Das Faultier in mir muss Heimat finden - Thorsten Peter - E-Book

Das Faultier in mir muss Heimat finden E-Book

Thorsten Peter

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Beschreibung

Ich bin maximal strukturiert, zeitlich perfekt abgestimmt und meistens in der Lage, alle Herausforderungen anzunehmen. Zumindest dachte ich das. Doch als ich völlig unerwartet Bekanntschaft mit meinem inneren Faultier mache, stellt das mein Leben komplett auf den Kopf. Gemeinsam begeben wir uns auf eine intensive Reise, um den Müßiggang zu finden und etwas Achtsamkeit in mein Leben zu bringen. Keine leichte Aufgabe, wenn doch überall so viel Wichtiges ansteht, das erledigt werden will. Und das alles nur, weil ich diesen einen Satz in der Tageszeitung gelesen habe: Wir müssen wieder lernen, den Müßiggang zu gehen.

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Könnte der Mensch einen Zustand finden, in dem er müßigginge und doch dabei das Gefühl hätte, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein und seine Schuldigkeit zu tun, dann hätte er damit ein Stück der ursprünglichen Glückseligkeit wiedergefunden.

Leo Tolstoi (1828 - 1910), Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi, russischer Erzähler und Romanautor

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Das aktive Nichtstun

Bewusste Zeit mit der Familie

Der Plausch auf der Straße

Zeit mit Freunden

Sport - Kann Sport Müßiggang sein?

Der kleine Moment zwischendurch

Innehalten und genießen

Sich einfach mal nicht ärgern

Etwas zum ersten Mal machen

Die Supermarktkassenschlange-Challenge

Zeit für Genuss

Einfach mal etwas Gutes tun

Schlusswort

Die Geschichte hinter der Geschichte

Danksagung

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Prolog

Es war mir unterbewusst schon eine ganze Weile klar, dass ich gegen meine Natur handelte. Und das pausenlos, ohne Unterbrechung. Doch das erschien mir grundsätzlich normal, denn das machten ja alle so. Zumindest die meisten, ich kenne schließlich nicht alle.

Jeden Tag diese Hektik, immer muss jede Minute ausgefüllt sein, damit nur keine Zeit verloren geht. Je mehr ich erlebe, desto mehr habe ich zu erzählen. Kann ich als Erinnerung mitnehmen und vielleicht, wenn ich irgendwann die Gelegenheit dazu habe, jemandem erzählen. Doch die Tage, Wochen und Monate fliegen nur so an mir vorbei. Sobald ich Leerlauf habe, gehe ich nervös auf und ab und überlege angestrengt, was ich schon ewig vor mir herschiebe und jetzt sofort erledigen könnte. Alleine schon das Auswählen der selbstgestellten Aufgabe, die für den Moment am besten geeignet scheint, um die unproduktive Lücke zu schließen, ist furchtbar anstrengend. Ich kann es nur schwer ertragen, nicht produktiv zu sein. Das Nichtstun wollte ich frühestens in Angriff nehmen, wenn alles andere erledigt ist. Aber ihr merkt es schon, nicht wahr? Das wird definitiv niemals der Fall sein. Aus dem Hamsterrad ist nur sehr schwer zu entkommen. Vor allem, so lange der Drang, jegliches Tun und Handeln in einem möglichst effizienten Ablauf zu koordinieren, größer ist, als das Bedürfnis, einfach mal auszuruhen. Selbst wenn Körper und Geist danach schreien, können wir die Hilferufe locker ignorieren. Wir schaffen das schon, reden wir uns ein. Aber müssen wir das auch?

Keine Angst, ich will hier niemanden davon überzeugen, ein autonomes Leben als Selbstversorger auf einem Bio-Bauernhof zu führen, um sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das wäre mir dann wahrscheinlich auch viel zu wesentlich, obwohl es für manche sicher die Erfüllung darstellt. Und vor allem würde ich verhungern, weil ich kein Obst mag, unfähig bin, Gemüse anzubauen und niemals ein Tier essen könnte, das mir täglich Gesellschaft leistet und dessen Namen ich vielleicht auch noch kenne.

