will an den Tatort gerufen werden, ahnen sie noch nicht, in welche Verstrickungen sie dieses Verbrechen führen wird. Macht, Gier, Mobbing und üble Machenschaften ziehen sich durch die Ermittlungen und rütteln an den Grundwerten der Kommissare.

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LASP

Der Autor

Lutz Ullrich, Jahrgang 1969, studierte Politik und Rechtswissenschaften, schrieb für verschiedene Zeitschriften, betätigte sich in der Politik und arbeitet heute als Rechtsanwalt. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Frankfurt. Mehr Informationen gibt es unter www.lutzullrich.de.

In der Tom-Bohlan-Reihe sind bisher folgende Bücher erschienen:

Der Kandidat (2009)

Tod in der Sauna (2010)

Tödliche Verstrickung (2011)

Stadt ohne Seele (2012)

Mord am Niddaufer (2013)

Das Erbe des Apfelweinkönigs (2014)

Kristallstöffche (2015)      

Außerdem der Kurzkrimi:

Bohlan und das geheimnisvolle Manuskript

Alle Bücher sind auch als E-Book erhältlich

Tödliche Verstrickung

Eine Affäre in der hessischen Steuerbehörde hat es tatsächlich gegeben. Auch wurden Steuerbeamte auf Grund unrichtiger Gutachten in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Ferner halten sich Gerüchte über Mobbing im Frankfurter Polizeiapparat. Diese Ereignisse bilden aber lediglich die Grundlage dieses Romans.

© 2016 Lutz Ullrich

Umschlag, Foto: Lutz Ullrich

Lektorat: Stefanie Reimann

LASP-Verlag, Schwalbach am Taunus – Frankfurt am Main

Satz: Udo Lange

ISBN 978-3-946247-13-5

www.lasp-verlag.de

www.lutzullrich.de

Neubearbeitete Ausgabe.

Die Originalausgabe ist 2011 im Röschen-Verlag erschienen.

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

Für Paulina und Anton

Irgendetwas frisst an deiner Seele irgendetwas lässt dich nicht in Ruh Irgendetwas, irgendetwas drückt dir deine Kehle einfach zu.

(Rainhard Fendrich)

Inhaltsverzeichnis

Prolog
Samstag
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Sonntag
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Sonntag
Montag
Dienstag
Mittwoch

Prolog

Claudius Jäkel ging schon eine ganze Weile hinter der jungen, groß gewachsenen Frau her, die einen kurzen schwarzen Rock trug, der ihr nur knapp über den Hintern reichte. Ihre langen dunkelblonden Haare wippten im Rhythmus ihres Schritts über den Rücken. Eine weiße Handtasche aus Leder hing an ihrem Arm. In der Hand hielt sie ein iPhone, auf das sie ab und zu einen Blick warf. Dann und wann streifte sie aufreizend langsam mit der Hand ihren Rock glatt, beinahe so, als sei diese Geste allein für Jäkel bestimmt. Doch das konnte nicht sein, denn er war es, der sie seit einigen Tagen beobachtete, nicht umgekehrt. Obwohl er alle Dinge bedacht hatte, die es zu beachten galt, war etwas passiert, das eigentlich nicht passieren durfte. Jäkel fühlte sich von dieser Frau angezogen wie ein Metallstück von einem Magnet. Er hatte seinen Schritt verlangsamt, um den Abstand zu ihr konstant zu halten.

Jäkel war elektrisiert und spielte seit einiger Zeit mit dem Gedanken, die Frau anzusprechen. Aber es gab zwei Gründe, die ganz klar dagegen sprachen: sein Job und sein Naturell. Jäkel war ein ausgekochter Schnüffler, aber zugleich ein schüchterner Junge, was Frauen anbetraf. Sein Auftrag war die Observation, nicht die Kontaktaufnahme. Jäkel starrte zur Ablenkung die Häuserfassaden entlang, um seinen Blick für einen Moment von der Frau zu lassen. Als er wieder nach vorne sah, war es zu spät. Die Frau hatte sich umgedreht und er lief ihr geradewegs in die Arme.

„Nicht so stürmisch.“ Die Frau schob die Sonnenbrille nach oben und der Duft eines süßlichen Parfüms drang in Jäkels Nase.

„Entschuldigung. Ich war in Gedanken“, stammelte Jäkel.

„Das kann manchmal gefährlich sein. Sie müssen wachsam sein.“

Jäkel versuchte ein Grinsen und ärgerte sich, dass er aufgeflogen war. Jede weitere Observation war für ihn nun tabu. Er würde jemand anderen damit beauftragen müssen, was unnötige Kosten produzieren würde.

„Was halten Sie von einem Kaffee?“ Die Frau ließ ihr iPhone in der weißen Handtasche verschwinden und streckte ihm ihre Hand entgegen.

„Miriam Faust.“

Als ob Jäkel ihren Namen nicht wüsste. Er überlegte kurz und versuchte ein entschuldigendes Gesicht.

„Tut mir leid, aber ich habe einen dringenden Termin.“

„Machen Sie sich doch nicht lächerlich. So eilig kann der Termin nicht sein, wenn Sie seit einer halben Stunde hinter mir herlaufen.“

Jäkel war total perplex. War er wirklich so dilettantisch vorgegangen? Er ließ die vergangenen Minuten vor sich abspulen. Wie hatte sie es gemerkt? Wie war sie ihm auf die Schliche gekommen? Doch so sehr er sich anstrengte, er kam nicht drauf. Aber das war jetzt auch völlig unwichtig. Er musste sich auf die neue Situation einstellen und zwar schnell. Die Gedanken ratterten durch sein Gehirn und er traf eine fatale Entscheidung.

