Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Chantal und Hermine sind sich einig. Das Schicksal hatte am Tag ihrer Geburt extrem miese Laune und ließ diese an zwei unschuldigen Neugeborenen in Form fragwürdiger Namen und einem Hang zu üppigeren Proportionen aus. Wahrscheinlich rieb es sich danach bei einem Feierabendbier genüsslich die Hände und wirft ihnen heute noch regelmäßig Steine in den Weg. Doch nun soll das Jammern ein Ende haben und die beiden Freundinnen machen sich auf, die Männerwelt zu erobern. Sie wissen zwar nicht genau wie sie das anstellen sollen, aber sie tun es.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 194
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für Christina
Danke…für ALLES
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Chantal und Hermine waren sich einig, dass es das Schicksal mit ihnen extrem schlecht gemeint hatte. Wahrscheinlich befand es sich damals vor 36 Jahren sogar in einer extrem miesen Phase. Seine beschissene Laune kompensierte es am Tage ihrer Geburt wohl dadurch, zwei unschuldige Babys mit Eltern, die so gar kein Gespür für vernünftige Namen hatten, zu strafen. Und weil das natürlich noch nicht genug war, packte das Schicksal gleich noch die Fettleibigkeit mit drauf und rieb sich hinterher zufrieden, bei einem Feierabendbier, die Hände. In den Augen der beiden Freundinnen war das Schicksal einfach nur ein Arsch. Es hatte auch ihr ganzes bisheriges Leben hart daran gearbeitet, diesem Ruf gerecht zu werden.
Eigentlich übertrieben die beiden Freundinnen kolossal, was die Beschreibung ihrer Körperfülle anging. Doch sie konnten richtig viel Zeit damit verbringen, zu erörtern, warum jetzt gerade sie so sehr benachteiligt waren. Zumindest war das einfacher und auch viel besser, als etwas dagegen zu tun. Mit ihrem Gewicht lagen sie allerdings nur unwesentlich über dem Durchschnitt, aber in ihren Augen waren sie einfach nur dicke Weiber. Jetzt, nach unzähligen Jahren, in denen sie die geilen Männer immer nur an der Seite irgendwelcher flachbrüstigen Hungerhaken wahrgenommen hatten, beschlossen die zwei Freundinnen den Kampf aufzunehmen. Den Kampf gegen ihr schwaches Selbstwertgefühl, den Kampf gegen ihre eigene Lethargie, und wenn dann noch etwas Zeit wäre, wollten sie sich auch noch an den Kampf gegen die zwei oder drei Gramm Übergewicht machen, die sie mit sich herumzuschleppen hatten. Der Traum vom plötzlichen Gewichtsverlust über Nacht wollte sich ja nicht erfüllen. Es war natürlich nicht das erste Mal, dass sie so ein Vorhaben in Angriff genommen hatten. Doch jetzt sollte es klappen. Die Zeit des Zurücksteckens und Leidens sollte endlich vorbei sein. Der Vertrag beim Fitnessstudio bestand ja sowieso schon seit mehreren Jahren. Allerdings hätten sie auf Anhieb nicht einmal sagen können, wo genau sich die Umkleidekabinen befanden. Umgerechnet hatten sie mittlerweile etwa 360€ pro Trainingsstunde ausgegeben. In den letzten zwei Jahren hatte es ihr Terminkalender leider nur vier Mal zugelassen, das Studio zu besuchen. Ganz schön teure Angelegenheit für Schwitzen und Schmerzen ohne messbaren Gewichtsverlust. Und dann auch der schmerzhafte Anblick, der furchtbar durchtrainierten Zicken. Es wurde einem schon einiges abverlangt, wenn man seinem Körper, seinem Aussehen und vor allem seinen Erfolgschancen, bei dem begehrenswerten Anteil der Männerwelt, auf die Sprünge helfen wollte. Fast schon masochistische Grundzüge musste man an den Tag legen, wenn man seine Kleidergröße geringfügig zum Positiven verändern wollte. Die andere Richtung war leichter. Viel leichter. Und machte auch noch furchtbar Spaß. Zumindest solange, bis sich einem ein Spiegel in den Weg stellte.
