Das Floß - Stephen Baxter - E-Book

Das Floß E-Book

Stephen Baxter

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Beschreibung

Gestrandet in einem tödlichen Universum

In einem Universum, in dem die Gravitationskonstante sehr viel höher ist als in dem unsrigen, haben bereits menschliche Körper messbare Schwerkraft. Sonnen durchmessen hier nur ein paar Kilometer und sind schon nach wenigen Jahren ausgebrannt. Fünfhundert Jahre nach der Havarie eines Raumschiffes in diesem Universum kämpfen die Nachfahren der Besatzung ums Überleben. Sie sind in zwei Gruppen zerfallen: Die Mineurs beuten die eisernen Herzen der erloschenen Sonnen aus, während die Wissenschaftler auf dem „Floß“, leben, das sie aus den Resten des ehemaligen Forschungsraumschiffes gebaut haben. Der junge Mineur Rees ist erstaunlich begabt und erhält deswegen eine Stelle als Hilfswissenschaftler. Nach und nach entdeckt er, dass ihre kleine Gesellschaft dem Untergang geweiht ist – und dass niemand eine Idee zu haben scheint, wie man ihn aufhalten könnte.

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Seitenzahl: 418

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STEPHEN BAXTER

DAS FLOSS

Roman

1ALSDIE GIESSEREIIMPLODIERTE, wurde Rees’ Neugier auf seine Welt unerträglich.

Der Schichtwechsel begann wie immer damit, dass Sheen, seine Schichtführerin, mit der Faust gegen die Wand seiner Kabine schlug. Schlaftrunken wälzte sich Rees aus seiner Hängematte, bewegte sich langsam durch die unaufgeräumte Kabine und quälte sich durch seine Morgentoilette.

Unter den Mikrogravitationsbedingungen kam das Wasser nur widerwillig aus dem rostigen Hahn. Es war eine saure und trübe Flüssigkeit. Er zwang sich, einige Schlucke zu trinken und klatschte sich etwas Wasser in Gesicht und Haare. Schaudernd dachte er daran, durch wie viele menschliche Körper dieses Wasser hindurchgegangen sein mochte, seit es zum ersten Mal aus einer vorbeiziehenden Wolke aufgefangen worden war; Dutzende von Schichten waren schon vergangen, seitdem der letzte Proviantbaum vom Floß mit Nachschub vorbeigekommen war, und das veraltete Recycling-System des Gürtels ließ jetzt seine Schwachstellen erkennen.

Er zog einen fleckigen Overall an. Das Kleidungsstück begann ihm zu kurz zu werden. Nach fünfzehntausend Schichten war er ein dunkelhaariger und dünner junger Mann geworden – eigentlich schon groß genug und immer noch im Wachstum, dachte er missmutig. Diese Beobachtung ließ ihn mit einem Anflug von Traurigkeit an seine Eltern denken; sie hätten wahrscheinlich genau diese Bemerkung gemacht. Sein Vater war kurz nach seiner Mutter gestorben, an Kreislaufproblemen und Erschöpfung. Rees stützte sich mit einer Hand an der Tür ab, betrachtete die kleine, mit Eisenwänden ausgeschlagene Kabine und dachte daran, wie vollgepfropft sie gewesen war, als er sie noch mit seinen Eltern geteilt hatte.

Er schob diese Gedanken beiseite und drückte sich durch den engen Türrahmen.

Er blinzelte ein paar Sekunden lang, geblendet von dem hin- und herwandernden Sternenlicht … und stutzte. Ein schwacher Geruch hing in der Luft, wie das volle Aroma von Synthofleisch. Brannte da etwas?

Seine Kabine war mit der seines Nachbarn durch ein paar Meter ausfransender Seile und durch lange, rostige Rohre verbunden; er hangelte sich ein Stück an dem Seil entlang und hing dort, mit den Augen die Welt um sich herum nach der Quelle des stechenden Geruchs absuchend.

Die Atmosphäre des Nebels war wie immer blutrot. Im Hinterkopf versuchte er, diese Röte zu beschreiben – war sie intensiver als bei der letzten Schicht? –, während seine Augen über die Objekte wanderten, die über und unter dem Nebel verstreut waren. Die Wolken sahen aus wie Ballen aus hellgrauem Stoff, die kilometerweit in der Luft verstreut waren. Sterne fielen zwischen den Wolken hindurch – ein langsamer, endloser Regen, der zu dem Kern hinuntertaumelte. Das Licht der kilometerbreiten Sphären warf schwankende Schatten auf die Wolken, die gefällten Bäume und die riesigen Flecken in der Luft, die wie Wale aussahen. Hier und da sah er einen kleinen Blitz, der das Ende der kurzen Existenz eines der Sterne bedeutete.

Wie viele Sterne mochte es da geben?

Als Kind war Rees mit großen Augen zwischen den Kabeln herumgeklettert und hatte die Grenzen seines Wissens und seiner Geduld erforscht. Jetzt vermutete er, dass es zahllose Sterne gab, mehr als er Haare auf dem Kopf … oder Gedanken im Kopf hatte, oder Wörter auf der Zunge. Er hob den Kopf und wanderte mit den Augen über einen Himmel, der voller Sterne war. Es war, als ob er in einer großen Lichtwolke hängen würde; die kugeligen Sterne wurden mit wachsender Entfernung zu Lichtpunkten, so dass der Himmel selbst ein rotgelb glühender Vorhang war.

Der Brandgeruch, der durch die dünne Luft sickerte, zog erneut seine Aufmerksamkeit auf sich. Er klammerte seine Zehen um das Kabinenkabel, löste seine Hände, streckte sich mit der Fliehkraft des Gürtels und betrachtete von seinem neuen Aussichtspunkt aus sein Heim.

Der Gürtel war ein Kreis von ungefähr achthundert Metern Durchmesser, eine Kette von heruntergekommenen Wohnbaracken und Arbeitsplätzen, die durch Seile und Röhren verbunden wurden. In der Mitte des Gürtels befand sich die Mine selber, ein hundert Meter breiter, ausgeglühter Sternenkern; Förderkabel baumelten von dem Gürtel herunter zu der Oberfläche des Sternenkerns und kratzten mit einer Geschwindigkeit von einigen Metern pro Sekunde an der rostigen Kugel.

Hier und da gab es massive Röhrenöffnungen aus weißem Metall, die an den Wänden und Dächern des Gürtels angebracht waren; alle paar Minuten kam ein Dampfstoß aus einer dieser Mündungen, und der hintere Teil des Gürtel begann sich unmerklich schneller zu bewegen, wodurch er die Bremswirkung des Luftwiderstandes ausglich. Rees betrachtete den glatten Rand der ihm am nächsten positionierten Röhrenmündung; sie war auf dem Dach seines Nachbarn angebracht, und man sah, dass sie hastig zugeschnitten und geschweißt worden war. Wie gewöhnlich wurde seine Aufmerksamkeit durch zufällige Spekulationen abgelenkt. Von welchem Schiff oder von welchem anderen Gerät stammte das Rohr? Wer waren die Männer, die es herausgeschnitten hatten? Und warum waren sie hergekommen …?

Schon wieder der Brandgeruch. Er schüttelte den Kopf und versuchte, sich zu konzentrieren.

Es war Schichtwechsel, und hier und da bewegte sich etwas um die Kabinen auf dem Gürtel, als die Arbeiter, missmutig und müde, sich in ihre Hängematten begaben – und, als ungefähr einen Vierteldurchmesser des Gürtels von ihm entfernt, ein Rauchschwaden durch die Gießerei schwebte. Er sah, wie immer wieder Männer in den hellgrauen Nebel eintauchten. Als sie wieder hochkamen, schleppten sie schlaffe, geschwärzte Pakete.

Leichen?

Mit einem leisen Schrei wirbelte er herum, ergriff das Seil und hangelte sich, so schnell er konnte, über die Kabinendächer und -wände mit ihrer minimalen Gravitationswirkung zu der Gießerei.

