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Mit dieser einzigartigen Storysammlung beweist der britische Kultautor Stephen Baxter einmal mehr, dass er zu den Besten seines Fachs gehört – und dass er die kurze Form ebenso meisterhaft beherrscht, wie die großen Epen. Ob er uns nun mit zurück in die Welt von Proxima und Ultima nimmt oder sich mit seinen Alternate-History-Geschichten vor dem großen Terry Pratchett verneigt – Stephen Baxter hat mit Obelisk ein Werk vorgelegt, das sich kein Science-Fiction-Fan entgehen lassen sollte.
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Seitenzahl: 655
Das Buch
Im Jahr 2160 wird das Alpha-Centauri-System durch die Menschen kolonisiert und die Raumfahrt durch die Entdeckung außerirdischer Artefakte auf dem Planeten Per Ardua revolutioniert. Plötzlich ist es den Menschen möglich, mit Lichtgeschwindigkeit zu reisen, das Universum ist grenzenlos geworden und selbst der abgelegenste Planet nur einen Schritt entfernt. Das Abenteuer der Zukunft beginnt … In seinen Proxima-Ultima-Stories, so wie in den anderen in diesem Band versammelten Geschichten, stellt der englische Autor Stephen Baxter einmal mehr unter Beweis, dass er zurecht zu den bedeutendsten Science-Fiction-Autoren der Gegenwart zählt. Die Abgründe der Evolution, der Erstkontakt mit Außerirdischen, die Reise in weit entfernte Galaxien und Zeiten, die Möglichkeit, dass die Geschichte ganz anders hätte verlaufen können – es gibt kein Science-Fiction-Thema, das Baxter nicht mit intellektuellem Scharfsinn und stilistischer Brillanz bearbeitet hat.
Der Autor
Stephen Baxter, 1957 in Liverpool geboren, studierte Mathematik und Astronomie, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er zählt zu den international bedeutendsten Autoren wissenschaftlich orientierter Literatur. Etliche seiner Romane wurden mehrfach preisgekrönt und zu internationalen Bestsellern. Stephen Baxter lebt und arbeitet im englischen Buckinghamshire. Zuletzt sind bei Heyne erschienen: Die letzte Arche, Evolution, Proxima sowie Das Ende der Menschheit, die offizielle Fortsetzung von H. G. Wells’ großem Klassiker Krieg der Welten.
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STEPHEN BAXTER
obelisk
Erzählungen
Aus dem Englischen übersetztvon Peter Robert
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Titel der Originalausgabe
OBELISK
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Deutsche Erstausgabe 04/2019
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2016 by Stephen Baxter
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe undder Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81637 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-22523-0V001
www.diezukunft.de
Für Lloyd
Inhalt
PROXIMA – ULTIMA
Auf der Chryse-Ebene
Reise nach Amasien
Obelisk
Flucht aus Eden
ANDERE VERGANGENHEITEN
Das Jubilee-Komplott
Das Schicksal und die Feuerlanze
Das niemals blinzelnde Auge
Das Darwin-Anathema
Der Mars bleibt bestehen
Eagle Song
ANDERE GEGENWARTEN
Die Petravon-Ratten
Die Venus-Invasion
ANDERE ZUKÜNFTE
Turings Äpfel
Artefakte
Vacuum Lad
Vabanque
StarCall
NACHWORT
Auf der Chryse-Ebene
»Du hast ja nicht mal ein Foto von ihr gesehen«, sagte Jonno, während er schnaufend in die Pedale trat.
»Sie heißt Hiroe«, sagte Vikram.
»Deine Zukünftige aus dem Hellas-Becken!«
»Halt die Klappe.«
Jonno lachte keuchend.
Das Flugrad sackte ab, und Vikram musste sich anstrengen, um sie wieder auf die richtige Höhe zu befördern. So war das immer mit Jonno. Mit seinen fünfzehn Jahren war er genauso alt wie Vikram, aber ein paar Zentimeter kleiner und einige Kilo schwerer, was genügte, um das Rad aus dem Gleichgewicht zu bringen. Jonnos Atem reichte nicht, um zu reden und zu radeln. Aber er redete trotzdem.
Vikram hatte nichts dagegen, seinem Freund die Arbeit abzunehmen. Er mochte das Gefühl, wie seine Beine pumpten und sein Atem tiefer wurde, während ihn der Anzug hauteng umschloss, die zerknitterte Landschaft langsam unter ihnen dahinzog und die durchscheinenden Tragflächen über dem Gestell des Flugrads das buttergelbe Licht des marsianischen Nachmittags einfingen. Ihm gefiel der Gedanke, dass es seine und nur seine Muskeln waren, die sie durch den Himmel trieben.
Aber Jonno sprach weiter über Hiroe. »Du machst dir zu viele Sorgen. Nur weil du noch kein Foto gesehen hast, muss sie ja nicht unbedingt so aussehen, als wäre sie von einem Steinkrabbler ausgebrütet worden.«
»Schnauze! Wo sind wir überhaupt?«
Jonno warf einen raschen Blick nach unten und tippte auf den Wristmate an seinem Handgelenk. »Das ist die Chryse-Ebene, glaube ich. Soeben haben wir die Grenze zum Hochland überquert. Wow, schau dir diese Ausflusskanäle an.« Wo vor Jahrmilliarden gewaltige Ströme für kurze Zeit von den südlichen Hochgebieten des Mars ins Nordmeerbecken geflossen waren, dabei tiefe Täler gegraben und Megatonnen von Felsbrocken über die Ebenen verstreut hatten. »Was für ein Anblick das mal gewesen sein muss.«
»Ja.«
»Interessiert dich nicht, was?«
Vikram trat achselzuckend in die Pedale. »Ich konzentriere mich lieber auf die Fahrt. Darauf, die Aufgabe zu erledigen.«
»Diese Wetterstationen in Acidalia zu überprüfen. Um die Punkte für eine weitere Eins zu kriegen. Du hast keine Fantasie, Mann.«
Etwas lenkte Vikram ab. Seltsame Lichter am Himmel. Er kniff die Augen zusammen und tippte an seine Sichtscheibe, um sie ein wenig aufzuhellen.
»Oder du hast die falsche Art von Fantasie«, sagte Jonno. »So wie bei Hiroe. Auf den Hochzeitsfotos könntest du ja eine Verkleidung tragen …«
Vikram zeigte hin. »Was ist das?«
Der Himmel war voller leuchtender Spuren.
Als der Lichtschein des Plasmas um ihre Muschelschale herum verblasste und den Blick auf die knorrige Landschaft des Mars unter ihr freigab, stieß Natalie unwillkürlich einen Jubelschrei aus. Sie hatte es geschafft. Flach auf der großen Scheibe der Muschelschale liegend, war sie aus dem Orbit heruntergekommen und hatte die Hitze des Atmosphäreneintritts überstanden, und nun glitt sie durch die Luft einer anderen Welt. Die Luft des Mars war dünner als die der Erde, reichte aber auch höher hinauf, und Natalie war hoch oben, so hoch, dass die Welt unter ihr gekrümmt war. Die geschrumpfte Sonne weit weg zu ihrer Linken stand tief und warf lange Schatten über die von Kanälen durchzogenen Ebenen.
Und überall um sie herum sah sie die Kondensstreifen, die von den anderen Schülern ihrer Gruppe in den Himmel gekratzt worden waren, Dutzende von ihnen auf ihren Schalen.
Benedictes Stimme knisterte in ihren Ohren. »Bist du diesmal auf deiner Schale geblieben, Nat?«
»Ja, Benedicte, bin ich.«
»Okay. Wir sind über der Chryse-Ebene, wie angekündigt. Wetten, dass ich den Viking-Lander als Erste sehe?«
»Keine Chance!« Und Natalie schoss vorwärts und verlagerte ihr Gewicht, sodass ihre Muschelschale in die dichter werdende Luft eindrang.
Aber sie war nicht an den Mars gewöhnt. Sie bekam den Winkel nicht richtig hin. Das spürte sie sofort.
»Du gehst zu steil runter, Natalie. Zieh hoch … Ich höre dich nicht mehr. Natalie. Natalie!«
Die Muschelschale grub sich tiefer in die Luft und begann zu vibrieren.
Das war nicht gut.
Und da schien ihr etwas im Weg zu sein.
»Muschelschalenspuren«, sagte Jonno. Er beugte sich zur Seite, damit er um den Rand der Tragfläche herum den Himmel sehen konnte. »Erdwurm-Touristen.«
Sie gerieten in eine Turbulenz, und das Flugrad bockte und erzitterte, die Takelage knarrte. »Hey, komm wieder rein, Mann«, sagte Vikram. »Ich habe Schwierigkeiten, uns auf Kurs zu halten.«
»Schau dir diese Babys an«, sagte Jonno sehnsüchtig, immer noch hinausgebeugt. »Weißt du, eines Tages, wenn ich’s mir leisten kann …«
Sie kam fast senkrecht aus dem Himmel, eine leuchtend grüne Scheibe, auf deren Rücken sich jemand festklammerte. Vikram sah sogar einen ihm zugewandten Kopf, ein erschrockenes Gesicht hinter einem Visier, einen zu einem »O« geöffneten Mund.
Er zerrte am Steuerknüppel. Das große, zerbrechliche Ruder des Flugrads drehte sich knarrend. Es reichte nicht. Es würde auf keinen Fall reichen.
Die Muschelschale durchschnitt das Flugrad wie eine Klinge ein Stück Papier. Das Rad faltete sich zusammen, verkrumpelte und begann zu fallen; es trudelte in Spiralen zur Chryse-Ebene hinab.
Jonno stöhnte. Vikram sah, dass ihm die Instrumentenkonsole gegen die Brust gerammt worden war. Vikram kam nicht einmal an ihn heran.