Chantal und Hermine saßen in einem Café und stießen gerade auf die eben beschlossene Agenda „VOLLSCHLANK UND SPASS DABEI“ mit dem Untertitel „und trotzdem wollen wir abnehmen“ an, als vier unverschämt gut aussehende Frauen den Raum betraten. Generell hatten die schon den einen großen Fehler gerade mal zwanzig Jahre alt zu sein. Wenn überhaupt. Das alleine verbuchten Chantal und Hermine schon als Beleidigung der reiferen Generation gegenüber. Was hatten auch die jungen Dinger, die vor ein paar Tagen noch im Kinderparadies bei IKEA abgegeben wurden, in ihrem Café zu suchen. Die Klamotten konnten sie wahrscheinlich noch in der Teenie-Abteilung bei H&M kaufen, so schlank waren sie und natürlich drehten sich alle männlichen Köpfe nach ihnen um. Das waren noch mal gut sechshundert Minuspunkte. Röcke, nicht viel länger als ein Gürtel, verhüllten die kleinen Knackärsche der Aushilfsbarbies und für viel Stoff unterhalb der Brust hatten sie scheinbar auch kein Geld. Alle hatten selbstverständlich ein iPhone in der Hand und posteten wahrscheinlich ihren aktuellen Aufenthaltsort gerade bei Facebook. Natürlich mit Foto. Es war zum Kotzen, wie sich die einen an der Theke in Szene setzten, dass die anderen schicke Fotos machen konnten. Keine Delle war an ihren Beinen zu erkennen. Das Wort Orangenhaut hatten die dünnen Dinger wahrscheinlich noch nie gehört und so viel Anstand, ihre perfekten Körper, den etwas Wohlproportionierteren nicht mit einer Schöpfkelle unter die Nase zu reiben, hatten sie zweifelsohne auch nicht. Insgesamt durchbrachen die neuen Gäste des Cafés alleine schon durch das Betreten des Erwachsenenbereichs, die Schallgrenze von tausend Minuspunkten. Hermine fühlte gerade, wie ihre Motivation bei diesem Anblick mit dem Expressfahrstuhl in ein Stockwerk unterhalb des Kellers befördert wurde und saugte den Sekt auf Ex in sich hinein. Innerlich korrigierte sie die zwei oder drei Gramm Übergewicht auf zwei bis drei Tonnen und spürte, wie sie überall am Körper nervöse Flecken bekam. Sie musste handeln.
»Ich hätte gerne den Megaeisbecher mit extra Sahne«, rief sie der Kellnerin hinterher.
»Was machst du denn jetzt? Wir wollten doch in den Kampf ziehen«, sagte Chantal enttäuscht.
»Schau sie dir doch an. Das ist doch ein Kampf gegen Windmühlen. Die sehen uns nicht mal an und mir kommt es vor, als würden sie uns trotzdem auslachen. Die dürren Stelzen sind schuld daran, dass man sich mit Kleidergröße 38 noch fett fühlt.«
»Seit wann hast du 38?«, fragte Chantal verwundert und runzelte die Stirn. Wenn Hermine in 38 passte, warum sie dann nicht auch!?
»Schon immer. Die nähen immer nur das falsche Etikett rein. Oder es fällt eben zu klein aus.«
Hermine bekam ihren Eisbecher und dieses Mal folgten ihr alle Blicke. Beziehungsweise dem Eisbecher, der eigentlich eher ein Eiseimer war. Unzählige Augenpaare waren auf den Kalorienberg und die dicke Frau davor gerichtet. Und alle schienen sich auf die Zunge zu beißen, um einen abfälligen Kommentar zu unterdrücken. Alle, bis auf eine der Hungerhaken mit den Miniröckchen. Die hatte wohl im Kopf schon den Gesamtkaloriengehalt des Eisbechers zusammengerechnet. Sofern sie überhaupt rechnen konnte.