Vor der in Rauch gehüllten Zone machte er halt. Der Gestank von verbranntem Synthofleisch rief ein flaues Gefühl in seinem leeren Magen hervor. Zwei Gestalten traten aus dem Rauchschwaden und verdichteten sich wie Traumerscheinungen. Zwischen sich trugen sie ein unidentifizierbares, blutiges Bündel. Rees verschaffte sich einen festen Halt und beugte sich hinunter, um ihnen zu helfen; er bemühte sich, nicht zurückzuzucken, als er bemerkte, dass er verkohltes Fleisch in der Hand hielt, das sich von dem Bündel gelöst hatte.

Die schlaffe Gestalt wurde in fleckige Decken eingewickelt und vorsichtig abtransportiert. Einer der zwei Rettungsmänner richtete sich vor Rees auf; weiße Augen leuchteten aus einem rußverschmierten Gesicht. Es dauerte einige Sekunden, bis Rees erkannte, dass es Sheen war, seine Schichtführerin. Die Anziehungskraft ihres heißen, schwarzen Körpers bewirkte ein ständiges Rumoren in seinem Bauch, und er schämte sich, als er merkte, dass er sogar in einem solchen Moment die Schweißtropfen auf ihrer blutverschmierten Brust wahrnahm. »Du hast dich verspätet«, sagte sie mit einer Stimme, tief wie die eines Mannes.

»Tut mir leid. Was ist passiert?«

»Eine Implosion. Oder was hast du gedacht?« Sie wischte versengtes Haar aus der Stirn, drehte sich um und zeigte auf die vor ihnen stehende Rauchwand. Hinter ihr konnte Rees jetzt die Umrisse der Gießerei erkennen. Ihre frühere Würfelform war wie von einer riesigen Hand zusammengedrückt. »Zwei Tote bis jetzt«, sagte Sheen. »Verdammt. Das ist der dritte Unfall während der letzten hundert Schichten. Wenn Gord nur seine Gebäude solide genug für dieses verfluchte blöde Universum konstruiert hätte, müsste ich nicht meine Arbeitskollegen voneinander abkratzen wie verdorbenes Synthofleisch. Scheiße, Scheiße.«

»Was soll ich machen?«

Sie wandte sich um und sah ihn verärgert an; er fühlte, wie seine Wangen aus Verlegenheit und Furcht rot anliefen. Ihre Verärgerung schien ein wenig nachzulassen. »Hilf uns, den Rest rauszubringen. Bleib dicht bei mir, dann wird alles gutgehen. Versuch, durch die Nase zu atmen, okay?«

Sie wandte sich um und tauchte wieder in den sich ausbreitenden Rauch ein. Rees zögerte nur für eine Sekunde, dann beeilte er sich, hinter ihr herzukommen.

Die Leichen wurden weggeräumt und der Luft des Nebels übergeben, während die Verletzten von ihren Familien in Empfang genommen und fürsorglich in Aufnahmekabinen untergebracht wurden. Das Feuer in der Gießerei war gelöscht, und der Rauch begann sich zu verziehen. Gord, der Chefingenieur des Gürtels, kletterte über die Ruinen. Der Ingenieur war ein untersetzter, blonder Mann; er schüttelte traurig den Kopf, als er sich daranmachte, den Wiederaufbau der Gießerei zu planen. Rees sah, wie die Verwandten der Toten und Verwundeten Gord voller Hass bei seiner Arbeit beobachteten. Natürlich konnte man den Ingenieur nicht für die Serie von Implosionen verantwortlich machen?

Aber wenn nicht Gord, wen dann?

Rees’ Schicht wurde abgesetzt. Es gab noch eine zweite Gießerei, die sich der durch den Brand zerstörten genau entgegengesetzt auf der anderen Seite des Gürtels befand, und Rees würde sich zur nächsten Frühschicht dort einfinden müssen; aber jetzt hatte er erst einmal frei.

Während er langsam zu seiner Kabine zurückging, betrachtete er gebannt die Blutspuren, die seine Hände auf den Seilen und Dächern zurückließen. Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf immer noch voller Rauch war. Am Eingang seiner Kabine blieb er einige Minuten lang stehen und versuchte, frischen Sauerstoff aus der Luft zu ziehen; aber das rötliche, oszillierende Sternenlicht wirkte fast so dick wie der Rauch. Manchmal schienen die Lungen in der Atmosphäre des Nebels ihrer Aufgabe nicht mehr gewachsen zu sein.

Wenn der Himmel nur blau wäre, dachte er sehnsüchtig. Ich wüsste gerne, wie Blau aussieht … Sogar in der Kindheit seiner Eltern hatte es, wie sein Vater erzählt hatte, noch blaue Stellen am Himmel gegeben, weit entfernt am Rand des Nebels, weit jenseits der Wolken und Sterne. Er schloss die Augen und versuchte, sich eine Farbe vorzustellen, die er nie gesehen hatte, dachte an Kühle, an klares Wasser.

So hatte sich die Welt seit den Tagen seines Vaters geändert. Warum? Und würde sie sich wieder ändern? Würden Blau und die anderen kühlen Farben zurückkehren – oder würde das Rot immer intensiver werden, bis es die Farbe von verdorbenem Fleisch angenommen hatte …?

Rees verdrückte sich in seine Kabine und drehte den Wasserhahn auf. Er legte seinen Arbeitsanzug ab und schrubbte die blutverschmierte Haut so lange, bis sie schmerzte.

Das Fleisch löste sich unter seinen Händen vom Körper wie die Schale einer faulen Frucht; weiß leuchteten Knochen …

Er lag in seinem Netz, die Augen weit offen, und dachte zurück.

Von weitem hörte er dreimal eine Handglocke läuten. Es war also immer noch Mittagsschicht – er würde noch anderthalb Schichten aushalten müssen, geschlagene zwölf Stunden, bis er eine Entschuldigung zum Verlassen der Kabine haben würde.

Wenn er aber hierblieb, würde er noch verrückt werden.

Er wälzte sich aus seiner Hängematte, zog seinen Arbeitsanzug über und schlüpfte aus der Kabine. Der schnellste Weg zum Quartiermeister führte an der zerstörten Gießerei vorbei über den Gürtel; bewusst drehte er sich um und nahm den entgegengesetzten Weg.

Als er an den Fenstern und den draußen angebrachten Netzen vorbeikam, nickten die Leute ihm zu und lächelten mit schwacher Sympathie. Es waren nur ein paar Hundert Menschen im Gürtel; fast jeder schien von der Tragödie betroffen zu sein. Aus Dutzenden von Kabinen drang leises Weinen oder Wehklagen.

Rees lebte allein und leistete sich meistens selbst Gesellschaft; aber er kannte fast jeden auf dem Gürtel. Nun kroch er an Kabinen vorbei, in denen Menschen, denen er ein wenig näher stand, litten und vielleicht starben; aber er eilte weiter und fühlte, wie die Isolation ihn einhüllte wie Rauch.

Die Bar des Quartiermeisters war eines der größten Gebäude des Gürtels und befand sich zwanzig Meter entfernt schräg gegenüber; es war mit Kletterseilen behangen, und Regale mit Schnapsflaschen nahmen den größten Teil einer Wand ein. In dieser Schicht waren viele Menschen hier: Der Gestank nach Alkohol und Tabak, das Gewirr von Stimmen, das Gedränge einer Masse von heißen Körpern – all das schlug Rees entgegen, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen. Jame, der Wirt, machte guten Umsatz und lachte heiser durch einen dichten, grau werdenden Bart. Rees schlenderte am Rand der wogenden Menge umher, um nicht in seine trostlose Behausung zurückkehren zu müssen; aber das Trinken und das Gelächter schien um ihn herumzufließen wie um eine Insel, und er wandte sich zum Gehen.

»Rees! Warte …«

Es war Sheen. Sie hatte sich aus der Mitte einer Gruppe von Männern gelöst; einer von ihnen – ein großer, einschüchternd wirkender Minenarbeiter namens Roch – rief ihr betrunken etwas hinterher. Sheens Wangen waren feucht von der Hitze, die in der Bar herrschte, und sie hatte ihr versengtes Haar abgeschnitten; ansonsten sah sie in ihrem frisch gewaschenen, schlichten Kleid freundlich und sauber aus. Als sie sprach, war ihre Stimme immer noch heiser von dem Rauch. »Ich sah dich hereinkommen. Hier. Du siehst aus, als ob du das gebrauchen könntest.« Sie hielt ihm eine fleckige, kugelförmige Schnapsflasche hin.

