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Stephen Baxter

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Beschreibung

Das Geheimnis der Odyssee

Dreißig Jahre nach ihrem ersten Auftauchen erscheinen die Erstgeborenen erneut im Sol-System und richten eine zerstörerische Waffe, die Q-Bombe, auf die Erde. Die Lage scheint aussichtslos, doch Bisesa Dutt will sich nicht geschlagen geben und reist durch die Galaxie, um einen Schutzschild gegen die Q-Bombe zu finden. Doch wohin sie auch kommt, überall begegnet ihr vor allem eins: große Furcht vor den Erstgeborenen. Als sie fast schon aufgibt, zeigt sich doch noch ein Verbündeter, der bisher Lichtjahre entfernt war …

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Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Die Autoren
Widmung
 
ERSTER TEIL – ERSTKONTAKT
{ 1 } – BISESA
{ 2 } – DEEP SPACE MONITOR
{ 3 } – ABDIKADIR
 
ZWEITER TEIL – REISEN
{4} – WENN DER SCHLÄFER ERWACHT
{ 5 } – LONDON
{ 6 } – MYRA
{7} – DIE TOOKE-MEDAILLE
{8} – DIE EURO-NADEL
{9} – FLORIDA
{10} – STARTKOMPLEX 39
{11} – DAS BAND
{12} – MOUNT WEATHER
{13} – FESTUNG SOL
{14} – AUFSTIEG AUS DEM ORBIT
{15} – LIBERATOR
{16} – JAMES CLERK MAXWELL
{17} – KRIEGSSCHIFF
{18} – MARS
{19} – DIE WÜSTEN DES MARS
{20} – LIBERATOR
{21} – POL
{22} – ANNÄHERUNG
{23} – DIE GRUBE
{24} – GRÖSSTE ANNÄHERUNG
{25} – ZWISCHENSPIEL: EIN SIGNAL VON DER ERDE
 
DRITTER TEIL – WIEDER VEREINIGUNGEN
{26} – DER STEINMANN
{27} – PHAETON
{28} – ANZUG FÜNF
{29} – ALEXEJ
{30} – CHILIARCH
{31} – EINSATZBEFEHL
{32} – ALEXANDER
{33} – FLUCHT
{34} – ELLIE
{35} – POSEIDONS DREIZACK
{36} – HUBBLE
{37} – DAS NEUE NEW ORLEANS
{38} – AUSSENEINSATZ
{39} – DAS NEUE CHICAGO
{40} – SONNENLICHT
{41} – DIE ARCHEN
{42} – CYCLOPS
{43} – CHICAGO
{44} – ATHENE
{45} – BURGERMEISTER
{46} – A-LINIE
 
VIERTER TEIL – ENTSCHEIDUNGEN
{47} – OPTIONEN
{48} – EIN SIGNAL ZUM MARS
{49} – MARS-SYNCHRON
{50} – ZWISCHENSPIEL: DER LETZTE MARSIANER
{51} – ENTSCHEIDUNG
 
FÜNFTER TEIL – LETZTE KONTAKTE
{52} – PARADE
{53} – AURORA
{54} – Q-TAG
{55} – Q-BOMBE
{56} – MARS 2
{57} – BABYLON
{58} – ABSPALTUNG
{59} – TEMPEL
{60} – HAUS
{61} – GREIFER
{62} – KLEINER RISS
{63} – EINE ZEIT-ODYSSEE
 
NACHWORT
Copyright
HEYNE <
Das Buch
Fast dreißig Jahre nach ihrem ersten, zerstörerischen Eingriff in die Geschicke der Planeten tauchen die Erstgeborenen wieder auf. Diesmal richten sie eine Waffe auf die Erde, deren Vernichtungskraft ungeheuerlich ist: die »Q-Bombe«, deren Zusammensetzung von keinem menschlichen Wissenschaftler enträtselt werden kann. Die Lage scheint aussichtslos. Bisesa Dutt will sich dennoch nicht geschlagen geben: Auf der Suche nach einem Schutzschild gegen die furchtbare Bombe bereist sie das All. Doch wohin sie auch kommt, sie findet keine Antworten. Überall herrschen Fassungslosigkeit, Verzweiflung – und Furcht vor den Erstgeborenen. Als Bisesa fast schon aufgibt, zeigt sich doch noch ein Verbündeter. Er war Lichtjahre entfernt …
Mit »Wächter« schließen zwei der größten Science-Fiction-Autoren aller Zeiten das gewaltige Zukunftsepos ab, das mit »Die Zeit-Odyssee« begann und mit »Sonnensturm« weitergeführt wurde. Sie knüpfen damit an etliche Motive aus Arthur C. Clarkes und Stanley Kubricks legendärem Film 2001 – Odyssee im Weltraum an.
Die Autoren
Arthur C. Clarke zählt neben Isaac Asimov und Robert A. Heinlein zu den größten Science-Fiction-Autoren aller Zeiten. Geboren 1917 in Minehead, Somerset, studierte er nach dem Zweiten Weltkrieg Physik und Mathematik am King’s College in London. Zugleich legte er mit seinen Kurzgeschichten und Romanen den Grundstein für eine beispiellose Karriere als SF-Autor. Neben zahllosen Sachbüchern gehören zu seinen bedeutendsten Werken die Romane »Die letzte Generation« sowie »2001 – Odyssee im Weltraum«. Clarke starb im März 2008 in seiner Wahlheimat Sri Lanka.
Stephen Baxter, ebenfalls Engländer, 1957 geboren, wuchs in Liverpool auf, studierte Mathematik und Astronomie und widmete sich dann ganz dem Schreiben. Mit seinen Romanen »Evolution«, »Der Orden« sowie »Die letzte Flut« gilt Baxter heute als einer der besten Autoren naturwissenschaftlich-technisch orientierter Science Fiction. Baxter lebt und arbeitet in Buckinghamshire.
Titel der englischen Originalausgabe FIRSTBORN Deutsche Übersetzung von Martin Gilbert
Für die BritischeInterplanetarische Gesellschaft
ERSTER TEIL
ERSTKONTAKT
{ 1 }
BISESA
Februar 2069
 
Es war nicht wie ein Erwachen. Es war eher wie ein plötzliches Auftauchen, wie ein Paukenschlag. Ihre Augen waren weit offen und wurden von grellem Licht geblendet. Sie sog in tiefen Zügen Luft in die Lunge und keuchte durch den Schock der Identitätsfindung.
Ja, ein Schock. Sie dürfte eigentlich gar nicht wach sein. Irgendetwas stimmte nicht.
Eine fahle Gestalt schwamm in der Luft.
»Dr. Heyer?«
»Nein. Nein, ich bin es, Mama.«
Ihr Blick wurde etwas klarer. Ja, das war ihre Tochter – dieses markante Gesicht, diese klaren blauen Augen, diese leicht buschigen dunklen Brauen. Aber was war das auf ihrer Wange? Eine Art Symbol? Eine Tätowierung?
»Myra?«, fragte sie mit heiserer Kehle und dünner Stimme. Sie war sich nun bewusst, dass sie sich auf dem Rücken liegend in einem Raum mit Ausrüstungsgegenständen befand. Und Leute hielten sich direkt außerhalb ihres Blickfeldes auf. »Was ist denn schiefgegangen?«
»Schiefgegangen?«
»Weshalb wurde ich nicht in Estivation, in einen Sommerschlaf versetzt?«
Myra zögerte. »Mama – was glaubst du wohl, welches Datum wir heute schreiben?«
»2050. Der 5. Juni.«
»Nein. Wir haben 2069, Mama. Februar. Neunzehn Jahre später. Der Tiefschlaf hat funktioniert.« Nun sah Bisesa graue Strähnen in Myras dunklem Haar und Fältchen um die wachen Augen. »Wie du siehst, habe ich den Umweg genommen.«
Das stimmte wohl. Bisesa hatte wieder einen »Sieben-Meilen-Schritt« in ihrer persönlichen Zeit-Odyssee gemacht. »Meine Güte.«
»Dr. Heyer?«
»Nein. Dr. Heyer ist schon lange im Ruhestand. Mein Name ist Dr. Stanton. Wir beginnen jetzt mit der vollen Blut-Befüllung. Es wird leider etwas wehtun.«
Bisesa versuchte, sich die Lippen zu lecken. »Weshalb bin ich überhaupt wach?«, fragte sie und beantwortete sich die Frage sofort selbst. »Ach so. Die Erstgeborenen.« Aber weshalb waren sie wieder aktuell? »Eine neue Gefahr.«
Myra legte schmerzlich das Gesicht in Falten. »Du bist seit neunzehn Jahren weg gewesen. Und deine erste Frage an uns betrifft die Erstgeborenen. Ich komme wieder, wenn du vollständig wiederbelebt bist.« »Myra, warte.«
Aber Myra war schon gegangen.
Die neue Ärztin hatte recht. Es tat weh. Aber Bisesa war einmal Soldat in der britischen Armee gewesen. Sie unterdrückte einen Schrei.
{ 2 }
DEEP SPACE MONITOR
Juni 2064
 