Er betätigte die Bedienungselemente. Nichts reagierte, und die Maschine war sowieso total verbogen. Sie stürzten ab. Ihre beste Hoffnung war, dass die fragile Konstruktion des Rades ihren Fall einigermaßen abbremsen würde, sodass sie sich aus eigener Kraft von der Absturzstelle entfernen konnten. Doch auf dem Weg nach unten wurde das Trudeln immer stärker, und das Gerät knirschte und zerbrach.
Die Muschelschale steckte ebenfalls in Schwierigkeiten. Vikram sah, wie sie in die Tiefe stürzte.
Unter ihnen zeichnete sich der von Felsen übersäte Boden von Chryse ab. Die Details explodierten. Vikram bereitete sich auf den Aufprall vor.
Natalie machte erst einen, dann einen weiteren Schritt vorwärts. Roter Staub zerstob unter ihren Füßen. Sie ging auf dem Mars, zum ersten Mal in ihrem Leben. Bei der geringen Schwerkraft fühlte es sich so an, als würde sie schweben.
Sie befand sich auf einer von Felsbrocken übersäten Ebene aus staubigem Sand. Die Sonne stand klein und tief an einem dunkelroten Himmel; die Felsbrocken, die so aussahen, als wären sie seit einer Milliarde Jahren nicht mehr gestört worden, warfen lange, scharfe Schatten. Sie sah nichts und niemanden, keine Fahrzeuge oder Gebäude. Sie war allein.
Sie hätte nicht hier sein sollen.
Sie konnte sich nicht erinnern, von der Muschelschale abgestiegen zu sein. Nur der heranrasende Boden, ihr verzweifelter Versuch, den Rand der Schale nach oben zu bringen, damit sie wenigstens in flachem Winkel landete, der Schlag in die Magengrube, als die Unterseite der Schale aufschlug und knirschend über den Staub zu rutschen begann …
Sie drehte sich um. Da lag die Muschelschale, geborsten und zerbeult. Und eine mehrere Hundert Meter lange Furche zog sich durch den Staub, wo sie entlanggeschlittert war. Die Muschelschale verfügte über ein kleines Flüssigkeitsraketenaggregat, das sie nach ihrem Gleitflug durch die Luft in die Umlaufbahn hätte zurückbefördern sollen. Aber die kleinen, kugelförmigen Treibstofftanks waren aufgerissen, und es hätte sie sowieso nicht in den Orbit bringen können, nicht von hier aus.
Ihr Anzug war bequem und warm. Sie hörte das Surren der Ventilatoren in ihrem Tornister. Versuchsweise bewegte sie die Arme und Beine, die Finger. Nichts gebrochen, und ihr Anzug funktionierte und erhielt sie am Leben. Es war ein Wunder, dass sie sich auf eigenen Beinen von der Absturzstelle hatte entfernen können, aber so war es. Jetzt musste sie nur noch von diesem Steinbrocken wegkommen.
»Benedicte«, rief sie. »Doktor Poulson? Ich bin gelandet. Irgendwo auf der Chryse-Ebene, schätze ich …«
Nichts. Keine Antwort. Ihr Anzugfunk besaß nur eine sehr begrenzte Reichweite. In der Muschelschale gab es Verstärker und eine Antenne … Aber die Schale war ein Wrack.
Sie hatte also keine Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen. Sie konnte mit niemandem sprechen.
Der Schock traf sie wie ein Faustschlag, noch schlimmer als die Bruchlandung selbst. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie von den Netzen abgeschnitten, die Erde und Mond und den Weltraum weiter draußen umspannten. Es war ein unheimliches Gefühl, als ob sie nicht existierte.
Aber man würde sie suchen. Benedicte hatte gesehen, wie sie auf der Jagd nach der Viking-Sonde hinuntergegangen war. Und von der Umlaufbahn aus sollte man die Muschelschale und die von ihr bei der Bruchlandung in den Boden gegrabene Schneise sehen können … Allerdings neigte Natalie zur Verschwiegenheit, wenn sie etwas vorhatte, wie zum Beispiel, die Viking zu finden. Sie hatte gar nicht gemeldet, dass sie in Schwierigkeiten steckte.
Also wusste wahrscheinlich nicht einmal Benedicte, dass sie verschwunden war. Es konnte viel Zeit verstreichen, bis jemand ihr Fehlen bemerkte.
Der Muschelschalenflug hatte nicht lange dauern sollen. Sie hatte nichts zu essen, kein Wasser bis auf die paar Schlucke in dem Beutel in ihrem Anzug. Keinen Unterschlupf, außer vielleicht ihren aufblasbaren Notfallsack. Die Energie in ihrem Anzug würde höchstens noch für ein paar Stunden reichen.
Es schien dunkler zu werden. Wie lang war ein Marstag? Wie kalt wurde es nachts auf dem Mars? Sie verspürte einen Anflug von Panik, ein schwarzer Schatten auf ihrem Gemüt.
Sie drehte sich um und entfernte sich von der Schale, um auf andere Gedanken zu kommen. Die Bewegungen auf dem Mars hatten etwas Traumähnliches, irgendwo zwischen Laufen und Schweben. »Tja, Benedicte«, sagte sie, »wenn du mich jetzt nicht hörst, kannst du dir das später anhören, falls ich geborgen werde. Wenn ich geborgen werde. Hier bin ich also und laufe auf dem Mars herum. Wer hätte das gedacht?« Flach keuchend hielt sie inne. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, sodass ihre Sichtscheibe Spiegelungen warf. »Sonnenuntergang auf dem Mars. Der Himmel ist hier anders. Oh, ich sollte ein paar Fotos machen.« Sie tippte auf ein Bedienungselement seitlich an der Sichtscheibe. Die Sonne war klein und von einem elliptischen gelben Lichtfleck umgeben, und sie hing in einem braunen Himmel. Es sah unwirklich aus. Sie fröstelte, obwohl sich ihre Anzugtemperatur nicht verändert haben konnte. Die geschrumpfte Sonne machte den Mars zu einem kalten, abgelegenen Ort.
Sie schaute zu der zerbeulten Muschelschale zurück. Eine einzelne Reihe frischer Fußspuren im Staub führte dorthin, wo sie stand. Niemand wusste, dass sie hier war. Sie lief herum, atmete und redete. Aber war sie in Wahrheit nicht schon tot?
Das Land war nicht vollständig eben, wie sie jetzt sah. Sie bemerkte kleine Sanddünen. Und da war etwas weit weg im Norden, am Horizont. Es sah aus wie ein Haufen Felsbrocken. Vielleicht eine Steinpyramide? Etwas von Menschen Gemachtes. Ihre Erregung hielt sich in Grenzen. Ein Steinhaufen würde sie nicht am Leben erhalten. Aber dort konnte sich eine Rettungsbake befinden.
Sie ging los, in Richtung der »Steinpyramide«. Immerhin war das ein Ziel. »Geh weiter, Natalie. Geh, denk nicht groß nach …«
»Mit wem sprichst du?«
Das einsame Mädchen fuhr herum und wirbelte dabei Staub auf.
»Hat sie uns jetzt gehört?« Jonno stützte sich auf Vikram. Sie humpelten auf das Mädchen und das Wrack ihrer Muschelschale zu, Schritt für Schritt durch den klebrigen Staub.
»Ich glaube schon«, sagte Vikram. »Das Suchsystem sagt, es hat diesmal ein Ping empfangen. Aber ihr Funkgerät muss wirklich eine geringe Reichweite haben. Wir waren praktisch schon über ihr, bevor sie uns gehört hat.«
»Mein Hauptfunksystem ist in der Muschelschale. Und die ist kaputt.«
»Komischer Akzent«, meinte Vikram.
»So ist das bei Leuten von der Erde.« Jonno versuchte, den Kopf zu heben. »Ich kann sie nicht besonders gut sehen.«
»Sie trägt einen dieser hautengen Anzüge«, sagte Vikram verächtlich. »Hellgrüne Streifen. Sehen aus wie aufgemalt. Typisch Erdwurm.«
Sie waren jetzt nur noch ein paar Meter voneinander entfernt. Das Mädchen stemmte die Hände in die Hüften und funkelte sie an. »Ihr seid Marsianer, hm?«
»Was glaubst du wohl?« Vikram ließ den Blick theatralisch in die Runde schweifen. »Also, mit wem hast du denn nun geredet? Wer ist Benedicte? Deine Fantasiefreundin?«
»Ich zeichne meine Beobachtungen auf«, verteidigte sie sich. »Ich heiße Natalie Rivers.«
»Ich bin Jonno. Das ist Vikram.« Jonno schnappte nach Luft und massierte sich durch den Anzug hindurch die Brust.
Vikram konnte ihr Gesicht hinter der staubigen, zerkratzten Sichtscheibe erkennen. Hohe Wangenknochen, die von der tief stehenden Sonne betont wurden. Sie runzelte unsicher die Stirn.
»Seid ihr aus Eden?«, fragte sie.
Jonno lachte, aber das tat ihm weh, und er stöhnte. »Wieso denken die Erdwürmer immer, alle Marsianer seien aus Eden? Nein. Wir sind aus Rebus.«
»Auch eine dieser Kuppelstädte.«
»Ja, auch eine dieser Kuppelstädte.«
»Also, was wollt ihr? Seid ihr hier, um mich zu retten?«
Vikram schnaubte. »Sehen wir so aus? Ich sage dir, wer wir sind. Wir sind die beiden, die du mit deiner dämlichen Muschelschale beinahe umgebracht hättest.«
Ihr Mund öffnete sich zu einem »O«. »Da war irgendwas im Weg, als ich runtergekommen bin.«
»Das«, sagte Jonno, »war unser Flugrad. Jetzt ist es ein Haufen Schrott.«
»Ihr Erdwürmer solltet euch von unserem Luftraum fernhalten«, fauchte Vikram.
»Und ihr hättet aus dem Weg gehen sollen«, schoss sie zurück. »Wir waren ein ganzer Schwarm. Warum seid ihr nicht einfach …«
»Warum bist du nicht …«
»Das bringt doch nichts«, keuchte Jonno. »Lasst uns die Schuldfrage klären, wenn wir alle in Sicherheit sind. Einverstanden?«
Natalie blieb stumm, und Vikram nickte knapp.
