Ring - Stephen Baxter - E-Book

Ring E-Book

Stephen Baxter

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Beschreibung

Wenn die Sonne stirbt …

Der Verdacht erhärtet sich, dass die Sonne eine weit kürzere Lebenserwartung hat als bisher angenommen. Um sich Gewissheit zu verschaffen, werden zwei Großprojekte in Angriff genommen: Die Great Northern, ein Forschungsraumschiff, soll durch ein Wurmloch fünf Milliarden Jahre in die Zukunft reisen. „Lieserl“ hingegen ist eine weibliche, durch Nanotechnologie erschaffene KI, die im Inneren der Sonne die Vorgänge direkt untersuchen soll. Als die Great Northern die Zukunft erreicht, ist aus der Sonne längst ein roter Riese geworden, der die inneren Planeten verschlungen hat. Von der Menschheit ist keine Spur mehr zu finden, doch es gelingt der Besatzung, Kontakt mit Lieserl aufzunehmen, die seit fünf Millionen Jahren im Herzen unserer Sonne lebt und den Zerfall des Universums durch die Ausbreitung unsichtbarer Materie beobachtet. Die einzige Hoffnung auf das Überleben der letzten Menschen ist der geheimnisvolle Ring, ein von einer uralten Spezies erschaffener Superstring, der ein Tor in ein anderes Universum öffnen könnte …

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Seitenzahl: 722

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STEPHEN BAXTER

RING

Roman

INHALT

ERSTER TEIL

Schauplatz: Sonnensystem

ZWEITER TEIL

Kurs: Zeitwärts

DRITTER TEIL

Schauplatz: Sonne

VIERTER TEIL

Flugbahn: Raumgleich

FÜNFTER TEIL

Schauplatz: Ring

ERSTER TEIL

1SCHONIM AUGENBLICK ihrer Geburt erkannte sie, dass etwas nicht stimmte.

Ein Gesicht hing groß über ihr: breit, mit glatter Haut und lächelnd. Die Wangen waren feucht, und die großen Augen glitzerten. »Lieserl. O Lieserl …«

Lieserl. So hieß ich damals.

Sie erkundete das Gesicht, studierte die Linien um die Augen, die humorvoll nach oben gezogenen Mundwinkel, die kräftige Nase. Es war ein intelligentes, lebenserfahrenes Gesicht. Dies ist ein gutes menschliches Wesen, sagte sie sich. Gute Zucht …

›Gute Zucht‹?

Das war unmöglich. Sie war unmöglich. Sie erschrak vor ihrem eigenen explosiven Bewusstsein. Sie hätte noch nicht einmal in der Lage sein dürfen, etwas mit ihren Augen zu erkennen …

Sie versuchte, das Gesicht ihrer Mutter zu berühren. Ihre Hand war noch feucht vom Fruchtwasser – aber sie wuchs sichtlich, die Knochen verlängerten und verbreiterten sich und füllten die lose Haut wie einen Handschuh aus.

Sie öffnete den Mund. Er war trocken, und das Zahnfleisch war bereits wund wegen der zum Vorschein kommenden Milchzähne.

Starke Arme umfassten sie, und knochige, erwachsene Finger gruben sich in das schmerzende Fleisch ihres Rückens. Sie konnte andere Erwachsene in ihrer Nähe wahrnehmen, das Bett, in dem sie das Licht der Welt erblickt hatte, die Konturen eines Zimmers.

Ihre Mutter hielt sie vor einem Fenster in die Höhe. Lieserls Kopf fiel nach hinten, denn die sich ausbildenden Muskeln waren noch zu schwach, um das zunehmende Gewicht des Kopfes zu stützen. Speichel benetzte ihr Kinn.

Ein intensives Licht blendete ihre Augen.

Sie schrie auf.

Ihre Mutter legte die Arme um sie. »Die Sonne, Lieserl. Die Sonne …«

Die ersten Tage waren am schlimmsten.

Ihre Eltern – unglaublich große, dräuende Gestalten – brachten sie in hell erleuchtete Räume und einen Garten, der ständig von Sonnenlicht überflutet war. Sie lernte, sich aufzusetzen. Ihre Rückenmuskeln verbreiterten sich und pulsierten, während sie wuchsen. Um sie von dem ständigen Schmerz abzulenken, hampelten Clowns vor ihr über den Rasen und kicherten aus Mündern mit dicken, roten Lippen, bevor sie ihre Existenz schließlich in einer Pixelwolke beendeten.

Sie wuchs explosionsartig, aß fortwährend und speicherte Millionen von Eindrücken in ihrem zarten Sensorium ab.

Dieser Ort, dieses Anwesen, schien über eine unbegrenzte Anzahl von Zimmern zu verfügen. Langsam begann sie zu verstehen, dass einige der Räume virtuelle Kammern waren – Bildschirme, auf die beliebig viele Bilder projiziert werden konnten. Doch auch so musste das Anwesen noch Hunderte von Zimmern umfassen. Und sie und ihre Eltern lebten nicht allein hier. Es gab auch noch andere Leute. Diese hielten sich zunächst jedoch bedeckt und machten sich nur durch ihre Handlungen bemerkbar: die Mahlzeiten, die sie zubereiteten, die Spielzeuge, die sie ihr hinstellten.

Am dritten Tag nahmen ihre Eltern sie auf einen Flug in einem Gleiter mit. Es war das erste Mal, dass sie das Haus und das Grundstück verließ. Als der Gleiter aufstieg, schaute sie aus den großen Fenstern und drückte die Nase an erwärmtes Glas.

Das Anwesen war ein Konglomerat aus weißen würfelförmigen Gebäuden, die durch Passagen miteinander verbunden und von Gartenanlagen umgeben waren – Rasen und Bäumen. Weiter draußen waren Brücken und Straßen zu sehen, die sich durch die Luft schwangen, und Häuser durchsetzten wie Bauklötze die glühenden Hänge.

Der Gleiter gewann weiter an Höhe.

Der Flug führte bogenförmig über eine Spielzeuglandschaft hinweg; ein kurvenförmiger Ausschnitt blauen Ozeans grenzte an das Land um sie herum. Ihre Mutter sagte ihr, dass dies die Insel Skiros sei, und das Meer würde Ägäis genannt. Ihr Anwesen war das größte auf der Insel. Im Zentrum der Insel konnte sie eine Anzahl großer, brauner Kugeln erkennen: Phillida erklärte ihr, dass es sich hierbei um Kuppeln zur Kohlenstoffgewinnung handelte, Trockeneiskugeln mit einem Durchmesser von vierhundert Metern.

Schließlich landete der Gleiter auf einer grasbewachsenen Fläche an der Küste eines Meeres. Die Mutter hob sie aus dem Gleiter und stellte sie auf das harte, sandige Gras.

Hand in Hand gingen sie über eine niedrige Düne zum Strand hinunter.

Die Sonne brannte von einem unerträglich blauen Himmel herab. Ihr Sehvermögen schien über eine Zoomfunktion zu verfügen. Sie betrachtete in der Entfernung spielende Gruppen von Kindern und Erwachsenen – weit entfernt, auf halber Strecke zum Horizont –, und dennoch kam es ihr so vor, als ob sie sich direkt in ihrer Mitte befände. Ihre noch unsicheren Füße hinterließen Abdrücke im körnigen, feuchten Sand.

Sie fand Muscheln, die an einer verfallenen Pier klebten. Sie brach sie mit einer Spielzeugschaufel los und betrachtete fasziniert ihre schleimig tropfenden Füße. Sie schmeckte das Salz in der Luft; es schien in jede Pore ihrer Haut einzudringen.