„Sie haben Recht, ich habe keinen Termin.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er betont lässig hinzufügte: „Ich würde sehr gerne einen Kaffee mit Ihnen trinken.“

„Dachte ich mir doch.“ Miriam Faust lächelte. „Dort vorne ist eine schöne Café-Lounge.“ Sie drehte sich um und lief noch eine Spur aufreizender als zuvor. Claudius Jäkel grübelte. Was hatte dies alles zu bedeuten? Auf was steuerte er zu? Warum wollte Miriam Faust mit ihm einen Kaffee trinken?

Sie erreichten die Café-Lounge. Miriam Faust peilte einen Tisch in der hinteren Ecke an. Sie nahmen Platz und orderten zwei Latte Macchiato. Jäkel starrte Faust an und schwieg. Faust lehnte sich zurück, schlug ihre Beine übereinander und kramte eine Zigarettenschachtel aus ihrer Tasche.

„Darf ich Ihnen eine anbieten?“

„Danke, ich rauche nicht.“

„Ist auch besser für die Gesundheit. Ich habe es allerdings aufgegeben, mir jedes Laster abgewöhnen zu wollen.“ Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund, zündete sie an und blies genüsslich den Rauch hinaus.

„Dann erzählen Sie mir mal, warum Sie mich beobachten.“

Jäkel fühlte sich ertappt. Er merkte, wie sein Körper anfing zu transpirieren. Sein Herz klopfte, er versuchte sich zu beruhigen und möglichst cool zu wirken. Faust fixierte ihn. Der Blick aus ihren grünen Augen nagelte ihn an die Wand. Jäkel wusste von diesem Augenblick an, dass er dieser Frau hoffnungslos unterlegen war. Dennoch versuchte er, sich aus der Situation herauszulavieren.

„Also gut. Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ich laufe schon einige Zeit hinter Ihnen her, weil ich Sie äußerst attraktiv finde. Ich weiß, man sollte so etwas nicht machen, aber ich war Ihrer Anziehungskraft ausgeliefert. Ich konnte nicht anders.“

Jäkel war sich nicht sicher, ob diese Geschichte fruchten würde. Doch die Tatsache, dass er noch nicht einmal gelogen hatte, obwohl er den wahren Grund der Observation verheimlichte, erleichterte ihm den Schwindel und er schaffte es, Faust die ganze Zeit in die Augen zu sehen. Ein leichtes Lächeln huschte ihr über die Lippen. Für einen Moment war sich Jäkel nicht sicher, ob es Genugtuung oder Spott war. Er hoffte auf Ersteres.

„Ich hatte gehofft, dass Sie so etwas sagen. Sie sind mir vorhin schon aufgefallen. Ich finde Sie auch sehr attraktiv.“

Jäkel traute seinen Ohren nicht. Er lächelte unsicher und trank einen Schluck Kaffee.

Faust löffelte ein wenig Milchschaum. Dann kramte sie ihr iPhone aus der Tasche.

„Sie entschuldigen mich bitte einen Moment. Ich muss mal eben telefonieren. Laufen Sie bitte nicht weg. Ich habe noch einiges mit Ihnen vor.“

Jäkel schaute Faust hinterher, die das Café verließ und auf dem Trottoir zu telefonieren begann. Er konnte sein Glück kaum fassen. Sie schien nicht nur seine Geschichte geschluckt zu haben, sie fand ihn auch noch attraktiv. Hätte er das bedacht, was er über Miriam Faust in den vergangenen Wochen ermittelt hatte, er wäre vorsichtiger gewesen. Gedankenverloren trank er seinen Kaffee aus.

Samstag

Hauptkommissar Tom Bohlan stocherte im Nebel. Ein eiskalter Wind wehte ihm um die Nase und schoss kleine Eiskristalle auf die geröteten Wangen. Sein Vordermann verschwand gerade in der Nebelwand, die knapp hinter der nächsten Pistenmarkierung begann. Bohlan versuchte, sein Fahrtempo zu erhöhen, um den Anschluss an die Gruppe nicht zu verlieren. Er befand sich auf unbekanntem Terrain und er war unvorbereitet. Sein letzter Skiurlaub lag Jahre zurück. Seitdem hatte sich nicht nur sein skifahrerisches Können dramatisch verschlechtert, auch die Lifte und Pisten auf dem Pitztaler-Gletscher waren einer dramatischen Veränderung unterlegen und zollten der Klimaerwärmung Tribut. Zentimeter für Zentimeter der jahrtausendalten Eisschicht plätscherten jedes Jahr mit der Schneeschmelze den Hang hinunter und leisteten ihren Beitrag zur Anhebung des Meeresspiegels. Mit allen Mitteln und unter Einsatz immenser finanzieller Ressourcen versuchten die Alpen-Gemeinden sich gegen die Auswirkungen der Klimaerwärmung zu stemmen. Der Verlust des Gletschers wäre der Untergang des Tourismus im Tal. Um ihn vor den warmen Sonnenstrahlen zu schützen, wurde er in den warmen Monaten mit weißen Folien abgedeckt. Im Winter lieferten riesige Schneemaschinen tonnenweise Kunstschnee. Im letzten Jahr hatte die Betreibergesellschaft nochmals einige Millionen Euros in eine Neuentwicklung aus Israel investiert, die Schnee auch bei Plusgraden produzieren konnte. Während Bohlan über all dies nachdachte, passierte das Unvermeidliche. Er verlor die Kontrolle über seine Ski, geriet von der Piste und schnellte in unwegsames Gelände, wo er die Kontrolle über seine Körperbalance vollends verlor. Die Schaufeln der Ski blieben im Tiefschnee stecken und der Kommissar überschlug sich. Für einige Sekunden blieb er benommen liegen.