Ich denke, es sind viel mehr die kleinen Dinge, auf die ich achten sollte. Und da sind wir auch schon beim Thema. Achtsamkeit ist ja gerade ziemlich in Mode. Wobei ich lange nicht begriffen habe, ob das nur ein anderer Ausdruck für gesellschaftlich akzeptiertes Nichtstun oder tatsächlich ein vernünftiger und erfolgversprechender Ansatz ist. Wie auch immer. Es ist mir eigentlich auch egal, wie man es nennt. Manchen hilft es, manchen nicht. Und manche reden sich ein, es würde helfen, realisieren dabei aber nicht, dass sie nur versuchen, ein vorgefertigtes und für gut befundenes Muster eines anderen nachzuleben, welches sie am Ende in noch mehr Stress versetzt. Diese Menschen wissen irgendwann gar nicht mehr, warum sie gestresst und unzufrieden sind. Daher sollten wir uns unbedingt genug Zeit nehmen, um herauszufinden, was für jeden Einzelnen passend sein kann.

Daher möchte ich gleich zu Beginn eines klarstellen. Ich habe mittlerweile einiges darüber gelesen und beschäftige mich immer wieder damit. Ich bin jedoch definitiv kein Experte zum Thema Achtsamkeit oder habe sonst irgendeine nachweisbare Qualifikation in diesem Bereich. Das war nie mein Anspruch.

Aber: Ich habe beim Überfliegen der Tageszeitung eine Überschrift entdeckt, die in ihrer absolut treffenden Einfachheit buchstäblich mein Innerstes aufgeweckt hat. Viel deutlicher war das grundlegende Problem unserer Gesellschaft nicht in Worte zu packen. So einfach und doch fast unmöglich in die Tat umzusetzen. Oder vielmehr NICHT in die Tat umzusetzen.

Wir müssen wieder lernen, den Müßiggang zu gehen.

Das Faultier in mir hat spontan einen in Zeitlupe ablaufenden Gefühlsausbruch erlebt und sich das erste Mal in meinem Leben zu Wort gemeldet. Natürlich nicht im selben Moment, das hat etwas gedauert. Doch dazu später mehr. Das wird eine längere und sehr außergewöhnliche Geschichte.

Jedenfalls war das der Auslöser, der mich nach einer sehr turbulenten Phase des Erkennens zu einer unerschütterlichen Einsicht brachte. Ich musste dem Faultier in mir wieder eine Heimat geben. Ich hatte bis dahin überhaupt keine Ahnung, dass es existierte. Wie auch? Ihr denkt jetzt wahrscheinlich, ihr habt es hier mit der Geschichte eines Spinners zu tun. Doch als ich das realisiert und nach anfänglicher Ablehnung auch angenommen hatte, war unmissverständlich klar, dass etwas geschehen musste. Ich hatte nur nicht die geringste Ahnung, was das sein könnte.

Und noch weniger wusste ich, dass mein inneres Faultier auch Bedürfnisse hat. Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, aber ich glaube, das war ihm bis zu diesem Schlüsselerlebnis selbst noch nicht klar. Denkt von mir was ihr wollt, aber ich bin überzeugt davon, dass sich sehr viele hier wiederfinden werden. Vielleicht noch nicht an dieser Textstelle. Im weiteren Verlauf der Geschichte allerdings ganz bestimmt.

Und ich weiß, auch das Kind in dir und mir muss Heimat finden. Das war dem gemeinen Volk, und da schließe ich mich selbstverständlich mit ein, bis vor ein paar Jahren auch noch nicht klar. Da spricht auch überhaupt nichts dagegen. Und der Ansatz ist definitiv ein ausgesprochen guter, soweit ich das als Laie beurteilen kann. Ich sehe mich jedoch in der glücklichen Lage, mit meinem inneren Kind völlig im Reinen zu sein. Wir verstehen uns echt gut und ich dachte, dass es doch super wäre, wenn mein inneres Kind noch ein Haustier in Form meines inneren Faultiers bekommen könnte.