Sie saß mit ihren Eltern im Sand und spürte, wie sich ihr leichtes Kleid über dem noch immer wachsenden Körper spannte. Sie spielten ein simples Computerspiel mit Spielsteinen, die auf einem virtuellen Brett bewegt wurden, mit Darstellungen von Leitern und zischenden Schlangen. Sie lachten, wobei ihr Vater zum Spaß herumquengelte, und taten so, als ob sie beim Spielen betrügen wollten.

Ihre Sinne waren regelrecht elektrisiert. Es war ein wundervoller Tag, voller Licht und Freude und außergewöhnlich intensiver Wahrnehmungen. Ihre Eltern liebten sie – sie spürte es an der Art, wie sie sich bewegten, zu ihr kamen, sie berührten und mit ihr spielten.

Sie mussten wohl wissen, dass sie anders war; aber es schien sie nicht zu stören.

Sie wollte nicht anders sein – falsch sein. Sie verbannte ihre Ängste und konzentrierte sich auf die Schlangen, die Leitern und die funkelnden Steine.

Jeden Morgen wachte sie in einem Bett auf, das zu klein für sie wurde.

Lieserl mochte den Garten. Sie liebte es, die Blumen zu betrachten, wie sie ihre winzigen, schönen Gesichter auf die Sonne richteten, während das große Licht geduldig über den Himmel kletterte. Das Sonnenlicht ließ die Blumen wachsen, hatte ihr Vater ihr erklärt. Vielleicht war sie selbst wie eine Blume, dachte sie, die in diesem Sonnenlicht zu schnell wuchs.

Das Anwesen war voller Spielsachen: bunte Bauklötze, Puzzles und Puppen. Sie hob sie auf und drehte sie in ihren sich entwickelnden, wachsenden Händen. Diese Spielsachen wurden ihr schnell langweilig, aber ein kleines Objekt fesselte immer wieder ihre Aufmerksamkeit. Es war ein kleines Dorf, das sich in einer mit Wasser gefüllten Kugel befand. Es war von winzigen Menschen bevölkert, die mitten in ihren Bewegungen eingefroren zu sein schienen, während sie durch ihre Welt gingen oder liefen. Als sie die Kugel mit ihren unbeholfenen Händen schüttelte, wirbelten Plastikschneeflocken durch die Luft und senkten sich auf die Straßen und Dächer. Sie betrachtete die eingeschlossenen Dörfler und wünschte sich, sie gehörte zu ihnen: eingefroren in der Zeit, befreit von diesem Zwang zu wachsen.

Am fünften Tag brachte man sie in ein großes, unregelmäßig geschnittenes und von Sonnenlicht durchströmtes Klassenzimmer. Dieser Raum war voller Kinder – anderer Kinder! Sie hockten auf dem Boden und spielten mit Malkästen und Puppen oder sprachen ernsthaft mit leuchtend bunten, virtuellen Figuren – lächelnden Vögeln und winzigen Clowns.

Die Kinder drehten sich zu ihr um, als sie mit ihrer Mutter hereinkam, mit runden und fröhlichen Gesichtern, wie Punkte aus Sonnenlicht, das durch ein Blätterdach fiel. Noch nie zuvor war sie anderen Kindern so nahe gekommen. Waren diese Kinder etwa auch anders?

Ein kleines Mädchen schnitt ihr eine Grimasse, und Lieserl umklammerte die Beine ihrer Mutter. Aber die legte nur ihre vertrauten warmen Hände auf ihren Rücken. »Geh weiter. Es ist alles in Ordnung.«

Als sie in das verzerrte Gesicht des fremden Mädchens blickte, schienen sich Lieserls Fragen, ihre altklugen, konstruierten Zweifel in Luft aufzulösen. Plötzlich zählte nur noch für sie – das einzige, was überhaupt zählte –, dass sie von diesen Kindern akzeptiert wurde – und sie nicht erfuhren, dass sie anders war.

Ein Erwachsener kam auf sie zu: ein Mann, jung und schlank, mit jugendlichen Gesichtszügen. Er trug einen Overall in einem lächerlichen Orange; im Sonnenlicht nahm sogar sein Kinn noch diese Farbgebung an. Er lächelte sie an. »Du bist doch sicher Lieserl? Ich heiße Paul. Wir freuen uns, dass du hier bist. Stimmt doch, Leute?«

Die Antwort war ein einstudiertes, konzertiertes »Ja«.

»Komm mit. Du bekommst jetzt eine Aufgabe«, sagte Paul. Er führte sie über den mit Kindern bedeckten Fußboden zu einer Stelle neben einem kleinen Jungen. Der Junge – rothaarig, mit stahlblauen Augen – betrachtete eine virtuelle Puppe, die sich unablässig neu gestaltete: Figur zwei zerfiel in zwei Schneeflocken, zwei Schwäne, zwei tanzende Kinder; Figur drei verwandelte sich in drei Bären, drei in der Luft schwimmende Fische und drei Kuchen. Der Junge sagte die Zahlen auf, wobei er der blechernen Stimme der Projektion folgte. »Zwei. Eins. Zwei und Eins ist Drei.«

Paul stellte sie dem Jungen vor – Tommy –, und sie setzte sich zu ihm. Zu Lieserls Erleichterung war Tommy so von der Darstellung fasziniert, dass er ihre Präsenz kaum zur Kenntnis nahm – ganz zu schweigen ihre Andersartigkeit.

Tommy legte sich auf den Bauch und stützte das Kinn in die zusammengelegten Handflächen. Unbeholfen imitierte Lieserl seine Positur.

Die Zahlendarstellung durchlief ihren Zyklus und erlosch. »Tschüß, Tommy! Auf Wiedersehen, Lieserl!«

Jetzt wandte Tommy ihr seine Aufmerksamkeit zu – er sah sie wortlos an, mit unbewusster Akzeptanz.

»Können wir das noch mal sehen?«, fragte Lieserl.

Er gähnte und bohrte in einem Nasenloch herum. »Nein. Lass uns etwas anderes anschauen. Es gibt da was sehr Interessantes über die Explosion im Prä-Kambrium …«

»Das was?«

Er wedelte lässig mit einer Hand. »Den Burgess-Schiefer und das alles, weißt du. Warte einmal ab, bis du erst die Hallucigenia über deinen Nacken krabbeln spürst …«

Die Kinder spielten und lernten und machten Nickerchen. Später fing das Mädchen, das Lieserl die Grimasse geschnitten hatte – Ginnie –, Streit an. Sie mokierte sich darüber, wie Lieserls knochige Handgelenke aus den Ärmeln hervorschauten (Lieserls Wachstum verlangsamte sich bereits, aber sie wuchs noch immer täglich aus ihren Sachen heraus). Dann – unerwartet und erstaunlich – begann Ginnie loszubrüllen und behauptete, dass Lieserl über ihre Projektion gelaufen wäre. Als Paul herbeikam, wollte Lieserl ihm ruhig und rational erklären, dass Ginnie sich irren musste; aber Paul sagte ihr, dass sie nicht solchen Ärger machen sollte, und zur Strafe musste sie zehn Minuten isoliert von den anderen Kindern sitzen, ohne Stimulation.

Das alles war in höchstem Maße unfair. Es waren die längsten zehn Minuten in Lieserls Leben. Sie schaute Ginnie düster und voller Abneigung an.

Am nächsten Tag freute sie sich darauf, wieder mit den Kindern im Klassenzimmer zu sein. Sie ging mit ihrer Mutter durch sonnenbeschienene Gänge. Dann erreichten sie den Raum, an den Lieserl sich erinnerte – da waren Paul, der sie ein wenig melancholisch anlächelte, und Tommy, und das Mädchen Ginnie –, aber Ginnie wirkte jetzt anders: kindlich, unentwickelt …

Wenigstens einen Kopf kleiner als Lieserl.