Er hatte sich von seinem alten Freund Peter Wengen, den er im letzten Sommer zufällig auf einem Sportplatz in Niederrad wiedergetroffen hatte, zu diesem Vatertagstrip in die österreichischen Berge überreden lassen. Seit zwei Tagen verweilten die fünf gestandenen Männer nun schon im Pitztal, verbrachten den Tag auf den Brettern und die Abende in den wenigen Gaststätten, die noch geöffnet hatten. Das Essen war deftig und süß. Weizenbier und Obstler flossen reichlich. Bohlan hatte bislang jede Sekunde genossen.

„Ist alles okay?“

Bohlan blickte in eine Nebelwand und erahnte eine menschliche Gestalt. Er vergewisserte sich, dass noch alle Gliedmaßen funktionsfähig waren.

„Ja. Geht schon. Vielen Dank.“

Der Kommissar berappelte sich, klopfte den Schnee von den Skischuhen und stieg wieder in die Bindung. Er schob sich mit beiden Stöcken wie ein Rennläufer beim Start an und beeilte sich, zur Talstation der Gondel zu gelangen, die immerhin noch auf einer Höhe von 1800 Metern lag.

„Da bist du ja. Wir wollten schon die Bergwacht verständigen“, wurde er von Peter Wengen empfangen. Die anderen drei Männer lachten.

„Alles halb so schlimm. Hab nur schnell den Schnee geküsst.“

„Dann können wir ja.“ Wengen gab Bohlan einen Klaps auf die Schulter. Die Männer bestiegen die nächste Gondel. Anstehen mussten sie nicht. Das Skigebiet war ziemlich leer, was zum einen am miesen Wetter und zum anderen daran lag, dass es das letzte Wochenende der Saison war. Mitte Mai Skizufahren war eine Verrücktheit, die sich nicht allzu viele leisten wollten. Als die Gondel die Talstation verließ, verdichtete sich der Nebel erneut.

„Wäre das nicht die perfekte Kulisse für einen Horrorstreifen? Die Insassen sehen, wie die Gondel vor ihnen langsam, an einem Drahtseil gezogen, im Nebel verschwindet. Leichtes Unbehangen macht sich breit, obwohl der Verstand sagt, dass es nur Nebel ist. Die Gondel durchbricht die Nebelwand, taucht in sie ein und verschwindet. Nun ist es die eigene Gondel, die sich langsam, aber unaufhaltsam der Wand nähert. Es herrscht eine beängstigende Stille. Keiner sagt etwas. Alle starren auf den Nebel. Dann ... die Gondel taucht in den Nebel ein. Es ist nichts mehr zu sehen, außer einem unendlichen Weiß. Die Gondel schwebt weiter. Man sieht das Ende des Drahtseils auf sich zukommen. Jemand will schreien, aber der Schrei verhallt ohne einen Laut. Die Gondel rollt vom Seil. Alle warten auf den Absturz, aber nichts passiert. Das Seil ist weg, aber die Gondel schwebt weiter im Raum. Erst verschwindet das Dach, dann reihum die Seitenteile. Die Skifahrer sitzen auf den Bänken, der Boden entschwindet. Jeder ahnt das Ende voraus, aber wen wird es als Ersten treffen? Wer wird sich zuerst im Nebel auflösen ...“ Robert Neumann machte ein ernstes Gesicht.

„Du bist echt ein Meister des Grusels“, entfuhr es Martin Müller und die anderen waren froh, dass die Geschichte ein Ende hatte und der Nebel sich ein wenig zu lichten begann.

„Ja, das wahre Kino findet im Kopf statt. Man braucht nicht viel Aktion, um ein richtiges Gruselgefühl zu erzeugen“, antwortete Robert Neumann, von dem Tom Bohlan nicht viel wusste, außer dass er einmal als Steuerfahnder tätig war und nun Bücher schrieb. Der Mann neben ihm, Klaus Horn, kramte einen Flachmann aus seinem Rucksack.

„Auf den Schreck muss ich erst einmal einen trinken.“ Der Deckel des Flachmanns machte die Runde und die Gondel fuhr in die Bergstation ein.