»Schaut euch die an«, grölte die blonde Schönheit an der Theke mitten ins Café. »Jetzt ist die schon so fett und muss auch noch so einen Eisbecher reindrücken. Da könnte sie doch genauso gut beim Metzger gegenüber zwei Lappen Fett holen und die sich direkt an die Hüften tackern.«
Das war natürlich der Brüller des Tages. Gleich, nachdem für den Bruchteil einer Sekunde betretenes Schweigen geherrscht hatte, beschlossen doch alle Gäste gleichzeitig, in schallendes Gelächter zu verfallen. Hermine war kurz nach Beschluss der Agenda, mit der alles besser werden sollte, alleine durch den Anblick dieses Miststückes schon am Boden zerstört gewesen. Und jetzt war sie auch noch zum Gespött des ganzen Cafés geworden. Solche Erlebnisse waren auch immer der Grund gewesen, warum sie anstelle des Fitnesstrainings eher ihren Schluckmuskel und die Verdauung in Form gehalten hatte. Kurzzeitig halfen Kalorien immer, um solche Erlebnisse wieder zu verdrängen. Doch am heutigen Tage ließ sich ihre Freundin nicht so einfach unterkriegen und trat an, Hermine bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Heute sollte für die beiden der Anfang einer neuen Zeitrechnung werden. Und deshalb sprang Chantal, völlig unverhofft für alle Beteiligten, von ihrem Stuhl auf. Sie ließ sich nicht einmal davon aufhalten, dass sie diesen dabei mit einem lauten Krachen umgeworfen hatte. Früher hätte sie sofort der Gedanke, dass ihr Hintern bei diesem Missgeschick wieder zu dick gewesen war, in die Flucht geschlagen, bevor der Angriff überhaupt begonnen hätte. Wie eine Dampfwalze stürmte sie in Richtung Theke und baute sich mit bebender Brust vor ihrer Gegnerin auf. Beim Einatmen wölbte sich ihr Busen sogar leicht über ihren Ausschnitt, was ihr wiederum, unerwarteterweise, auch noch die Blicke mancher Männer einbrachte. Und die schienen plötzlich gar nicht mehr so negativ zu sein. Chantal war blitzartig der Mittelpunkt eines Melodrams, das sich live und in Farbe in ihrem Lieblingscafé abspielte. Bevor sie zu ihrer Verbalattacke ansetzte, herrschte auf einmal absolute Stille. Nur das Herunterfallen eines Kaffeelöffels durchbrach die gespenstische Ruhe und war gleichzeitig Chantals Startsignal.
»Was glaubst du eigentlich, gibt dir das Recht, so eine unqualifizierte Kacke zu labern und dich über andere lustig zu machen, du abgemagertes Möchtegernmodel?«, schrie Chantal mit ungefähr 120 Dezibel in das Gesicht von Blondchen. Die war so perplex, dass sie keinen Ton herausbrachte, und schien völlig unfähig, irgendetwas Adäquates zu erwidern. Bisher sind die Dicken immer gleich weinend davongerannt. So eine offene Konfrontation war sie überhaupt nicht gewohnt. Chantal nutzte diese Gelegenheit, um in diesem Moment die angestaute Wut der letzten Jahre über die ungerechte Fettpolsterverteilung komplett und in vollem Umfang an ihr auszulassen.
»Glaubst du Männer finden es gut, wenn sie nach einer Nacht mit dir erstmal zum Schreiner müssen, um sich die Spreißel aus ihrem kleinen Freund entfernen zu lassen? Die müssen ja Angst haben, dass du in der Mitte auseinanderbrichst, wenn sie mal ein bisschen härter rangehen.«
Blondchen wich so langsam die Solariumbräune aus dem Gesicht, als Chantal erst so richtig in Fahrt kam. Sie zog an ihrem Top, um einen Blick auf das Flachland werfen zu können, das sich nur durch zwei kleine Bodenwellen von der Oberfläche des Bodensees unterschieden hatte.
»Wo ist denn deine Brust? Hast du die zu Hause vergessen? Bei dir müssen die Männer ja Angst haben, dass sie einen Kerl mit Frauenperücke im Bett liegen haben. Dir hat doch bestimmt schon mal einer an den Haaren gezogen, um zu sehen, ob sie echt sind, oder?«
Chantal hatte Blondchen einen Fön verpasst, dem diese nichts entgegenzusetzen hatte. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ihre ebenso fleischlosen Freundinnen folgten ihr. Aber nicht, ohne dabei trotzdem noch die Nase nach ganz oben zu halten. Chantal ballte die Faust und ließ ihre Zufriedenheit mit einem lauten »JA« heraus. Sie legte eine locker leichte Pirouette hin und tänzelte so leichtfüßig es ihr möglich war zurück an den Tisch und nahm wieder neben Hermine Platz. Die saß immer noch mit offenem Mund da und starrte ihre Freundin an, als ob sie eine Außerirdische wäre.