Lieserl versuchte, diese köstliche Feindschaft des Vortages wieder aufleben zu lassen, aber es gelang ihr nicht mehr. Ginnie war nur ein Kind.

Sie hatte den Eindruck, als ob ihr etwas gestohlen worden wäre.

Ihre Mutter drückte ihre Hand. »Komm mit. Wir suchen einen anderen Raum, in dem du spielen kannst.«

Jeder Tag war einzigartig. Lieserl verbrachte jeden Tag an einem neuen Ort, mit neuen Leuten.

Die Welt erstrahlte im Sonnenlicht. Endlos zogen leuchtende Punkte über den Himmel: Raumstationen in niedrigen Umlaufbahnen und Kometenkerne, die als Energie- und Treibstoffquellen verankert waren.

Menschen bewegten sich durch ein Meer aus Informationen und hatten weltweit Zugang zu allen verfügbaren virtuellen Bibliotheken, die sie durch subvokale Befehle öffnen konnten. Die Landschaft verfügte über ein profundes Bewusstsein; es war praktisch unmöglich, sich zu verlaufen, zu verletzen oder auch nur zu langweilen.

Am neunten Tag betrachtete Lieserl sich in einem virtuellen Holospiegel. Sie ließ das Bild sich drehen, so dass sie die Form ihres Kopfes und den Fall des Haares sehen konnte. Sie befand, dass ihr Gesicht noch immer kindlich weich wirkte, aber die Frau in ihr entwickelte sich bereits, als ob die Ebbe ihrer Kindheit eingesetzt hätte. Sie würde das Gesicht ihrer Mutter – Phillida – haben, mit der kräftigen Nase und den großen, verletzlichen Augen; aber sie würde den sandfarbenen Teint ihres Vaters George aufweisen.

Lieserl hatte das Aussehen einer Neunjährigen. Aber sie war gerade einmal neun Tage alt.

Sie brach die Darstellung ab; sie zerfiel in Millionen winziger Abbildungen ihres Gesichts, die wie Fliegen im Sonnenschein davonflogen.

Phillida und George waren gute Eltern, dachte sie. Sie waren Physiker, und beide gehörten sie einer Organisation mit der Bezeichnung ›Suprahet‹ an. Sie verbrachten ihre Zeit mit der Bearbeitung technischer Unterlagen – die wie herabfallende Blätter durch die Luft rollten – und der Untersuchung komplexer, ringförmiger Simulationen von Sternenmodellen. Obwohl beide sichtlich beschäftigt waren, kümmerten sie sich trotzdem hingebungsvoll um sie. Sie lebte in einer glücklichen Welt aus Lächeln, Sympathie und Förderung.

Ihre Eltern liebten sie vorbehaltlos. Aber das war nicht immer genug.

Irgendwann begann sie, kompliziertere und detailliertere Fragen zu stellen. So etwa diese, warum sie derart schnell wuchs. Sie schien nicht mehr zu essen als die anderen Kinder, denen sie begegnete; was konnte also für ihren absurden Wachstumsprozess verantwortlich sein?

Woher wusste sie so viel? Sie war bei vollem Bewusstsein zur Welt gekommen, wobei sie sogar schon ansatzweise über Sprachvermögen verfügte. Die virtuellen Darstellungen, mit denen sie sich im Unterricht beschäftigte, waren zwar lustig, und sie lernte wohl auch immer etwas dazu; aber das waren dennoch nur Bruchstücke im Vergleich zu dem Erkenntniszuwachs, mit dem sie jeden Morgen aufwachte.

Woher hatte sie das Wissen im Mutterleib bezogen? Woher bezog sie es jetzt?

Die seltsame kleine Familie hatte einige schlichte, intime Rituale entwickelt. Lieserls Steckenpferd war, jeden Abend das Schlangen- und Leiterspiel zu spielen. George hatte ein altes Spiel mitgebracht – ein echtes Brett aus Pappe mit Spielsteinen aus Holz. Eigentlich war Lieserl schon zu alt für dieses Spiel; aber sie liebte die Gesellschaft ihrer Eltern, die intelligenten Witze des Vaters, die einfache Herausforderung des Spiels und das Gefühl der abgenutzten, antiken Steine.

Phillida zeigte ihr, wie sie sich selbstdefinierte Brettspiele programmieren konnte. Ihre am elften Tag erfolgten ersten Bemühungen erbrachten schlichte, regelmäßige Formen, im Grunde Kopien der handelsüblichen Spiele, die sie bereits kannte. Aber bald begann sie zu experimentieren. Sie konzipierte ein großes Brett mit einer Million Feldern, das einen ganzen Raum bedeckte – sie konnte über das Brett laufen, eine waagrechte, etwa in Hüfthöhe befindliche Ebene aus Licht. Sie bestückte das Brett mit komplexen, gewundenen Schlangen, großen Leitern und kräftig glühenden Feldern – alles höchst detailliert.

Am nächsten Morgen ging sie voller Vorfreude in das Zimmer, in dem sie das Brett aufgebaut hatte – und wurde umgehend enttäuscht. Ihre Bemühungen wirkten blass, statisch, wie kopiert – offensichtlich das Werk eines Kindes, trotz der Unterstützung durch die virtuelle Software.

Sie leerte das Brett und hinterließ ein in der Luft schwebendes Gitter aus hellen Feldern. Dann schickte sie sich an, es erneut zu bevölkern – diesmal jedoch mit bewegten, halbmenschlichen Schlangen und mobilen ›Leitern‹ in hundertfacher Ausprägung. Sie hatte gelernt, sich Zugang zu den Virtuellen Bibliotheken zu verschaffen, und sie plünderte die Kunst und die Geschichte Dutzender Jahrtausende, um das Brett zu beleben.

Natürlich war es jetzt nicht mehr möglich, auf dem Brett zu spielen, aber darauf kam es auch gar nicht an. Das Brett war das Ziel, eine kleine Welt für sich. Sie zog sich etwas von ihren Eltern zurück und verbrachte viele Stunden mit intensiven Recherchen in den Bibliotheken. Sie gab den Unterricht auf. Ihre Eltern schienen keine Einwände zu haben; sie unterhielten sich regelmäßig mit ihr, interessierten sich für ihre Projekte und respektierten ihre Privatsphäre.

Auch am nächsten Tag galt ihr Interesse noch dem Brett. Aber jetzt konzipierte sie komplexe Spiele, unterteilte das Brett durch willkürlich gezogene Grenzen aus glühendem Licht in Länder und Reiche. Bei der schematischen Rekonstruktion der großen Ereignisse der Menschheitsgeschichte stießen Armeen aus Leitern auf Legionen von Schlangen.

Sie schaute zu, wie die Symbole über das virtuelle Brett flackerten, aufleuchteten und verschmolzen; sie entwarf ausführliche Chroniken der Geschichte ihrer imaginären Länder.

Am Ende des Tages begann sie sich indessen mehr für die von ihr konsultierten historischen Texte selbst zu interessieren als für deren Interpretation. Sie ging zu Bett und konnte es kaum erwarten, dass der nächste Tag anbrach.

Sie erwachte im Dunklen, verkrampft vor Angst.

Sie forderte Licht an. Sie setzte sich im Bett auf.

Die Bezüge waren blutbefleckt. Sie schrie auf.

Phillida setzte sich zu ihr und wiegte ihren Kopf. Lieserl schmiegte sich an die Wärme ihrer Mutter und versuchte, das Zittern zu unterdrücken.