Montag

Tom Bohlan parkte seinen Lupo vor dem Polizeipräsidium. Obwohl er guter Laune war und seine Batterien durch den Ski-Trip aufgeladen waren, legte er vor dem Betreten eine kurze Pause ein und schaute grübelnd nach links und rechts. Die dunkle Fassade schien kein Ende zu nehmen. Kopfschüttelnd trat er durch die Eingangstür, nickte der Empfangsdame, die hinter einer dicken Scheibe aus Panzerglas saß und gelangweilt auf ihren Bildschirm starrte, freundlich zu. Er kramte umständlich seine Dienstkarte, die ein elektronischer Schlüssel war, aus seiner Jacke und hielt sie an das Magnetfeld. In den letzten Jahren hatte er sich an seinen Arbeitsplatz gewöhnt und fand ihn nicht mehr so uneinladend wie bei seiner Rückkehr in den Dienst an einem Oktobertag vor drei Jahren. Nur manchmal überkam ihn der Blues und er sehnte sich das altehrwürdige Präsidium zurück, das in einem alten Bau in der Nähe des Hauptbahnhofes gelegen hatte. Bohlan durchschritt einen der acht quadratischen Innenhöfe und schaute die gläserne Fassade hinauf. So sehr die Architekten die Außenfassade auf abweisend getrimmt hatten, so sehr hatten sie sämtliche Innenfassaden mit Glas und Aluminium verziert, um ihnen eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen.

Heute war kein Tag für den Blues. Heute fühlte sich Bohlan fit und munter und es erfüllte ihn sogar mit einem gewissen Stolz, in dieser hochmodernen Domäne der Kriminalistik arbeiten zu dürfen.

Er verließ den Innenhof und fuhr mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock. Dort betrat er leichten Fußes das Kommissariat. Zu seiner Überraschung war er der Letzte. Julia Will, eine junge Kommissarin Ende zwanzig, hob den Kopf. Ein Lächeln flog über ihre Lippen, als sie Bohlan erblickte.

„Hallo Tom. Siehst erholt aus.“

„Bin ich auch. Es war ein richtig schönes Wochenende.“

„Und unverletzt scheinst du auch zu sein.“ Steinbrecher war aufgestanden, um seinen Kollegen zu begrüßen. Er klopfte ihm auf die Schulter und musterte ihn von Kopf bis Fuß: „Ich kann keinen Gips erkennen.“

„Ich habe dein Motorrad-Prinzip auf das Skifahren übertragen: Sicherheit durch Geschwindigkeit. Das hat geholfen.“

Steinbrecher verzog den Mundwinkel.

„Nein, im Ernst, ich war erstaunt, wie gut ich das noch hinbekommen habe. War immerhin das erste Mal seit über zehn Jahren.“

„Willst du einen Kaffee?“, fragte Will.

Bohlan nickte und Julia Will stellte ihm einen dampfenden Pott auf den Schreibtisch. Bohlan ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

„Dann legt mal los, was hat sich alles ereignet?“

„Du tust ja so, als wärst du Monate weg gewesen.“

„So kommt es mir auch vor. Es ist ein Wunder, was so ein Wochenende fern der Heimat alles bewirken kann.“

Bohlan rüttelte an der Computermaus. Der Bildschirm sprang an und zeigte das Symbol der hessischen Polizei.

„Eurem Schweigen entnehme ich, dass nicht viel passiert ist.“

„Nur das Übliche. Eine Schlägerei hier, eine Messerstecherei dort. Nichts Spektakuläres. Die Mörder haben gewartet, bis der Herr Kommissar wieder vor Ort weilt.“

Bohlan blickte an seinem Bildschirm vorbei. Sein Blick traf auf Julia und sie schauten sich für einige Augenblicke in die Augen. Beide lächelten.

Ein lautes Dröhnen ließ Bohlan aufschrecken. Er blickte nach draußen. Seine Augen suchten den Himmel ab. Er erblickte den Hubschrauber, der seit letzter Woche jeden Morgen die Mitglieder der sogenannten Eifel-Gruppe aus Stuttgart-Stammheim einflog. Es gab schon merkwürdige Dienstanweisungen in Deutschland, dachte Bohlan. Den Mitgliedern dieser kriminellen Vereinigung wurde in Frankfurt der Prozess gemacht. Wegen ihrer Gefährlichkeit aber mussten sie im Hochsicherheitstrakt in Stammheim einsitzen. Jeden Morgen und jeden Abend gab es einen Promiflug gratis im Polizeihelikopter. Bohlan beobachtete, wie der Hubschrauber landete und wandte sich dann wieder seinen E-Mails zu.

Der Vormittag plätscherte mit Routinearbeit dahin. Steinbrecher und Steininger brüteten über einer Einbruchsserie. Julia Will recherchierte irgendetwas im Internet und blickte nachdenklich auf ihren Bildschirm. Bohlan räusperte sich.

„Was liest du eigentlich die ganze Zeit?“

„Ich soll einen Artikel für die Polizeizeitschrift schreiben und zwar über Polizeimeister Kaspar.“

„Das ist doch der, nach dem die Straße hier unten vor dem Präsidium benannt ist, oder?“

Will nickte kurz. „Wie viel würdest du aufs Spiel setzen, um etwas Unmenschliches zu verhindern?“

„Wie meinst du das?“

„Loyalität gegenüber dem Staat oder Widerstand gegen ein Menschen verachtendes System. Wofür würdest du dich entscheiden?“

Bohlan zuckte mit den Schultern.