»Also«, sagte sie. »Wie sieht der Plan aus?«
Vikram lachte. »Plan? Welcher Plan?«
»Ihr müsst doch Funkgeräte haben. Wissen eure Leute, wo ihr seid?«
Vikram zögerte.
»Sag ihr die Wahrheit«, sagte Jonno.
»Wir haben keine Funkgeräte«, gab Vikram zu. »Unser primäres Kommunikationssystem war ins Flugrad eingebaut.«
Sie nickte. »So wie meins in die Muschelschale. Und wo ist euer Reservegerät?«
Vikram holte tief Luft. »In meinem Zimmer, daheim in Rebus.«
Natalie starrte ihn an. »Also, von allen dämlichen …«
»Spar’s dir«, sagte Vikram verdrossen. »Das bekomme ich von Jonno schon seit dem Absturz zu hören.«
»Wir machen alle Fehler«, erklärte Jonno. »Wichtig ist, was wir jetzt tun.«
Natalie nickte. »Vielleicht gibt es bei dieser Steinpyramide eine Rettungsbake.«
Vikram runzelte die Stirn. »Was für eine Steinpyramide?«
»Ich habe sie vorhin gesehen.« Sie stieg auf eine kleine Erhebung und zeigte hin. »Da drüben. Kommt.« Sie ging ohne zu zögern los, obwohl Vikram schadenfroh sah, dass sie in der anscheinend ungewohnten Schwerkraft ein paarmal stolperte.
Da ihm nichts Besseres einfiel, half er Jonno auf die Beine und stapfte hinter ihr her.
»Ich hab noch nie was von einer Steinpyramide gehört«, schnaufte Jonno. »Oder von einer Rettungsbake.«
»Nein.«
»Ganz schön selbstbewusst, die Kleine, was?«
»Ja. Aber was die Steinpyramide betrifft, liegt sie falsch. Das wird bloß ein Haufen Felsbrocken sein.«
Wie sich herausstellte, war es mehr als ein Haufen Felsbrocken.
Natalie stand da, den Blick auf die »Steinpyramide« gerichtet. Vikram half Jonno, sich in eine Wehe aus weichem Staub zu setzen.
Die »Steinpyramide« war eine Maschine – groß, gekrönt von einer staubgefüllten Parabolschüssel in etwa zwei Meter Höhe, über ihren Köpfen. Der Rumpf war eine sechsseitige Schachtel auf vier Beinen. Ein Wald von Gerätschaften nahm die obere Fläche der Schachtel ein, und aus der Seite ragte ein Arm mit einem im Boden steckenden Grabwerkzeug am Ende. Staub hatte sich an der Maschine aufgehäuft, und ihre Oberflächen waren vergilbt und rissig, weil sie so lange dem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen waren. Offenbar stand sie schon sehr lange hier.
An einem Pfosten war eine blaue Plakette angebracht, ein Schild der planetarischen Denkmalschutzbehörden. Wörter in Englisch, Französisch, Indisch und Chinesisch. Vikram machte sich nicht die Mühe, sie zu lesen. Es spielte keine Rolle, was dort stand.
»Da hast du deine Steinpyramide«, sagte er zu Natalie. »Und deine Rettungsbake. Eine blöde alte Raumsonde.«
»Nicht bloß irgendeine.« Vikram sah, dass sie mit ihrem Visier Fotos machte. »Das ist Viking Eins. Das erste erfolgreiche Landemodul.«
Vikram runzelte die Stirn. »Du meinst, vor Cao Xi?«
»Lange vor ihm. Er war der erste Mensch, der hier gelandet ist. Aber die Amerikaner und Russen haben die ersten Maschinen hergeschickt.«
»Die Amerikaner und wer? Ach, egal.«
Ein leichter Wind wirbelte Staub auf und wehte ihn gegen das stumme Wrack. »Dann ist das Ding schon jahrhundertelang hier«, sagte Jonno.
»Na ja – ungefähr hundertdreißig Jahre. Oder hundertvierzig. Das habe ich gesucht, als ich mit der Muschelschale runtergegangen bin.«
»Sieht so aus, als hättest du’s gefunden«, sagte Vikram. »Glückwunsch. Eine Art Roboter, oder? Also hat es weder einen Wassertank noch eine Erste-Hilfe-Ausrüstung. Nützt uns folglich nichts.«
»Ach, halt die Klappe, Staubgräber.« Ihre kultivierte Stimme war voller vernichtender Verachtung. »Ich hab’s wenigstens versucht. Was hast du getan, außer zu stöhnen und zu meckern?«
Vikram hätte etwas darauf erwidert, aber Jonno kam ihm zuvor. »Da hat sie nicht ganz unrecht. Es wird bald Nacht sein.«
Natalie runzelte die Stirn. »Sie werden uns finden, bevor es dunkel wird. Ganz bestimmt.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, sagte Jonno. »Weiß jemand, dass du hier unten bist? Nein? Uns wird auch niemand vermissen – oder frühestens in ein paar Tagen, wenn wir uns das nächste Mal melden müssten.«
»Ihr müsst euch nur alle paar Tage melden?«
Vikram zuckte mit den Achseln. »Wir ›Staubgräber‹ können selbst auf uns aufpassen.«
»Kommt mir nicht so vor. Die werden uns sehen.« Natalie blickte nach oben. »Ihr habt doch bestimmt Überwachungssatelliten.«
»Nur wenige − und in großen Abständen«, sagte Jonno. »Wir sind hier nicht auf der Erde, sondern auf dem Mars. An der äußeren Grenze.«
»Aber dieser blöde kleine Steinbrocken von einem Planeten – er ist so klein! Wie kann man hier überhaupt verloren gehen?«
»Es ist ein blöder kleiner Steinbrocken mit ungefähr genauso viel Landfläche wie die Erde«, erwiderte Jonno. »Das meiste davon unerforscht. Wir sind nur ein paar Tausend, weißt du. Marsianer. Jede Menge Platz, um verloren zu gehen. Und außerdem, was meinst du, wie gut wir vom Weltraum aus zu sehen sind?«
Sie lachte. »Schau dir die Farbe meines Anzugs an!« Doch als sie den Blick senkte, sah sie, dass das leuchtende grün-blaue Muster schon von rostfarbenem Staub überdeckt wurde. Sie versuchte, den Staub mit ihren behandschuhten Händen wegzuwischen, aber er blieb haften.
Vikram lächelte gehässig. »Anhängliches Zeug, was? Natürliche Tarnung.«
»Jetzt hört mal«, sagte Jonno. »In ein, zwei Tagen werden sie uns vermissen – deine Leute oder unsere –, und sie werden uns suchen kommen. Aber wir müssen mindestens eine Nacht überstehen. Auf dem Mars wird es schnell kalt. Wir haben jetzt schon fünfundzwanzig Grad unter null. Bis Tagesanbruch werden die Temperaturen wahrscheinlich auf minus neunzig Grad sinken …«
»Ich verstehe«, sagte Natalie. Widerwillig bewunderte Vikram sie dafür, dass sie so gelassen blieb. »Also, was machen wir?«
»Wir haben ein bisschen was zu essen und etwas Wasser in unseren Tornistern«, erklärte Vikram. »Die wichtigsten Erste-Hilfe-Sachen. Aber wir haben keinen Unterschlupf. Wir hätten vor Einbruch der Nacht unser Lager erreichen sollen.«
»Ich habe einen aufblasbaren Sack«, sagte Natalie. »Aber sonst nichts, keine Nahrung.«
»Dann teilen wir.« Jonno versuchte verbissen, auf die Beine zu kommen. »Wenn wir nämlich nicht teilen, sind wir alle erledigt. Vielleicht können wir die Viking-Sonde benutzen, um ein provisorisches Zelt zu errichten …«
Natalie holte ihren aufblasbaren Sack aus dem Tornister. Es war ein Beutel aus versilbertem Material, zusammengefaltet zu einem Paket, das kleiner war als ihre Faust, doch als sie ihn aufschüttelte, öffnete er sich zu einem kugelförmigen Gebilde mit einem Durchmesser von etwa zwei Metern.
Jonno schlug vor, ihn auf die Viking-Plattform zu legen. Als Natalie fragte, warum, sagte Vikram: »Damit wir nicht von den Steinkrabblern gefressen werden. Die kommen nachts rauf, weißt du.«
Natalie schaute nach unten. Jeder wusste, dass es tief im Innern des Marsgesteins Leben gab, einheimisches Leben – Mikroben, die irgendwie mit dem irdischen Leben verwandt waren. Angeblich gab es an der Oberfläche sogar ein paar Stellen mit Flechten. Aber sie hatte noch nie etwas von Monsterkrabbeltieren gehört, die in der Dunkelheit heraufkamen.
Jonno hatte Mitleid mit ihr. »Er zieht dich bloß auf. Nur damit wir nicht auf dem kalten Boden sitzen müssen, das ist alles.«
Vikram lachte, und Natalie wandte sich wütend ab.
Mit einem Stück Seil, das die Jungen aus ihrem zerstörten Flugrad geborgen hatten, befestigten sie den Sack am Antennenmast der Viking. Dann kletterten sie in ihren Anzügen unbeholfen auf die Plattform, stiegen in den Sack, und Natalie zog mühsam den Reißverschluss zu. Das Zischen von Luft ertönte, und der Sack blähte sich zu einer Kugel auf; dort, wo er gegen die Instrumente der alten Sonde gedrückt wurde, war er ein wenig eingedellt. Die in die Wände des Sacks eingelassenen Lichtfasern begannen schwach zu leuchten, und die Luft erwärmte sich rasch.
Vorsichtig klappte Natalie ihre Sichtscheibe hoch. Die Luft war kalt, roch nach Industriechemikalien und war so dünn, dass ihre Lungen kaum genug davon einsaugen zu können schienen. Aber sie war atembar. Sie schob ihre Haube zurück und öffnete den Reißverschluss am Hals ihres Anzugs. Sie ertappte Vikram dabei, wie er die stoppeligen pinkfarbenen Haare anstarrte, die eine Hälfte ihres Schädels bedeckten, die neueste Mode in Londres.