»Ich glaube, es ist Zeit, dass du mir deine Fragen stellst.«

Lieserl schniefte. »Welche Fragen?«

»Die Fragen, die du bereits seit dem Augenblick deiner Geburt mit dir herumträgst.« Phillida lächelte. »Ich konnte es in deinen Augen sehen, schon in jenem Moment. Du armes Ding … mit so viel Bewusstsein belastet zu sein. Es tut mir leid, Lieserl.«

Lieserl rückte von ihr ab. Plötzlich verspürte sie Kälte und Verletzlichkeit.

»Wer bin ich, Phillida?«, fragte sie dann.

»Du bist meine Tochter.« Phillida legte die Hände auf Lieserls Schultern und kam mit dem Gesicht dicht an sie heran; Lieserl konnte ihren warmen Atem spüren, und das weiche Licht des Zimmers betonte das Grau im blonden Haar ihrer Mutter und ließ es aufleuchten. »Vergiss das nie. Du bist so menschlich, wie ich es bin. Aber …« Sie zögerte.

»Aber was?«

»Aber du wirst – konstruiert.«

»Es befinden sich Nanobots in deinem Körper«, sagte Phillida. »Weißt du, was ein Nanobot ist? Eine Maschine im molekularen Maßstab, die …«

»Ich weiß, was ein Nanobot ist«, erwiderte Lieserl. »Ich weiß alles über AntiSenescence und Nanobots. Ich bin kein Kind mehr, Mutter.«

»Natürlich nicht«, bestätigte Phillida ernst. »Aber in deinem Fall, mein Liebling, sind die Nanobots programmiert worden – nicht, um den Alterungsprozess umzukehren, sondern um ihn zu beschleunigen. Verstehst du?«

Nanobots schwärmten durch Lieserls Körper. Sie beschichteten ihre Knochen mit Kalzium, stimulierten die Zellteilung und veranlassten ihren Körper, sich wie eine absurde menschliche Sonnenblume zu entfalten – sie implantierten sogar Erinnerungen und synthetische Lerninhalte direkt in ihren Cortex.

Lieserl war versucht, sich die Haut aufzukratzen und diese künstliche Infektion zu beseitigen. »Warum? Warum habt ihr zugelassen, dass so etwas mit mir geschieht?«

Phillida rückte dicht zu ihr auf, aber Lieserl blieb steif und sträubte sich schweigend. Phillida vergrub das Gesicht in Lieserls Haar; Lieserl spürte das leichte Gewicht der Wange ihrer Mutter auf dem Kopf. »Noch nicht«, sagte Phillida. »Noch nicht. Noch ein paar Tage, mein Liebes. Das ist alles …«

Phillidas Wangen wurden wärmer, als ob sie still in das Haar ihrer Tochter weinte.

Lieserl kehrte zu dem Brettspiel mit den Schlangen und Leitern zurück. Ihr wurde bewusst, dass sie ihr Werk mit Freude, aber auch mit einer nostalgischen Traurigkeit betrachtete; sie distanzierte sich emotional von dieser ausgeklügelten, leicht obsessiven Kreation.

Sie war bereits zu alt dafür.

Sie ging in die Mitte des funkelnden Brettes und ließ eine dreißig Zentimeter durchmessende Sonne aus dem Zentrum ihres Körpers entstehen. Licht überflutete das Brett und zerbrach es.

Sie war indessen nicht die einzige Erwachsene, die solche Phantasiewelten erschaffen hatte. Sie erfuhr von den Brontës, die zurückgezogen im Norden Englands in einer gemeinsamen Welt aus Königen und Prinzen und Imperien gelebt hatten. Und sie informierte sich über die Herkunft des simplen Spiels der Schlangen und Leitern. Es stammte aus Indien, wo es als pädagogisch wertvolle Lernhilfe mit der Bezeichnung Moksha-Patamu entwickelt worden war. Es basierte auf zwölf Sünden und vier Tugenden, und das Ziel war das Eingehen ins Nirwana. Man konnte auf jeden Fall eher verlieren als gewinnen … Die Briten hatten es im neunzehnten Jahrhundert zu einem ›Knigge‹ für Kinder mit der Bezeichnung Kismet modifiziert. Dreizehn Schlangen und acht Leitern demonstrierten den Kindern, dass sie, wenn sie artig und folgsam waren, ein gutes Leben erwarten konnten.

Aber schon nach wenigen Jahrzehnten hatte das Spiel seine moralische Konnotation verloren. Lieserl stieß auf Bilder aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, die einen traurig dreinblickenden Clown zeigten; er rutschte hilflos an Schlangen hinab und kletterte tapfer Leitern hinauf. Lieserl betrachtete ihn und versuchte zu ergründen, was an der ausgebeulten Hose, dem Spazierstock und dem kleinen Schnauzbart so witzig gewesen sein sollte.

Das Spiel hatte mit seinem Charme und seiner Unkompliziertheit die zwanzig Jahrhunderte überdauert, die seit dem Tod jenes vergessenen Clowns mittlerweile vergangen waren.

Sie entwickelte Interesse für die in den verschiedenen Versionen des Spiels enthaltenen Zahlen. Die Zwölf-zu-Vier-Quote von Moksha-Patamu machte es eindeutig zu einem anspruchsvolleren Spiel als die Dreizehn-zu-Acht-Relation von Kismet – aber um wieviel schwieriger?

Sie begann neue Bretter in die Luft zu projizieren. Aber diese Bretter waren Abstraktionen – schlicht, farblos, wenig mehr als Skizzen. Sie ließ Hochgeschwindigkeits-Simulationen ablaufen und studierte die Ergebnisse. Sie experimentierte mit verschiedenen Schlangen-Leitern-Relationen und mit ihrer Platzierung. Phillida setzte sich zu ihr und führte sie in die Stochastik und die Spieltheorie ein – jeder Bereich ein Wunder für sich.

Am fünfzehnten Tag wurde sie ihrer selbst überdrüssig und besuchte wieder die Schule. Sie betrachtete die Art, wie andere die Dinge rezipierten, als einen erfrischenden Kontrapunkt zu ihrem eigenen Hochgeschwindigkeits-Lernen.

Die Welt schien sich um sie herum zu entfalten; es war eine Welt voller Sonnenlicht, endloser Informationsströme und stimulierender Menschen.

Sie begann sich mit Nanobots zu beschäftigen. Sie erfuhr das Geheimnis der AntiSenescence, des Vorgangs, der den Menschen die relative Unsterblichkeit verlieh.

Die Körperzellen waren darauf programmiert, Selbstmord zu begehen.

Ohne externe Beeinflussung produzierte eine Zelle Enzyme, die ihre DNA in schöne Stücke tranchierten, und starb dann einfach ab. Der Suizid der Zellen stellte einen Schutz gegen unkontrolliertes Wachstum – Tumore – dar, sowie ein Werkzeug zur Formung des sich entwickelnden Körpers: in der Gebärmutter ließ das Absterben unbrauchbarer Zellen Finger und Zehen aus amorphen Gewebeknospen entstehen.

Tod war der Grundzustand einer Zelle. Der Körper musste chemische Signale aussenden, welche die Zellen anwiesen, am Leben zu bleiben. Es war ein ›Totmann-Schalter‹-Regelkreis: Wenn Zellen unkontrolliert zu wuchern begannen – oder wenn sie sich von ihrem jeweiligen Organ ablösten und durch den Körper wanderten –, würden die lebenserhaltenden chemischen Signale ausbleiben, und die Zelle müsste absterben.

Die nanotechnische Manipulation dieses Prozesses machte die Unsterblichkeit möglich.

Sie machte auch die Konstruktion einer Lieserl möglich.

Lieserl nahm dieses Wissen in sich auf und kratzte sich geistesabwesend an den belebten, konstruierten Armen.