„Was für eine Frage. Natürlich Widerstand. Aber das lässt sich leicht sagen, wenn man in einer Demokratie aufgewachsen ist.“

„Ja, genau. Bei Polizeimeister Otto Kaspar war das anders. Er war im Dritten Reich bei der Frankfurter Polizei angestellt. Vermutlich aus Menschlichkeit fälschte er einige Meldekarten und machte aus „jüdischen Glauben“ „ohne Glauben“. Durch die Eingriffe rettete er unter anderem dem jungen Valentin Senger und seiner Familie das Leben. Die ostjüdische Familie überlebte in Frankfurt die NS-Zeit unerkannt und in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Senger schrieb die unglaubliche, an ein Wunder grenzende Geschichte in seinem Buch „Kaiserhofstraße 12“ auf. Kaspar schwieg übrigens bis zu seinem Tod über sein Handeln. Selbst seiner Familie verriet er nichts.“

„Warum?“

„Er war ein preußischer Beamter. Seine Taten waren allzu menschlich, aber er hatte Meldedaten verfälscht. Fälschungen im Amt, für einen Beamten etwas Unverzeihliches.“

In diesem Moment schrillte das Telefon. Bohlan sah Will nachdenklich an, die den Anruf entgegennahm. Als sie den Hörer wieder auflegte, machte sie ein ernstes Gesicht. Sie brauchte nicht viel zu sagen. Bohlan wusste längst, dass es Arbeit gab. Das Verbrechen hatte wieder einmal zugeschlagen.

Als Bohlan und Will den Tatort in der Holbeinstraße in Frankfurt Sachsenhausen erreichten, war es früher Nachmittag. Die Sonne lugte hinter einer dicken Wolke hervor und der Himmel begann aufzureißen. Bohlan parkte den Wagen an der Seite des breiten Grünstreifens, der in der Mitte der Straße entlang führte. Der Tatort lag in einem Mehrfamilienhaus, dessen Eingang bereits abgesperrt und von einigen neugierigen Passanten belagert war. Bohlan hob das weißrote Absperrband nach oben und ließ Will drunter durchgehen, bevor er ihr folgte. Am Hauseingang wiesen sich die beiden mit ihrem Dienstausweis aus und betraten das Treppenhaus des offensichtlich erst vor wenigen Jahren grundsanierten Altbaus. Vor der Wohnung im zweiten Stock stand ebenfalls ein Schutzmann. Bohlan wechselte einige Sätze mit ihm und warf einen Blick auf das Namensschild neben der Klingel: C. Jäkel.

„Wer hat ihn gefunden?“

„Seine Putzfrau. Sie sitzt unten im Einsatzbus“, antwortete der Schutzmann. Bohlan nickte und betrat die Wohnung. Sie war groß, hell und aufgeräumt. Die Einrichtung hinterließ einen gediegenen Eindruck. Moderne Möbel wechselten sich mit einzelnen Antiquitäten ab. An den hohen, mit Stuck abgesetzten Wänden hingen moderne Bilder. Die Bodendielen blinkten. Bohlan und Will durchschritten das Wohnzimmer, das durch eine mittig geteilte Schiebetür vom Esszimmer abgetrennt war. Durch eine weitere Schiebetür gelangten sie in ein kleines Arbeitszimmer, das einen Schreibtisch aus dunklem Holz, vermutlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts hergestellt, und eine schlichte weiße Regalwand mit unzähligen Büchern beherbergte. Bohlan ließ kurz einen Blick über die Buchrücken schweifen und kam zu dem Schluss, dass der Inhaber ein besonderes Interesse für die deutsche Geschichte seit 1850 gehegt haben musste.

Den Inhaber der Wohnung fanden sie, nur mit einer Unterhose bekleidet, an der Decke des Schlafzimmers. Er war an Händen und Füßen mit Seilen abgespannt und an vier Haken befestigt. Bohlan stand wie angewurzelt in der Zimmertür, neben ihm seine Kollegin. Sie verharrten einige Augenblicke schweigend, bevor sie das Zimmer betraten. Das Bett, das sich direkt unter dem Toten befand, machte einen zerwühlten Eindruck. Auf dem Nachttisch lag eine leere Flasche Champagner, daneben ein leeres Glas. Das zweite lag auf dem Boden vor dem Bett. Plötzlich stieß Will Bohlan in die Rippe.

„Tom, schau dir das mal an.“ Wills Finger deutete nach oben. Bohlan hob den Kopf und las den mit blauer Farbe geschriebenen Satz, der auf dem Bauch der Leiche geschrieben stand.

„Flieg nicht zu hoch.“

Der Mann mit der dunklen Sonnenbrille vor den Augen hatte das Geschehen vor dem Haus in der Holbeinstraße bereits seit einigen Stunden beobachtet. Er saß in einer dunklen Limousine und rieb sich mit der Hand über die müden Augen hinter der Brille. Dann griff er in das Handschuhfach, zog eine Dose Red-Bull hervor, klopfte mit dem Finger auf die Oberseite und öffnete den Deckel. Er nahm den ersten Schluck und verfluchte die vielen Stunden, die er bereits im Wagen saß und wartete. Als die Fahrzeuge der Spurensicherung vorfuhren, hatte er die Dose zur Hälfte geleert. Die Kriminaltechniker luden ihre Gerätschaften aus und verschwanden im Hauseingang. Der Mann trank die Dose aus, nahm sein Handy und rief seinen Auftraggeber an. In knappen Worten erstattete er Bericht über die letzten Stunden. Er war froh, dass er die Anweisung erhielt, ins Hotel fahren zu dürfen. Es gab nichts, was er jetzt nötiger hatte als ein paar Stunden Schlaf.