Während Vikram seinen eigenen Anzug öffnete und Jonno bei seinem half, streifte er Natalie mehrmals, was beide in steifem Schweigen hinnahmen.
Jonno ließ sich von Vikram die Sichtscheibe abnehmen, bestand jedoch darauf, dass sein Anzug geschlossen blieb, und er drückte die Hand gegen die Brust und atmete stoßweise. Es war klar, dass er bei der Bruchlandung verletzt worden war, aber er erlaubte Vikram nicht, sich die Wunde anzusehen. Vikram blieb seinem Freund gegenüber geduldig und ruhig, er ging geradezu sanft mit ihm um und versuchte, ihm Mut zu machen. Wenn er sich so benahm und sie nicht gerade anblaffte, dachte Natalie widerstrebend, schien er gar nicht so übel zu sein. Und er würde auch halbwegs annehmbar aussehen, wenn er sich gewaschen und eine vernünftige Frisur in einem modernen Farbton wie Silber oder Hellblaumetallic gehabt hätte statt in diesem tristen Naturbraun.
Vikram holte Nahrungsriegel aus seinem Tornister und reichte sie herum. Natalie biss in ihren. Es war ein zähes, faseriges Zeug, ein wenig wie Fleisch, aber sie war ziemlich sicher, dass es auf dem Mars weder Kühe noch Schafe gab. Wahrscheinlich kam es aus einem Tank mit Algen. Sie fragte lieber nicht nach. Es schmeckte nicht besonders, füllte aber den Magen.
Zumindest war es kein Problem, dass eine Toilette fehlte. Ihre Anzüge konnten Abfallstoffe verarbeiten. Doch als Vikram ihr Wasser anbot, erfuhr sie, dass es das Produkt des Recyclingsystems seines Anzugs war – also praktisch Vikrams Pisse. Höflich lehnte sie ab.
Vikram berührte die Wand ihrer Unterkunft. »Schickes Teil«, sagte er widerwillig.
»Danke.«
»Wie speichert es die Luft in diesem kleinen Paket, aus dem du es geöffnet hast? Und die Energie für die Wärme und das Licht?«
Natalie hob die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Irgendeine chemische Reaktion«, meinte Jonno. »Wahrscheinlich.« Bei jedem Wort zuckte er zusammen.
»Das ist ein aufblasbarer Notfallsack«, sagte Natalie. »Eigentlich für den Weltraum gedacht. Bei einem Blow-out schließt man sich drin ein und wartet auf Rettung. Es ist für eine Person gedacht, deshalb ist es ein bisschen eng. Sollte zwölf Stunden halten.«
Jonno grunzte. »Dann können wir ihn nur für eine Nacht benutzen.«
Vikram musterte sie. »Du bist also eine Raumfahrerin, ja?«
»Wir sind auf einem Schulausflug«, sagte Natalie, die sich nicht schon wieder ärgern lassen wollte. »Aber ich war auf dem Mond und bin auch bei einem Venus-Flyby dabei gewesen, und jetzt bin ich natürlich hier. Ihr seid wohl schon überall gewesen.«
Jonno lachte, obwohl er dabei eindeutig Schmerzen hatte. »Erdwürmer denken immer, Marsianer verbrächten ihre Zeit damit, durch den Weltraum zu düsen. Wir haben hier unten viel zu viel zu tun.«
»Ich war auf Phobos«, erwiderte Vikram abwehrend. »Einem der Marsmonde.«
»Als du zwei Jahre alt warst!«, sagte Jonno.
Um seine Verlegenheit zu überspielen, nahm Vikram Natalie aufs Korn. »Und du hast bis zum heutigen Tag noch nie einen Fuß auf den Boden des Mars gesetzt, stimmt’s? Das konnte ich daran erkennen, wie du in dieser Schwerkraft durch die Gegend gestolpert bist.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Eine Landung stand bei diesem Ausflug gar nicht auf dem Programm. Der Mars ist so teuer. Selbst die Naturschutzgebiete, jetzt, wo das alles hier ein planetarischer Park ist.«
»Was ist mit den Städten?«
»Die Kuppelstädte? Ich kenne Leute, die dort waren. Auch teuer. Und, na ja, klein. Sogar Hellas, die große chinesische Stadt. Verglichen mit zu Hause …« Da sie für die Nacht mit den beiden Jungen in diesem Sack festsaß, wollte sie nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen. »Ihr müsst das mal von meinem Standpunkt aus sehen. Ich bin in Londres aufgewachsen! Da will man nicht bis zum Mars fliegen und in irgendeinem winzigen, überkuppelten Nest absteigen.«
»Nein«, sagte Jonno. »Also gebt ihr eure Dollars nicht in unseren Läden und Gasthäusern aus, ihr karriolt nur in der oberen Atmosphäre herum und fliegt dann wieder nach Hause. Kein Wunder, dass ihr so beliebt seid.«
»Eigentlich sind es Euros. Ist ja nicht meine Schuld«, sagte sie, weil sie das Gefühl hatte, sich rechtfertigen zu müssen. »Meine Familie hat sogar Verbindungen zum Mars. Mein Großvater war hier eine Zeit lang als Kaufmann tätig. Deshalb heiße ich Natalie. Ich bin nach der Heldin eines alten Buches benannt, das hundert Jahre vor meiner Geburt erschienen ist. Der erste Mensch auf dem Mars, in dem Buch … Wo wolltet ihr eigentlich mit eurem Flugrad hin?«
Vikram begann, etwas von gemeinschaftlichen Aufgaben zu erzählen, von Wartungsarbeiten an Wetterstationen auf der Wassereiskappe des Nordpols.
Aber Jonno fiel ihm ins Wort. »Ich sage dir, wohin Vikram wollte. Überallhin, bloß nicht nach Hellas.«
»Jonno …«
»Was ist in Hellas?«, fragte Natalie rasch.
»Die Frage ist, wer ist in Hellas«, sagte Jonno. »Und die Antwort lautet: eine bezaubernde Lady namens Hiroe.«
Natalie spürte, wie sie errötete, und sie war froh über die trübe Beleuchtung. »Deine Freundin.«
»Nein!«, sagte Vikram. »Nicht meine Freundin. Ich bin ihr noch nicht mal begegnet …«
»Seine Verlobte«, sagte Jonno verschmitzt. »Seine Zukünftige.«
»Halt die Klappe.«
Natalie stellte fest, dass sie noch weniger über diese Marsianer wusste, als sie gedacht hatte. »Du bist verlobt? Wie alt bist du denn?«
»Fünfzehn«, sagte Vikram. »Wie alt bist du?«
»Nicht viel jünger.«
»Es ist eine arrangierte Ehe«, erklärte Jonno. »Ihre Väter sind Geschäftspartner. Hellas ist chinesisch, aber Hiroes Familie lebt dort in einer japanischen Gemeinschaft. Die Väter haben alles geregelt und die Genehmigung der Leute von der genetischen Gesundheit eingeholt. Vikram muss sie nur noch heiraten. Ach ja, und einen Haufen gesunder kleiner Staubgräber zeugen.«
Vikram schien alles andere als glücklich über diese Abmachung zu sein.
»Und er hat sie noch nicht mal kennengelernt? Puh. Das ist echt krass. Auf der Erde gibt es keine arrangierten Ehen. Also, jedenfalls nicht bei uns in Angleterre. In einigen Kulturen vielleicht schon. Wieso auf dem Mars? Das ist so … antiquiert.«
»Wir sind zu wenige«, sagte Vikram. »So einfach ist das. Es gibt immer noch nicht mehr als ein paar Tausend von uns auf dem ganzen Planeten, UN-Leute und Chinesen. Wir müssen vermeiden, dass es zu Inzucht kommt. Deshalb haben wir Systeme, die dafür sorgen, dass so was nicht passiert.«
»Inzucht? Puh! Und, ziehst du das durch?«
Jonno antwortete für Vikram. »Ja, sofern er bis zu seinem sechzehnten Geburtstag keine bessere Option findet. Und eine bessere Option heißt: eine andere, die er lieber mag und die sich genetisch mindestens genauso von ihm unterscheidet wie die bezaubernde Hiroe.«
»So lautet das Gesetz«, sagte Vikram niedergeschlagen. »Es ist meine Pflicht – jedermanns Pflicht, um unsere Zukunft zu sichern. Ach, sei still, Jonno. Schlafen wir ein bisschen. Denn wenn wir morgen keinen guten Tag erwischen, spielt es sowieso keine Rolle mehr, oder?«
»Das sind die ersten intelligenten Worte, die ich heute von dir höre«, sagte Jonno. »Gute Nacht.«
Alle drei rutschten in dem Sack herum, rollten sich zusammen wie Föten, Kopf an Fuß, und versuchten zu schlafen. Knubbelige Teile der alten Viking gruben sich in Natalies Seite. Trotz der geringen Schwerkraft war es unbequem. Sie glaubte, Jonno vor Schmerz wegen der Verletzung, die er den anderen nicht zeigen wollte, leise vor sich hin schluchzen zu hören. Und sie war sich Vikrams Gegenwart bewusst, stark, warm und ruhig.
Sie hörte den leichten Wind des Mars, nur Millimeter von ihrem Kopf entfernt, ein dünnes Zischen, mit dem Sand gegen das Material des Sacks wehte. Sie fragte sich, ob das normal war. Immer wieder musste sie an Vikrams marsianische Steinkrabbler denken, eine ganze Welt bakterieller Gemeinschaften in mehreren Kilometern Tiefe.
Unter all dem lag die Furcht, jene fundamentale, nagende Furcht, von der sie sich seit dem Moment abzulenken versucht hatte, als die Muschelschale in die Tiefe gestürzt war. Die Furcht, dass sie das nicht überleben würde, dass diese triste marsianische Ebene der Ort war, wo sie sterben würde. Noch nie in ihrem Leben war sie so allein gewesen. Sie wünschte, sie könnte mit Benedicte reden − oder mit ihren Eltern. Sie wünschte, sie könnte jemandes Hand halten. Und sei es die von Vikram.