Ich bin wirklich sehr dankbar, eine glückliche Kindheit erlebt zu haben. Als überzeugtes Dorfkind habe ich ganz bestimmt nichts ausgelassen, konnte mich frei entfalten und ich hatte auch noch das unglaubliche Glück, nahezu uneingeschränktes Verständnis und Unterstützung in der Jugend erfahren zu haben. Ich dachte, wir drei (das Faultier, das innere Kind und ich) werden uns sicher gut zusammenraufen. Wobei ich das innere Faultier ja erst noch kennenlernen musste. Und das war äußerst unzufrieden mit mir.

Ich sah es, nach ersten Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme, als Herausforderung an, mein inneres Faultier zufriedenzustellen. Doch bevor ich es meinem inneren Kind als Haustier übergeben konnte, musste ich noch einiges erledigen. Und das Faultier hatte ebenfalls einiges zu tun. Ich denke, das war eine ganz schön harte Nuss für uns beide.

Und jetzt noch ganz kurz zu mir. Ich bin Christian, Ende vierzig, geschieden, zum zweiten Mal verheiratet und habe zwei Kinder aus zwei Ehen.

Der Vorname Christian steht übrigens in der Rangfolge der beliebtesten Namen der 1970er Jahre ganz oben auf der Liste. (Unnützes Wissen Teil 1 in dieser Geschichte)

Der absolute Durchschnittstyp eben.

Wie oben schon erwähnt, hatte ich eine sensationelle Kindheit und eine Jugend, die ich in meinem fortgeschrittenen Alter wohl kaum noch einmal überleben würde. Ich hatte zwischendurch etwas mit dem Gewicht zu kämpfen. Doch das war zu einer Zeit, in der mir das glücklicherweise völlig egal war. Leider musste ich feststellen, dass mir mit fortschreitendem Alter immer weniger egal war. Oft sind es sogar unwichtige Kleinigkeiten, die mir aufs Gemüt schlagen. Das ist mit Sicherheit ein nicht unwesentlicher Faktor, der dazu beiträgt, mich unter Druck zu setzen.

Ich schweife ab. Zuerst das Faultier.

Ein kleiner Erfahrungsbericht. Die Zeitspanne, in der die folgenden Ereignisse und Entwicklungen tatsächlich stattfanden, wurde stark verkürzt.

Kapitel 1

Das Faultier ist das langsamste Säugetier der Welt.

Wir müssen wieder lernen, den Müßiggang zu gehen.

Als ich diesen Satz als Überschrift zu einem Artikel meiner Tageszeitung las, stand ich gerade mit schläfrigen Augen an der Küchenzeile und versuchte, durch wiederholtes Blinzeln den Text etwas schärfer zu stellen. Da mir das eher schlecht als recht gelang, griff ich dann doch zur Lesebrille, leicht frustriert über die unaufhaltsam nachlassenden Fähigkeiten meines Körpers. Die Lesebrille hat mir übrigens meine Frau Esmee bestellt. In dreifacher Ausführung. Man sollte ja überall eine liegen haben, für alle Fälle. Sie (meine Frau, nicht die Lesebrille) ist genauso alt wie ich, trägt die Sehhilfe mittlerweile den ganzen Tag mit sich herum und macht ständig eine kaputt. Was natürlich niemals an ihr, sondern immer an der furchtbar schlechten Qualität der Brille liegt. Gestern hat sie dann versucht, sich die zweite Brille zu der ersten ins Haar zu schieben.

Den etwas ausgefalleneren Vornamen hat meine Frau nicht, weil sie tatsächlich Holländerin ist, wo der Name sehr beliebt ist. Sie kommt aus dem Nachbardorf und hat ihn wohl einer zufälligen Begegnung ihrer Eltern mit einer originalen Esmee aus Holland zu verdanken. Aber es ist ja auch nicht jede Chantal eine Französin.

Zurück zum Müßiggang. Nachdem ich die Brille auf der Nase hatte und mich einmal mehr wunderte, dass die Schrift der Zeitung tatsächlich schwarz und nicht grau war, las ich den Satz erneut.

Wir müssen wieder lernen, den Müßiggang zu gehen.