Stimmen und Getrampel näherten sich aus dem Treppenhaus. Bohlan ging zur Wohnungstür, winkte die Spurensicherung und den Gerichtsmediziner ins Schlafzimmer und gab einige Anweisungen. Als er sich danach nochmals in der Wohnung umsehen wollte, kam ihm Julia Will aus Richtung Arbeitszimmer entgegen und schwenkte ein Filofax.

„Der Tote ist fünfzig Jahre alt und als Privatdetektiv tätig. Sein Büro befindet sich in der Textorstraße, das ist quasi direkt um die Ecke.“

„Dann lass uns die Zeit nutzen.“

„Wollen wir nicht zuerst die Putzfrau befragen?“, wandte Will ein.

Bohlan schlug sich mit der Hand an die Stirn: „Hast Recht. Die habe ich glatt vergessen.“

Die beiden Kommissare stiegen die Treppe hinunter und hielten nach dem Einsatzbus Ausschau, der wenige Meter vom Haus entfernt geparkt war.

Die Vernehmung dauerte nicht lange. Jolanta Kowalska war Mitte vierzig, stammte aus Polen und lebte seit zwanzig Jahren in Frankfurt. Ungefähr genauso lange verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt mit diversen Putzjobs. Seit fünf Jahren war sie für Claudius Jäkel tätig, kam zweimal die Woche für zwei Stunden, putzte die Wohnung und bügelte die Wäsche. Sie hatte den Toten heute Nachmittag gefunden, als sie die gebügelten Hemden in den Kleiderschrank im Schlafzimmer hängen wollte. Sie war total aufgewühlt und brach bei jedem zweiten Satz in Tränen aus. Vor allem konnte sie sich nicht verzeihen, ihren Arbeitgeber erst so spät entdeckt zu haben. Wie montags üblich hatte sie zuerst Küche und Bad geputzt, dann das Wohnzimmer gesaugt und gewischt und zuletzt die Hemden gebügelt. Sie hatte demnach zwei Stunden mit dem Toten in der Wohnung zugebracht, ohne ihn zu bemerken.

Will versuchte Jolanta Kowalska so gut es ging zu beruhigen, nahm ihre Personalien auf und orderte eine Polizeipsychologin. Nach einer halben Stunde verabschiedeten sich die beiden Kommissare und begaben sich auf den Fußweg in Richtung Textorstraße.

„Claudius Jäkel. Detektiv“ stand in schwarzer Schrift auf einem Messingschild am Hauseingang. Bohlan zückte den Schlüsselbund, den er vom Haken in Jäkels Wohnung genommen hatte, und suchte nach einem passenden Schlüssel. Bereits der zweite Versuch war erfolgreich. Die Eingangstür sprang auf. Jäkels Büro befand sich im Erdgeschoss auf der linken Seite. Bohlan wollte bereits einen der vielen Schlüssel ins Schloss stecken, als die Tür allein durch die Berührung aufsprang.

„Da war wohl jemand schneller“, mutmaßte Bohlan und stieß die Tür mit dem Ellenbogen ganz auf. Ein erster flüchtiger Blick auf vereinzelte Papierschnipsel und herausgerissene Kabel bestätigte seine Vermutungen. Bohlan und Will schlichen mit gezückten Dienstpistolen vorsichtig durch den Flur. Schritt für Schritt arbeiteten sie sich voran. Jäkels Büro war in einer kleinen Wohnung untergebracht, die aus einem langen Flur bestand, von dem jeweils zwei Türen nach links und rechts abgingen. Die ersten beiden führten zu einem kleinen Besprechungsraum und zu Jäkels Büro. Während das Besprechungszimmer fast unangetastet aussah, glich das Büro einem Hort der Verwüstung. Der Fußboden war mit Papieren und entleerten Aktendeckeln überflutet. Die Kommissare begnügten sich zunächst mit einem kurzen Blick und wollten erst den Rest der Räumlichkeiten inspizieren. Die beiden hinteren Türen führten zu einem kleinen Bad und einer Küche, deren Zustand erträglich war. Nachdem Bohlan sich sicher war, dass sich niemand in der Wohnung befand, ließ er die Pistole sinken. Will tat es ihm gleich. Die Anspannung wich sichtlich aus ihren Adern.

„Wer auch immer das hier angerichtet hat, er ist schon weg.“ Bohlan steckte die Pistole ein und wischte sich über die Stirn.

Er ging den Flur zurück und betrat das Arbeitszimmer. Sämtliche Schranktüren standen offen, die Fächer waren komplett entleert. Der Monitor lag umgestürzt auf dem alten Holzschreibtisch. Die Kabel, die ihn einst mit dem Computer verbunden hatten, baumelten zu Boden. Der Computer selbst war nicht mehr da. Neben allerlei Papieren lagen auch zahlreiche Überwachungsgerätschaften auf dem Boden. Bohlan hob einige Gegenstände auf und betrachtete sie interessiert, während Will im Türrahmen stehen geblieben war.

„Schau mal, Julia, das ist ja wie in einem James-Bond-Streifen.“ Bohlan hielt seiner Kollegin den silberfarbenen Schlüsselanhänger unter die Nase.

„Sieht aus wie ein USB-Stick, ist aber eine getarnte Überwachungskamera.“

„Tom, wir sollten nicht zu viel in die Hand nehmen.“

„Hast Recht, Julia.“

Bohlan orderte einen Streifenpolizisten, der Jäkels Büro bis zum Eintreffen der Spurensicherung bewachen sollte. Da diese aber noch einige Zeit mit Jäkels Wohnung beschäftigt sein würde, war mit ihrem Auftauchen in den nächsten Stunden nicht zu rechnen. Erste verwertbare Ergebnisse würde es an diesem Tag wohl nicht mehr geben.