Rees wurde plötzlich verlegen und sagte: »Ich wollte gerade gehen …«

»Ich weiß.« Sie näherte sich ihm, ohne zu lächeln und stieß mit dem Glas gegen seine Brust. »Trink es trotzdem.« Wieder rief der Stoß ihres Körpers ein Wärmegefühl in seinem Bauch hervor – warum sollte die Ausstrahlung ihres Gravitationsfeldes sich so von dem der anderen Menschen unterscheiden? – und er war verwirrt vom Anblick ihrer nackten Arme.

»Danke.« Er nahm den Drink und saugte am Plastiknippel der Flasche; heißer Schnaps lief über seine Zunge. »Vielleicht kann ich das wirklich gebrauchen.«

Sheen musterte ihn mit unverhohlener Neugier. »Du bist ein merkwürdiger Typ, Rees, nicht wahr?«

Er starrte sie ebenfalls an und ließ seine Augen über die glatte Haut gleiten, die ihre Augen umgab. Mit Erstaunen registrierte er, dass sie nicht viel älter sein konnte als er. »Inwiefern bin ich merkwürdig?«

»Du bist ein Einzelgänger.«

Er zuckte die Achseln.

»Weißt du, das ist etwas, was du ablegen musst. Du brauchst Gesellschaft. Wir alle brauchen Gesellschaft. Vor allem nach einer Schicht wie dieser.«

»Was hattest du vorhin sagen wollen?«, fragte er plötzlich.

»Wann?«

»Nach der Implosion. Du hast gesagt, dass es schwierig sein würde, etwas zu bauen, das stabil genug für dieses Universum ist.«

»Ja und?«

»Nun … gibt es denn noch ein anderes Universum?«

Sie sog an ihrem Glas und ignorierte die Rufe von hinten, die sie aufforderten, an der Party teilzunehmen. »Wen interessiert das?«

»Mein Vater sagte immer, die Mine würde uns noch alle töten. Die Menschen seien nicht dafür geschaffen, da unten zu arbeiten und bei fünf Gravos in Rollstühlen herumzukrebsen.«

Sie lachte. »Rees, du bist schon eine Type. Aber ich bin, ehrlich gesagt, nicht in der Stimmung für metaphysische Spekulationen. Wozu ich jetzt Lust habe, ist, mich mit diesem vergorenen Fruchtsaft sinnlos zu besaufen. Du kannst dich also mir und den Jungs anschließen, wenn du möchtest, oder du kannst gehen und die Sterne anseufzen. Okay?« Sie eilte davon und warf einen fragenden Blick zurück; mit einem verkniffenen Lächeln schüttelte er den Kopf, und sie entschwebte wieder zu ihrer Party, wo sie in einem kleinen Kreis von Armen und Beinen verschwand.

Rees trank aus, kämpfte sich zur Bar durch, um die leere Flasche zurückzustellen, und entfernte sich.

Eine schwere, prall mit Regen gefüllte Wolke trieb über den Gürtel und reduzierte die Sichtweite auf ein paar Meter; die Luft, die diese Wolke mit sich brachte, schien außerordentlich schlecht und dünn zu sein.

Rees kroch durch die Kabel, die seine Welt umgaben, wobei seine Muskeln ständig arbeiteten. Er schaffte zwei volle Rundgänge, kam an Hütten und Kabinen vorbei, die ihm seit seiner Kindheit vertraut waren, eilte vorbei an wohlbekannten Gesichtern. Die feuchte Wolke, die dünne Luft und die Begrenztheit des Gürtels schienen alle irgendwo in seiner Brust zusammenzukommen. Fragen jagten durch sein Gehirn. Warum waren die von Menschen erfundenen Materialien und Baumethoden so wenig imstande, den Naturgewalten Widerstand zu leisten? Warum waren die menschlichen Körper diesen Gewalten so ausgeliefert?

Warum hatten seine Eltern sterben müssen, ohne dass sie ihm eine Antwort auf die Fragen gegeben hatten, die ihn seit seiner Kindheit verfolgten?

Bruchstücke von Rationalität blitzten in der Konfusion seines übermüdeten Gehirns auf. Seine Eltern hatten die Umstände, unter denen sie lebten, nicht besser verstanden als er; nichts als Legenden hatten sie ihm vor ihrem elenden Tod erzählen können. Kindermärchen von einem Schiff, einer Besatzung, von etwas, das man Bolder’s Ring nannte … Aber seine Eltern hatten eines besessen: Fatalismus. Sie und der Rest der Bewohner des Gürtel – selbst die engagiertesten, wie z.B. Sheen – schienen sich in ihr Schicksal zu fügen. Nur Rees schien von Zweifeln und unbeantworteten Fragen geplagt zu sein.

Warum konnte er nicht sein wie alle anderen? Warum konnte er nicht akzeptieren und akzeptiert werden?

Er gönnte sich eine Ruhepause, denn seine Arme schmerzten, und Nebel schlug ihm entgegen. In diesem ganzen Universum gab es nur ein einziges Wesen, mit dem er darüber sprechen konnte und das sinnvolle Antworten auf seine Fragen geben würde.

Und das war ein Maulwurf.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, sah er sich um. Er war vielleicht hundert Meter von der nächsten Förderkorbstation der Mine entfernt. Seine Arme und Beine trugen ihn mit neuer Kraft dorthin.

Eine Nebelwand bildete sich hinter Rees, als er die Station betrat. Sie war verlassen, wie er es erwartet hatte. Die ganze Schicht würde für die Trauerfeier draufgehen; frühestens in zwei oder drei Stunden würden die trübe dreinblickenden Arbeiter der nächsten Schicht eintreffen.

Die Station war nicht viel mehr als eine weitere würfelförmige, eiserne Hütte, die in den Gürtel eingelassen war. Sie wurde beherrscht von einer riesigen Trommel, um die ein dünnes Kabel gewickelt war. Die Trommel lief in einem Windenmechanismus, der aus irgendeinem rostfreien Material gefertigt war; an dem Kabel hing ein schwerer Stuhl mit großen, enorm breiten Rädern. Am oberen Ende des dick gepolsterten Stuhls befand sich eine Hals- und Nackenstütze. An einem Ende der Trommel war an einer Strebe eine Steuerkonsole angebracht. Die Konsole war armbreit und mit faustgroßen Schaltern und Schaltflächen bestückt, deren Funktionen durch Code-Farben gekennzeichnet waren. Rees wählte schnell die Option ›Abwärts‹, und die Windentrommel begann zu vibrieren.

Er schlüpfte auf den Stuhl, wobei er darauf achtete, die Kleidung an seinem Rücken und unter seinen Beinen zu glätten. Auf der Oberfläche des Sterns konnte eine Falte in der Kleidung schneiden wie ein Messer. Ein rotes Licht leuchtete auf der Konsole auf, warf düstere Schatten, und der Kabinenboden glitt mit einem leisen Quietschen beiseite. Der alte Mechanismus arbeitete mit einem Chor von Kratz- und Quietschgeräuschen. Die Trommel drehte sich, und das Kabel begann sich abzuwickeln.

Mit einem Ruck schlüpfte Rees durch den Boden der Station und in die dichte Wolke hinein. Der Stuhl wurde von dem Führungskabel hinuntergezogen; er wusste, dass die Strecke über hundert Meter durch den Nebel zur Oberfläche des Sterns führte. Das vertraute Gefühl der variierenden Schwerkraft zog an seinem Bauch wie sanfte Hände. Der Gürtel rotierte ein bisschen schneller als seine Orbitalgeschwindigkeit – um die Kette der Kabinen zusammenzuhalten – und einige Meter unter dem Gürtel wurde die Zentripetalkraft schwächer, so dass Rees für kurze Zeit durch wirkliche Schwerelosigkeit schwebte. Dann tauchte er in den Gravitationsbereich des Sternenkerns ein, wodurch sein Gewicht schnell zunahm und sich wie eine Eisenplatte über Brust und Bauch legte.