Irgendetwas in mir veranlasste mich dazu, inne zu halten. Also nicht nur ganz kurz, so wie man das vielleicht macht, wenn man eine gute Nachricht auf sich wirken lässt. Nein, das war schon etwas länger. Auffällig länger. Und das war ungewohnt. Ich hatte doch eigentlich überhaupt keine Zeit, über den Inhalt oder geschweige denn die Sinnhaftigkeit eines philosophisch anmutenden Zeitungsartikels nachzudenken. Ich hatte Termine, den ganzen Tag. Ich hätte eigentlich schon im Bad stehen, den Rasierschaum im Gesicht haben und einwirken lassen sollen, während ich versuchen würde, die verdammten Haare vom Ohr zu rasieren. Und das alles natürlich ohne Lesebrille. Wobei ich auch hier nicht mehr wirklich sah, wo diese unnötigen Haare eigentlich waren. Die sah ich immer nur dann ganz deutlich, wenn ich beispielsweise mit Lesebrille zum Händewaschen ins Gäste-WC ging. Doch da lag ja kein Rasierer. Im Büro hatte ich jedenfalls einen Sitzungsmarathon vor mir, dessen Themen mir schon vor der morgendlichen Routine mit der Tageszeitung durch den Kopf gegangen sind.

Zusätzlich wollte ich heute noch rechtzeitig zu Hause sein, um mich mit Hilfe eines 10-Kilometer-Laufes, ein paar Kalorien zu entledigen. Die Grillorgie am Wochenende hatte definitiv nicht zur Verbesserung meiner Figur beigetragen. Apropos Grillorgie, beim Getränkehändler sollte ich auch noch vorbei und das ritualmäßige Ausruhen auf der Couch vor dem Schlafengehen wollte ich auch nicht ausfallen lassen.

Und da kam plötzlich dieser Satz. Unpassender hätte der Zeitpunkt nicht sein können. Wobei, der Satz war ja eigentlich gar nicht das Problem. Vielmehr war ich das Problem. Ich ließ mich aus unerfindlichen Gründen davon abhalten, meinen Tagesplan zu verfolgen. Ich hatte ein ziemlich komisches Gefühl in mir. Ich konnte es nicht richtig einordnen. Es war in etwa so, als würde man mit dem Auto über eine Kuppe fahren. Nur weniger intensiv. Und es war auch nicht gleich wieder vorbei. Gleichzeitig konnte ich mich nicht von diesem Satz lösen. Mich interessierte nicht einmal, was der Artikel sonst noch zu bieten hatte. Es war tatsächlich nur dieser eine Satz. Vorsichtshalber überflog ich den Artikel dann doch, auf der Suche nach einer Erklärung für meinen Zustand. Was mich natürlich noch weiter in zeitliche Bedrängnis brachte. Das verblüffende an diesem Artikel war, dass er ziemlich genau das Dilemma beschrieb, in dem ich mich zu diesem Zeitpunkt befand. Nur wurde mir das in diesem Moment noch nicht bewusst. Grundsätzlich ging es um das Phänomen, dass heutzutage viele Menschen nur schwer damit umgehen können, wenn sie unerwartet Zeit haben. Zumindest war das der Aspekt, der sich nachhaltig in meinem Gedächtnis eingenistet hatte. Wir können es nur schwer ertragen, nichts zu tun und die zusätzliche Zeit anzunehmen. Wir wollen immer etwas erledigen, um es auf unserer Liste abzuhaken. Doch egal, wie viele Haken wir setzen, die Liste wird niemals abgearbeitet sein.

Zu einem späteren Zeitpunkt wurde mir klar, dass ich in diesem Moment ein Aha-Erlebnis hatte. Was ich aber aufgrund der ungewöhnlichen Symptomatik nicht erkennen konnte.

Bei einem Aha-Erlebnis wird in einer tiefliegenden Hirnstruktur Dopamin freigesetzt, was normalerweise in überschwänglicher Freude mündet. (Unnützes oder wahlweise auch Klugscheißer-Wissen Teil 2)

Ich empfand allerdings eher eine Art Lethargie, da ich mich nicht lösen konnte. Es sollte auch noch eine ganze Weile an diesem Tag dauern, bis ich eine Erklärung für dieses Phänomen finden würde. Dieser stand ich zwar zuerst äußerst ablehnend gegenüber, konnte mich allerdings nach einer Übergangsphase ganz gut damit anfreunden. Doch auch dazu später mehr.