Sie schlief nicht gut.
Und als sie aufwachten, schien sich die Lage sogar noch verschlimmert zu haben.
Es begann mit Jonno. Er wollte Vikram noch immer nicht erlauben, sich die Verletzung anzusehen. Er war schwächer geworden; sein Gesicht war bleich vom Blutverlust.
Immerhin wirkte Natalie unter dieser albernen pinkfarbenen Frisur weiterhin ruhig und gefasst. Vikram nahm an, dass all dies für sie noch seltsamer, noch beängstigender war als für sie beide.
Sie versiegelten ihre Anzüge und öffneten den Reißverschluss von Natalies Schutzsack. Die schwächer werdende Beleuchtung im Innern des Sacks ging in der dünnen marsianischen Morgendämmerung unter, und eine purpurrote Staubwehe fing das Licht ein.
Sie schoben sich aus dem in sich zusammensinkenden Sack und stellten fest, dass alles – der Sack, die alte Viking – mit einer feinen, vom Wind angewehten Staubschicht überzogen war.
»Darunter können sie uns nicht sehen«, sagte Natalie, während sie ärgerlich den Staub von dem Sack schüttelte.
»Hätte schlimmer sein können«, keuchte Jonno. Er hockte auf einer Ecke der Viking. »Auf dem Mars gibt es dauernd Staubstürme. Wir hätten komplett unter einem kilometerhohen Sturm verborgen sein können.«
»Aber sie hat recht«, sagte Vikram. »Selbst wenn sie uns suchen, werden sie uns nicht gesehen haben. Der Sack wird uns nicht helfen, eine weitere Nacht zu überstehen, stimmt’s?« Außerdem hatten sie kaum Proviant. Jeder von ihnen hatte noch einen halben Rationsriegel übrig. Er selbst hatte jetzt schon Hunger. »Wir können nicht bloß hier rumstehen und darauf warten, dass wir gerettet werden. Wir müssen irgendwas tun.«
»Und was?«, schnaubte Jonno verzweifelt.
Natalie schaute sich um. »Was ist mit der Viking?«
Vikram trat zurück und betrachtete das vergilbte alte Raumfahrzeug. »Das ist bloß ein Ding von anno dazumal.«
»Aber es ist auch ein großes, schweres Stück Technik. Irgendwas müssen wir damit doch anfangen können. Das Problem ist, ich weiß nicht, wie es funktioniert, wozu all diese Sachen oben drauf da sind.« Sie schaute zum leeren Himmel hinauf. »Wenn ich nur ins Netz käme und ein paar Nachforschungen anstellen könnte!«
Jonno tippte an sein Handgelenk. »Nicht nötig. Gib mir eine Minute.«
Sie runzelte die Stirn. »Was ist das?«
»Ein Wristmate«, sagte Vikram. »Diverse Funktionen – darunter eine riesige Datenbank. In der kann er die Viking suchen.«
Sie machte große Augen. »Ihr schleppt eine Datenbank am Handgelenk mit euch herum?«
»Wenn der Mars so dicht besiedelt ist wie die Erde und unter jedem Stein ein WLAN-Knoten sitzt«, erwiderte Vikram gereizt, »brauchen wir das vielleicht nicht mehr.«
Jonno konsultierte seinen Wristmate und deutete auf die Gerätschaften oben auf der Viking. »Dieser Behälter hier ist ein Massenspektrometer. Das da ist ein Seismometer. Diese säulenartigen Dinger sind Kameras. Stereoskopisch.«
Für Vikram wirkte das alles groß, unförmig und plump. »Solche Kameras hab ich noch nie gesehen.«
»Vielleicht können wir irgendwas davon benutzen …« Jonno begann, leise vor sich hinmurmelnd auf seinem Wristmate herumzutippen.
Natalie umrundete die Sonde. »Manches liegt wahrscheinlich auf der Hand. Dieser Arm zum Beispiel muss dafür gedacht gewesen sein, Gesteinsproben zu nehmen. Vielleicht ist da so was wie ein automatisiertes Labor drin.«
Vikram bückte sich. »Schaut, man kann den Graben sehen, den sie gezogen hat.«
»Nach all diesen Jahren?«
Er hob die Schultern. »Der Staub weht durch die Gegend, aber sonst verändert sich auf dem Mars kaum etwas. Seht euch das an.« Er hatte ein verblichenes aufgemaltes Emblem und die Wörter VEREINIGTE STAATEN entdeckt. »Was ist das − das Unternehmen, das sie gebaut hat?«
»Nein. Der Staat, der sie auf die Reise geschickt hat. Amerika. Ihr habt doch bestimmt schon von Amerika gehört. Das hier ist seine Flagge, auf dem Mars. Mein Großvater hat gesagt, die Amerikaner hätten dieses Ding hergeschickt, um hundert Jahre Unabhängigkeit zu feiern. Oder vielleicht auch zweihundert.«
Vikram lachte. »Wie kann irgendein Teil der Erde unabhängig von einem anderen sein? Und überhaupt, Unabhängigkeit wovon?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Von Kanada, glaube ich.«
Jonno hustete und taumelte. Er musste sich an der Viking festhalten, um nicht hinzufallen.
Vikram lief zu ihm und half ihm, sich in den Staub zu setzen. »Was ist los, Jonno?«
»Es funktioniert nicht.«
»Was denn?«
»Also, das Landemodul hat ein Kommunikationssystem. So viel ist klar. Die große Antennenschüssel ist dazu gedacht, direkt mit der Erde zu kommunizieren, und das kleine Speichending da drüben ist eine UKW-Antenne, für den Kontakt zu einem Orbiter. Ich habe versucht, meine Anzugsysteme mit denen des Landers zu verbinden. Aber nach hundertfünfzig Jahren marsianischer Winter ist die Elektronik im Eimer. Und schau dir das an …« Er zeigte Vikram ein Bild auf seinem Wristmate. »Transistoren! Die haben Transistoren benutzt! Da hätten sie ebenso gut eine Decke mitbringen und mit diesem Roboterarm Rauchsignale geben können.«
»Dann können wir das Kommunikationssystem des Landers also nicht benutzen, um ein Signal zu senden?«, sagte Natalie.
»Nicht ohne ein Museum voller alter Elektronikteile, nein … Au.« Er sackte zusammen, die Hand in seine Brust gekrallt.
Vikram legte Jonno in den Staub neben einem der Tellerfüße der Viking. Natalie eilte mit ihrem Dekompressionssack herbei. »Hier. Ich blase ihn ein Stück weit auf. Wir können ihn als Schlafsack benutzen … oder als Kissen.«
»Ich werd’s nicht schaffen«, flüsterte Jonno.
»Schone einfach deine Kräfte«, sagte Vikram.
»Wozu? Ich hab euch hängen lassen, Mann. Wenn ich einen Weg gefunden hätte, wie wir mithilfe der Viking von hier wegkommen könnten …«
»Vielleicht fällt mir noch was ein.«
»Dir?« Jonno lachte, und etwas gurgelte in seiner Kehle.
Sie legten den Sack um Jonnos Körper herum. Wortlos zeigte Natalie auf Jonnos Hals, den inneren Verschluss seines Anzugs. Da war eine rote Linie. Blut. Sein Anzug füllte sich mit Blut.
»Ich sehe mir die Viking mal an«, sagte Natalie. »Kann ich deine Uhr benutzen? Ich meine, deinen …«
»Wristmate?«, sagte Vikram. »Klar.«
»Gib ihr meinen«, flüsterte Jonno. »Mir nützt er nichts mehr.«
»Rede nicht so.«
Natalie nahm Jonnos Wristmate und entfernte sich ein Stück, wobei sie auf das Display tippte, um auf die Funktionen zuzugreifen.
Jonnos Stimme war jetzt ein Krächzen. »Ich bedauere bloß, dass ich die bezaubernde Hiroe nicht mehr persönlich kennenlernen werde.«
»Sei still.«
»Aber ich will dir was sagen … Hör zu …«
Natalie sah, wie Vikram sich über seinen Freund beugte und sich anhörte, was dieser ihm unter vier Augen sagte. Dazu musste er seine Sichtscheibe an die von Jonno legen.
Natalie wollte nicht wissen, worüber sie redeten. Und außerdem spielte es keine Rolle. Wenn sie keine Möglichkeit fanden, von hier wegzukommen, würden Vikram und sie seinem Kameraden wahrscheinlich in ein nicht sehr tiefes marsianisches Grab folgen und alle Geheimnisse mitnehmen.
Aber sie war nicht bereit, sich damit abzufinden. Noch nicht. Schließlich stand diese Viking hier auf der Chryse-Ebene wie ein Geschenk der Götter. Es musste doch einen Weg geben, diesen Ort mit ihrer Hilfe zu verlassen.
Vermutlich sahen die marsianischen Jungen die Sonde nicht mit den richtigen Augen. Vikram und Jonno lebten auf einem bewohnten Mars, einem menschlichen Mars. Aber bei der Ankunft der Viking war der Mars völlig menschenleer gewesen. Niemand hatte die Sonde mit einem Lastwagen hergebracht und hier aufgestellt. Sie war ein Roboter, der unbemannt durchs Sonnensystem geflogen und aus eigener Kraft hier gelandet war.
Wie war sie gelandet? Erneut zog sie den Wristmate zurate und erfuhr, dass die Viking mit einer Kombination aus Hitzeschild, Fallschirm und Landeraketen aus der Umlaufbahn heruntergekommen war. Raketen!
Sie ging auf Hände und Knie, damit sie unter den Korpus schauen konnte, und entdeckte Raketendüsen – eine ganze Menge, achtzehn Stück.
Was, wenn sie das Raketensystem wieder in Gang setzte?