Trotz der wachsenden Unbequemlichkeit fühlte er sich in gewisser Weise erleichtert. Er fragte sich, was seine Arbeitskollegen denken würden, wenn sie ihn jetzt sehen könnten. In einer Freischicht in die Mine einfahren … und wozu? Um mit einem Maulwurf zu reden?

Das ovale Gesicht von Sheen tauchte vor ihm auf, intelligent, skeptisch und pragmatisch.

Er fühlte, wie seine Wangen rot wurden, und auf einmal war er froh, dass sein Abstieg von dem Nebel verborgen wurde.

Rees tauchte aus dem Nebel auf und erblickte den Sternenkern. Er war eine poröse, eiserne Kugel mit fünfzig Metern Durchmesser, auf dem die Arbeit menschlicher Hände und Maschinen sichtbare Kratzspuren hinterlassen hatte. Das Förderkabel – und die anderen, die gleichmäßig um den Gürtel geschlungen waren – kratzten mit einer Geschwindigkeit von einigen Metern pro Sekunde um den eisernen Äquator herum.

Seine Abwärtsfahrt verlangsamte sich; er stellte sich die Winde vor, die ihn aus einer Höhe von vierhundert Metern vor der Anziehungskraft des Sternes schützte. Sein Gewicht nahm jetzt schneller zu und näherte sich dem fast unerträglichen Wert von fünf Gravos. Die Räder des Stuhls begannen schwirrend zu rotieren; dann setzten sie vorsichtig auf der sich bewegenden eisernen Oberfläche auf. Es gab einen Stoß, der ihm den Atem nahm. Das Kabel löste sich schnell, wippte zurück und verschwand im Nebel. Der Stuhl rollte langsam aus und brachte Rees ein paar Meter vom Verlauf des Kabels weg.

Einige Minuten lang saß Rees still in dem verlassenen Stern und wartete, bis sein Puls sich beruhigt hatte. Nacken, Rücken und Beine waren bequem in den tiefen Polstern positioniert, ohne irgendwelche den Blutkreislauf behindernden Haut- oder Kleidungsfalten. Vorsichtig hob er die rechte Hand; es fühlte sich an, als ob Eisenbänder seinen Unterarm festhielten, aber er konnte trotzdem das in die Stuhllehne integrierte Steuerungsfeld ertasten.

Er drehte den Kopf ein paar Grad nach rechts und nach links. Sein Stuhl stand isoliert inmitten einer Eisenlandschaft. Dicker Rost bedeckte die Oberfläche, die von einigen Zentimeter tiefen Dellen und winzig kleinen Kratern übersät war. Der Horizont war nicht mehr als ein Dutzend Meter entfernt; es war, als säße er auf dem Turmkreuz eines Domes. Der Gürtel, der durch die den Stern umgebende Wolkenwand vage zu erkennen war, war eine Kette von Schachteln, die durch den Himmel rollten, und seine Kabel schleuderten die Kabinen und Werkstätten alle fünf Minuten durch eine volle Umdrehung.

Rees hatte sich oft die Abfolge der Ereignisse vorgestellt, die dieses Schauspiel hervorgebracht hatten. Der Stern musste schon vor vielen Jahrhunderten das Ende seines aktiven Lebens erreicht gehabt und nur einen langsam rotierenden Kern aus weißglühendem Metall zurückgelassen haben. Ganze Inseln von festem Eisen hatten sich in diesem Feuermeer gebildet, waren kollidiert und hatten sich dann vereinigt. Schließlich musste sich eine Haut um das Eisen gelegt haben, die dicker wurde und schließlich erkaltete. Währenddessen waren Luftblasen eingeschlossen worden, die die Kugel mit Höhlen und Tunneln durchzogen und sie so für Menschen zugänglich machten. Dann hatte die sauerstoffhaltige Luft des Nebels mit dem glänzenden Eisen reagiert und es mit einer braunen Rostschicht überzogen.

Wahrscheinlich war der Sternenkern jetzt bis ins Innerste erkaltet, aber Rees liebte es, sich einzubilden, er könne ein schwaches Glühen von Hitze unter der Oberfläche spüren, der letzte Abglanz des Sternenfeuers …

Die Stille wurde von einem Wimmern hoch über ihm unterbrochen. Etwas Glitzerndes raste abwärts durch die Luft, schlug einen Meter von Rees’ Stuhl entfernt mit einem leichten Knall auf dem Rost auf und hinterließ einen neuen Krater von einem Zentimeter Durchmesser; ein kleines Dampfwölkchen versuchte sich gegen die Anziehungskraft des Sternes zu behaupten.

Nun schossen noch mehr von diesen kleinen Raketen durch die Luft, und der Stern erzitterte unter den Einschlägen.

Regen. Beim Fallen wurde er durch eine Schwerkraftwelle von fünf Gravos in einen Hagel aus dampfenden Kugeln verwandelt.

Rees fluchte und tastete nach dem Kontrollfeld. Der Stuhl rollte vorwärts, und jeder Stoß und jedes Tal in der Landschaft nahmen ihm den Atem. Er war immer noch einige Meter vom nächsten Mineneingang entfernt. Warum war er nur so unvorsichtig gewesen, zu einer Zeit, zu der man mit Regen rechnen musste, allein zur Oberfläche hinunterzufahren? Der Regenschauer wurde dichter und schlug überall um ihn herum auf der Oberfläche ein. Er duckte sich, klammerte sich an seinen Stuhl und wartete darauf, dass der Regen seinen Kopf und seine entblößten Arme erreichte.

Der Eingang zur Mine war ein langes, in den Rost gefrästes Rechteck. Sein Stuhl rollte quälend langsam einen leichten Abhang hinunter in die Tiefen des Sterns. Endlich schob sich die Schachtdecke über seinen Kopf. Der Regen, vor dem er nun sicher war, klatschte in den Rost.

Nachdem er ein paar Minuten lang gehalten hatte, um sein wild schlagendes Herz zur Ruhe kommen zu lassen, rollte Rees auf dem leichten, kurvenreichen Abhang weiter abwärts; das Licht des Nebels wurde schwächer und wich schließlich der weißen Glut einer Kette von überlegt platzierten Lampen. Rees schaute im Vorbeifahren zu ihnen auf. Niemand wusste, wie die faustgroßen Leuchteinheiten funktionierten. Anscheinend hatten die Lampen jahrhundertelang unbeachtet dort gebrannt – zumindest viele von ihnen; hier und da wurde die Lichterkette von einer defekten Lampe unterbrochen. Rees schauderte, als er durch die dunklen Sektoren fuhr; es war typisch für ihn, dass seine Gedanken durch die Jahre in eine Zukunft rasten, in der die Bergleute ohne die alten Lampen würden auskommen müssen.

Nach einer Fahrt von fünfzig Metern – einem Drittel des Sternumfangs – waren das Licht des Nebels und der Lärm des Regens verschwunden. Er erreichte eine breite, zylindrische Kammer, deren Decke zehn Meter über der Oberfläche des Sterns lag. Rostfreie Wände glänzten im Lampenlicht. Das war der Eingang zu dem eigentlichen Bergwerk; in die Wände der Kammer waren die Mündungen von fünf Rundwegen eingelassen, die tiefer in das Herz des Sterns führten. Die Maulwürfe förderten und veredelten das Eisen in den Korridoren und brachten es in bearbeitbaren Mengen an die Oberfläche zurück.

Die eigentliche Funktion der Menschen, die hier unten arbeiteten, bestand darin, die begrenzte Entscheidungsfähigkeit der Maulwürfe zu ergänzen – zum Beispiel, indem sie die Förderkapazität der Maulwürfe regelten oder das Meißeln neuer Transportwege, die um defekte Förderkörbe herumgeführt wurden, überwachten. Nur wenige Menschen hatten noch mehr Fähigkeiten – obwohl einige Bergleute, wie zum Beispiel Roch, jede Menge Räuberpistolen über ihre Leistungen unter extremen Gravitationsbedingungen erzählten.