Der Blick der Menschheit für die neue Bedrohung war fünf Jahre zuvor geschärft worden. Und die Augen, die die Anomalie sahen, waren elektronisch und nicht menschlich.
Deep Space Monitor X7-6102-016 schwebte im Schatten des Saturn, wo die Monde wie Laternenketten hingen. Die Ringe des Saturn waren nur noch ein schwacher Abglanz ihrer selbst im Vergleich zur Zeit vor dem Sonnensturm; doch während die Sonde der fernen Sonne hinter den Ringen zustrebte, verwandelten sie sich in eine silberne Brücke, die den Himmel überspannte.
Der Deep Space Monitor wurde zwar nicht von Gefühlen der Ehrfurcht ergriffen. Doch wie jede halbwegs moderne Maschine war auch er bis zu einem gewissen Grad empfindungsfähig, und seine elektronische Seele wurde von den schönen Strukturen aus Gas und Eis berührt, durch die er hindurchflog. Aber er traf keine Anstalten, sie auch zu erforschen. Lautlos näherte die Sonde sich dem nächsten Ziel auf ihrer Orbitalschleife.
Titan, der größte der Saturnmonde, war eine amorphe ockerfarbene Kugel, angestrahlt vom schwachen Licht der fernen Sonne. Doch unter den tiefen Wolken- und Dunstschichten verbargen sich wahre Wunder. Bei der Annäherung an den Mond lauschte DSM X7-6102-016 aufmerksam auf das elektronische Plappern eines Schwarms von Robot-Explorern.
Unter einem trübe verhangenen orangefarbenen Himmel krabbelten käferartige Rover über steinharte Sanddünen aus Eiskristallen, umrundeten Methan-Geysire, krochen vorsichtig in Täler, die von Flüssen aus Methan gegraben worden waren, und bohrten sich in eine Oberfläche, die durch einen ständigen, den ganzen Mond umspannenden Nieselregen aus Methan in Schlamm verwandelt wurde. Ein besonders mutiger Ballon-Explorer, der in der dichten Luft Auftrieb bekam, schwebte über einen Cryo-Vulkan, aus dem Lava aus mit Ammoniak versetztem Wasser quoll. Tauchroboter gruben sich ein und untersuchten Taschen mit flüssigem Wasser direkt unter der Eisoberfläche – zugefrorene Seen, die sich in Einschlagkratern erhalten hatten. Es wimmelte hier nur so von komplexen organischen Organismen, die durch Gewitter in der Titan-Atmosphäre erschaffen wurden und durch den Umstand, dass die oberen Luftschichten durch die Einwirkung des Sonnenlichts und Saturns Magnetfeld in einen Hexenkessel verwandelt wurden.
Wohin die Sonden auch schauten, fanden sie Leben. Zum Teil war dieses Leben erdähnlich – anaerobe Organismen, die im Methan im wahrsten Sinne des Worts in ihrem »Element« waren und unablässig Pfeiler und Hügel im kalten Schlamm der Kraterseen errichteten. Eine exotischere Form von Leben auf Kohlenstoffbasis, die sich mangels Wasser mit Ammoniak behalf, schwamm in der Suppe umher, die aus den Cryo-Vulkanen schwappte. Am exotischsten aber war eine Gemeinschaft von Schleim-Organismen, die Kohlenstoff- anstatt Silikonverbindungen als Grundbausteine ihrer Existenz verwendete; sie lebten in der beißenden Kälte der schwarzen, spiegelglatten Ethan-Seen.
Die Organismen in den Kraterseen waren Verwandte der großen irdischen Lebens-Familien. Die Ammoniak-Fische aber schienen »Ureinwohner« von Titan zu sein. Der Kälte liebende Titan-Schleim stammte vielleicht von den Monden des Neptun oder von noch weiter draußen. Das Sonnensystem war voller Leben – Leben, das überall spross; sogar in Gesteinsund Eisbrocken, die durch Einschläge abgesprengt worden waren. Und doch nahm Titan eine Sonderrolle ein: Er war ein Schmelztiegel von Lebensformen aus dem ganzen Sonnensystem und vielleicht sogar aus anderen Systemen.
Jedoch war Deep Space Monitor X7-6102-016 nicht aus wissenschaftlichen Gründen zum Titan gekommen. Seine robotischen Verwandten wussten nicht einmal von seiner Existenz, als er den nächsten Punkt der Annäherung an den Mond mit seinem zirkusartigen Ensemble des Lebens erreichte.
Das komplexe Herz der Deep Space Monitor war eine Raumsonde, die auf einem jahrhundertealten Konstruktionsprinzip basierte: Sie verfügte über einen rechteckigen Grundkörper, dem Ausleger mit Sensoren und radiothermoisotopischen Stromerzeugern entragten. Dieser innere Kern war in einen Kokon aus Metamaterial eingesponnen, ein Geflecht aus nanotechnischen Drähten und Platten, die die Strahlen des Sonnenlichts von der Sonde ablenkten und sie auf den Weg schickten, den sie genommen hätten, wenn die Sonde überhaupt nicht hier gewesen wäre. Die Deep Space Monitor war aber nicht blind; die innere Schale analysierte die einfallenden Strahlen. Weil das Licht aber weder reflektiert noch abgelenkt wurde, war die Sonde praktisch unsichtbar. Ebenso wenig wie man sie auf irgendeiner Wellenlänge von der harten Gammastrahlung bis zu langen Radiowellen zu orten vermochte.
DSM X7-6102-016 war jedoch kein Explorer. Das getarnte und lautlose Objekt war ein Wächter. Und der war zu einer Begegnung unterwegs, der Begegnung einer besonderen Art, für die er speziell entwickelt worden war.
 
Als X7-6102-016 über die Wolkendecke des Titan huschte, wurde er durch das Schwerefeld des Mondes auf eine neue Flugbahn katapultiert, die ihn aus der Ebene des Saturnsystems hoch über die Ringe hinausführen würde. Und das alles bei völliger Funkstille und ohne ein Abgaswölkchen.
Und dann näherte DSM X7-6102-016 sich der Anomalie.
Er entdeckte Kaskaden exotischer Hochenergie-Teilchen und wurde von einem starken Magnetfeld gestreift, einem elektromagnetischen Hammer im Weltraum. Der Monitor erstattete Bericht an die Erde, wobei er mit sporadischen Laser-Stößen einen Strom hoch verdichteter Daten abstrahlte.
DSM X7-6102-016 war nicht imstande, den Kurs zu ändern, ohne dass die Tarnung aufflog, und so flog er notgedrungen weiter. Er hätte die Anomalie vielleicht um einen halben Kilometer verfehlen müssen.
Die letzte Beobachtung – in gewisser Weise der letzte bewusste Gedanke – war eine plötzliche Verzerrung des starken Magnetfelds der Anomalie.
Aus den letzten abgestrahlten Signalen ging hervor, dass er sich mit einer enormen, schier unglaublichen Geschwindigkeit entfernte. Es waren Signale, die die Erbauer der Sonde weder zu glauben noch zu begreifen vermochten.
 