Natalie hockte sich auf die Fersen und überlegte. Sie hatte nicht viel Ahnung von Flüssigkeitsraketen, aber sie wusste, dass man eine Treibladung brauchte, einen Brennstoff, so etwas wie Flüssigwasserstoff, und einen Oxidator, eine Chemikalie, die den Sauerstoff enthielt, mit dem der Brennstoff gezündet werden konnte. Und wenn es Brennstoff gab, musste es Brennstofftanks geben. Sie stand auf und machte sich auf die Suche.
Schnell fand sie einen großen, kugelförmigen Tank an einer Seite des Landers. Sie klopfte dagegen, und es fühlte sich so an, als enthielte er noch etwas Flüssigkeit. Aber es musste noch einen zweiten Tank geben …
Lange Minuten verbrachte sie mit der Suche nach dem anderen Tank und kam sich dabei zunehmend dumm vor. Dann recherchierte sie noch einmal in Jonnos Wristmate und stellte fest, dass die Viking-Sonde von einem »Monotreibstoff« namens Hydrazin angetrieben worden war. Mit ein paar weiteren Nachforschungen fand sie heraus, wie das funktioniert hatte.
Ein solches Antriebssystem benutzte man, wenn man extrem zuverlässige Triebwerke benötigte, zum Beispiel bei einem Roboterraumfahrzeug, das hundert Millionen Kilometer vom nächsten Ingenieur entfernt sein würde. Hydrazin war wie Brennstoff und Treibladung in einer einzigen Chemikalie. Man konnte sogar auf ein Zündsystem, einen Funken verzichten. Man spritzte es einfach auf einen Katalysator, ein spezielles Metall. Das bewirkte, dass sich das Hydrazin in andere Chemikalien aufspaltete: Ammoniak, Stickstoff und Wasserstoff. Außerdem wurde dabei auch eine gewaltige Menge Hitze freigesetzt. Plötzlich hatte man einen Haufen heißer, sich ausdehnender Gase – und wenn man die Gase aus den Düsen strömen ließ, hatte man sein Raketentriebwerk.
Ihr Herz schlug schneller. In dem Tank befand sich noch etwas Hydrazin. Sie musste nur noch herausfinden, wie es zu seinem Katalysator und den Düsen gelangte.
Sie legte sich in den Marsstaub, kroch unter das Landemodul und sah sich die Rohrleitungen und Ventile gründlich an.
»Wir müssen ihn von dem Lander wegbringen.«
Vikram, der Jonno in den Armen hielt, hatte Natalies Anwesenheit völlig vergessen. »Hm? Warum? Wir wissen nicht, wie schwer er verletzt ist. Es ist wahrscheinlich am besten, wenn wir ihn gar nicht mehr bewegen.«
»Vertrau mir. Pass auf, wir lassen ihn in den Sack eingepackt. Du nimmst die Beine, ich die Schultern. Wir sind ganz vorsichtig.« Sie trat zu Jonnos Kopf und schob ihm die Hände unter die Schultern.
Vikram sah keine andere Möglichkeit, als mitzumachen. »Er ist ganz schön schwer.«
»Ich habe Erdmuskeln. Auf dem Mars bin ich superstark.«
Vikram schnaubte. »Nach Monaten in der Mikroschwerkraft? Das glaube ich nicht.«
Aber sie war tatsächlich stark genug, um Jonno hochzuheben. »Okay. Wir tragen ihn hinter diesen Kamm, sodass er vor dem Landemodul geschützt ist.«
Verwirrt befolgte Vikram ihre Anweisungen.
Sie setzten Jonno bald ab, ohne dass er das Bewusstsein wiedererlangte. Dann folgte Vikram Natalies Beispiel, als sie sich in den roten Sand legte und hinter dem Kamm Schutz suchte, das Gesicht dem Landemodul zugewandt. »Ich nehme an, das alles hat irgendeinen Sinn.«
»O ja.« Sie hielt Jonnos Wristmate hoch. »Ich hoffe, ich hab’s richtig gemacht. Unter dem Lander habe ich ein Ventil gefunden, das vom Treibstofftank wegführt. Das habe ich mit dem Schalter einer überzähligen Pumpe aus meinem Tornister verbunden. Wenn ich den Wristmate berühre, sollte dieser Schalter das Ventil öffnen.«
»Und dann?«
»Das wirst du gleich sehen. Gibt’s bei euch Weltraumjungs noch Countdowns?«
»Was ist ein Countdown?«
»Drei, zwei, eins.« Sie berührte den Wristmate.
Unter dem Landemodul quoll Staub hervor, wogende Wolken, die davonschossen und in der dünnen Luft wieder zu Boden sanken. Und dann startete die Viking und schüttelte dabei den angehäuften Marsstaub von hundertfünfzig Jahren ab.
Vikram war verblüfft. »Wow!«, rief er und packte Natalie an den Schultern. »Ist ja irre!«
»Danke.« Natalie wartete geduldig, bis er sie verlegen losließ.
Die Viking stieg immer noch empor; der ungleichmäßige Schub von mit Staub verstopften Düsen ließ sie schwanken und rotieren.
»Ich hoffe, dass ein Raketenstart ein bisschen Aufmerksamkeit erregen wird«, sagte Natalie, »sogar auf so einem Lowtech-Planeten. Ich hatte Angst, das Ding würde uns einfach um die Ohren fliegen. Deshalb dachte ich, wir sollten lieber in Deckung gehen. Aber selbst das hätte Aufsehen erregt.«
»Du bist ein Genie.« Er beobachtete die Viking. »Sie steigt immer noch in die Höhe. Aber ich glaube, der Treibstoff ist schon alle. Den Absturz wird sie nicht überstehen.«
»Ups. Ich hoffe, die Parkverwaltung wird mir vergeben. Und die Geister der Ingenieure, die den Lander gebaut haben, auch.« Auf einmal klang sie unschlüssig. »Denkst du, es klappt?«
»Ich denke, du hast mir das Leben gerettet. Und mit etwas Glück kommen sie noch rechtzeitig genug, um auch Jonno zu retten … Danke«, sagte er unbeholfen. »Weißt du, wir hatten einen schlechten Start.«
»Na ja, ihr seid in mich reingekracht.«
»Du bist in uns reingekracht – ach, egal. Warum bleibst du nicht noch ein bisschen auf dem Mars, wenn das alles vorbei ist? Ich, also, ich meine, wir könnten dir die Sehenswürdigkeiten zeigen. Die Pole, die Mariner-Täler. Und ein paar von den Kuppelstädten sind gar nicht so übel. Du könntest Benedicte mitbringen.«
»Und ich könnte Hiroe kennenlernen.«
Er spürte, wie seine Wangen brannten. »Ich versuche gerade, nett zu sein.«
»Ich bleibe – unter einer Bedingung.«
»Welcher?«
»Sag mir, was Jonno dir zugeflüstert hat, bevor er ohnmächtig geworden ist.«
»Das war vertraulich. Es könnten seine letzten Worte gewesen sein.«
»Spuck’s schon aus, Staubgräber.«
»Er hat gesagt, wenn ich Hiroe nicht wollte, könnte ich jederzeit ein Mädchen von außerhalb des marsianischen Genpools heiraten. Das wäre legal.«
»Zum Beispiel?«
»Ein Mädchen von der Erde.«
»Halt die Klappe.«
»Du hast gefragt.«
»Halt die Klappe!«
»Mit Vergnügen.«
Schweigend lagen sie im Sand und sahen zu, wie die Viking den höchsten Punkt ihrer Flugbahn erreichte und durchs Licht des marsianischen Morgens beinahe anmutig wieder herabsank, auf dem Weg zu ihrer zweiten und letzten Landung auf dem Mars.
Und nur Minuten später zog sich ein Kondensstreifen über den Himmel und beschrieb eine Kurve, als die Retter die Chryse-Ebene absuchten.
Reise nach Amasien
Der Priester klappte einen kleinen Softscreen auf. Einige spärliche Daten huschten über das Display, ein paar Wörter.
»Das ist alles, was der Datenschürfer, den wir hinuntergeschickt haben, zutage fördern konnte. Genau genommen kam er mit einem Programm zurück, einem kurzen Algorithmus. In Maschinensprache geschrieben! Wir mussten fachkundigen Rat dazu einholen und einen virtuellen Prozessor erschaffen, auf dem das Ding laufen konnte, bevor es uns gelang, wenigstens diesen minimalen Output herauszuholen. Der entscheidende Begriff ist unserer Ansicht nach der hier.«
Das Wort, in einer klobigen, altmodischen Schrift, war unterstrichen.
AMASIEN
»Ich weiß nicht, was das bedeutet«, sagte Philmus. Ihre Stimme klang seltsam in ihren Ohren. Blechern. Zu ihrem Befremden stellte sie fest, dass sie sich nicht entsinnen konnte, wann sie zum letzten Mal etwas gesagt hatte.
»Wie sollten Sie auch. Obwohl Sie eine wissenschaftliche Ausbildung genossen haben, nicht wahr? Bevor Sie sich darauf verlegt haben, für die Einhaltung der Gesetze über den Einsatz empfindungsfähiger KIs zu sorgen.«
»Ja …« Sie schaute an sich hinab. Sie trug einen tristen, olivgrünen Overall, robust und praktisch. Versuchsweise machte sie einen Schritt nach vorn; sie fühlte sich schwer, steif, ein wenig übergewichtig.
Philmus merkte, dass sie sich auch nicht erinnern konnte, wie sie hierhergekommen war. Was vorher gewesen war.