»Wow«, war das einzige, was sie herausbrachte, bevor sie wieder die debil aussehende, offene Mundstellung eingenommen hatte.
»Fängt der Kampf an oder nicht?«, sagte Chantal zu Hermine und hielt ihr die Hand zum Abklatschen hin. Mit dem Klatschen brach auf einmal wilder Beifall im Café aus und die beiden kamen das erste Mal in den Genuss dieser männlichen Pfeiftöne, die angeblich so nervig sein sollten. Waren sie nicht. Überhaupt nicht. Die hätten den ganzen Tag weiter pfeifen können, wenn es nach den „Dicken Freundinnen“ gegangen wäre. Mit jedem Pfiff schien etwa ein Kilo Gewicht zu schwinden. Aber wollten sie das denn überhaupt noch? Wäre es nicht viel geiler mit ihren Reizen den dünnen Püppchen einfach so die Männer vor der Nase wegzuschnappen? Chantal war sich nicht mehr sicher, ob sie auch nur einen Zentimeter ihres kurz zuvor perfekt eingesetzten Brustumfangs abgeben wollte. Vorsichtshalber entschied sie sich dafür, ebenfalls einen Megaeisbecher zu bestellen, um nicht voreilig unnötig Gewicht zu verlieren. Zuerst wollte sie einen Push-Up BH kaufen und testen, was sie alles aus ihrem Dekolleté noch herausholen könnte. Der Höhenflug des Tages erreichte in dem Moment seinen nicht mehr zu steigernden Höhepunkt, als die Bedienung ihnen gesagt hatte, die Eisbecher wären bereits von dem George Clooney ähnlichen Typen bezahlt worden, der den beiden, während er gerade das Café verließ, noch ein Augenzwinkern zugeworfen hatte.
»Hau mir bitte eine rein«, sagte Chantal zu ihrer Freundin.
»Wieso das denn?«
»Ich glaube kneifen reicht nicht aus, um aus diesem Traum wieder aufzuwachen.«
»Dann lass uns doch hier bleiben.«
»Hast recht. Warum aufwachen, wenn es am schönsten ist?«
Auch wenn sie nach reiflicher Überlegung und Gründen der Bequemlichkeit ihre Kurven weitestgehend behalten wollte, beschloss Chantal noch an diesem Nachmittag endlich den Fitnessvertrag auszunutzen und mindestens dreimal die Woche dort hin zu gehen.
»Dreimal die Woche?«, fragte Hermine entgeistert. »Hast du sie noch alle. Das überlebe ich definitiv nicht. So viel Bewegung schadet bestimmt.«
»Wir müssen es ja auch nicht gleich übertreiben. Aber wo sonst laufen so viele testosterongesteuerte Männer herum? Wir können ja mal hingehen. Vielleicht kommen wir ja auch ohne Training mit Männern in Kontakt.«
»Aber die stehen doch bestimmt alle auf diese Hungerhaken aus der Poweraerobicgruppe.«
»Das werden wir noch sehen«, antwortete Chantal siegesgewiss.
Die Männerwelt musste sich allerdings noch ein wenig gedulden, bis es so weit war, dass die beiden Superweiber offensiv und selbstbewusst auf die Piste gingen. Zuerst galt es noch im Alltag den neuen Geist, der mit Selbstwertgefühl gestärkten Frau, zu demonstrieren. Wo wäre dafür ein besseres Trainingsgelände, als am Arbeitsplatz? Chantal war voll davon überzeugt, ihre Tätigkeit als Redakteurin einer Kleinstadtzeitung optimal als Trainingsgelände nutzen zu können. Hermine war da eher etwas pessimistischer.
»Wie meinst du denn, dass ich in meiner Buchhandlung üben soll, den dünnen Hühnern gegenüber offensiv zu sein und der Männerwelt den Kopf zu verdrehen?«, fragte sie etwas skeptisch.