Sie wollte die Bedeutung des Begriffes Suprahet in den Virtuellen Bibliotheken nachschlagen. Aber sie bekam keinen Zugang zu diesem Stichwort. Sie war zwar keine EDV-Expertin, vermutete jedoch, dass hier eine Lücke war.

Die Informationen über Suprahet wurden ihr vorenthalten.

Mit einem Klassenkameraden namens Matthew verließ sie das Anwesen und machte einen Ausflug – zum ersten Mal ohne ihre Eltern. Sie flogen in einem Gleiter zu der Küste, an der sie als Kind gespielt hatte, vor zwölf Tagen. Sie fand die verfallene Pier, wo sie die Muscheln entdeckt hatte. Der Ort wirkte jetzt nicht mehr so lebendig – nicht mehr so magisch –, und mit nostalgischer Traurigkeit registrierte sie den Verlust ihrer frischen, kindlichen Sinne. Sie fragte sich, warum die Erwachsenen nie über diesen schrecklichen Wahrnehmungsverlust sprachen. Vielleicht vergaßen sie es einfach nur, überlegte sie sich.

Aber dafür gab es einen Ausgleich.

Ihr Körper war kräftig und geschmeidig, und das Sonnenlicht floss wie warmes Öl über ihre Haut. Sie lief umher und schwamm und genoss das Prickeln der ozongeschwängerten Luft in den Lungen. Sie und Matthew rangelten zum Spaß und jagten sich in die Brandung, wobei sich ihre Körper wie junge Affen ineinander verschlangen – wie Kinder, dachte sie, aber nicht mehr ganz so unschuldig.

Als die Sonne unterging, wiesen sie den Gleiter an, sie nach Hause zu bringen. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag, vielleicht um noch einen Ausflug zu unternehmen. Matthew küsste sie beim Abschied sanft auf die Lippen.

In dieser Nacht konnte sie kaum schlafen. Sie lag in der Dunkelheit ihres Zimmers, den Salzgeruch noch in der Nase und das Bild Matthews vor Augen. Heißes Blut schien durch ihren Körper zu pulsieren, in seinem unaufhörlichen, stetigen Wachstum.

Am nächsten Tag – dem sechzehnten – kam Lieserl schnell aus dem Bett. Noch nie zuvor hatte sie sich so lebendig gefühlt; ihre Haut glühte noch vom Salz und Sonnenlicht des Strandes, und es war eine heiße Spannung in ihr, ein Schmerz tief im Inneren, wie ein Knoten.

Als sie den Gleiterstellplatz vor dem Haus erreichte, wartete Matthew schon auf sie. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, und das Licht der aufgehenden Sonne ließ die Härchen am Halsansatz erglühen.

Dann drehte er sich zu ihr um.

Unsicher streckte er eine Hand nach ihr aus – und ließ sie herabfallen. Er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte; unmerklich veränderte sich seine Körperhaltung, und die Schultern sackten leicht ab; unter ihrem Blick bekam er Angst.

Sie war größer als er. Merklich älter. Abrupt registrierte sie die noch kindlichen Rundungen seines Gesichts, sein unsicheres Auftreten. Der Gedanke, ihn zu berühren – die Erinnerung an ihre fiebrigen Träume in der Nacht –, schien ihr mit einemmal absurd.

Sie spürte, wie sich die Halsmuskeln anspannten; sie glaubte schreien zu müssen. Matthew schien vor ihr zurückzuweichen, als ob sie ihn durch einen Tunnel sähe.

Erneut hatten die emsigen Nanobots – die verdammte, endlose nanotechnische Infektion ihres Körpers – ihr ein Teil ihres Lebens genommen.

Diesmal aber konnte sie es nicht mehr ertragen.

Phillida hatte noch nie so alt ausgesehen. Die Haut schien sich straff über die Wangenknochen zu spannen, mit tief eingegrabenen Falten. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Glaube mir. Als wir – George und ich – uns zu diesem Programm meldeten, wussten wir, dass es schmerzlich werden würde. Aber wir hätten uns nie träumen lassen, wie sehr. Keiner von uns hatte vorher schon Kinder gehabt. Sonst hätten wir vielleicht ermessen können, wie du dich jetzt fühlst.«

»Ich bin ein Freak! Ein Krüppel! Ein absurdes Experiment«, schrie Lieserl. »Ein Konstrukt. Warum habt ihr einen Menschen aus mir gemacht? Warum nicht ein gefühlloses Insekt? Warum keinen Virtuellen?«

»Oh, du musstest schon ein Mensch werden. So menschlich wie nur möglich …«

»Ich bin nur in Fragmenten menschlich«, entgegnete Lieserl bitter. »In Scherben. Die mir auch noch genommen werden, sobald ich sie finde. Das ist nicht menschlich, Phillida. Das ist grotesk.«

»Ich weiß. Es tut mir leid, mein Liebes. Komm mit mir.«

»Wohin?«

»Nach draußen. In den Garten. Ich möchte dir etwas zeigen.«

Misstrauisch und feindselig tolerierte Lieserl, dass ihre Mutter sie an der Hand nahm; aber sie ließ die Finger starr und kalt in Phillidas warmem Griff liegen.

Es war jetzt Vormittag. Das Licht der Sonne überflutete den Garten; Blumen – weiß und gelb – richteten sich gen Himmel.

Lieserl schaute sich um; der Garten war leer. »Was soll ich mir denn anschauen?«

Phillida deutete feierlich nach oben.

Lieserl legte den Kopf in den Nacken und beschirmte die Augen, um das Licht auszublenden. Der Himmel war eine strahlend blaue Kuppel, die nur in großer Höhe von einem Kondensstreifen und den Lichtern der Raumstationen durchbrochen wurde.

Sanft zog Phillida Lieserls Hand vom Gesicht, legte die Hände unter ihr Kinn und richtete ihr Gesicht auf die Sonne wie eine Blume.

Das Licht schien ihren Kopf auszufüllen. Geblendet schlug sie die Augen nieder und starrte Phillida durch einen Schleier verschwommener, gestreifter Nachbilder auf der Netzhaut an. »Die Sonne?«

»Lieserl, du wurdest – konstruiert. Du weißt das. Du wirst durch einen menschlichen Lebenszyklus gepresst, der um mehrere hundertmal beschleunigt ist …«

»Ein Jahr pro Tag.«

»Ja, ungefähr. Aber die Sache hat einen Sinn, Lieserl. Eine Rechtfertigung. Du bist nicht nur ein Experiment. Vielmehr hast du eine Mission.« Sie deutete auf die ausgedehnten, freundlichen Gebäude, aus denen das Anwesen bestand. »Die meisten Leute hier, besonders die Kinder, wissen nichts von dir. Sie haben Jobs, Ziele – sie leben ihr eigenes Leben. Aber sie sind für dich hier.

Lieserl, das Anwesen soll dich mit Menschlichkeit imprägnieren. Deine Erfahrungen sind konstruiert worden – George und ich wurden dafür ausgewählt –, um sicherzustellen, dass sich die ersten paar Tage deiner Existenz so menschlich wie möglich gestalten.«

Die ersten paar Tage? Plötzlich war die ungewisse Zukunft wie eine schwarze Wand, die sich vor ihr auftürmte; sie glaubte, genauso wenig Kontrolle über ihr Leben zu haben, als ob sie ein Stein auf einem riesigen, unsichtbaren Brett mit Schlangen und Leitern gewesen wäre. Sie richtete das Gesicht in die Wärme der Sonne. »Was bin ich?«

»Du bist … künstlich, Lieserl.«

»In wenigen Wochen wird deine menschliche Hülle altern. Du wirst eine neue Gestalt annehmen … Dein menschlicher Körper wird …«

»Abgelegt werden?«

»Lieserl, es ist so schwierig. Dieser Moment wird mir wie dein Tod vorkommen. Aber du wirst nicht sterben. Es wird nur eine Metamorphose stattfinden. Du wirst über neue Fähigkeiten verfügen – auch dein Bewusstsein wird rekonstruiert werden. Lieserl, du wirst das Wesen mit dem am höchsten entwickelten Bewusstsein im ganzen Sonnensystem werden …«

»Ich will das nicht. Ich will – einfach nur ich sein. Ich will meine Freiheit, Phillida.«

»Nein, Lieserl. Ich fürchte, dass du nicht frei bist; du wirst nie frei sein können. Du hast ein Ziel.«

»Welches Ziel?«

»Hör mir zu. Die Sonne hat uns das Leben gegeben. Ohne sie – ohne die anderen Sterne – könnten wir nicht überleben.