»Amasien ist ein Ort«, sagte der Priester. »Ein vorläufiger Name für einen künftigen Superkontinent. Der entstehen wird, wenn sich der Pazifik schließt und Asien mit Nord- und Südamerika kollidiert. Was das Wort darüber hinaus bedeutet, wissen wir nicht. Aber wir denken, dass der Schürfer es als eine Art Schlüssel mitgebracht hat, als Passwort, mit dem wir näher an Erdschein in seinem Versteck in den Tiefen der Datensphäre herankommen …«
Sie betrachtete den Priester genauer. Sie kannte ihn, ein hohes Tier an der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften des Vatikans. Er war ein stämmiger, ernsthafter Mann von ungefähr fünfzig Jahren in dezenter, schlichter schwarzer Kleidung: ein Overall, aber mit einem Kollar. Er hatte etwas Körperloses an sich. »Monsignore Boyle.«
»Freut mich, dass Sie sich an mich erinnern.«
Sie befand sich in einer Art Empfangsraum, fiel ihr jetzt auf: Schreibtisch, polierter Fußboden, harte Plastikstühle für Besucher. Keine weiteren Anwesenden außer ihnen beiden. Am hinteren Ende des Raumes gab es eine schwere Stahltür, am vorderen ein großes Glasfenster. Sie ging zum Fenster und schaute auf einen in die Jahre gekommenen Parkplatz hinaus, von wachsendem Grün durchbohrter Asphalt. Ein rostiger Antennenmast stand ganz für sich allein da, wie eine aufgegebene Startrampe. Am Horizont lag eine große Stadt. Davor eine überschwemmte Ebene, tote Bäume, die dürr aus dem Wasser ragten.
Boyle beobachtete sie. »Sie sind in einem Bunker des Kalten Krieges, Officer Philmus. Er wurde schon lange vor unser beider Geburt ausrangiert. Tatsächlich ist das hier der Empfangsraum eines Besucherzentrums. ›Erlebnis Apokalypse‹.«
»Welche Stadt ist das?«
»York. Nordbritannien. Was ziemlich gut passt. York wurde von den Römern gegründet, um Britannien auf Dauer zu besetzen. Und wir stehen jetzt vor einer Konfrontation mit einer weiteren herrschenden Macht: Erdschein.«
Ihre Hand schlenkerte zu einem staubigen Absperrseil. Die Finger lösten sich in schwebende Pixel auf, winzige Blöcke aus Licht, die sogleich wieder miteinander verschmolzen; sie verspürte einen jähen, scharfen Schmerz.
»Ihnen ist natürlich klar, auf welche Weise Sie erschaffen wurden. Wir haben Unterlagen über Ihr Leben benutzt, Ihre eigenen Schriftstücke und andere Hinterlassenschaften. Ihr Zeitstrahl wurde in einem virtuellen Cache rekonstruiert und mehrfach mit konstruktiven Interpolationen durchlaufen, um einen plausiblen Erinnerungsstrom zu generieren.«
Einen plausiblen Erinnerungsstrom. Sie hatten Versionen von ihr in einem Speicher immer wieder leben und sterben lassen, bis sie mit der Simulation zufrieden gewesen waren.
»Ich habe dafür gesorgt, dass die Software Sie physisch im Alter von ungefähr fünfzig Jahren angesiedelt hat. So alt waren Sie, als wir uns kennengelernt haben. Tut mir leid, falls Ihnen irgendwas wehtut.«
»Wie bin ich gestorben?«
»Wollen Sie das wirklich wissen?« Er schenkte ihr ein beruhigendes Priesterlächeln.
»Und Sie?«
»Ich bin eine Projektion, Officer Philmus, keine Rekonstruktion. Mein Original ist sehr lebendig. Allerdings älter, als Sie es in Erinnerung haben – wenn auch bloß um ein paar Jahrzehnte.«
»Also war ich nicht besonders lange tot. Das ergibt Sinn, nehme ich an – nicht lange genug, um in Vergessenheit zu geraten.« Sie schloss die Augen; zumindest schien der Zorn, den sie verspürte, durchaus real zu sein. »Derartige Praktiken – die frivole Erschaffung empfindungsfähiger künstlicher Intelligenz – habe ich mein Leben lang bekämpft. Und jetzt bin ich selbst davon betroffen.«
»Sie haben Rechte.«
»Ich weiß. Das Recht, im Informationsraum auf unbestimmte Zeit weiterzuexistieren. Das Recht auf Read-only-Schnittstellen zur Primärwelt. Nach dem Vorfall mit dem virtuellen Jesus hat sogar der Vatikan die einschlägigen UN-Konventionen unterzeichnet. Und dennoch bin ich hier. Was ist das, Monsignore, eine speziell auf mich zugeschnittene Hölle?«
»Aber nein. Im Innern dieser bürokratischen Hülle steckt noch immer ein Priester, Officer Philmus. Ich habe nach wie vor ein Gewissen. Es tut mir leid, dass wir Sie wieder zum Leben erweckt haben. Wir brauchten Sie. Niemals hätte ich meine Zustimmung zu dieser Operation gegeben, wenn es nicht unbedingt nötig gewesen wäre.«
»Was für eine Operation? Was wollen Sie von mir?«
»Es geht um die Kern-KIs, Philmus. Die drei großen, zu denen auch Erdschein gehört. Ich weiß, sie waren schon da, bevor … ich meine, als Sie noch gelebt haben.« Er machte eine Handbewegung zu der Szenerie draußen vor dem Fenster. »Wir haben ein Problem. Unsere Welt, die Menschenwelt, geht vor die Hunde, während sie ungeheure Mengen an Ressourcen für ihre eigenen Projekte verbrauchen.«
»Wie kann das sein? Sie sind Produkte der menschlichen Technologie.«
»Wir haben diese Wesen nicht erschaffen, jedenfalls nicht absichtlich. Sie sind entstanden. Und Sie wissen ebenso gut wie jeder andere, Officer, dass einmal erschaffene empfindungsfähige KIs irgendwie … abdriften können. Sie sind intelligenter als der Mensch. Und überdies auf andere Weise intelligent. Ihre physische Natur gibt ihnen neue Ziele vor, die sich von unseren unterscheiden.«
»Ihre physische Natur?«
»Zum Beispiel sind sie potenziell unsterblich. Wie verändert das die eigenen Prioritäten, den Prozess der Entscheidungsfindung? Nun, jetzt werden wir einer von ihnen begegnen, und vielleicht finden wir’s heraus.« Er lächelte. »Kommen Sie schon. Ich erinnere mich an Sie. Ein solches Abenteuer werden Sie sich doch nicht entgehen lassen! Eine Reise nach Amasien, möglicherweise. Schauen Sie.« Er reichte ihr einen Rucksack. »Ich habe schon für Sie gepackt.«
Die große, explosionsgeschützte Tür wurde ihnen geöffnet, und sie durchquerten einen beengten und altmodischen oberirdischen Komplex – Betonwände und Deckenplatten. Die verschiedenen Räume waren mit großen Schildern in Fettschrift gekennzeichnet: Schlafsäle, ein Lazarett, ein Dekontaminierungsraum, eine Kantine der Streitkräfte.
»Sie wissen ja, wie das läuft«, sagte der Monsignore. »Es ist besser, Interface-Protokolle nach Möglichkeit zu befolgen. Man kann einfach durch eine Wand gehen, aber es tut weh. Allerdings wird das mit zunehmender Tiefe kniffliger werden.«
»Mit zunehmender Tiefe?«
»Die Umgebung, mit der wir es zu tun bekommen, wird eine Mischung aus dem Physischen und dem Virtuellen sein, wobei Letzteres auf primitive anthropomorphe Weise die von den Kern-KIs selbst bewohnte Umgebung repräsentiert. Kann sein, dass wir Schwierigkeiten haben zu erkennen, was real ist und was nicht. Einander überschneidende Kategorien.«
»So was bin ich gewohnt.«
»Wir könnten dort unten getötet werden«, warnte er. »Was immer wir sind.«
Er führte sie eine von staubigen Neonröhren beleuchtete Treppe hinab, die unter die Erdoberfläche führte. Hier befanden sich die Betriebsabteilungen und technischen Einrichtungen des alten Bunkers, gepflastert mit Zutrittsverbotsschildern.
Und auf der nächsttieferen Ebene: Kuriositäten des Kalten Krieges. Konferenzräume der lokalen Regierung. Eine Kommunikationszentrale. Ein Lebenserhaltungssystem, Luftreiniger und Wasserfilter, wie in der Vision einer Raumstation aus den 1950er-Jahren. Sogar ein kleines BBC-Studio. All dies war jahrzehntelang eingemottet gewesen, sodass es hier unten nun kalt und staubfrei war. Anscheinend besuchte heutzutage niemand mehr das Gelände. Philmus fragte sich, wie es vor den Überschwemmungen geschützt wurde, die schon zu ihrer Zeit in weiten Bereichen des britischen Flachlands nördlich und südlich der internationalen Grenze auf der Höhe von Manchester immer wieder aufgetreten waren.
Boyle führte sie durch die Gänge. Offenbar suchte er etwas.