Wie jede halbwegs moderne Maschine war die Anomalie bis zu einem gewissen Grad empfindungsfähig. Die Zerstörung, die zu verbreiten ihr Daseinszweck war, lag noch in der Zukunft und beschäftigte sie deshalb auch nicht. Aber sie verspürte einen Anflug von Bedauern wegen der Vernichtung der putzigen Maschine, die ihr mit diesem lächerlichen Versuch einer Tarnung so weit gefolgt war.
Die Anomalie flog tiefer ins Saturnsystem, schöpfte Antriebskraft und kinetische Energie aus dem Riesenplaneten und beschleunigte dann in Richtung der fernen Sonne und der warmen Welten, die sich an sie schmiegten.
{ 3 }
ABDIKADIR
2068 (Erde); Jahr 31 (Mir)
 
Auf Mir wären die ersten Anzeichen der bevorstehenden Strangeness kaum bemerkt worden, wenn sie sich nicht geradezu aufgedrängt hätten.
Abdikadir reagierte gereizt, als der Angestellte ihn vom Fernrohr wegholte. Es war endlich einmal wieder eine klare Nacht. Die Flüchtlinge der ersten Generation von der Erde beschwerten sich immer über den bewölkten Mir, diesen Flickenteppich von Welt in ihrem Patchwork-Kosmos. In dieser Nacht war die Sicht aber gut, und der Mars zog als leuchtende blaue Erscheinung hoch oben am wolkenlosen Himmel seine Bahn.
Vor der Unterbrechung durch den Angestellten hatte in der Sternwarte auf dem Dach des Marduk-Tempels stille Geschäftigkeit geherrscht. Das Hauptinstrument war ein Reflektor, dessen großer Spiegel von mongolischen Sklaven unter dem Befehl eines griechischen Gelehrten der Schule von Othic gezogen wurde. Er erzeugte eine deutliche, wenn auch etwas verwackelte Abbildung der Marsoberfläche. Abdi stellte fest, dass seine Angestellten die Schwenkhebel der Teleskopbasis betätigten, um die Drehung der Welt auszugleichen und den Mars im Mittelpunkt von Abdis Blickfeld zu halten. Er kritzelte hastig etwas auf die an seinem Bein geschnallte Tafel; die technische Entwicklung in Alexanders Weltreich war noch nicht so weit fortgeschritten, als dass Fotografie möglich gewesen wäre.
Er sah deutlich die Polkappen des Mars, die blauen Meere, die ockerfarbenen Wüsten, die kreuz und quer von grünbraunen und blauen Bändern durchzogen wurden und sogar einen Lichtschimmer von den fremden Städten, die vermutlich im erloschenen Krater von Mons Olympus errichtet worden waren.
Ausgerechnet in der Phase, als er im Labor beschäftigt war und jede Sekunde der Sichtung festhielt, wurde Abdi von dem Angestellten gestört. Spiros war vierzehn, ein Schüler von Othic und ein Mir-Geborener der dritten Generation. Er war ein intelligenter und phantasievoller Junge, neigte aber zur Nervosität und versuchte nun stotternd seine Nachricht an einen Astronomen zu überbringen, der keine zehn Jahre älter war als er selbst.
»Immer mit der Ruhe, Junge. Hol erst mal tief Luft. Und dann sagst du mir, was los ist.«
»Die Kammer von Marduk …« Das Herz des Tempels, auf dessen Dach sie beide standen. »Ihr müsst mitkommen, Meister!«
»Wieso? Was gibt’s denn zu sehen?«
»Nicht sehen, Meister Abdi – hören.«
Abdi schaute noch einmal in sein Okular, in dem das blaue Licht des Mars schimmerte. Aber die Aufregung des Jungen war ansteckend. Irgendetwas stimmte nicht.
Ungelenk stieg er von seinem Sitz am Okular herunter und blaffte einen seiner Schüler an. »Du, Xenia! Du übernimmst hier. Ich will keine Sekunde von diesem Anblick vergeuden.« Das Mädchen eilte zu ihm hin.
Und Spiros rannte zur Leiter.
»Hoffentlich ist es das auch wert«, sagte Abdi und folgte dem Jungen.
Nachdem sie den Abstieg bewältigt hatten, mussten sie wieder ins Innere des Tempels emporsteigen, denn die Kammer des großen Gottes Marduk befand sich im Scheitelpunkt des Gebäudekomplexes. Sie liefen durch ein Labyrinth von Räumen, die durch in Alkoven flackernde Lampen beleuchtet wurden. Obwohl die Priester den Tempel schon lange verlassen hatten, lag noch immer ein starker Geruch nach Räucherwerk in der Luft.
Abdi betrat Marduks Kammer und schaute sich um. In der Diskontinuität, dem Ereignis, das die Welt erschaffen hatte, war die Statue zerstört und die Wände waren durch eine enorme Hitzeeinwirkung bis auf den nackten Stein versengt worden. Nur der einst über einen halben Meter hohe Sockel der Statue war noch übrig: er war mürbe und die Kanten abgerundet. Überhaupt war die Kammer ruiniert, als ob hier eine Explosion stattgefunden hätte. Aber Abdi kannte es auch nicht anders.
Abdi wandte sich an Spiros. »Und? Was gibt es denn so Wichtiges?«
»Hört Ihr es denn nicht?«, fragte der Junge atemlos. Und dann stand er reglos da und legte die Finger auf die Lippen.
Und dann hört Abdi es auch. Ein leises Zirpen, fast wie von einer Grille – aber auch zu gleichmäßig für ein solches Insekt. Er warf einen Blick auf den Jungen, der mit großen Augen und vor Furcht erstarrt dastand.
Abdi ging in die Mitte des Raums. Von hier aus stellte er fest, dass das Zirpen aus einem reich verzierten Schrein drang, der an einer Wand befestigt war. Er näherte sich diesem Schrein, und das Geräusch wurde lauter.
Um vor dem Jungen das Gesicht nicht zu verlieren, versuchte Abdi ein Zittern der Hand zu unterdrücken, als er die Hand zum kleinen Schrank in der Mitte des Schreins ausstreckte und die Tür öffnete.
Er wusste, was der Schrein enthielt. Dieses steinartige Artefakt war von der Erde auf Mir gekommen. Es hatte einer Begleiterin von Abdis Vater namens Bisesa Dutt gehört, und es war jahrelang verehrt und hier deponiert worden, als seine Kraft schließlich versiegte.
Es war ein Telefon.
Und es klingelte.
ZWEITER TEIL
REISEN
{4}
WENN DER SCHLÄFER ERWACHT
Februar – März 2069
 