Aus einem Korridor kam ein brummendes, kratzendes Geräusch. Rees machte eine Drehung mit dem Stuhl. Nach einigen Minuten stieß ein großer Rammsporn in das Licht der Kammer und – mit nervtötender Behäbigkeit – glitt eine der Maschinen, die die Bergleute Maulwürfe nannten, über den Rand des Tunnels.

Der Maulwurf war ein ungefähr fünf Meter langer Zylinder aus mattem Metall, der sich auf drei dicken Rädern fortbewegte. Das Vorderteil des Maulwurfs war mit einer Reihe von Grabwerkzeugen und handähnlichen Greifern besetzt, die das Eisen des Sterns bearbeiteten. An der Rückseite der Maschine war ein breiter Korb angebracht, der einige Brocken frisch gebrochenen Eisens enthielt.

»Status«, forderte Rees knapp.

Der Maulwurf rollte aus. Er antwortete wie immer: »Schwere Sensorstörung.« Seine dünne, flache Stimme kam von irgendwoher aus seinem glatten Körper.

Oft schon war Rees der Gedanke gekommen, dass er viel von dem, was ihn an der Welt erstaunte, verstehen würde, wenn er wüsste, welche Information sich hinter dieser kurzen Aussage verbarg.

Der Maulwurf bewegte einen Arm von seiner Nase weg. Er griff damit in die Körbe auf seinem Rücken und begann, kopfgroße Brocken auf einen Haufen auf dem Boden der Kammer zu legen. Rees beobachtete den Maulwurf einige Minuten lang bei seiner Arbeit. Rund um die Grabwerkzeuge, die Radachsen und die Punkte, wo die Körbe angebracht waren, waren grobe Schweißspuren zu sehen; außerdem wies die Verkleidung des Maulwurfs lange, dünne Schrammen auf, an denen klar zu erkennen war, wo vor langer Zeit die Instrumente abmontiert worden waren. Rees schloss die Augen halb, damit er nur die breiten, zylindrischen Konturen des Maulwurfs erkennen konnte. Was hatte sich wohl dort an der Verkleidung befunden, wo jetzt die Schrammen zu sehen waren? In einer plötzlichen Eingebung stellte er sich vor, dass die Düsen, die den Gürtel auf seiner Umlaufbahn hielten, an dem Maulwurf angebracht gewesen waren. Vor seinem geistigen Auge bewegten sich die Komponenten umher und gruppierten sich in verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit immer wieder neu. Waren die Düsen vielleicht wirklich einmal an den Maulwurf angeflanscht gewesen? War der Maulwurf früher eine Art fliegende Maschine gewesen, die man für die Arbeit hier unten umgerüstet hatte?

Aber wahrscheinlich waren es andere Geräte gewesen, die an der Stelle gesessen hatten, an der sich jetzt die Schrammen befanden – Geräte, die schon längst außer Dienst gestellt worden waren und die er sich jetzt nicht einmal mehr vorstellen konnte – wahrscheinlich die ›Sensoren‹, von denen der Maulwurf sprach.

Eine irrationale Dankbarkeit gegenüber den Maulwürfen überkam ihn. In seinem ganzen zusammenbrechenden Universum stellten sie, rätselhaft, wie sie waren, das einzige Element der Fremdheit und Andersartigkeit dar; sie waren das einzige, was seine Phantasie beschäftigte. Als er vor hundert Schichten zum ersten Mal zu spekulieren begonnen hatte, ob die Dinge vielleicht irgendwo, irgendwann anders gewesen waren, hatte ein Maulwurf ihn überraschend gefragt, ob er immer noch finde, dass die Luft des Nebels schwer zu atmen sei.

»Maulwurf«, sagte er.

Ein gegliederter Metallarm schwenkte von der Nase des Maulwurfs weg, und eine Kamera richtete sich auf Rees.

»Der Himmel hat heute ein bisschen roter ausgesehen.«

Der Transfer der Eisenbrocken verlangsamte sich nicht, aber die kleine Linse blieb unbeweglich. Irgendwo auf dem Vorderteil des Maulwurfs begann eine rote Lampe zu blinken. »Bitte Spektrometer-Daten eingeben.«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Rees. »Und selbst, wenn ich es wüsste: ich habe kein ›Spektrometer‹.«

»Bitte Eingabedaten quantifizieren.«

»Ich verstehe immer noch nicht«, sagte Rees ungeduldig.

Die Maschine beobachtete ihn noch ein paar Sekunden lang. »Wie rot ist der Himmel?«

Rees öffnete den Mund – und zögerte, suchte nach Worten. »Ich weiß nicht. Rot eben. Dunkler als sonst. Aber nicht so dunkelrot wie Blut.«

Die Linse öffnete sich mit einem scharlachroten Leuchten. »Bitte Brennweite einstellen.«

Rees stellte sich vor, dass es der Himmel sei, auf den er blickte. »Nein, nicht so hell.«

Das Leuchten veränderte sich innerhalb eines engen Spektrums, von karmesinrot bis hin zu einem schmutzig-blutigen Farbton.

»Ein bisschen zurück«, sagte Rees. »… Da. Das ist es, glaube ich.«

Die Linse verdunkelte sich. Die Lampe auf der Vorderseite, immer noch scharlachrot, leuchtete jetzt in einem hellen Dauerlicht. Rees erinnerte sich an das Warnlicht auf der Winde und spürte, wie ihm unter der Last seines Gewichts kalte Schauer über den Rücken liefen. »Maulwurf. Was bedeutet dieses Licht?«

»Warnung«, sagte der Maulwurf mit seiner flachen Stimme. »Lebensbedrohliche Umweltzerstörung. Einsatz der Hilfsausrüstung wird empfohlen.«

Rees verstand ›bedrohlich‹, aber was bedeuteten die übrigen Worte des Maulwurfs? Was für eine Hilfsausrüstung? »Verdammt, Maulwurf, was sollen wir tun?«

Aber der Maulwurf hatte darauf keine Antwort. Geduldig beschäftigte er sich weiterhin mit dem Entladen seines Korbs.

Die Gedanken überschlugen sich in Rees’ Kopf, während er ihm dabei zusah. Die Ereignisse der letzten Schichten tauchten wie die Teile eines Puzzles in seiner Erinnerung auf. Dies war für Menschen ein sehr raues Universum. Die Implosion hatte das bewiesen. Und nun, wenn er den Maulwurf nicht völlig falsch verstanden hatte, schien es, als sei die Rötung des Himmels ein Fanal des Untergangs für sie alle, als ob der Nebel selbst eine riesige, unbegreifliche Warnlampe wäre.

Die Begrenztheit seiner Möglichkeiten wurde ihm wieder bewusst, und sein Gewicht lastete schwerer auf ihm als selbst die Anziehungskraft des Sterns. Niemals würde irgend jemand verstehen, was ihn bedrückte. Er war nur irgendein dummes Kind, und seine Sorgen beruhten auf Hinweisen und Bruchstücken, die er selbst nur teilweise verstand.

Würde er immer noch ein Kind sein, wenn das Ende kam?

Weltuntergangsszenarien blitzten in seiner Vorstellung auf: Er stellte sich vor, wie die Sterne erloschen, die Wolken dicker wurden und die Luft selbst zu Gas wurde und nicht mehr zum Atmen taugte …

Er musste auf die Oberfläche zurückkehren, auf den Gürtel und darüber hinaus; er musste mehr herausfinden. Und in seinem ganzen Universum gab es nur einen Ort, den er aufsuchen konnte.

Das Floß. Irgendwie musste er auf das Floß gelangen.

Mit neu erwachter Zielstrebigkeit, ungerichtet, aber intensiv, bewegte er seinen Stuhl auf die Ausstiegsrampe zu.

2DER BAUMWAREINFÜNFZIG METER breites Rad aus Laub und Holz. Seine Rotation verlangsamte sich, und zögernd ließ er sich auf der Gravitationsquelle des Sternenkerns nieder.