Julia Will schlenderte den breiten Bürgersteig vom Präsidium zum Eingang der U-Bahn-Haltestelle entlang und schaute auf ihre Armbanduhr. Zufrieden stellte sie fest, dass es erst siebzehn Uhr dreißig war. Sie würde es also locker zum Selbstverteidigungstraining schaffen. Vergnügt lief sie die Stufen zur U-Bahn-Haltestelle hinunter und wartete nur wenige Minuten auf die U3, die sie die Eschersheimer Landstraße hinunter nach Niederursel brachte. An der Haltestelle Wiesenau stieg sie aus und lief die wenigen Meter zum Haus ihrer Oma in der Hohemarkstraße, wo sie zwei Zimmer mit Bad im Dachgeschoss bewohnte. Ursprünglich war dieses Domizil nur als Übergangslösung gedacht gewesen, doch mittlerweile hatte sie sich an die Wohngemeinschaft mit ihrer Oma so gewöhnt, dass sie selbst im Traum nicht daran dachte, wieder auszuziehen. Oma Will, eine rüstige Rentnerin, liebte das Leben und war selten zu Hause. Manchmal ging sie ihr mit den zahlreichen Aktivitäten auf die Nerven, vor allem, wenn sie die fehlende Freizeitbeschäftigung ihrer Enkelin bemängelte. Die meiste Zeit jedoch verstanden sich die beiden prima, so wie es oft ist, wenn eine Generation dazwischen liegt. Julia Will liebte die gemeinsamen Backgammonabende auf der Terrasse bei einem Glas Wein oder im Winter vor dem wärmenden Holzofen. Heute jedoch fand Julia Will nur einen Zettel auf dem Küchentisch, der ihr einen schönen Abend wünschte und ihre Oma entschuldigte, die sich auf dem Weg zur Vorstandssitzung der örtlichen Arbeiterwohlfahrt befand. Will schob den Zettel mit einem Lächeln zur Seite und schmierte sich ein Nutella-Brot. Dazu trank sie ein Glas Milch und blätterte durch die neueste Ausgabe des SPIEGEL, den sie auf der Küchenbank gefunden hatte. Gegen achtzehn Uhr dreißig ging sie nach oben in ihr Zimmer, um ihre Sporttasche zu packen. Keine zehn Minuten später verließ sie das Haus und fuhr mit dem Fahrrad zur Sporthalle der Turngemeinde Niederursel, wo das Selbstverteidigungstraining stattfand, das sie seit der Aufklärung der Morde an dem Startrainer Klaus Momsen und dem Manager Henning Thoma im Sommer des letzten Jahres besuchte. Es war eine gemischte Gruppe, das Alter der Sportler betrug zwischen achtzehn und fünfzig. Die beiden Trainer waren genauso nett wie kompetent und nach dem Training besuchte man oftmals gemeinsam eine Kneipe. Will fühlte sich wohl und war froh, dem Drängen ihrer Oma auf mehr Freizeitaktivität nachgekommen zu sein.

Als sie nach dem Training duschte, plauderten die anderen Frauen der Trainingsgruppen wild durcheinander und tauschten den neuesten Klatsch und Tratsch aus. Julia Will stand schweigend unter ihrer Dusche und hörte nicht hin. Sie musste daran denken, dass dies möglicherweise vorerst das letzte Training gewesen sein könnte. Der neue Fall versprach reichlich Überstunden. Vermutlich würde sie die nächsten Trainingstermine streichen müssen. Eine Vorstellung, die sie sehr traurig machte und sie ertappte sich bei dem Gedanken, die Ermittlungen für das Training zu unterbrechen. Ein Gedanke, der ihr im letzten Jahr noch völlig abwegig erschienen wäre.

„Julia, träumst du oder was?“

Die Kommissarin schaute erschrocken auf und stellte fest, dass sie mit Konstanze alleine war.

„Was ist denn heute los mit dir, du bist so schweigsam?“ Will schaute in die Augen von Konstanze Beckstein, die unter der Nachbardusche stand. Konstanze, ebenfalls Ende zwanzig, hatte kurze dunkle Haare und war übermäßig schlank. Sie hatte vor wenigen Monaten ihr Studium beendet und arbeitete bei der städtischen Drogenberatungsstelle. Julia Will mochte sie sehr und die beiden hatten in der letzten Zeit des Öfteren zusammen Kneipen und Nachtclubs unsicher gemacht.

„Wir haben einen neuen Mordfall“, antwortete Will einsilbig.

„Ach so, ich dachte schon, du hättest einen neuen Traummann aufgerissen.“

„Nein. Leider nicht“, Will musste ein wenig schmunzeln.

Beckstein ließ den Blick an Will entlang gleiten.

„Eigentlich sehr verwunderlich, dass du bei deinem Aussehen nicht jede Woche mit einem neuen Typen hier aufkreuzt.“

Will drehte das Wasser ab und griff nach einem Handtuch.

„Und bei dir, was gibt’s Neues?“

Beckstein verzog das Gesicht.