„Willst du nicht langsam mal ins Bad gehen?“, hörte ich die Stimme meiner Frau im Hintergrund fragen. Was mich sofort verunsicherte, denn normalerweise verabschiedete ich mich von ihr, wenn sie gerade am Aufstehen war. Das hatte den eindeutigen Vorteil, dass ich das Bad morgens für mich alleine hatte. Zu zweit, oder gar zu dritt, wenn unser Sohn auch noch früher wach wurde, grenzte das gemeinsame Baderlebnis regelmäßig an eine Herausforderung für unser aller Nervenkostüm. Gegenseitiges Verständnis und Rücksichtnahme sind wohl zu unterschiedlichen Zeiten des Tages unterschiedlich stark ausgeprägt.

Ich schaute auf die Uhr und war sage und schreibe über eine halbe Stunde völlig unnütz in der Küche herumgestanden. Ich hatte den Kalender voll mit Terminen und war mittlerweile viel zu spät dran. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mir das zuletzt passiert war.

„Verdammte Scheiße“, hörte ich mich fluchen, schaltete aus dem Lethargie-Modus direkt in den Hektik-Modus, raste an meiner Frau vorbei aus der Küche hinaus und blieb mit dem kleinen Zeh am Türrahmen hängen. Der Klassiker.

„Verdammte Scheiße“, wiederholte ich die ersten zwei Worte des Tages und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht die Treppe hoch. Im Augenwinkel sah ich noch, wie mir Esmee einen fragenden Blick hinterherwarf, allerdings hatte ich keine Zeit mehr, die merkwürdige Situation aufzuklären. Das Adrenalin tat seine Arbeit und ich vergaß vorerst, was ich gelesen hatte.

Mein Zeh schmerzte immer noch, als ich etwas schneller als sonst in der Firma den Gang entlang humpelte und gerade noch rechtzeitig zum ersten Termin eintraf. Ich bin mittlerweile Anhänger der These, dass Gott uns den fünften Zeh nur aus diesem Grund geschenkt hat. Wahrscheinlich dachte er, es könnte lustig werden. Der Stress hatte mich wieder. Ich hetzte von Termin zu Termin, der Tag flog an mir vorbei und ich war echt froh, als ich am Abend im Auto saß und nach Hause fuhr.

Und da war es plötzlich wieder. Dieses komische Gefühl, dass ich schon am Morgen hatte, während ich diesen verheißungsvollen Satz in der Zeitung las.

Wir müssen wieder lernen, den Müßiggang zu gehen.

Ich wurde ein wenig nervös, da ich dieses Gefühl überhaupt nicht einordnen konnte. Aber nicht so nervös, wie man wird, wenn man aufgeregt ist, weil gleich etwas Tolles passiert. Oder weil man Angst vor etwas hat. Es war anders.

Und dann kam plötzlich dieser Moment, der mich an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln ließ. Ihr erinnert euch? Hatte ich vorhin schon angedeutet.

„Und warum machst du es nicht?“

Wie vom Blitz getroffen drehte ich mich nach hinten, um zu schauen, ob da ein blinder Passagier auf dem Rücksitz saß, der meine Gedanken lesen konnte. Da war natürlich niemand. Doch vor mir war jemand. Und der ist genau in diesem Moment in die Eisen gestiegen. Ich war wie gelähmt. Schon wieder. Mein Notbremsassistent zum Glück nicht. Das Ding funktionierte tatsächlich. Hätte ich nicht gedacht. Das Auto bremste plötzlich sehr heftig ab. Und das von ganz alleine. Ich hing im Gurt und wusste im ersten Moment nicht, wie mir geschah. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, der Puls raste und ich fuhr erstmal an die Seite, um durchzuatmen. Tief ein- und ausatmen, sagte ich mir immer wieder. So lange, bis ich das Gefühl hatte, mich wieder halbwegs konzentrieren zu können. Zum Glück war außer einem großen Schrecken nichts weiter passiert. Das hätte ganz schön dumm ausgehen können. Ein Unfall hätte mir gerade noch gefehlt.