»Warum ein Bunker?«
»Wegen der physischen Sicherheit von Erdscheins Anlagen. Sie wissen ja, dass die großen Kern-KIs ursprünglich aus einem globalen Netz transnationaler Unternehmen hervorgingen, einem Netz, das gemeinsam einen großen Teil der Weltwirtschaft kontrollierte. Innerhalb dieses Netzwerks bildeten sich Knoten tiefer reichender Verbindungen und stärkerer Kontrolle heraus: Supergebilde, wie die Wirtschaftsanalysten sie nannten. Und unterhalb dieser Konzernsupergebilde ballten sich zwangsläufig KI-Kapazitäten und entwickelten die erforderliche Intelligenz zur Steuerung dieses komplexen Netzes aus Informationen und Marktmanipulationen. Dann kamen die Sicherheitsanforderungen für Kernprozessoren und Datenspeicher, stabilisierte Refugien, die durch robuste Kommunikationsnetze verbunden waren. Wir gaben ihnen, was sie wollten, zum Beispiel diesen Bunker. Erdscheins Zentralanlage befindet sich übrigens in Fort Chipewyan, genau im Zentrum des Kanadischen Schildes. In geologischer Hinsicht der sicherste Ort, den man finden kann. Aber er hat Satellitenanlagen wie diese hier unter großen Städten wie Londres oder Paris, und sie sind durch Neutrino-Links miteinander verbunden … Ja, all das haben wir ihnen gegeben. Damals schien das eine gute Idee zu sein. Ah, da wären wir.«
Er war zu einer Luke im Boden gelangt, in den Beton eingelassenes Metall. In die Oberfläche war ein kleiner Laser-Scanner eingebettet. Er hielt seinen Softscreen hin, sodass der Scanner das Wort »Amasien« erkennen konnte. »So haben wir den Datenschürfer hinuntergeschickt.« Die Luke öffnete sich ächzend und gab den Blick in einen dunklen Schacht frei. »Sie haben eine Lampe.«
Philmus wühlte in ihrer Tasche, fand eine kleine Stirnlampe an einem Band und setzte sie auf. In ihrem Licht sah sie, dass der Schacht unter ihr durch Erdschichten abwärtsführte, die wie stratifiziertes Gestein aussahen. Die oberen Schichten wirkten gläsern und warfen das Licht der Stirnlampe funkelnd zurück. »Ein Datenschürfer ist ein Software-Agent«, sagte sie. »Kein Maulwurf, der sich buchstäblich durch solche Tunnel im Boden gräbt.«
»Ich hab’s Ihnen ja gesagt. Vieles von dem, was wir erleben werden, ist eine anthropomorphe Metapher. Wenn wir Glück haben, ist es nicht tödlich. Mit noch mehr Glück können wir’s vielleicht sogar verstehen.«
»Ich erinnere mich an Träume von der Singularität. Wenn Mensch und Maschine in einer kybernetischen Unendlichkeit verschmelzen. Nicht in so einem muffigen Kabuff.«
Er zuckte mit den Achseln. »Die Kern-KIs verfolgen ihre eigene Agenda. Warum sollten sie sich selbst Zügel anlegen, indem sie mit uns verschmelzen? Das hier, Officer, ist eindeutig die Schnittstelle zwischen dem Realen und dem Virtuellen. Ich weiß nicht, was dahinterliegt. Wenn Sie umkehren wollen, tun Sie es jetzt. Man wird Ihre KI-Rechte respektieren und Ihnen gestatten, Kontakt zu Ihren Angehörigen aufzunehmen.«
»Ich habe keine Angehörigen. Warum Sie, Monsignore? Warum ist der Vatikan an der Sache beteiligt?«
»Nun, der Vatikan ist eine verhältnismäßig neutrale Partei. Er gehört weder zur ökonomischen noch zur politischen Welt, und in beiden ist man ziemlich wütend auf die Kern-KIs, weil sie deren jeweilige Ressourcen gekapert haben. Demgegenüber hat es der Vatikan stets abgelehnt, seine Schätze zu digitalisieren, vor allem die Geheimarchive. Über die wissen Sie ja Bescheid, Philmus. Also gibt es da unten nur wenig von uns. Und was mich betrifft – nun, ich kenne Sie.«
»Und deshalb wurde ich hinzugezogen?«
»Wegen Ihres Leumunds. Sie haben sich von den ersten Tagen der Ausarbeitung der Gesetze an energisch für die Rechte empfindungsfähigen, intelligenten Lebens stark gemacht. KIs vergessen nie. Wir hoffen, dass Sie für sie halbwegs akzeptabel sein werden.«
»Und warum haben Sie mich hierhergebracht, nach Nordbritannien? Ich bin ein Cop aus San Francisco.«
»Nun ja, Erdschein ist hinsichtlich der physischen Ressourcen die kleinste der Kern-KIs, verglichen mit den anderen Monstern, Ifa in Afrika und dem Erzengel in Südamerika. Erdschein hat Nordamerika und einen großen Teil von Europa; die anderen haben Asien unter sich aufgeteilt. Wir hoffen, dass Erdschein deshalb aufgeschlossener für eine Kontaktaufnahme sein könnte. Sie sind … Sie waren die Beste auf Ihrem Gebiet, und Sie kamen aus einer Region, in der Erdschein jetzt die vorherrschende Macht ist … Außerdem bildete der Geist eines Briten die erste Schicht, die im Grünhirnprozess bei Erdscheins Konstruktion heruntergeladen wurde. Ein Mann namens Robert Braemann: die erste von neun Persönlichkeiten, die man in das leere Gefäß goss, das zu Erdschein wurde … Habe ich Ihre Fragen beantwortet? Wir tun einfach, was wir können, und nutzen jede Möglichkeit, die uns einfällt. Wollen wir weiter? Schauen Sie, in die Wände des Schachts sind Sprossen eingelassen. Wir können hinuntersteigen.«
Philmus langte versuchsweise nach unten und schloss die Finger um eine Sprosse, eine rostige Eisenkrampe. Sie stellte fest, dass sie etwas Reales, Solides umfasste. Zumindest etwas, das so real war wie sie selbst. »Ich gehe voran«, sagte sie.
Ihr Overall war bequem, praktisch und weit geschnitten, aber sie war noch nie eine besonders sportliche Polizistin gewesen; Ermittlungen bei KI-Straftaten waren in aller Regel zerebraler Natur. Dennoch hatte man ihre physischen Aspekte offensichtlich mit erschreckender Genauigkeit simuliert, und sie merkte bald, dass sie vor Anstrengung keuchte.
Sie konzentrierte sich auf die Schichten, durch die sie hinabstieg. Strata, die vermutlich nichts mit der physischen Geologie Britanniens zu tun hatten. Die oberste Schicht war glasig oder vielleicht quarzähnlich, eine reflektierende, transluzente Fläche mit zahllosen winzigen Facetten, die im Licht ihrer Stirnlampe schimmerten. Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen, und strich mit einem Finger vorsichtig über die Oberfläche. Beim Hautkontakt mit den rasiermesserscharfen Facetten verspürte sie ein Erschauern, als würden sich unerwünschte Erinnerungen regen, flüsternde Stimmen: geboren, gelebt, gestorben … bekannte Kolleginnen und Kollegen, bekannte Kontaktgruppen … Zuletzt gesehen bekleidet mit … Ein Geglitzer von Gesichtern wie Reif auf der Wand, körnig, halb abgewandt. Sie nahm den Finger weg, und die Gesichter verschwanden.
Von oben rief Boyle: »Was sehen Sie gerade?«
»Ich weiß nicht genau. So was wie Überwachungsdaten. In rauen Mengen, dicht komprimiert.«
»Das ist die Metapher. Wir sind selbst wie Datenschürfer, Philmus. Wir dringen in die von Erdschein bewohnte Datensphäre ein. Massen von Aufzeichnungen verschiedenster Art, Jahrzehnte dick. Auch Sie selbst sind ein Daten- und Verarbeitungskonstrukt, das auf diese Aufzeichnungen oder deren Rudimente zugreift.«
»So fühlt es sich aber nicht an.«
»Nichts davon ist real, vergessen Sie das nicht. Übrigens, das Absteigen macht Sie nur unnötig müde. Nutzen Sie Ihre virtuelle Natur. Lassen Sie einfach los.«
»Wie bitte? Sind Sie verrückt?«
»Probieren Sie’s aus. Die Schnittstellenprotokolle werden es zulassen.«
Mit einer bewussten Anstrengung tat sie es. Ich werde nicht fallen. Nicht fallen.
Und sie fiel auch nicht, oder zumindest stürzte sie nicht. Sie sank langsam hinab, wie ein undichter Helium-Ballon. Sie redete sich ein, dass sie nicht in Gefahr war, jedenfalls nicht mehr als zuvor, und versuchte, ihr rasendes virtuelles Herz zu beruhigen.
Sie konzentrierte sich auf die allmählichen Veränderungen der geschichteten Oberfläche, die vor ihrem Gesicht vorbeiglitt, verfolgte sie mit der Fingerspitze und gab sogar der Versuchung nach, daran zu lecken, um zu sehen, wie dies ihre Wahrnehmung des Downloads beeinflusste. Ein Zuckerschub.
… Steig hinab in den Krater des Sneffels Yocul …
… Und der Ozean – an der Stelle, wo er sich hinunterlässt, ist fünf Meilen tief … Es klingt freilich wer weiß wie viel! Aber der Stahl ist immerhin ziemlich stark …
Das waren Bücher. Theaterstücke. Spielfilme, Fernsehsendungen, Spiele. Ausgeklügelte, interaktive Online-Unterhaltungsangebote, teilweise selbst schon Jahrzehnte weit unten. Und es gab Unmengen von Kippel, amateurhaften Kreationen. Generationen digitalisierter Kultur, vergessen, zu Schichten komprimiert wie Sandstein.
Der Schacht verzweigte sich unter ihr und bot ihr zwei, drei, sogar vier Wege zur Auswahl an. Sie entschied sich aufs Geratewohl für einen, ohne nach oben zu schauen; sie ging davon aus, dass Boyle ihr folgen oder sie zurückrufen würde, falls sie eine falsche Richtung einschlug. Wie im Traum nach unten schwebend, gelangte sie zu einer Schicht aus persönlicheren Daten. Ihr hin und her streichender Finger beschwor lächelnde Gesichter herauf, ein Gewirbel von Fotos und Bewegtbildern: Kinder, Haustiere, Ferien. Schau mich an! Behalte mich in Erinnerung! Das Lächeln von Babys, die Testamente der Sterbenden.
Darunter kam eine Schicht aus Mathematik, abstruse Algorithmen und Korrelationen, hübsch, funkelnd, aber instabil, eine Schicht, die unter ihrer Berührung zerbröselte. Jahrzehnte von Kalkulationen, möglicherweise finanzieller Natur, Ableitungen von Ableitungen in derart komplexen Hierarchien, dass kein Mensch sie verstehen und letztlich auch keine KI sie kontrollieren konnte. Darunter wiederum etwas Dunkleres, Schrofferes, Älteres, Primitiveres. Kalte Berechnungen von Sprengungsradien, Overkill-Prozentsätzen und Opferzahlen, die in die Millionen gingen. Das waren die großen Programmpakete des Kalten Krieges, die einst auf Computern aus Ferritkernen und Transistoren, vielleicht sogar Röhren gelaufen waren.