„Nächste Woche ist es endlich so weit, dann habe ich die Wohnung wieder für mich alleine.“

„Na, da bin ich mal gespannt.“ Will konnte Becksteins Gerede zu diesem Thema nicht mehr hören. Seit Monaten gab es mit ihrem aktuellen Freund ein ewiges Hin und Her zwischen Trennung und Versöhnung.

„Du solltest mal mit Alex ausgehen. Der steht total auf dich.“ Alex war einer der beiden Trainer, Anfang dreißig und überaus attraktiv. Im richtigen Leben arbeitete er als Physiotherapeut. Will ertappte sich dabei, wie ihr Gesicht eine leicht rötliche Färbung annahm.

„Du machst wohl Witze. Warum sollte jemand wie Alex gerade auf mich stehen? Der kann doch jede haben.“

Beckstein, die ebenfalls das Duschen beendet hatte, baute sich vor Will auf.

„Schau dich doch mal an. Du bist jung, hübsch, intelligent und schlagfertig. Stell doch mal dein Licht nicht immer so unter den Scheffel. Glaub mir, Alex steht auf dich. Ich habe ihn beobachtet und mein Gefühl täuscht mich selten. Jedenfalls nicht bei so was.“

Dienstag

Claudius Jäkel lag auf dem Seziertisch von Dr. Spichal und sah irgendwie glücklich und zufrieden aus. Er hatte den Körper eines Mitte Fünfzigjährigen, mit allen gängigen Gebrauchsspuren wie Falten, Fettansätze an Bauch und Hüfte und wies ansonsten, einmal abgesehen von dem Schriftzug auf seinem Bauch, keinerlei Auffälligkeiten auf.

Tom Bohlan und Julia Will betrachteten erst den Leichnam und dann Dr. Spichal, der ihnen, mit einem weißen Kittel bekleidet, schweigsam gegenüberstand.

„Und, könnt ihr irgendwelche Tötungsmerkmale entdecken?“ Dr. Spichal verschränkte die Arme vor seinem Bauch und blickte die beiden Kommissare herausfordernd an. Bohlan trat etwas näher an den Toten heran und scannte dessen Körper langsam ab, wobei er in kleinen Schritten um den Tisch tippelte.

„Ich kann weder ein Einschussloch noch Messereinstiche noch Würgemerkmale erkennen. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick.“ Bohlan trat einen Schritt zurück und räusperte sich. „Vielleicht sollten wir ihn mal auf den Bauch legen.“

„Ich denke, das können wir uns sparen“, ertönte Dr. Spichals Baritonstimme. Der Gerichtsmediziner trat etwas näher an die Leiche.

„Die hellroten Blutungen an den Schleimhäuten sind doch allzu verräterisch.“

Bohlan schaute den Mediziner fragend an. Dieser blickte zu Will, die einen Schritt näher herangetreten war. Nach kurzer Zeit sagte sie: „Wenn ich mich recht erinnere, dann ist dies ein Indiz für Zyankali.“

„Sehr gut, Julia. Du hast vollkommen Recht. Die Todesursache ist eine Zyankalivergiftung.“

Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen. Bohlan blickte zu Will.

„Dr. Spichal hat mir im letzten Herbst ein Buch über Gerichtsmedizin geschenkt. Ist wirklich eine spannende Lektüre. Kann ich dir nur empfehlen.“

Der Kommissar wandte sich an Dr. Spichal. „Du solltest mit deinen Geschenken vorsichtiger sein. Wenn die Kommissare zu schlau werden, braucht dich niemand mehr.“

„Da habe ich wenige Befürchtungen. Der Wissensdurst der meisten Kommissare ist doch eher gering, jedenfalls was medizinische Sachverhalte angeht. Julia macht sich allerdings wirklich gut. Aber im Ernst.“ Der Gerichtsmediziner räusperte sich kurz, bevor er fortfuhr. „Hier die wichtigsten Daten für die weiteren Ermittlungen. Kaliumcyanid bildet farblose Kristalle. Sie lösen sich sehr gut in Wasser, aber nur sehr schlecht in Alkohol auf. Markantester Hinweis ist ihr subtiler Geruch nach Bittermandel. Allerdings können diesen Geruch nur etwa 20–50 % der Menschen wahrnehmen. Die überwiegende Mehrheit ist dazu genetisch bedingt nicht in der Lage.“

Bohlan nickte. „Ich kann mich an einen Versuch im Chemieunterricht erinnern.“

„Lang ist es her, aber bestimmte Dinge bleiben in Erinnerung, nicht wahr?“ Dr. Spichal blickte kurz auf die Uhr. „Ich habe nicht mehr lange Zeit. Aber eins noch. Normalerweise wird der Cyanid-Wirkstoff als Zyankali-Kapseln oder als ein anderes Salz der Blausäure verabreicht. Beim Zerbeißen und Verschlucken der Kapsel entfaltet sich die toxische Wirkung. Diese Kapseln sind als Mittel zur Durchführung des Suizid bekannt geworden.“

„Auch das weiß ich noch aus der Schulzeit, allerdings aus Geschichte. Suizid scheint mir allerdings ausgeschlossen zu sein. Alleine wird sich Claudius Jäkel nicht an allen vieren an die Decke gehängt haben können.“

„Da stimme ich dir zu“, schaltete sich Will ein und fügte mit sarkastischem Tonfall hinzu: „Aber wenn es um geschichtliche Beispiele geht, sollten wir den Tod der Goebbels-Kinder nicht außer acht lassen.“