Bisesa war froh, als sie die Tiefschlafeinrichtung endlich verließ. Es stank nach faulen Eiern; das lag am Wasserstoffsulfid, mit dem die Sauerstoffaufnahme der Organe unterbunden wurde.
Im Krankenhaus dauerte es drei Tage, bis die Ärzte ihr wieder Blut in die Adern gefüllt hatten, die Organe zur Sauerstoffaufnahme überredet und sie einer Basis-Physiotherapie unterzogen hatten, sodass sie mit einer Gehhilfe zu gehen vermochte. Sie fühlte sich uralt, älter als ihre biologischen neunundvierzig Jahre, und sie war obendrein ausgezehrt – ein Opfer der Hungersnot. Und die Augen machten ihr ganz besonders zu schaffen. Sie litt anfangs an Sehstörungen, sogar an leichten Halluzinationen. Und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass sie nach ihrem eigenen Urin roch.
Nun ja – seit neunzehn Jahren hatte sie keinen Puls und kein Blut mehr gehabt, die elektrischen Aktivitäten im Gehirn waren ausgesetzt, das Körpergewebe hatte keinen Sauerstoff verbraucht und sie hatte so lang in einer Tiefkühltruhe gelegen, dass beinahe ihre Zellen geplatzt wären. Da war es ganz normal, dass man leicht lädiert war.
Hibernaculum 768 hatte sich verändert, während sie im Tank gelegen hatte. Es sah inzwischen aus wie ein Hotel der gehobenen Kategorie, mit gläsernen Wänden, weißen Fußböden, Kunstledersofas und lauter alten Leuten – zumindest sahen sie alt aus – in Morgenmänteln, die umhertappten.
Und die gravierendste Veränderung war, dass man das Hibernaculum verlegt hatte. Sie ging zu einem Fenster und erblickte eine klaffende Wunde in der Erdkruste – eine Schlucht mit Schichten in den staubigen Wänden, die wie die Seiten eines gigantischen Folianten aussahen. Man sagte ihr, das sei der Grand Canyon. Es war ein wirklich spektakulärer Anblick, für die Schläfer im Hibernaculum freilich eine ziemlich überflüssige Darbietung.
Sie fand es im Nachhinein beunruhigend, dass die komplizierte Tiefkühltruhe, in der sie ihren traumlosen Schlaf geschlafen hatte, von der Stromversorgung getrennt, gleichsam entwurzelt und über den ganzen Kontinent transportiert worden war.
Während der Rekonvaleszenz setzte sie sich immer wieder an ein Aussichtsfenster und ließ das statische geologische Drama des Canyons auf sich wirken. Sie hatte bisher nur einmal einen Ausflug zum Canyon unternommen. Dem Lauf der Sonne am Frühlingshimmel nach zu urteilen musste sie sich am Südrand befinden, vielleicht irgendwo in der Nähe von Grand Canyon Village. Die lokale Flora und Fauna schien sich von der globalen Verwüstung durch den Sonnensturm wieder erholt zu haben; das Land war mit Kakteen, Yucca-Pflanzen und Blackbush übersät. Bei ihrer geduldigen Beobachtung machte sie eine kleine Herde von Dickhornschafen aus, erhaschte einen Blick auf einen Cojoten, und einmal glaubte sie sogar eine Klapperschlange zu sehen.
Auch wenn der Canyon sich wieder erholt haben mochte, schien sich doch sehr viel geändert zu haben. Am östlichen Horizont erkannte sie eine Art Struktur, ein flaches metallisches Gebilde auf Beinen wie das Gerüst einer im Bau befindlichen Einkaufspassage. Manchmal sah sie auch Fahrzeuge um und unter diesem Gerüst umherfahren. Sie hatte aber keine Ahnung, was das darstellen sollte.
Und manchmal sah sie Lichter am Himmel. Da war ein heller sich bewegender Funke, der in vierzig Minuten oder so den südlichen Abendhimmel bestrich: Da musste etwas Großes im Orbit sein. Aber es standen noch seltsamere Zeichen am Himmel, und viel größere: fahle Flecken im blauen Tageslicht, und verschwommenes Sternenlicht des Nachts. Ein fremdartiger Himmel in dieser neuen Zeit. Sie sagte sich, dass sie nicht allzu neugierig und schon gar nicht ängstlich sein sollte, und anfangs war sie das auch nicht.
Doch das änderte sich schlagartig, als sie das Brüllen hörte. Es war ein tiefes Grollen, bei dem die Erde zu beben schien – eher ein geologisches als ein animalisches Geräusch.
»Was war das?«
»Bisesa? Sie haben eine Frage?«
 