Wir sind eine starke Spezies. Ich glaube, dass wir so lange wie die Sterne existieren können – noch Dutzende Milliarden Jahre. Und vielleicht noch länger … Wenn es uns vergönnt ist. Aber wir haben – Ausblicke – auf die Zukunft gehabt, die entfernte Zukunft … Beunruhigende Ausblicke. Die Menschen beginnen bereits mit den Planungen für diese Zukunft – mit Arbeiten an Projekten, die Jahrmillionen bis zu ihrer Vollendung benötigen werden … Leute wie jene, die für Suprahet arbeiten.

Lieserl, du bist eines dieser Projekte.«

»Ich verstehe nicht.«

Phillida nahm ihre Hand und drückte sie sanft; dieser banale menschliche Kontakt schien unpassend, der sie umgebende Garten unwirklich, eine Schimäre, angesichts dieser Unterhaltung über Megajahre und die Zukunft der Spezies.

»Lieserl, etwas stimmt nicht mit der Sonne. Du musst herausfinden, was es ist. Die Sonne stirbt; etwas – oder jemand – tötet sie.«

Phillidas Augen standen groß vor ihr, musterten sie und suchten nach Verständnis. »Hab keine Angst. Mein Liebling, du wirst ewig leben. Falls du das möchtest. Und du wirst Wunder schauen, von denen ich nur träumen kann.«

Lieserl starrte in die großen, trüben Augen ihrer Mutter. »Aber du beneidest mich nicht. Stimmt’s, Phillida?«

»Nein«, flüsterte Phillida.

2LOUISE YE ARMONK stand auf dem Oberdeck der SS Great Britain. Von dort aus konnte sie Brunels stolzes Dampfschiff in seiner ganzen Länge überblicken: das polierte Deck, die Bullaugen, die filigranen Masten mit ihrer Takelage aus Drahtschleifen, den einzelnen dicken Schornstein mittschiffs.

Und über der glühenden Kuppel, die sich über das alte Schiff wölbte, hing der Himmel des Sonnensystems wie ein großer, leerer Raum.

Louise fühlte sich noch immer etwas beschwipst – Katerstimmung – von der Orbitalparty, die sie vor ein paar Minuten verlassen hatte. Sie subvokalisierte einen Befehl, der Nanobots zu einer Säuberungsaktion durch ihren Blutkreislauf schickte. Sie wurde schnell nüchtern, mit einem kurzen Zittern.

Mark Bassett Friar Armonk Wu – Louises Ex-Mann – hielt sich in ihrer Nähe auf. Sie hatten die Great Northern, auf der die Party noch in vollem Gange war, verlassen und waren in einer kleinen Fähre zur Oberfläche von Port Sol geflogen. Mark trug eine pastellfarbene Springerkombi; sein Hals legte sich in lange und distinguierte Falten, als er den Kopf drehte, um das alte Schiff zu sondieren.

Louise war froh, dass sie allein waren, dass ihnen keiner der prospektiven interstellaren Kolonisten der Northern zu diesem Außenposten von Sol gefolgt war und dass sie die letzten paar Augenblicke auf diesem Fragment der Vergangenheit der Erde Rückschau halten konnten – obwohl es ohnehin zum Teil dieser Rückblick war, der Louise dazu veranlasst hatte, das alte Schiff diesen Ort ansteuern zu lassen.

Mark berührte sie am Arm; selbst durch das dünne Gewebe ihres Ärmels fühlte sich seine Hand warm und lebendig an. »Du bist nicht glücklich, nicht wahr? Sogar in einem Moment wie diesem. Deinem größten Triumph.«

Sie studierte sein Gesicht und versuchte seine Gedanken zu ergründen. Er war kahlgeschoren, so dass sich die Konturen des aristokratischen, fragilen Schädels durch die dunkle Haut abzeichneten; er hatte eine kühne Nase, schmale Lippen, und seine blauen Augen – die aus diesem dunklen Gesicht hervorstachen – wurden von einem Netz aus Fältchen umgeben. Er hatte ihr einmal gesagt, dass er daran dachte, sich diese Fältchen entfernen zu lassen – das wäre im Rahmen einer AS-Auffrischung überhaupt kein Problem gewesen –, aber sie hatte sich dagegen ausgesprochen. Nicht, dass es ihr allzu viel ausgemacht hätte, aber dadurch wäre diesem eleganten Gesicht der größte Teil seines Charakters abhanden gekommen – der Großteil der Patina der Zeit, wie sie es nannte.

»Ich habe nie deinen Gesichtsausdruck enträtseln können«, meinte sie dann. »Vielleicht sind wir deshalb gescheitert.«

Er lachte unbekümmert, wobei noch ein letzter Rest Trunkenheit in seiner Stimme mitschwang. »Oh, komm schon. Wir waren zwanzig Jahre zusammen. Wir sind nicht gescheitert.«

»Bei einer Lebenserwartung von zweihundert Jahren?« Sie schüttelte den Kopf. »Schau. Du hast mich nach meinen Gefühlen gefragt. Jeder, der dich – uns – nicht kannte, musste glauben, dass wir zusammengehören. Warum also habe ich nur den Eindruck, dass du dich, in einem Winkel deines Kopfes, über mich lustig machst?«

Mark zog die Hand von ihrem Arm zurück, und sie konnte beinahe sehen, wie er die Jalousien hinter seinen Augen herunterließ. »Weil du eine launische, verdrießliche, trampelige – oh, zum Teufel damit!«

»Wie dem auch sei, du hast recht«, konzedierte Louise dann.

»Wie?«

»Ich bin nicht glücklich. Obwohl ich dir im Grunde gar nicht sagen kann, warum.«

Mark lächelte; das indirekte Licht der Kuppel der Britain ließ die Fältchen um seine Augen verschwinden. »Nun, wenn wir wenigstens einmal aufrichtig zueinander sind, genieße ich es tatsächlich irgendwie, dich leiden zu sehen. Nur ein bisschen. Aber du tust mir auch leid. Komm, gehen wir ein Stück.«

Erneut ergriff er ihren Arm, und sie gingen an der Steuerbordseite des Schiffes entlang. Die Sohlen ihrer Schuhe gaben leise Schmatzgeräusche von sich, als die simplen Prozessoren der Schuhe den Sohlen Bodenhaftung auf dem Deck verschafften und die Mikrogravitation von Port Sol unmerklich verstärkten. Die Schuhe funktionierten fast perfekt; Louise stolperte nur ein paar Mal.