Pallis, der Baum-Pilot, hing mit Händen und Füßen unter dem knorrigen Stamm des Baums. Der Sternenkern und das ihn umkreisende Gürtel-Bergwerk lagen in seinem Rücken. Kritisch blickte er durch das Blätterdach auf den Rauch, der zerrissen über den obersten Zweigen hing. Die Rauchschicht war nirgendwo auch nur annähernd dick genug: Er konnte genau sehen, wie das Sternenlicht durchschien und die runden Blätter des Baums umflutete. Er tastete sich mit den Händen am nächsten Zweig entlang und fühlte das leise Zittern der dünnen Holzschicht. Sogar hier, am Ansatz der Zweige, konnte er die schwankende Unsicherheit des Baumes fühlen. Zwei Kräfte wirkten auf den Baum ein: Einerseits versuchte er der tödlichen Schwerkraftquelle des Sterns zu entgehen, andererseits floh er vor dem Schatten der Rauchwolke, wodurch er wieder auf die Gravitationsquelle zugetrieben wurde. Es bedurfte eines geschickten Floßsteuermanns, um einen Ausgleich zwischen diesen beiden Kräften herzustellen; der Baum sollte sich in der erforderlichen Entfernung in einem dynamischen Gleichgewicht befinden.

Nun stießen die rotierenden Zweige des Baumes in die Luft, und er bewegte sich mit einem Ruck um gut einen Meter nach oben. Beinahe wäre Pallis heruntergefallen. Eine Wolke von Skitters taumelte aus dem Laubwerk; die kleinen, radförmigen Wesen schwirrten um sein Gesicht und seine Arme, während sie versuchten, in den Schutz des Baumes, aus dem sie stammten, zurückzugelangen.

Zum Teufel mit diesem Bengel …

Mit einer wütenden, fließenden Bewegung seiner Arme hangelte er sich durch das Blattwerk zur Oberseite des Baumes. Die zerklüftete Decke aus Rauch und Dampf hing einige Meter über seinem Kopf und war durch Rauchfäden lose mit den Ästen verbunden. Bald erkannte er, dass das feuchte Holz in mindestens der Hälfte der an den Ästen angebrachten Feuerkesseln verbraucht worden war.

Und Gover, sein sogenannter Assistent, war nirgendwo zu sehen.

Mit ins Laub eingerollten Zehen richtete sich Pallis zu seiner vollen Größe auf. Mit fünfzigtausend Schichten hatte er ein für die Verhältnisse im Nebel hohes Alter erreicht; aber sein Bauch war immer noch so flach und hart wie einer von den Baumstämmen aus seiner geliebten Baumflotte, und bei seinem Anblick schraken die meisten Menschen zurück vor dem Muster der durch die Zweige verursachten Narben, die sein Gesicht, seine Hände und seine Unterarme bedeckten und rot wurden, wenn er wütend war.

Und jetzt war er wütend.

»Gover! Bei den leibhaftigen Boneys, wo steckst du?«

Ein schmales, kluges Gesicht erschien über einem der Kessel am Rande des Baums. Gover befreite sich aus einem Nest von Blättern und trippelte über die Plattform aus Blättern, wobei ein Paket auf seinem schmalen Rücken baumelte.

Pallis stand mit verschränkten Armen und angespannten Muskeln da. »Gover«, sagte er leise, »ich frage dich noch einmal: Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?«

Gover fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase, deformierte dabei die Nasenlöcher, und als er die Hand wieder wegnahm, glitzerte sie feucht. »Ich war schon fertig«, murmelte er.

Pallis beugte sich über ihn. Govers Blick glitt über die Augen des Baum-Piloten und wieder von ihnen weg. »Du bist fertig, wenn ich dir sage, dass du fertig bist. Und keinen Moment früher.«

Gover sagte nichts.

»Schau …« Pallis tippte mit einem Finger auf Govers Paket. »Du trägst noch immer die Hälfte deines Holzhaufens mit dir herum. Die Feuer erlöschen. Und sieh dir die Rauchwand an. Mehr Löcher als in deinem verdammten Hemd. Mein Baum weiß nicht, wohin, wegen dir. Fühlst du nicht, wie er zittert?«

»Jetzt hör zu, Gover. Du bist mir scheißegal, aber der Baum nicht. Wenn du den Baum noch mehr aufregst, schmeiß’ ich dich über den Rand; wenn du Glück hast, fressen dich die Boneys zum Frühstück, und ich fliege mit dem Baum allein zum Floß zurück. Kapiert?«

Gover hing vor ihm, und seine Hände zerrten gleichgültig an dem zerfetzten Saum seines Hemdes. Nach einem Moment des Wartens zischte Pallis: »Und jetzt hau ab!«

Mit einer schnellen Bewegung zog sich Gover zum nächsten Kessel hinauf und zog Holz aus seinem Bündel. Bald füllten frische Rauchschwaden die Löcher in der Wolke, und das Zittern des Baums wurde schwächer.

Mit brodelnder Erregung beobachtete Pallis die ungeschickten Bewegungen des Jungen. Oh, er hatte auch in der Vergangenheit schlechte Assistenten gehabt, aber in den guten alten Zeiten waren die meisten wenigstens bereit gewesen, zu lernen, es wenigstens zu versuchen. Und nach und nach, je mehr harte Schichten sie hinter sich gebracht hatten, waren diese jungen Leute zu verantwortungsbewussten Männern und Frauen geworden, deren Geist sich im gleichen Maße stählte wie ihr Körper.

Aber diese hier nicht. Nicht diese Generation.

Das war bereits sein dritter Flug mit dem jungen Gover. Und der Kerl war immer noch so mürrisch und störrisch wie beim ersten Einsatz auf den Bäumen; Pallis konnte es kaum erwarten, ihn an die Wissenschaft zurückzugeben.

Seine Augen suchten ruhelos den roten Himmel ab. Die fallenden Sterne sahen aus wie ein Haufen Nadelspitzen, die in den Weiten entschwanden; die Tiefen des Nebels, weit unter ihm gelegen, waren eine dunkelrote Sinkgrube. War seine nostalgische Verachtung für die Jugend von heute nur ein Symptom des Älterwerdens? Oder hatten sich die Menschen tatsächlich verändert?

Nun, es gab keinen Zweifel, dass zumindest die Welt um ihn herum sich wirklich verändert hatte. Der frischblaue Himmel und die wohlriechende Luft waren nur noch Erinnerungen aus seiner Jugendzeit; die Luft verwandelte sich in einen rauchigen Mief, und das Wesen der Menschen schien sich mit der Luft zu verdüstern.

Und eins stand fest: Seine Bäume mochten diesen Dunst nicht.

Er seufzte und versuchte, seine Grübeleien zu verdrängen. Die Sterne fielen weiter herunter, unabhängig von der Farbe des Himmels. Das Leben ging weiter, und er hatte seine Arbeit zu erledigen.

Leichte Vibrationen spielten unter den Sohlen seiner nackten Füße und signalisierten ihm, dass der Baum nun fast stabil war und am Rand der Schwerkraftquelle des Sternenkerns schaukelte. Gover bewegte sich schweigend an den Feuerkesseln entlang. Verdammt, der Kerl konnte seine Arbeit gut machen, wenn man ihn dazu zwang. Das war das Ärgerlichste an ihm. »Okay, Gover, ich möchte, dass diese Schicht Holz während meiner Abwesenheit am Brennen gehalten wird. Und der Gürtel ist nicht sehr groß; wenn du faul bist, wird mir das nicht entgehen. Kapiert?«

Gover nickte, ohne ihn anzusehen.

Pallis schlüpfte durch das Laub und dachte an die bevorstehenden schwierigen Verhandlungen.

Rees hatte Schichtende. Müde schob er sich durch die Tür der Gießerei.