Die Stimme war männlich und sonor, klang leicht künstlich und ertönte in der Luft.
»Aristoteles?« Aber sie wusste schon, dass das nicht möglich war, noch bevor er geantwortet hatte.
Die Antwort erfolgte mit einer eigenartigen Verzögerung. »Leider nicht. Ich bin Thales.«
»Thales, natürlich.«
Vor dem Sonnensturm hatte es drei große künstliche Intelligenzen auf den von Menschen bewohnten Welten gegeben, entfernte Nachkommen der Suchmaschinen und anderer intelligenter Software-Agenten früherer technischer Generationen, und alle waren sie Freunde der Menschheit gewesen. Gerüchten zufolge waren »Sicherungskopien« von ihnen angelegt worden, die man dann als Bit-Ströme in den interstellaren Raum abgestrahlt hatte. Im Übrigen hatte nur Thales den Sonnensturm überlebt, weil er in den einfacheren Netzwerken des robusten Bodens gespeichert war.
»Ich freue mich, wieder deine Stimme zu hören.«
Pause. »Und ich freue mich, Ihre zu hören, Bisesa.«
»Thales – wieso diese Reaktionsverzögerungen? Ach so. Du bist noch immer auf dem Mond stationiert?«
»Ja, Bisesa. Und ich bin durch die LichtgeschwindigkeitsVerzögerung gehandikapt. Wie Neil Armstrong.«
»Wieso bringt man dich nicht einfach auf die Erde runter? Das wäre doch viel bequemer.«
»Es geht auch so. Lokale Assistenten unterstützen mich, wenn die Zeitverzögerung zum Problem wird – zum Beispiel bei medizinischen Eingriffen. Doch sonst wird die Situation als zufriedenstellend beurteilt.«
Diese Antworten kamen Bisesa wie einstudiert vor. Fast wie einprogrammiert. Es musste noch andere Gründe für Thales’ Stationierung auf dem Mond geben, die er ihr verschwieg. Aber sie wollte auch nicht weiter in ihn dringen.
»Sie wollten wissen, was es mit dem Gebrüll auf sich hat«, sagte Thales.
»Ja. Das hat sich wie ein Löwe angehört. Wie ein afrikanischer Löwe.«
»Es war auch einer.«
»Und was macht ein afrikanischer Löwe hier, im Herzen Nordamerikas?«
»Der Grand Canyon National Park ist nun ein Jefferson, Bisesa.«
»Ein was?«
»Ein Jefferson-Park. Er ist Teil der Renaturierung. Wenn Sie einmal nach rechts schauen …«
Am Horizont, jenseits des Nordrands vom Canyon, sah sie kompakte graue Gebilde, wie Felsbrocken auf Wanderschaft. Thales veranlasste das Fenster, die Darstellung zu vergrößern. Sie erkannte Elefanten, eine ganze Herde mit Jungen – ein unverwechselbares Profil.
»Ich verfüge über ausführliche Informationen über den Park.«
»Da bin ich mir sicher, Thales. Und noch etwas. Was ist das dort drüben für eine Struktur? Sie sieht aus wie ein Gerüst.«
Die Anlage erwies sich als eine sogenannte Energie-Matte, die Bodenstation eines Orbitalkraftwerks. Sie war ein Kollektor für Mikrowellen, die aus dem Orbit heruntergestrahlt wurden.
»Die ganze Anlage ist ziemlich groß – zehn Quadratkilometer.«
»Ist sie auch sicher? Ich habe nämlich Fahrzeuge darunter hindurch fahren sehen.«
»Ja, für Menschen ist sie sicher. Für Tiere auch. Aber es gibt eine Sperrzone.«
»Und, Thales, diese Lichter am Himmel – das Schimmern …«
»Spiegel und Sonnensegel. Es gibt nun eine ganze orbitale Architektur, Bisesa. Das alles ist ziemlich spektakulär.«
»Dann wird der Traum also verwirklicht. Bud Tooke würde sich freuen.«
»Oberst Tooke ist leider tot …«
»Ich weiß.«
»Bisesa, es gibt menschliche Berater, mit denen Sie sprechen können. Über alles, was Sie auf dem Herzen haben. Zum Beispiel über die Einzelheiten des Tiefschlafs.«
»Das wurde mir schon erklärt, bevor ich mich in die Tiefkühltruhe legte …«
Die Hibernacula waren ein Produkt des Sonnensturms. Das erste war noch vor dem Ereignis in Amerika eingerichtet worden, weil die Reichen so die schweren Jahre bis zur Zeit des Wiederaufbaus überbrücken wollten. Bisesa selbst hatte den Tiefschlaf erst 2050 angetreten, also acht Jahre nach dem Sturm.
»Ich kann Ihnen auch den medizinischen Fortschritt seit dem Einfrieren erläutern«, sagte Thales. »Zum Beispiel hat es nun den Anschein, dass die Affinität Ihrer Körperzellen zu Wasserstoffsulfid ein Relikt eines sehr frühen Stadiums der Evolution des Lebens auf der Erde ist, als aerobe Zellen sich noch die Welt mit Methanbildnern teilten.«
»Das klingt geradezu poetisch.«
»Und dann wäre da noch der motivationale Aspekt«, sagte Thales sanft.
»Welcher motivationale Aspekt …?« Sie verspürte ein plötzliches Unbehagen.
Sie hatte auch allen Grund gehabt, sich in die Tanks zu flüchten. Myra, ihre einundzwanzigjährige Tochter, hatte nämlich gegen Bisesas Rat geheiratet und sich ganz einem Leben im Weltraum verschrieben. Und Bisesa hatte der notorischen Berühmtheit entfliehen wollen, die sie wegen ihrer besonderen Rolle in der Sonnensturm-Krise erlangt hatte. Obwohl ein Großteil dessen, was sich in jenen Tagen ereignet hatte – sogar die wahre Ursache des Sonnensturms -, eigentlich der Geheimhaltung hätte unterliegen sollen.
»Wie dem auch sei«, sagte sie, »die Inanspruchnahme eines Hibernaculums war eine öffentliche Dienstleistung. Das wurde mir jedenfalls gesagt, als ich ihnen mein Geld überschrieb. Mein Treuhandvermögen floss in die Erforschung der Techniken, die eines Tages für solche Dinge verwendet werden wie Transplantationsorgan-Konservierung bis zur Besatzung von Sternenschiff-Flügen über mehrere Jahrhunderte. Und in einer Welt, die nach dem Sturm mit dem Wiederaufbau beschäftigt war, hinterließ ich in einem Tank eingefroren einen viel schwächeren ökonomischen Fußabdruck …«
»Bisesa, es vertreten immer mehr Leute die Ansicht, dass der Hibernaculum-Schlaf im Grunde eine Art sublimierten Selbstmordes sei.«
Jetzt war sie doch baff. Aristoteles hätte sich subtiler ausgedrückt, sagte sie sich. »Thales«, sagte sie mit fester Stimme. »Wenn ich mit jemandem darüber sprechen muss, ist das meine Tochter.«
»Natürlich, Bisesa. Benötigen Sie sonst noch etwas?«
Sie zögerte. »Wie alt bin ich eigentlich?«
»Äh … Gute Frage. Sie sind ein Kuriosum, Bisesa.«
»Danke schön.«
»Sie wurden 2006 geboren, also vor dreiundsechzig Jahren. Und davon muss man noch neunzehn Jahre für die Zeit im Hibernaculum abziehen.«
»Da waren es noch vierundvierzig«, sagte sie bedächtig.
»Aber Ihr biologisches Alter ist neunundvierzig.«
»Ja. Und die anderen fünf Jahre?«
»Sind die Jahre, die Sie auf Mir verbracht haben.«
Sie nickte. »Darüber weißt du auch Bescheid?«
»Das unterliegt einer strengen Geheimhaltung. Aber ich weiß davon.«
Sie lehnte sich im Sessel zurück, beobachtete die wandernde Elefantenherde und den schimmernden Himmel des Jahres 2069 und versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
»Vielen Dank, Thales.«
»Es war mir ein Vergnügen.« Als er dann verstummte, schien der Luft irgendetwas entzogen worden zu sein.
{ 5 }
LONDON
Bella Fingal befand sich gerade im Luftraum über London, als ihre Tochter ihr die schlechte Nachricht aus dem Weltraum überbrachte.
Bella saß in einem Atlantikflug mit Kurs auf Heathrow in den westlichen Bezirken von London. Doch der Pilot sagte ihr, dass der Anflug sie zuerst nach Osten über das Ziel hinaus und dann wieder nach Westen entlang der Themse führen würde, sodass sie in den Wind drehten. An diesem schönen Märzmorgen breitete die Stadt sich wie ein glitzernder Teppich unter ihr aus. Bella hatte das Flugzeug ganz für sich; es war einer der neuen Scramjets, ein futuristisches Transportmittel für eine fünfundsiebzig Jahre alte Großmutter.
Doch am liebsten hätte sie diese Reise gar nicht erst angetreten. Die Beerdigung von James Duflot war schon schlimm genug gewesen; und ein Besuch bei der trauernden Familie wäre noch schlimmer. Aber das war ihre Pflicht als Vorsitzende des Globalen Weltraumrates.
Sie war förmlich über diesen Posten gestolpert, wahrscheinlich eine Kompromissbesetzung durch das überstaatliche Gremium, das den Weltraumrat kontrollierte. In einem Winkel ihres Bewusstseins hatte sie sich gesagt, dass ihr neuer Posten im Grunde eine Honoratiorenstelle war wie die Hochschulkanzler und »Frühstücksdirektoren«, mit denen sie als Veteran des Sonnensturms schon zu tun gehabt hatte. Sie hätte sich jedenfalls nicht vorstellen können, nur wegen solcher unangenehmen, tränenreichen Veranstaltungen um den ganzen Planeten zu fliegen.