Das Schiff wurde von einer Kuppel aus sensitivem Glas überwölbt, und über der Kuppel – über der Quelle des indirekten Lichts, in das der Liner getaucht war – erstreckte sich die Landschaft von Port Sol bis zum stark gekrümmten Horizont. Port Sol war eine hundertsechzig Kilometer durchmessende Kugel aus porösem Fels und Eis, mit Spuren von Wasserstoff, Helium und einigen Kohlenwasserstoffen. Es war wie ein großer Kometenkern. Die konturenlose Landschaft von Port Sol wurde von ätherischen Gespinsten überzogen: Skulpturen, die von Kräften der Natur aus dem alten Eis gemeißelt worden waren, die ihrerseits aufgrund der immensen Entfernung von der Sonne extrem langsam abliefen.

Port Sol war ein Kuiper-Objekt. Mit zahllosen Satelliten umkreiste es jenseits der Plutobahn die Sonne, wobei es dort durch die Interferenzen der Gravitationsfelder der großen Planeten geführt wurde.

Louise schaute zur Great Britain zurück. Sogar vor dem unwirklichen Hintergrund von Port Sol vermittelte Brunels Schiff ihr noch einen Eindruck von Leichtigkeit, Grazie und Eleganz. Sie erinnerte sich, wie sie das Schiff im Trockendock auf der Erde besichtigt hatte; jetzt, als sie schielend die Augen zusammenkniff und die Form des Schiffes ausmachen wollte – das platonische Ideal des Eisens, das der arme alte Isambard ans Licht bringen wollte. Das Schiff bestand aus dreitausend Tonnen Eisen und Holz, aber mit seinen schlanken, klaren Kurven und filigranen Details wirkte es wie ein Phantasiegebilde. Louise dachte an die vergoldeten Dekorationen, das um das Heck herumgezogene Wappen und die schlichten, in den Bug gefrästen markanten Symbole der viktorianischen Industrie: die Taurolle, die Zahnräder, das Zeichendreieck, die Weizengarbe. Man konnte sich kaum vorstellen, dass ein so zerbrechliches Schiff den Stürmen des Atlantiks gewachsen war …

Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute hoch zu dem hellen Stern im Steinbock, der Sonne, die fünf Milliarden Kilometer entfernt war. Sicherlich hätte sich nicht einmal ein Visionär wie der alte Isambard vorstellen können, dass sein erstes großes Schiff auf seiner letzten Reise ein derart riesiges Meer befahren würde.

Mark und Louise stiegen mittschiffs einen steilen Niedergang zum Promenadendeck hinab; sie flanierten über das Deck, an Reihen winziger Kabinen vorbei zum Schott des Maschinenraums. Beim Vorbeigehen fuhr Mark mit einem Finger über die Oberfläche einer Kabinenwand. Er runzelte die Stirn und rieb die Fingerspitzen aneinander. »Das Material fühlt sich komisch an … gar nicht wie Holz.«

»Es ist konserviert. Unter einer dünnen Haut aus sensitivem Kunststoff, der es versiegelt und pflegt … Mark, das verdammte Schiff ist 1843 vom Stapel gelaufen. Vor über zweitausend Jahren. Ohne Konservierung würde nicht mehr viel von ihm übrig sein. Außerdem hatte ich gedacht, dass du dich sowieso nicht dafür interessierst.«

Er schniefte. »Stimmt auch. Ich interessiere mich nämlich eher dafür, warum du hierher kommen wolltest: Gerade jetzt, inmitten der ganzen Feierlichkeiten anlässlich der Fertigstellung des Raumschiffs.«

»Ich wollte eine Innenansicht vermeiden«, erklärte sie schwer atmend.

»Ja, sicher.« Er wandte sich ihr zu, wobei sein Gesicht vom sanften Glühen des antiken Holzes angestrahlt wurde. »Sprich mit mir, Louise. Der Teil von mir, der dich mag, ist stärker als der Teil, der dich gerne leiden sieht, jedenfalls im Moment.«

Sie zuckte die Achseln. Sie konnte eine gewisse Bitterkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Sag bloß. Du hast es ja schon immer verstanden, meinen Seelenzustand zu diagnostizieren. In aller Ausführlichkeit. Vielleicht bin ich nach dem Abschluss meiner Arbeit auf der Northern jetzt etwas melancholisch. Was meinst du, wäre das möglich? Vielleicht durchlebe ich aber auch gerade das Äquivalent einer post-koitalen Depression.«

Er schnaubte. »Mit dir war es eigentlich immer nur post, prä und während. Nein, ich glaube nicht, dass es daran liegt … Und außerdem«, versetzte er nachdrücklich, »ist deine Arbeit auf der Northern noch gar nicht beendet. Du planst doch, mit ihr abzufliegen. Richtig? Du willst etliche Relativjahrzehnte damit verbringen, sie nach Tau Ceti zu bringen.«

»Wie hast du denn das herausgefunden?«, grummelte sie. »Kein Wunder, dass du mich all die Jahre schier verrückt gemacht hast. Du interessierst dich verdammt zuviel für mich.«

»Ich habe recht, stimmt’s?«

Sie betraten den Speisesaal der Britain. Er war ein phantastischer viktorianischer Traum. Zwölf weiße und goldene Säulen mit verzierten Kapitellen markierten den Mittelgang, und an den Seiten wurde der Raum von jeweils zwölf weiteren Säulen begrenzt. Zwischen den Säulen gingen Türen zu Gängen und Kabinen ab, und die Türbögen waren vergoldet und von Medaillonköpfen gekrönt. Die Wände waren in einem Zitronengelb gehalten, das von Blau, Weiß und Gold unterbrochen wurde; allgegenwärtiges, indirektes Licht wurde vom Besteck und den Gläsern auf den drei langen Tafeln reflektiert.

Mark ging über den Teppich und fuhr mit der Hand über eine glänzende, polierte Tischplatte. »Du solltest dich mal um diesen semisensitiven Kunststoff kümmern: modifiziere ihn so, dass er den Tischen wieder ihre ursprüngliche Maserung verleiht. Die Berührung macht nämlich schon die halbe Schönheit einer Sache aus, Louise. Aber du bist ja schon immer so … so distanziert gewesen, nicht wahr? Zufrieden mit der Oberfläche der Dinge – mit ihrem Aussehen, ihrer äußeren Form. Nie daran interessiert, sie zu berühren, in die Tiefe zu gehen.«

Sie ignorierte das. »Brunel war vielseitig begabt, musst du wissen. Er hat zusammen mit seinem Vater an einem Themse-Tunnel gearbeitet.«

»Wo?« Mark war in Port Cassini auf Titan geboren.

»Die Themse. Ein Fluss, in England … auf der Erde. Der Tunnel wurde mehrmals geflutet. Als sie ihn einmal ausgepumpt hatten, gab Brunel direkt auf der Baustelle eine Dinnerparty für fünfzig Personen. Er engagierte die Band der Coldstream Guards zu …«

»Hmm. Wie interessant«, kommentierte Mark trocken. »Vielleicht solltest du etwas Essen auf diese Tische stellen. Warum eigentlich nicht? Es könnte dann von deinem sensitiven Kunststoff konserviert werden. Du könntest Teile von toten Tieren ausstellen. Wie sie der große Brunel höchstselbst verspeist hat.«

»Du bist schon immer geschmacklos gewesen, Mark.«

»Ich glaube nicht, dass deine Stimmung etwas mit der Fertigstellung der Northern zu tun hat.«

»Womit dann?«

Er seufzte. »Es liegt natürlich an dir. Wie immer. Den größten Teil der Zeit, die wir zusammen waren, hatte ich geglaubt, deine Motivation zu verstehen. Du musstest immer wieder ein neues großes, schönes GUT-Schiff bauen; ein weiteres riesiges Projekt, in dem du aufgehen konntest. Und wo wir nun alle unsterblich sind, dank AntiSenescence, dachte ich, dass du jetzt endlich genug hättest.