»Ja was weiß ich. Lass dir eben was einfallen. Zeig doch den Männern irgendwelche Sex-Bücher.«
»Haben wir doch gar nicht.«
»Dann nimm eben welche ins Programm.«
»Mach das mal meiner Mutter klar«, sagte Hermine hoffnungslos. Seit sie ihre Ausbildung bei einer befreundeten Buchhandlung beendet hatte, war sie bei ihren Eltern angestellt. Offiziell war sie zwar schon Teilhaberin des Geschäfts, aber das hieß noch lange nicht, dass sie irgendwas zu sagen hätte. Ihre Mutter sah es schon als Revolution an, als Hermine den Vorschlag gebracht hatte, den Bestseller Feuchtgebiete ins Schaufenster zu stellen. Das ging gar nicht. Hermine konnte dieses Buch, genauso wie alle anderen dieser Art, nur auf Anfrage verkaufen. Ihre Mutter hatte ihr als Bedingung gestellt, dass derartige Bücher nur unter der Hand verkauft werden dürfen. Das Buch musste schon in der Tüte sein, bevor der Kunde es sehen konnte. Dementsprechend prüde war auch ihre ganze Erziehung gewesen. Und jetzt sollte sie genau in diesem Laden ihre eigene Emanzipation proben?
»Das geht beim besten Willen nicht«, sagte sie enttäuscht und hatte keine Ahnung, wie sie sich auf ihr neues Leben als Sexbombe vorbereiten sollte.
»Das wird wohl in der Tat recht schwierig werden«, bestätigte Chantal. »Im schlimmsten Fall musst du eben ohne Training auskommen.«
»Ich dachte wir wollten morgen ins Fitnessstudio gehen?«, fragte Hermine nun völlig verwirrt.
»Das meine ich doch gar nicht«, stöhnte Chantal und ihr wurde bewusst, dass wohl die ganze Arbeit an ihr hängen bleiben würde.
Der Schauplatz der Lagebesprechung war die elterliche Buchhandlung von Hermine gewesen. Doch als plötzlich die Chefin den Laden betrat, musste das Thema sofort beendet werden.
»Guten Morgen«, juchzte Agnes, die Mutter von Hermine, als sie ihre Tochter zusammen mit ihrer Freundin an der Ladentheke stehen sah. »Schön dich mal wieder zu sehen, Chantal. Was verschafft uns denn so früh am Morgen die Ehre?«
Noch bevor Chantal auch nur einen Piep sagen konnte, ergriff Hermine das Wort, um jede Äußerung, die anschließend längere Diskussionen nach sich ziehen könnte, sofort im Keim zu ersticken.
»Wir haben beschlossen, morgen ins Fitnessstudio zu gehen, Mama«, sagte Hermine.
»Oh je. Für so etwas bist du doch viel zu unsportlich. Die lachen dich doch aus«, kommentierte Agnes im Vorbeilaufen das Vorhaben ihrer Tochter und schaffte es, wie jedes Mal, das kleine Pflänzchen an Selbstvertrauen, mit ihrem Springerstiefel an Feingefühl, niederzutrampeln.
»Siehst du?«, flüsterte Hermine mit trauriger Stimme. »Wie soll ich da denn Selbstvertrauen bekommen?«
»Das wird wirklich nicht leicht«, antwortete Chantal. »Aber lass mich mal machen.«
Hermine hatte zwar kein gutes Gefühl dabei, aber die beiden waren schon seit ihrer Kindergartenzeit die dicksten Freundinnen gewesen und dementsprechend war Chantal immer wie ein Familienmitglied behandelt worden. Sie ging Hermines Mutter hinterher und erklärte ihr mit harmlosen Worten, dass sie sich beide vorgenommen hatten, endlich zu sich selbst zu stehen und sich so gut finden wollten, wie sie waren. Die Sache mit dem Männerabräumen und den Püppchen zeigen, wer das Dekolleté in der Bluse hat, ließ sie lieber mal außen vor.
»Das wird doch garantiert nichts«, war auch nach Chantals Ausführungen der Kommentar und sie beschloss, bis zu einem ersten Teilerfolg, Hermines Mutter zu ignorieren. Es war ja ein Wunder, dass ihre Freundin überhaupt noch einen Fuß vor die Tür setzte.