Sie hatte ihre Schuldigkeit eigentlich getan. Sie hätte im Ruhestand bleiben sollen, sagte sie sich mit Bedauern.
Und als Edna sich dann mit ihrer ebenso schlechten wie seltsamen Nachricht meldete, wurde Bella sich schließlich bewusst, dass sie tatsächlich die Oberbefehlshaberin einer Weltraum-Marine war.
»Die Späher glauben, dass sie etwas von Bedeutung gefunden haben, Mama. Da ist etwas da draußen – es nähert sich dem Jupiterorbit und geht in eine hyperbolische Flugbahn. Es steht zwar nicht auf der Extirpator-Karte, aber das ist trotzdem nicht ungewöhnlich; es tauchen immer wieder Kometen auf Umlaufbahnen auf, die zu weit entfernt für die Extirpator-Echos sind. Dieses Ding hat aber andere Eigenschaften, die Anlass zur Besorgnis geben.«
Bella hatte schon eine Kopie der »Extirpator-Kart« gesehen, die wie ein Planetarium in ihrer eigenen Basis, dem alten NASA-Hauptquartier in Washington, aufgestellt war. Es handelte sich dabei um einen riesigen, dynamischen, dreidimensionalen Schnappschuss des ganzen Sonnensystems, der am Vorabend des Sonnensturms durch die heftige Explosion einer alten Atombombe namens Extirpator gemacht worden war. Bei dieser Detonation war eine symbolhafte Darstellung der menschlichen Zivilisation namens »Earth-Mail« zu den stummen Sternen gesendet worden, in den Kopien der größten künstlichen Intelligenzen des Planeten namens Aristoteles, Thales und Athene eingebettet worden waren. Innerhalb weniger Stunden nach der Explosion hatten die Radioteleskope auf der Erde Röntgenechos der Explosion von jedem Objekt mit einem Durchmesser von mehr als einem Meter innerhalb des Saturn-Orbits aufgefangen.
Siebenundzwanzig Jahre nach dem Sonnensturm waren die menschlichen Welten und der Weltraum voller Augen, die jede Bewegung verfolgten. Alles, was nicht auf der Karte verzeichnet war, musste ein »Neuzugang« sein. Die meisten Neuankömmlinge, ob menschlich oder natürlich, vermochte man schnell zu identifizieren und zu eliminieren. Und wenn nicht – nun, dann kamen ihr die schlechten Nachrichten auf dem Dienstweg des Rats schnell zu Ohren.
Sie schauderte im warmen, stillen Kokon der Flugzeugkabine. Wie so viele Menschen ihrer Generation wurde Bella noch immer von Albträumen wegen des Sonnensturms geplagt. Und nun gehörte es auch noch zu Bellas Obliegenheiten, sich die bösen Träume anderer Leute anzuhören.
Ednas Gesicht wurde auf die Softscreen in der Rückenlehne vor Bella perfekt in drei Dimensionen abgebildet. Edna war gerade einmal dreiundzwanzig und gehörte der ersten Generation von »Spacern« an, wie Bella sie bezeichnete. Sie waren während Bellas Rehabilitation nach dem Sonnensturm auf dem Mond im Weltraum geboren worden. Und Edna war schon ein Hauptmann. Man wurde schnell befördert in einer Marine mit einer niedrigen Personalstärke und mit Schiffen, die so intelligent waren – sagte Edna zumindest -, dass sogar zum Scheuern des Decks Roboter eingesetzt werden mussten. Heute wirkte Edna mit dem streng zurückgekämmten irischroten Haar und der hoch geschlossenen Uniform angespannt und hatte Ringe um die Augen.
Bella sehnte sich danach, ihre Tochter zu berühren. Aber sie vermochte nicht einmal normal mit ihr zu sprechen. Edna befand sich nämlich im Hauptquartier der Marine im Asteroidengürtel. Wegen der erratischen Umlaufbahnen der Asteroiden war Edna in diesem Moment ungefähr zwei astronomische Einheiten von ihrer Mutter entfernt, der doppelten Entfernung zwischen Erde und Sonne, sodass diese gewaltige Kluft in jeder Richtung eine Kommunikationsverzögerung von sechzehn Minuten bedeutete.
Zumal es auch eine Frage des Protokolls war. Bella war streng genommen der kommandierende Offizier ihrer Tochter. Sie versuchte sich also auf das zu konzentrieren, was Edna sagte.
»Das ist nur ein vorläufiger Bericht, Mama«, sagte Edna. »Ich habe noch keine Einzelheiten. Aber der Knüller ist, dass Konteradmiral Paxton nach London fliegen wird, um dich zu unterrichten …«
Bella zuckte zusammen. Bob Paxton, der Neil Armstrong des Mars – und so lästig wie Hämorrhoiden.
Edna lächelte. »Vergiss nicht, er hat zwar den Ruhm geerntet, aber du bist trotzdem der Boss! Übrigens – Thea macht sich prächtig.« Ednas dreijährige Tochter und Bellas Enkeltochter, ein Spacer der zweiten Generation. »Sie wird auch bald nachhause kommen. Aber du solltest mal sehen, wie gut sie in der Mikrogravitation der Langsam-Rotations-Habitate zurechtkommt …!«
Edna erzählte weiter von privaten Dingen, familiären und sonstigen Angelegenheiten, die längst nicht so dramatisch waren wie das Schicksal des Sonnensystems. Dennoch lauschte Bella gebannt jedem Wort, wie Großmütter das eben taten. Aber es war trotzdem alles so fremdartig; sogar für Bella, die immerhin selbst einmal im Weltraum gearbeitet hatte. Ednas Sprache war mit lauter fremden Begriffen gespickt. Man orientierte sich in einem rotierenden Habitat, indem man sich in Drehrichtung bewegte oder gegen die Drehrichtung oder achswärts … sogar ihr Akzent hatte sich verändert. Er hatte ursprünglich eine »Synthese« aus Bellas irischem Akzent und dem amerikanischen Ostküstenakzent dargestellt – die Marine war im Grunde ein Ableger der alten US-Marine und hatte auch viele Traditionen von ihr übernommen.
Ihre Tochter und Enkeltochter entfremdeten sich von ihr, sagte Bella sich wehmütig. Aber wahrscheinlich hatte jede Großmutter bis zurück zu Eva das gleiche Gefühl gehabt.
Ein leises Klingeln sagte ihr, dass das Flugzeug in den Landeanflug ging. Sie speicherte den Rest von Ednas Botschaft und sendete ihr eine kurze Antwort.
Das Flugzeug neigte sich, und Bella schaute nach unten auf die Stadt.
Sie erkannte deutlich den gewaltigen Abdruck der Kuppel. Es war ein fast perfekter Kreis mit einem Durchmesser von ungefähr neun Kilometern, dessen Mittelpunkt der Trafalgar Square bildete. Innerhalb des Umfangs der Kuppel hatte die alte Bebauung das Wüten des Sonnensturms zum größten Teil unbeschadet überstanden, sodass mit der fahl schimmernden Architektur aus Sandstein und Marmor etwas vom Charakter des alten prachtvollen London bewahrt worden war. Doch Westminster war nun eine Insel, und das Parlament stand verlassen als Denkmal in der Gegend. Nach dem Sonnensturm hatte die Stadt die Bemühungen aufgegeben, den Fluss zu kontrollieren und sich auf die neuen Ufer zurückgezogen, die dem breiteren, natürlichen Verlauf entsprachen, den die alten Römer damals auf ihren Karten verzeichnet hatten. Die Londoner hatten sich angepasst; man konnte nun zwischen den Betonruinen der South Bank Tauchgänge absolvieren.
Außerhalb dieses Kreisumfangs war ein großer Teil des Vorstadtrings von London durch das Feuer des Sonnensturm-Tages vernichtet worden. Nun standen dort kompakte neue Gebäude, die wie Panzersperren wirkten.
Und als das Flugzeug in den Sinkflug ging, sah sie auch die Kuppel selbst. Die Verkleidung war schon vor langer Zeit abmontiert worden, doch ein paar der großen Spanten und Stützpfeiler hatte man stehen lassen; die verwitterten und korrodierten Strukturen warfen kilometerlange Schatten über die Stadt, die die Kuppel vor dem Untergang bewahrt hatte. Es war nur ein streiflichtartiger Blick. Und in gewisser Weise war es auch ein ganz alltägliches Bild; auch nach siebenundzwanzig Jahren sah man noch auf der ganzen Welt und auf Schritt und Tritt die Narben des Sonnensturms.
Die Stadt flog unter ihr vorbei, und das Flugzeug setzte über anonymen, geduckten Vorstädten zur Landung auf Heath row an.
{ 6 }
MYRA
Myra saß mit Bisesa vor dem Panoramafenster und trank Eistee. Es war noch früh am Morgen, und das in spitzem Winkel einfallende Licht schien sich in den Falten von Myras Gesicht zu fangen.
»Was starrst du mich so an?«, fragte Myra.
»Verzeihung, Liebes. Aber kannst du das denn nicht verstehen? Für mich bist du in einer Woche um neunzehn Jahre gealtert.«
»Aber ich bin immer noch jünger als du.« Myra klang verärgert, und das konnte man ihr auch nicht verdenken.
Myra trug eine legere Bluse und eine Hose aus einem intelligenten Gewebe, das sie nach Bedarf wärmte oder kühlte. Das Haar hatte sie zurückgekämmt – ein Stil, der der modisch etwas zurückgebliebenen Bisesa zu streng erschien, aber er brachte Myras Wangenknochen und ihre hohe Stirn schön zur Geltung. Sie trug keinen Ring am Finger. Ihre Bewegungen waren knapp, zurückhaltend, beinahe formal, und sie schaute ihre Mutter kaum an.