„Willst du mir vielleicht freundlicherweise eine Antwort geben?“

Ich schaute mich erneut um. Es war immer noch niemand in meinem Auto. Es hörte sich auch nicht nach einer normalen Stimme an. Aber es hörte sich eben nach irgendetwas an. Und das verstörte mich in diesem Augenblick zutiefst. War ich am Durchdrehen? Ich hatte doch alles im Griff. Oder etwa nicht? Es war völlig surreal.

Aus irgendeinem Grund fiel mir der Film Matrix ein. Steckte ich vielleicht in der Matrix fest? Und das, was ich hörte, war ein Fehler im Programm? Dann wäre ich wenigstens nicht verrückt. Oder vielleicht gerade deshalb? Das waren jedenfalls keine hilfreichen Gedanken und gerade, als ich beschloss, einfach alles zu ignorieren, kam die Stimme erneut zurück. Zumindest kam das zurück, wovon ich dachte, es sei eine reale Stimme. Ich war kurz davor, in dieses panische Lachen zu verfallen, bevor man einen Nervenzusammenbruch bekommt. Zumindest stellte ich mir das so vor. Schließlich sah man das ständig in irgendwelchen Filmen.

„Beruhige dich. Ich bin`s nur, dein inneres Faultier.“

Mein inneres Faultier? Hatte das die Stimme, die ich hörte, tatsächlich gesagt? Mein inneres Faultier? Ich war wohl tatsächlich komplett übergeschnappt. Die innere Stimme war ja ein Begriff, den ich schon mal gehört hatte. Und natürlich hatte ich auch schon Eingebungen, die ich der inneren Stimme zugeschrieben habe. Aber ein inneres Faultier? Und dann auch noch in einer sich klar artikulierenden Form in meinem Kopf? Es musste in meinem Kopf sein, im Auto saß ja niemand. Das überstieg definitiv massiv meine Vorstellungskraft.

Dabei fiel mir unnötigerweise ein, dass ich irgendwann einen interessanten Artikel über die innere Stimme gelesen hatte. Die grundlegende Hypothese war, dass die innere Stimme einem den Weg in ein glückliches, stressfreies und zufriedenes Leben weisen kann, wenn man ihr nur zuhört. Ich konnte dem bisher nur bedingt zustimmen. Natürlich hatte ich Eingebungen und Vorschläge meiner inneren Stimme gehört, die für sich alleine betrachtet sicher eine Menge Spaß und Zufriedenheit gebracht hätten. Aber es wäre trotzdem nicht klug gewesen, als durchschnittlich begabter Gitarrist die Karriere als Rockstar zu verfolgen. Anstelle von Reichtum und freizügigen Damen, wäre da wohl eher Hartz 4 und Leberzirrhose rausgekommen. Und da gab es noch mehr gut gemeinte Ratschläge meiner inneren Stimme, glaubt mir. Von daher hatten wir eher ein gespaltenes Verhältnis. Was letztendlich wohl dazu führte, dass ich die Signale bisher weitestgehend unterdrückte. Ich hielt mich bis zu diesem Zeitpunkt für einen strukturierten und nüchternen Menschen, der sehr gut von seinem gesunden Menschenverstand partizipieren konnte.

Und jetzt saß ich im Auto und war kurz davor, meinem inneren Faultier zu antworten. Plötzlich hörte ich mich selbst, wie ich ein wahnsinniges Kichern ausstieß und mir eine Schweißperle von der Stirn tropfte. War es nun soweit?

„Verdammte Scheiße.“

„Du wiederholst dich“, antwortete die Stimme und das Kichern ging in einen hysterischen Lachanfall über. Genau das hatte ich zu verhindern versucht. Mist, es war wohl tatsächlich soweit. Ich war dabei, den Verstand zu verlieren. Kurz überlegte ich, ob ich mir nicht umgehend Hilfe suchen sollte, wurde aber durch ein Klopfen an der Scheibe unterbrochen.

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“ fragte mich ein älterer Herr, nachdem ich das Fenster ein Stück geöffnet hatte und versuchte, mich zu beruhigen. Es muss ein sehr merkwürdiger Anblick gewesen sein.

„Nein, eigentlich nicht“, antwortete ich, gab den Versuch, mich zu beruhigen auf und lachte weiter.

„Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?“, fragte der hilfsbereite Passant neben mir.

„Ich glaube, mir ist nicht mehr zu helfen“, antwortete ich mit einem debilen Grinsen. „Aber vielen Dank.“

Der Mann entfernte sich kopfschüttelnd und es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich mich wieder im Griff hatte. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie lange ich mich in diesem merkwürdigen Zustand befand. Es war jedenfalls alles sehr verwirrend.

Kapitel 2

Das Faultier kann in Gefahrensituationen 1,9 km/h schnell werden. (Das Komma zwischen der 1 und der 9 ist richtig)

Stimmen zu hören muss der Fachliteratur nach nicht zwangsläufig ein Anzeichen dafür sein, krank zu sein. Es kann auch ein harmloses Phänomen sein und es soll sogar Menschen geben, die es als Bereicherung empfinden. (Unnützes oder wahlweise auch Klugscheißer-Wissen Teil 3)

Naja, ich fand das allerdings nur mäßig beruhigend. Aber es war ein Ansatz, der mich wenigstens ein bisschen regulierte. Zumindest solange, bis mein inneres Faultier wieder das Gespräch mit mir suchte. Das mit der Bereicherung wollte ich noch nicht so recht glauben.

„Können wir uns jetzt endlich unterhalten? Oder bist du ein Idiot? Das wäre nämlich schade, denn ich kann hier leider nicht weg.“

Ich versuchte, mich an eine Atemübung zu erinnern, die ich schon erfolglos zum Einschlafen angewandt hatte. Aber vielleicht würde sie ja hier hilfreich sein. Tief einatmen, die Luft ein paar Sekunden anhalten, langsam und lange ausatmen. Das beruhigt, sagten sie. Vielleicht vertreibt es ja auch Stimmen. Vor allem Stimmen, die behaupten, sie seien mein inneres Faultier. Und ich beruhigte mich tatsächlich ein wenig, hörte in mich hinein, hörte nichts und ließ mich in den Sitz sinken.

„Bist du jetzt soweit?“, fragte das Faultier. Nein, nicht das Faultier. Die Stimme in mir, die ich mit meiner Atemübung wohl doch nicht vertreiben konnte.

„Was soll´s“, dachte ich. „Wenn ich schon verrückt werde, dann habe ich wenigstens noch das Faultier in mir, das mit mir spricht. Das ist zwar nicht das, was ich mir vorgestellt habe, aber ich werde es wohl erstmal nicht mehr los.“

„Vorsicht, mein Freund. Ich kann auch deine Gedanken hören. Du musst nicht laut sprechen, damit ich dich verstehe.“

Ich versuchte, einen Moment an nichts zu denken. Aber das klappte nicht. Das hat noch nie geklappt. Schon als Kind war es ein wenig erfolgreicher Ratschlag meiner Mutter, einfach an nichts zu denken, wenn beim Versuch einzuschlafen zu viele Dinge in meinem Kopf herumgeisterten. Angestrengt an nichts zu denken, ist noch anstrengender, als irgendwelche Erlebnisse beim Einschlafen zu überdenken. Irgendwann habe ich dann angefangen, mir irgendwelche coolen Sachen vorzustellen, die ich irgendwann machen würde. Ich glaube, ich habe nicht wirklich viel davon umsetzen können, da die coolen Sachen, die ich mir vorstellte, meistens mit Superhelden zu tun hatten.

„Willst du mir jetzt deine ganze Lebensgeschichte erzählen?“, fragte das Faultier. „Die kenne ich nämlich schon, ich war ja dabei. Zumindest immer mal wieder. Faultiere schlafen deutlich länger als Menschen. Aber das wirst du ja bestimmt schon wissen. Daher ist meine Zeit auch sehr begrenzt.“

„Also gut“, fing ich meinen ersten direkt an das Faultier gerichteten Satz an. „Nehmen wir mal an, ich werde gerade nicht verrückt. Und nehmen wir mal an, es ist völlig normal, dass ein Faultier in mir schlummert und plötzlich anfängt, mit mir zu reden. Warum habe ich vorher nichts von dir gehört? Oder gespürt, oder was auch immer?“