»Und? Was hat sie gesagt?«, hakte Hermine nach, als Chantal wieder an die Ladentheke gekommen war.
»Ich glaube wir brauchen noch ein wenig Zeit und erste Erfolge«, antwortete diese.
»Das hat sie gesagt?«, fragte Hermine und Chantal wusste spätestens in diesem Moment, dass es weitaus schwieriger als gedacht werden könnte, ihr Vorhaben zeitnah umzusetzen. So wie es aussah, musste sie sich ja auch noch um ihre Freundin kümmern. Als ob sie mit sich selbst nicht schon genug zu tun hätte.
»Nein, das habe ich gesagt«, antwortete Chantal geduldig. »Deine Mutter ist einfach noch nicht so weit, dass sie dich als erwachsene und emanzipierte Frau betrachtet.«
»Na prima. Ich hab ja auch noch Zeit. Ich bin schließlich erst sechsunddreißig«, stöhnte sie entmutigt und stellte sich gerade vor, dass ihre Mutter wahrscheinlich sogar noch etwas dagegen hätte, dass sie die Pille nahm. Solche Themen waren nämlich schon immer Tabu gewesen. Hermine wurde auch komplett durch Chantal aufgeklärt. Ihre ersten Erfahrungen machte sie ebenfalls vollständig unter der Anleitung ihrer besten Freundin. Leider blieben diese, bis auf ein paar harmlose Knutschereien zwischendurch, auch die einzigen. Zum einen war sie viel zu schüchtern um jemanden anzusprechen und zum anderen hatte es ihre Mutter geschafft, sie so hinzubiegen, dass ein One-Night-Stand schon gar nicht möglich war. Und das, ohne auch nur einmal über das Thema gesprochen zu haben.
»Wir bekommen das hin«, sagte Chantal energisch. »Ich sorge dafür, dass wir die Kerle rumkriegen. Und früher oder später wird der Prinz auf dem weißen Ross dabei sein, der uns aus unserer tristen Welt ins Märchenland entführt.«
Hermine wollte ihre Zweifel äußern, aber Chantal hob beschwichtigend die Hand und erstickte eine eventuelle Unsicherheit sofort im Keim.
»Keine Widerrede!«, beendete Chantal das Thema. »Ich geh jetzt arbeiten. Ins Trainingslager, sozusagen.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und warf ihrer Freundin noch eine Kusshand über die Schulter zu. Erst jetzt fiel Hermine auf, dass Chantal alleine schon kleidungstechnisch voll auf Angriff eingestellt war. Der Rock stammte noch aus besseren Tagen und war durch die etwas erweiterte Hüftbreite ein wenig kurz geworden. Der Rest war ganz in Ordnung, aber kleidungstechnisch war wohl doch Hermine gefragt. Die hatte nämlich einen sehr guten Geschmack und auch ein Auge für gute Outfits, obwohl sie sich nicht zutraute, dieses Talent für ihre eigene Erscheinung zu nutzen. Draußen verfiel Chantal derweil in ein heftiges Fluchen, weil sie eigentlich überhaupt nicht daran gewohnt war, Schuhe mit Absatz zu tragen. Ihr rechter Absatz hatte sich ganz klassisch im Gullydeckel verhakt und umgehend hatte sich eine Traube an Menschen gebildet, die zuschauten, wie sie heftig an ihrem Schuh zog, um diesen wieder zu befreien. Als sie das endlich geschafft hatte und der Absatz glücklicherweise nicht abgerissen war, stampfte sie wütend davon.
»Oh je«, sagte Hermine leise zu sich selbst, und zweifelte immer mehr am Erfolg ihrer Agenda.
Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, durchsuchte sie gleich danach die Liste mit Neuerscheinungen nach potenziellen Büchern mit eindeutig zweideutigen Titeln. Vielleicht könnte sie ja wenigstens so etwas ins Regal stellen, ohne dass ihre Mutter das verbieten würde. Umso länger sie sich mit diesem Gedanken befasste, desto mehr beflügelte dieser ihre Fantasie. Neben der ersten Adresse für freizügige Literatur, deren Inhalt man am Äußeren nicht sofort erkannte und der damit einhergehenden Mundpropaganda unter denjenigen, die nicht öffentlich zu ihrer literarischen Vorliebe stehen, avancierte ihre Buchhandlung in ihren Gedanken, zum Geheimtipp für Frivoles, das unter vorgehaltener Hand verkauft wurde. Allein das würde sie als Verkäuferin interessant machen. Und nicht nur als Verkäuferin. Nein, sie würde begehrt werden, weil ihr dann nachgesagt werden würde, für all das zu stehen, was es heimlich bei ihr zu erwerben gab. Sie war gerade dabei, in ihren Gedanken einem gut aussehenden Mann Ende dreißig, in einem extra dafür eingerichteten Leseraum, die neusten Bände erotischer Schreibkunst vorzustellen, als ihre Mutter sie jäh zurück, in den manchmal recht grauen Arbeitsalltag ihrer Buchhandlung, holte. Dabei hätte man schon so viel aus dem kleinen Geschäft machen können. Doch alles wurde als neumodischer Firlefanz abgetan, den eh kein Mensch brauchen würde.
»Vergiss nicht die Schaufensterauslage für die neuen christlichen Bildbände herzurichten!«, sagte ihre Mutter in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Sie zuckte zusammen und schämte sich ihrer Hirngespinste, als ob Hermines Mutter die Fähigkeit besitzen würde, ihre versauten Gedanken zu lesen. Umgehend machte sie sich an ihre Aufgabe und fragte sich dabei, was sie dann eigentlich mit dem Mann im Leseraum hätte machen sollen. Dann würde sie sich vielleicht plötzlich mit jemandem in solch einer prickelnden Situation befinden und hätte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Auch wenn Chantal ständig sagte, sie sollte das mit den One-Night-Stands endlich ausprobieren, bevor sie gar keinen Spaß hätte, waren ihre moralischen Bedenken diesbezüglich sehr groß. Irgendwie hatte sie sogar Angst davor, auf einmal das Objekt der Begierde sein zu können.
»Aber was denk ich da eigentlich«, sinnierte Hermine lautlos vor sich hin. »Das gibt’s doch in Wirklichkeit eh nicht. Ich werde wahrscheinlich noch in zwanzig Jahren Bildbände von Jesus und seinen Geschichten im Schaufenster aufstellen, anstatt anzügliches Material hinter der Ladentheke zu bunkern, das mir zum Erfolg bei der Männerwelt eine Hilfe sein könnte. Wenn ich Pech habe, muss Chantal irgendwann noch „ungeöffnet zurück“ auf meinen Grabstein schreiben. Ich bin wahrscheinlich die einzige Frau mit sechsunddreißig, die noch immer auf ihr erstes Mal wartet. So eine verdammte Kacke aber auch!«
Durch den morgendlichen Besuch bei ihrer Freundin war Chantal ziemlich spät dran und kam dementsprechend stürmisch in die Redaktion gerannt. Kurz vor Erreichen ihres Arbeitsplatzes musste sie feststellen, dass der Absatz doch etwas in Mitleidenschaft gezogen wurde und nun tatsächlich noch drohte, sich vom Rest des Schuhs zu verabschieden. Dies verursachte bei ihr einen leichten Ausfallschritt. Trotzdem konnte sie sich gerade noch in ihren Schreibtischstuhl fallen lassen und war froh, sich nicht vor allen Kollegen auf die Nase gelegt zu haben. Doch dem Abteilungsarschloch Lennart war diese Unsicherheit natürlich wieder nicht entgangen. Lennart war Chantals Albtraum im Arbeitsalltag. Er stand ganz oben auf der Liste der männlichen Wesen, denen sie im Laufe der Abarbeitung ihrer Agenda, endlich mal die Meinung sagen wollte. Und zwar so heftig, dass dieser Idiot endlich einmal sprachlos wäre und sich nie mehr über andere lustig machen würde. Dieser Mensch war neben seiner unerträglichen Arroganz aber leider noch mit so einem rhetorischen Geschick gesegnet, dass es bislang niemand in der Redaktion geschafft hatte, sich gegen seine Verbal