Sie schien nicht glücklich. Und sie machte einen unruhigen Eindruck.
Bisesa wusste nicht, was sie umtrieb. »Ich hätte mehr für dich da sein sollen«, sagte sie.
Myra schaute auf. »Das warst du aber nicht.«
»Bis jetzt wusste ich nicht einmal …«
»Aber du weißt doch, dass ich Eugene geheiratet habe, kurz bevor du in den Tank gegangen bist.« Eugene Mangles, das wissenschaftliche Wunderkind an der Grenze zum Autismus, und nach seinen genialen Berechnungen während des Sonnensturms geradezu in den Rang des Retters der Welt erhoben. »Alle haben damals jung geheiratet«, sagte Myra. In den Jahren nach dem Sonnensturm war ein rasanter Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen. »Wir haben uns nach fünf Jahren wieder getrennt.«
»Das tut mir leid. Hat es dann niemand mehr gegeben?«
»Jedenfalls nichts Ernstes.«
»Und wo arbeitest du nun?«
»Ich bin vor … äh … zehn Jahren nach London zurückgekehrt. Ich wohne wieder in unserer alten Wohnung in Chelsea.«
»Unter dem Skelett der Kuppel.«
»Was davon noch übrig ist. Die alte Ruine treibt die Immobilienpreise in die Höhe, musst du wissen. Es gilt als schick, unter der Kuppel zu residieren. Ich glaube, wir sind reiche Leute, Mama. Immer wenn ich knapp bei Kasse bin, verkaufe ich ein paar Anteile; die Preise steigen so schnell, dass ich bei jedem Verkauf einen ordentlichen Schnitt mache.«
»Dann bist du also wieder in der Stadt. Und was machst du die ganze Zeit?«
»Ich habe mich zur Sozialarbeiterin umschulen lassen. Ich beschäftige mich mit PTSD.«
»Posttraumatischer Stress.«
»Das betrifft hauptsächlich deine Generation, Mama. Diese Leute werden die erlittene Belastung mit ins Grab nehmen.«
»Aber sie haben die Welt gerettet«, sagte Bisesa leise.
»Das haben sie wohl.«
»Aber ich konnte dich mir nie als Sozialarbeiterin vorstellen. Du wolltest doch immer Astronautin werden!«
Myra schaute grimmig, als ob eine Indiskretion lanciert worden wäre. »Dem bin ich entwachsen, als ich mir bewusst wurde, was wirklich wichtig ist.«
Scheinbar unbewusst berührte sie die Tätowierung auf ihrer Wange. Es handelte sich um eine Identifikations-Tätowierung – eine zwangsweise Registrierung, die ein paar Jahre, nachdem Bisesa in den Tank gegangen war, eingeführt wurde. Nicht unbedingt ein Ausweis für eine freie Gesellschaft.
»Hatte Eugene denn nicht an Wetteränderungssystemen gearbeitet?«
»Ja, das stimmt. Aber das Forschungsgebiet wurde ziemlich schnell in den Bereich der Waffentechnik abgedrängt. Wetteränderung als Instrument politischer Kontrolle. Es ist zwar noch nicht angewandt worden, aber es existiert jedenfalls. Wir hatten lange Streitgespräche über die moralische Komponente seiner Arbeit. Ich habe die Debatten zwar nie verloren, aber auch nie gewonnen. Eugene hat nämlich nie begriffen, worum es mir überhaupt ging.«
Bisesa seufzte. »Daran erinnere ich mich noch bei ihm.«
»Im Endeffekt war ihm seine Arbeit wichtiger als ich.«
Es tat Bisesa in der Seele weh, diese Enttäuschung bei einer Tochter zu sehen, die aus ihrer Perspektive noch vor ein paar Wochen eine lebensfrohe zweiundzwanzigjährige junge Frau gewesen war.
Sie schaut aus dem Fenster. Es bewegte sich wieder etwas auf der anderen Seite. Diesmal waren es Kamele. »Aber es scheint nicht alles in dieser neuen Welt schlecht zu sein«, sagte sie und versuchte, die Stimmung etwas aufzuhellen. »Mir gefällt die Vorstellung, dass Kamele und Elefanten in Nordamerika umherstreifen – obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, weshalb sie überhaupt hier sind.«
»Wir befinden uns inmitten eines Jefferson«, sagte Myra.
»Nach dem Präsidenten Jefferson benannt?«
»Ich habe eine Menge über die amerikanischen Präsidenten gelernt, als sich mit Eugenes Familie in Massachusetts lebte«, sagte Myra trocken. Die zielstrebige Renaturierung der Welt war ein Impuls, der aus den Nachwirkungen des Sonnensturms resultierte. »Linda hatte sogar etwas mit der Entwicklung des globalen Programms zu tun. Sie hat mir darüber geschrieben.«
»Meine Cousine Linda?«
»Sie ist nun die Dame Linda.« Als Studentin der Bioethik hatte Linda in der Zeit vor dem Sonnensturm mit Bisesa und Myra in einer Wohngemeinschaft gelebt. »Der Punkt ist der, dass schon lange vor Kolumbus die ersten steinzeitlichen Einwanderer die großen Säugetiere zum größten Teil ausgerottet hatten. Daraus resultierte eine Ökologie voller Lücken, die zu schließen die Evolution keine Zeit hatte. ›Ein Konzert mit einem unvollständigen Ensemble.‹ Ich glaube, Thoreau hat das gesagt. Linda zitierte ihn gern. Und als die Spanier Pferde hierher brachten, explodierte ihre Population förmlich. Und weshalb? Weil moderne Pferde sich hier entwickelt haben …«
Die neuen »Jefferson Parks« waren mit dem Ziel angelegt worden, die Ökologie in den Zustand zurückzuversetzen, in dem sie sich am Ende der letzten Eiszeit befunden hatte. Zu diesem Zweck wurden Arten eingeführt, die den ausgestorbenen Spezies weitgehend entsprachen.
Bisesa nickte. »Afrikanische und asiatische Elefanten als Ersatz-Mammuts und Mastodons.«
»Und Kamele für die ausgestorbenen Kameliden. Mehrere Pferde-Arten, der Vielfalt wegen. Ich glaube, es sind sogar Zebras dabei. Und für die Riesenfaultiere hat man Nashörner importiert, Pflanzenfresser mit einer vergleichbaren Masse und ähnlichen Nahrungsgewohnheiten.«
»Und die Löwen wohl als Krönung.«
»Ja. Und es gibt weltweit noch mehrere Parks. In Großbritannien wurde zum Beispiel halb Schottland mit dem ursprünglichen Eichenwald wiederaufgeforstet.«
Bisesa warf einen Blick auf die hochmütigen Kamele. »Ich vermute, das hat einen therapeutischen Hintergrund. Es geht darum, die Nachwirkungen des Sonnensturms zu bewältigen und eine Art Heilungsprozess herbeizuführen. Nach dem Aufwachen habe ich festgestellt, dass wir nach dieser langen Zeit immer noch in einer Wiederaufbau-Phase sind.«
»Ja«, sagte Myra düster. »Und die Bewältigung des Sonnensturms äußert sich auch nicht nur in positiven Erscheinungen wie der Einrichtung eines Urzeit-Parks.
Mama, die Leute wissen nun über den Hintergrund des Sonnensturms Bescheid. Sie kennen die Wahrheit. Zuerst hat das der Geheimhaltung unterlegen. Sogar der Name ›Erstgeborene‹ wurde unter Verschluss gehalten. Es gab zu der Zeit keinerlei Anhaltspunkte, dass der Sonnensturm vorsätzlich ausgelöst worden sei.«
Verursacht wurde der Sonnensturm nämlich dadurch, dass ein Planet von der Größe und Masse des Jupiter in den Kern der irdischen Sonne gelenkt wurde.
»Aber die Wahrheit ist dennoch ans Licht gekommen. Sie wurde lanciert. Und sie wurde zu einem reißenden Strom, als die Generation, die den Sturm bekämpft hatte, in den Ruhestand ging, nichts mehr zu verlieren hatte und ihr Wissen preisgab.«
»Ich finde es erschreckend, dass man das so lange zu vertuschen vermochte.«
»Und selbst jetzt gibt es wohl noch viele Leute, die das nicht glauben wollen. Aber die Menschen haben Angst. Und es gibt Elemente in der Regierung, in der Industrie und in anderen Bereichen, die sich diese Angst zu Nutze machen. Sie militarisieren die ganze Erde und das Sonnensystem noch dazu. Sie bezeichnen es als Krieg gegen den Himmel.«
Bisesa schnaubte. »Das ist doch lächerlich. Wie soll man denn Krieg gegen eine Abstraktion führen?«
»Genau das ist der springende Punkt. Das kann man je nach Opportunität mit allen möglichen Inhalten füllen. Und diejenigen, die den Himmel kontrollieren, verfügen über große Macht. Was glaubst du wohl, weshalb Thales noch immer auf dem Mond stationiert ist?«
»Ach so. Weil dort oben niemand an ihn rankommt. Und deshalb hast du auch gekündigt?«
»Die Unsummen, die sie dafür ausgeben, sind schlicht und einfach vergeudet. Und was noch schlimmer ist: Das Wissen, das wir bereits über die Technologie der Erstgeborenen haben, wird nicht konsequent angewandt. Die Augen zum Beispiel. Die Manipulation der Raumzeit, die Erschaffung von Taschen-Universen – alles Dinge, die im Fall einer neuen Bedrohung wirklich nützlich sein könnten.«