Kühle Luft trocknete den Schweiß auf seiner Stirn. Er hangelte sich an den Seilen und Dächern entlang zu seiner Kabine, wobei er seine Hände und Arme mit einem gewissen Interesse betrachtete. Einer der älteren Arbeiter hatte eine Schaufel mit flüssigem Eisen fallen lassen, und Rees hatte einem daraus entstehenden Hagel geschmolzenen Metalls gerade noch ausweichen können. Einige Tropfen waren trotzdem auf seine Haut geraten und hatten kleine Krater eingebrannt, die …

Ein großer Schatten huschte über den Gürtel, und ein Lufthauch strich über seinen Rücken. Er schaute auf, und ein Gefühl plötzlicher Kälte breitete sich auf seiner Schädeldecke aus.

Der Baum war eine großartige Erscheinung vor der Kulisse des rötlichen Himmels. Seine Dutzende von strahlenförmigen Zweigen und der Schleier seiner Blätter drehten sich mit ruhiger Gelassenheit; der Baum war wie ein großer, hölzerner Schädel, der in die endlosen Weiten der Atmosphäre blickte.

Das war es. Die Gelegenheit, vom Gürtel zu fliehen.

Die Proviantbäume waren das einzige bekannte Transportmittel vom Gürtel zum Floß, und so hatte Rees nach der Implosion der Gießerei beschlossen, sich mit dem nächsten Baum, der zum Gürtel kam, auf und davonzumachen. Er hatte begonnen, Lebensmittel zu horten, getrocknetes Fleisch in Tuchbündel einzupacken und Feldflaschen mit Wasser zu füllen …

Manchmal, während seiner Freischichten, hatte er wachgelegen und seine behelfsmäßigen Vorbereitungen angestarrt, und eine dünne Schweißschicht hatte seine Stirn bedeckt, wenn er darüber nachdachte, ob er den Mut haben würde, den entscheidenden Schritt zu tun.

Nun war der Moment da. Während er auf den herrlichen Baum starrte, erforschte er seine Gefühle: Er wusste, dass er kein Held war und hatte mehr oder weniger erwartet, dass Furcht ihn wie ein Netz aus Seilen festhalten würde. Aber keine Spur von Angst. Sogar der brennende Schmerz in seiner Hand war verschwunden. Er spürte nur eine gehobene Stimmung; die Zukunft war wie ein leerer Himmel, der sicherlich Raum für Hoffnungen bot.

Er eilte zu seiner Kabine und holte sein schon verschnürtes Proviantbündel. Dann erklomm er die Außenwand seiner Kabine.

Ein Seil hatte sich von dem Baumstamm gelöst, überbrückte die Distanz von fünfzig Metern zum Gürtel und streifte an den rotierenden Kabinen entlang. Ein Mann ließ sich mit selbstbewusstem Gesichtsausdruck am Seil herunter; er war mit Narben bedeckt, alt und muskulös, fast ein Teil des Baumes selbst. Ohne den ihn fixierenden Rees zu beachten, ließ sich der Mann durch die Luft zu einer Kabine fallen und begann seine Runde um den Gürtel zu machen.

Rees hing mit einer Hand an seiner Kabine. Die Rotation des Gürtels brachte die Kabine immer weiter in die Richtung des von dem Baum herabhängenden Seils; als es nur noch einen Meter von ihm entfernt war, packte er es und schwang sich ohne zu zögern vom Gürtel hinunter.

Wie immer beim Schichtwechsel war der Raum des Quartiermeisters voller Menschen. Pallis wartete draußen und beobachtete, wie sich die Rohre und Kabinen des Gürtels um den Sternenkern bewegten. Schließlich arbeitete sich Sheen mit zwei Feldflaschen durch die Menschenmenge.

Sie zogen sich in die relative Abgeschiedenheit eines langen Rohrstücks zurück und hoben schweigend ihre Flaschen. Ihre Augen trafen sich für einen Moment. Pallis schaute verlegen weg – und schämte sich gleich darauf deswegen.

Zu den Boneys damit. Was vorbei war, war vorbei.

Er nippte an dem Schnaps und bemühte sich, sein Gesicht nicht zu verziehen. »Ich glaube, dieses Zeug ist besser geworden«, sagte er schließlich.

Sie runzelte die Stirn. »Tut mir leid, dass wir nichts Besseres anbieten können. Zweifellos habt ihr einen etwas gehobeneren Geschmack.«

Er fühlte, wie seiner Kehle ein Seufzer entwich. »Verdammt, Sheen, ich will mich nicht mit dir streiten. Ja, auf dem Floß gibt es eine Brennerei. Ja, das, was sie produziert, ist verdammt besser als diese wiederaufbereitete Pisse. Und jeder weiß das. Aber dieses Zeug ist wirklich etwas besser als früher. Okay? Können wir jetzt zum geschäftlichen Teil zurückkehren?«

Sie zuckte gleichmütig die Achseln und nippte an ihrem Getränk. Er beobachtete, wie sich das diffuse Licht in ihrem Haar reflektierte, und wieder fühlte er sich zu ihr hingezogen. Verdammt noch mal, er musste sich dagegen wehren. Es mussten bereits fünftausend Schichten her sein, seit sie miteinander geschlafen hatten; damals hatten ihre Körper in Sheens Hängematte gebaumelt, während der Gürtel sich lautlos um seinen Stern drehte …

Es war ein Gelegenheitsfick gewesen; zwei erschöpfte Menschen hatten zueinandergefunden. Nun, zum Teufel damit, es störte nur die Geschäfte. Er hatte in der Tat den Eindruck, dass die Bergarbeiter sie dazu benutzten, in den Verhandlungen mit ihm ihre Position zu stärken, wohl wissend, welche Wirkung sie auf ihn ausübte. Es war ein hartes Spiel. Und es wurde immer härter …

Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, was sie sagte. »… Unsere Produktion ist also rückläufig. Wir können die vereinbarte Ladung nicht liefern. Gord sagt, es wird fünfzig Schichten dauern, bis die Gießerei wieder funktionstüchtig ist. Und da hat er recht.« Sie schwieg und sah ihn herausfordernd an.

Seine Augen lösten sich von ihrem Gesicht und suchten unwillig den Gürtel ab. Die zerstörte Gießerei war eine rußige, runzlige Wunde in der Kette der Kabinen. Für einen Moment ließ er seine Gedanken zur Szene dort drinnen während des Unglücks abschweifen – die Wände eingedrückt, die Schaufeln zu geschmolzenem Eisen zerfließend …

Es schauderte ihn.

»Es tut mir leid, Sheen«, sagte er dann langsam. »Wirklich. Aber …«

»Aber du wirst uns nicht den vollen Preis zahlen«, meinte sie bitter.

»Verdammt, ich bestimme die Spielregeln nicht. Ich habe einen ganzen Baum mit Nachschub dort oben; ich bin bereit, dir so viel zu geben, wie ich in Eisen zurückbekomme, zum vereinbarten Tauschkurs.«

Sie zischte durch die zusammengepressten Zähne und starrte ihr Getränk an. »Pallis, ich hasse es zu betteln. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich das hasse. Aber wir brauchen diesen Nachschub. Aus unseren Wasserhähnen kommt nur noch eine schmutzige Brühe. Wir sind krank, wir sterben …«

Er trank aus. »Hör auf damit, Sheen«, sagte er in einem raueren Ton, als er beabsichtigt hatte.

Sie hob den Kopf und fixierte ihn mit zu Schlitzen verengten Augen. »Du brauchst unser Metall, Floßmensch. Vergiss das nicht.«

Er atmete tief durch. »Sheen, wir haben noch eine weitere Quelle. Du weißt das. Die alte Besatzung hatte zwei Sternenkerne gefunden, die sich in hübschen Kreisen um den Kern des Nebels drehen …«

Sie lachte leise. »Und weißt du, dass das andere Bergwerk nicht mehr produziert? Oder etwa doch, Pallis? Wir wissen noch nicht, was mit ihm geschehen ist, nur, dass es nicht mehr produziert. Lassen wir also diese Scharade.«

Scham wallte in ihm auf; er fühlte sein Gesicht rot werden und stellte sich seine Narben vor, wie sie als fahles Netz hervortraten. Sie wussten es also. Wenigstens, dachte er düster, wenigstens hatten wir das einzige andere Bergwerk des Nebels evakuiert, als jener Stern zu dicht an ihm herunterfiel. Wenigstens waren wir dazu anständig genug. Aber wir waren nicht anständig genug, um in dieser unangenehmen Sache die Wahrheit zu sagen, denn wir wollten unsere Dominanz über diese Leute aufrechterhalten …

»Sheen, das führt zu nichts. Ich tue nur meine Arbeit, und auf alles andere habe ich keinen Einfluss.« Er reichte seine Flasche zurück. »Du hast eine Schicht, um dir zu überlegen, ob du meine Bedingungen akzeptierst. Dann fahre ich ab, egal, wie du dich entschieden hast. Und – Sheen, überlege doch mal: Wir können unser Eisen viel leichter recyceln als ihr eure Nahrung und euer Wasser.«

Sie musterte ihn leidenschaftslos. »Geh zum Teufel, Floßmann!«

Pallis fühlte, wie seine Schultern einsackten. Er wandte sich um und ging langsam zur nächsten Wand, von wo aus er zu dem Baumseil springen konnte.