»Aus diesem Grund bist du ausgestiegen.«
»Ja. Ich meine, es hat schon Spaß gemacht, Mama. Ich bin immerhin zum Mond geflogen! Aber ich habe die ständigen Lügen nicht mehr akzeptieren wollen. Es gibt viele Leute auf der Erde und im Weltraum, die genauso denken wie ich.«
»Im Weltraum?«
»Mama, seit dem Sonnensturm ist eine ganze Generation im Weltraum geboren worden. Sie nennen sich selbst Spacer.« Sie schaute ihre Mutter an und wandte den Blick rasch wieder ab. »Es war ein Spacer, der mich angerufen hat. Und mich gebeten hat, dich abzuholen.«
»Und wieso?«
»Da ist etwas im Busch.«
Bei diesen schlichten Worten lief es Bisesa kalt den Rücken hinunter.
Sie registrierte eine Veränderung der Lichtverhältnisse. Sie schaute auf und sah einen hellen Satelliten seine Bahn am Himmel ziehen. »Myra – was ist das? Das wirkt irgendwie altmodisch inmitten der Weltraum-Spiegel.«
»Das ist Apollo 9. Beziehungsweise ein Nachbau. Dieses Schiff ist vor hundert Jahren geflogen. Die Regierung führt eine Neuauflage dieser klassischen Missionen durch. Zur Erinnerung an die verlorenen Zeiten vor dem Sonnensturm.«
Bewahrung und Erinnerungen. Festhalten an der Vergangenheit. Es hatte wirklich den Anschein, als ob die ganze Welt sich noch immer im Schockzustand befände. »In Ordnung. Was erwartest du also von mir?«
»Wenn du so weit bist, pack deine Sachen. Wir verschwinden.«
»Und wohin verschwinden wir?«
Myra lächelte etwas gezwungen. »In den Weltraum …«
{7}
DIE TOOKE-MEDAILLE
Die Kolonne fuhr vor einem Anwesen in einer Vorstadt namens Chiswick vor.
Bella stieg mit zwei ihrer Rats-Leibwächter aus dem Auto. Es handelte sich um einen Mann und eine Frau in schwerer Ausrüstung, die wie ihre Kollegen stumm und anonym wirkten. Die Frau trug ein kleines Päckchen in einer schwarzen Ledertasche.
Die Fahrzeugtür schloss sich von selbst.
Bella warf einen Blick auf das Anwesen der Duflots und nahm allen Mut zusammen. Es war ein steriler weißer Betonklotz mit abgerundeten, Wind abweisenden Ecken, und das Gebäude war in den Boden eingesunken, als ob es zu schwer wäre für den Lehmboden von London. Das Dach war ein regelrechter Windpark, zusätzlich mit Solarzellen-Paneelen und Antennen bestückt; die kleinen Fenster wirkten die Schießscharten. Mit den unterirdischen Räumen und der unabhängigen Stromversorgung glich das Haus einem Bunker. Das war die Architektur der von Ängsten geplagten Mitte des 21. Jahrhunderts.
Bella musste eine Treppenflucht zur Vordertür hinabsteigen. Eine schlanke Frau in einem strengen schwarzen Kostüm erwartete sie.
»Miss Duflot?«
»Dr. Fingal. Vielen Dank für Ihr Erscheinen. Nennen Sie mich Phillippa …« Sie reichte ihr eine langfingrige Hand.
Abgeschirmt von ihren Sicherheitsleuten wurde Bella durch das Haus ins Wohnzimmer geführt.
Phillippa Duflot musste Anfang sechzig sein, also etwas älter als Bella. Ihr silberfarbenes Haar war kurz geschnitten. Ihr Gesicht war nicht unattraktiv, aber es war hohlwangig und wirkte beinahe eingefallen, und die Lippen waren aufgeworfen. Phillippa strahlte eine Aura eiserner Selbstbeherrschung aus, aber diese Frau hatte einen Sohn verloren, und Bella hatte den Eindruck, dass die Spuren dieser Tragödie sich als Falten um die Augen und eine Verspannung im Nacken manifestierten.
Im Wohnzimmer wurde Bella von Phillippas Mehrgenerationen-Familie bereits erwartet. Die Familienangehörigen erhoben sich, als Bella den Raum betrat, und reihten sich vor der Softscreen auf, die das Bild eines idyllischen schottischen Sees zeigte. Bella hatte sich alle Namen gemerkt und hoffte nur, dass sie sie vor lauter Nervosität nicht wieder vergessen hatte. Die zwei überlebenden Söhne von Phillippa, Paul und Julian, waren gestandene Männer in den Dreißigern, die nun aber betreten wirkten. Ihre Frauen standen an ihrer Seite. Diese schlanke, schöne Frau von sechsundzwanzig war Cassie, die Witwe des vermissten Sohns James, und seine zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen: der sechsjährige Toby und die fünfjährige Candida. Sie alle waren anlässlich der Trauerfeier in Schwarz und Weiß gekleidet, sogar die Kinder. Und sie alle hatten Identifikations-Tätowierungen auf der Wange. Das Tattoo des kleinen Mädchens war eine schöne rosa Blume.
Vor dieser Gruppe und unter den Blicken der Kinder wusste Bella plötzlich nicht mehr, was sie sagen sollte.
Phillippa kam ihr zu Hilfe. »Wir freuen uns wirklich sehr über Ihr Erscheinen.« Sie hatte den authentischen Akzent der britischen Oberklasse, eine Reminiszenz an ein anderes Zeitalter, als Etikette und Status noch einen hohen Stellenwert gehabt hatten. »Dr. Fingal ist die Leiterin des Weltraumrates«, sagte Phillippa zu ihren Enkelkindern. »Sie ist eine sehr wichtige Person. Und sie ist extra von Amerika hierher geflogen, um uns zu treffen.«
»Nun ja. Und um Ihnen dies hier zu geben.« Bella wandte sich mit einem Kopfnicken an ihre Leibwächter, die Frau überreichte ihr die Ledertasche. Bella öffnete sie vorsichtig und stellte sie auf einen niedrigen Kaffeetisch. Eine Scheibe aus einem zarten, funkelnden Geflecht lag auf einem schwarzen Samtkissen.
Die Kinder machten große Augen. »Ist das ein Orden?«, fragte der Junge.
Und Candida fragte: »Ist das für Daddy?«
»Ja. Das ist für deinen Vater.« Sie deutete auf den Orden, berührte ihn aber nicht; er wirkte wie ein Spinnennetz, das mit winzigen elektronischen Bauteilen besetzt war. »Wisst ihr denn, woraus er besteht?«
»Weltraumschild-Zeug«, sagte Toby wie aus der Pistole geschossen.
»Ja. Genau das. Man nennt es die Tooke-Medaille. Dies ist die höchste Auszeichnung, die man erwerben kann, wenn man im Weltraum lebt und arbeitet. Ich kannte Bud Tooke. Ich habe mit ihm oben auf dem Schild gearbeitet. Ich weiß, wie sehr er euren Daddy bewundert hätte. Und das ist auch nicht nur ein Orden. Wollt ihr sehen, was er sonst noch alles kann?«
Der Junge war skeptisch. »Was denn?«
Sie wies auf den Gegenstand. »Drück einfach auf diesen Knopf und sieh selbst.«
Der Junge tat wie geheißen.
Ein Hologramm leuchtete über dem Tisch auf und wölbte sich über den Orten im Etui. Es zeigte eine Begräbnis-Szenerie, mit einem von Flaggen drapierten Sarg auf einem Katafalk, der von sechs Ponys gezogen wurde. Gestalten in dunkelblauen Uniformen standen Spalier. Der Ton war blechern, aber klar, und Bella vermochte das knarrende Zaumzeug der Pferde zu hören und den leisen Hufschlag.
Die Kinder dräuten wie stumme Riesen über der Szene. Das Mädchen weinte leise, und ihr Bruder tröstete sie. Phillippa Duflot schaute gefasst zu.
Es erfolgte ein Sprung in der Handlung. Drei Gewehrsalven ertönten, und eine Staffel kleiner, glitzernder Düsenflugzeuge fegte durch den Himmel, wobei eine Maschine sich aus der Formation löste.
»Das ist Papas Begräbnis«, sagte Toby.
»Ja.« Bella beugte sich zu den Kindern hinunter. »Er wurde in Arlington beerdigt. Das ist in Virginia, wo die amerikanische Marine ihren Friedhof hat.«
»Papa hat in Amerika trainiert.«
»Das stimmt. Ich war selbst auf der Beerdigung, und deine Mama auch. Dieses Hologramm wird vom Schildelement selbst erzeugt …«
»Wieso ist das eine Flugzeug denn weggeflogen?«
»Das nennt man die Missing Man-Formation. Diese Flugzeuge, weißt du, Toby. Das waren T-38. Die ersten Astronauten haben sie als Schulflugzeuge verwendet. Sie sind über hundert Jahre alt – stell dir das mal vor.« »Ich mag die kleinen Pferde«, sagte Candida.
Ihr Onkel legte ihnen die Hände auf die Schultern. »Kommt jetzt mit.«
Mit einiger Erleichterung richtete Bella sich auf.
Es wurden Getränke gereicht: Sherry, Whisky, Kaffee, Tee, serviert von einer schüchtern wirkenden jungen Tante. Bella entschied sich für einen Kaffee und ging zu Phillippa.
»Es war sehr nett, dass Sie ihnen das so einfühlsam nahe gebracht haben«, sagte Phillippa.
 
 
 
 
Deutsche Erstausgabe 1/09 Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 2008 by Artur C. Clarke & Stephen Baxter
Copyright © 2009 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH www.heyne.deUmschlagillustration: David Stevenson
 
eISBN : 978-3-641-03261-6V002

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