Eine Gruppe Mineure, die Eisenplatten auf ihren Rücken gebunden hatten, kletterte den Baum hinauf. Unter der Aufsicht des Piloten wurden die Platten in großen Abständen sicher am Rand des Baumes befestigt. Auf dem Rückweg zum Gürtel waren die Bergleute mit Körben voll frischer Lebensmittel und Wasser beladen.

Rees, der die Szene aus dem Laub beobachtete, konnte nicht verstehen, warum so viele Lebensmittelkörbe im Baum zurückgelassen wurden.

Er hatte sich dicht an einen über einen halben Meter starken Ast geschmiegt und achtete sorgfältig darauf, sich nicht die Handflächen an dem messerscharfen Grat aufzuschneiden – zudem hatte er sich in eine Blätterschicht eingewickelt. Er konnte nicht sagen, wie spät es war, aber das Be- und Entladen des Baumes musste mehrere Schichten in Anspruch genommen haben. Seine Augen waren weit geöffnet, und er konnte nicht einschlafen. Er wusste, dass sein Fehlen bei der Arbeit mindestens ein paar Schichten lang unbemerkt bleiben würde – und, so dachte er mit einer leisen Traurigkeit, es würde noch länger dauern, bis irgend jemand sich die Mühe machen würde, nach ihm zu suchen.

Nun, die Welt des Gürtels lag jetzt hinter ihm. Welche Gefahren die Zukunft auch immer für ihn bereithalten mochte, es würden auf jeden Fall neue sein.

Er hatte eigentlich nur zwei Probleme: Hunger und Durst …

Gleich nachdem er sein Versteck im Laub bezogen hatte, war ein Malheur passiert. Einer der Arbeiter des Gürtels war über seinen kärglichen Proviantvorrat gestolpert; im Glauben, dass dieser Vorrat den verhassten Besatzungsmitgliedern des Floßes gehörte, hatte er die Bissen unter seinen Kameraden aufgeteilt. Rees hatte Glück gehabt, dass er selbst nicht entdeckt worden war … aber nun hatte er keinen Proviant mehr, und das Rumoren in seinem Bauch hatte nun auch seinen Kopf ergriffen.

Aber endlich war das Be- und Entladen beendet; und als der Pilot den Baum startete, vergaß Rees sogar seinen Durst.

Als der letzte Bergarbeiter zum Gürtel hinuntergerutscht war, wickelte Pallis das Seil auf und hängte es an einen am Baumstamm angebrachten Haken. Sein Besuch war also zu Ende. Sheen hatte nicht mehr mit ihm gesprochen, und für einige Schichten hatte er das mürrische Schweigen von Fremden ertragen müssen. Er schüttelte den Kopf und wandte seine Gedanken mit einiger Erleichterung dem bevorstehenden Flug zu. »Komm, Gover, rühr dich! Die Kessel müssen an der Unterseite des Baumes angebracht, gefüllt und angezündet sein, bevor ich mit dem Aufwickeln dieses Seiles fertig bin. Oder möchtest du lieber auf den nächsten Baum warten?«

Gover machte sich vergleichsweise entschlossen an die Arbeit, und bald breitete sich eine Rauchwolke unter dem Baum aus, die den Gürtel und seinen Stern verdeckte.

Pallis stand dicht am Stamm, wobei seine Hände und Füße das energische Pulsieren des Saftes spürten. Es war beinahe, als könne er die Gedanken des Baumes lesen, der auf die sich unter ihm ausbreitende Dunkelheit reagierte. Der Stamm summte hörbar; die Zweige stießen in die Luft; das Laub wogte und raschelte, und Skitters taumelten umher, verwirrt vom abrupten Wechsel der Windgeschwindigkeit; und dann hob die große Drehplattform mit einem grotesk wirkenden Stoß von dem Stern ab. Der Gürtel und das Elend seiner Menschen schrumpften auf Spielzeuggröße zusammen und verschwanden langsam im Nebel; und Pallis, Hände und Füße gegen das fliegende Holz gepresst, war da, wo er sich am glücklichsten fühlte.

Seine Zufriedenheit dauerte ungefähr anderthalb Schichten an. Er ging auf der hölzernen Plattform umher und sah schwermütig zu, wie die Sterne durch die stille Luft glitten. Der Flug war nicht gerade sanft. Oh, Govers ausgedehnte Schlafphasen waren dadurch nicht zu stören, aber für Pallis’ empfindliche Sinne war es, als ob er während eines Sturmes auf einem Skitter reiten würde. Er presste das Ohr an den drei Meter hohen Baumstamm und konnte fühlen, wie der bole in seiner Vakuumkammer herumwirbelte, um die Rotation des Baumes auszugleichen.

Es hatte den Anschein, als ob der Baum nicht gleichmäßig beladen worden wäre. Aber das war unmöglich. Er hatte das Verstauen der Ladung selbst beaufsichtigt, um sicher zu sein, dass die Masse gleichmäßig am Rand entlang verteilt wurde. Eine solche Unregelmäßigkeit nicht bemerkt zu haben, wäre für ihn gewesen wie … nun, als ob er vergessen hätte, zu atmen.

Was also war die Ursache?

Mit einem ungeduldigen Brummen stieß er sich von dem Baumstamm ab und stapfte zum Rand. Er machte sich an den vertäuten Ladungen zu schaffen, überprüfte nochmals systematisch jede Platte und jeden Korb und rief sich den Vorgang des Beladens ins Gedächtnis zurück …

Er verlangsamte seine Schritte und hielt inne. Einer der Lebensmittelkörbe war aufgebrochen worden; seine Plastikhülle war an zwei Stellen aufgerissen, und der Korb selbst war halbleer. Schnell überprüfte er einen in der Nähe stehenden Wasserbehälter. Er war ebenfalls aufgebrochen und leer.

Er fühlte heißen Atem in die Nase steigen. »Gover! Gover, komm her!«

Der Junge näherte sich langsam; sein schmales Gesicht zeigte eine ängstliche Anspannung.

Pallis stand unbeweglich da, bis Gover auf Armeslänge herangekommen war; dann holte er mit seiner rechten Hand aus und packte den Assistenten an der Schulter. Der Junge schnappte nach Luft und wand sich, konnte sich aber nicht aus dem Griff befreien. Pallis zeigte auf die beschädigten Körbe. »Was sagst du dazu?«

Der Blick, mit dem Gover die Körbe anstarrte, zeigte, dass er wirklich schockiert war.

»Ich hab’ es nicht getan, Pilot. Ich würde niemals so dumm sein … ah!«

Pallis bohrte seinen Daumen tiefer in das Gelenk des Jungen und suchte nach dem Nerv. »Glaubst du, ich habe diese Lebensmittel vor den Bergleuten versteckt, damit du dein nutzloses Gesicht damit fettfressen kannst? Jetzt, du kleiner Hosenscheißer, hält mich nichts mehr davon ab, dich über Bord zu werfen. Wenn ich zum Floß zurückkomme, werde ich dafür sorgen, dass kein einziger Tag deines Lebens vergeht, ohne dass die Welt erfährt, was für ein verlogener, diebischer … kleiner …«

Er brach ab, und seine Wut verzog sich.