Aber ich habe mich geirrt. So ist es nicht. Nicht wirklich.«

Tief in ihrem Inneren verspürte Louise ein intensives Unbehagen; ihr war danach, zu reden, ein digitalisiertes Buch zu lesen oder sich hinter einer Virtuellprojektion zu verstecken – alles, wenn sie nur seine Worte ausblenden konnte.

»Du bist mir schon immer über gewesen, Mark.«

»In mancherlei Hinsicht stimmt das.«

»Sag einfach, was du zu sagen hast, und dann Schluss.«

»Du willst die Unsterblichkeit, Louise. Aber nicht die langweilige buchstäbliche Unsterblichkeit der AS – keine Generalüberholung des Körpers alle paar Jahre –, sondern die Art der Unsterblichkeit, wie sie deine Idole errungen haben.« Er wedelte mit der Hand. »Wie zum Beispiel Brunel. Indem du etwas Einzigartiges und Wunderbares leistest. Und du befürchtest, dass dir das nie gelingen wird, egal, wie viele Sternenschiffe du auch baust.«

»Du bildest dir ziemlich viel ein«, schnaubte sie. »Die Northern ist eine große Errungenschaft.«

»Ich weiß, dass sie das ist. Ich will das auch gar nicht in Abrede stellen.« Er lächelte, Triumph in den Augen. »Aber ich habe trotzdem recht, stimmt’s?«

Sie konnte nicht mehr. »Du weißt, dass du recht hast. Hol dich der Teufel.« Sie rieb sich die Augen. »Es sind die Schatten der Zukunft, Mark …«

Vor anderthalb Jahrhunderten war die Zukunft über das Sonnensystem hereingebrochen.

Die Menschheit hatte das selbst zu verantworten; jedem war das bewusst. Unter der Führung eines Ingenieurs namens Michael Poole war das Interface-Projekt – ein Wurmloch, das eine Verbindung zu einer anderthalb Jahrtausende entfernten Zukunft eröffnete – abgeschlossen worden.

Damals hatte sich Louise Ye Armonk bereits in ihrem Fachgebiet, der Konstruktion von GUT-Schiffen, etabliert … zumindest so etabliert, wie das mit gerade fünfzig Jahren in einer Gesellschaft, die in zunehmendem Maße von den AS-konservierten Koryphäen der Vergangenheit dominiert wurde, eben möglich war. Louise hatte kurzfristig sogar mit Michael Poole selbst zusammengearbeitet.

Warum war Pooles Wurmloch-Zeitbrücke überhaupt eingerichtet worden? Darum rankten sich endlose Erklärungen – welche Macht konnte der Blick in die Zukunft eröffnen! –, aber Louise wusste, dass diese Verbindung im Grunde nur um ihrer selbst willen geschaffen worden war.

Das Interface-Projekt stellte den Abschluss einer sich über Jahrhunderte erstreckenden Expansionsphase der Menschheit dar. Das Sonnensystem war erschlossen worden – zunächst durch Schiffe mit GUT-Antrieb und dann über Wurmloch-Verbindungen, und der erste Raumhafen für Sternenschiffe mit GUT-Antrieb – Port Sol – war auch schon in Betrieb.

Louise überlegte, dass es bereits heute schwierig war, die Stimmung jener Zeit zu rekonstruieren. Zuversicht – Arroganz … Die anthropogenen Theorien der kosmologischen Evolution schienen ihren paradigmatischen Zenit erreicht zu haben. Manche Leute glaubten, dass die Menschen allein im Universum wären. Andere vertraten gar die Ansicht, dass das Universum von irgendeiner Macht im Hintergrund konstruiert worden wäre, mit dem einzigen Ziel, die Menschheit zu erschaffen und am Leben zu erhalten. Wenn dann die Zeit käme, würden die Menschen alles tun, überall hingehen und alles erreichen, was sie nur wollten.

Aber Pooles Interface war eine Schnittstelle zu einer realen Zukunft gewesen.

Der Zwischenfall, der auf die Eröffnung des Wurmloches folgte, war verwirrend, chaotisch und nur schwer zu begreifen. Aber es war ein Krieg gewesen – kurz und spektakulär, eine Qualität, die keine Raumschlacht vorher oder auch nachher wieder erreicht hatte, aber nichtsdestoweniger ein Krieg.

Die Erde der Zukunft – am anderen Ende von Pooles Zeitbrücke, anderthalb Jahrtausende von der Gegenwart entfernt – war besetzt worden, von einer fremden Spezies, von der nichts außer ihrem Namen bekannt war: Qax.

Menschliche Rebellen aus der Besatzungsära wurden von zwei riesigen Kriegsschiffen der Qax zurück durch die Zeit verfolgt, durch Pooles Interface. Mit Michael Pooles Hilfe hatten die Rebellen die Schlachtschiffe schließlich zerstört. Dann hatte Poole ein erbeutetes Kriegsschiff in das Interface-Wurmloch geschickt, um es zum Schutz vor einer weiteren Invasion zu versiegeln – und im Zuge dieser Geschehnisse war Poole selbst in der Zeit verschollen. Die in der Vergangenheit gestrandeten Rebellen waren in einem gestohlenen GUT-Schiff aus dem Sonnensystem geflohen, wobei sie offenkundig den Effekt der Zeitdilatation ausnutzen wollten, um die Rückkehr in ihre eigene Zeit zu beschleunigen.

Das geschockte System kehrte langsam wieder zur Normalität zurück.

Dennoch durchsuchten verschiedene Körperschaften – wie etwa die Heilige Lichtkirche des Suprahet – in dem Bestreben, das Unerklärliche zu erklären, noch nach hundertfünfzig Jahren die Datenfragmente aus dem Interface-Zwischenfall.

Hier stellte sich zum Beispiel die Frage: Was war wirklich mit Michael Poole geschehen?

Man wusste, dass die Besatzung der Qax schließlich abgeschüttelt werden und die Menschheit ihre Expansion fortsetzen würde – nun aber etwas vorsichtiger, und zudem in einem Universum, von dem bekannt war, dass dort feindliche Konkurrenten zugange waren …

Ein Universum, in dem vor allem anderen die Xeelee beheimatet waren. Und es wurde kolportiert, dass, bevor Pooles Wurmloch-Pfad in die Zukunft endgültig gesperrt wurde, einige Informationen über die weit entfernte Zukunft durchgesickert waren – Millionen Jahre von der Jetztzeit entfernt, weit jenseits der Ära der Qax. Louise begriff, wie solche Daten überhaupt in Erscheinung treten konnten – zum Beispiel durch den Fluss von Hochenergiepartikeln aus der Mündung des kollabierenden Wurmlochs.

Und die Gerüchte besagten, dass die Aussichten für die weit entfernte Zukunft – und was sie für die Menschheit bereithielt – in der Tat düster waren.

Louise und Mark standen auf der Back und schauten zur Sonne hoch.

Die Great Northern, Louises Raumschiff mit GUT-Triebwerk, zog über ihren Köpfen langsam seine Bahn und folgte seinem gemächlichen Vierstundenorbit durch die schwache Gravitationsquelle des Kuiper-Objekts. Der fünf Kilometer lange, mit Sensoren bestückte Ausleger der Northern erweckte den Anschein, als ob er aus Glas gefertigt wäre. Der GUT-Antrieb war in einen Eisblock von Port Sol integriert, eine silbrige, unregelmäßige Masse am Ende des Auslegers. Die Lebenskuppel – mit einem Durchmesser von anderthalb Kilometern – wirkte wie ein gläserner Schädel, der am anderen Ende des Auslegers fixiert war. Grüne und blaue Lichter strahlten an der Lebenskuppel; sie vermittelte den Eindruck einer Miniaturerde, hier am Rande des Systems.

»Es ist schön«, meinte Mark. »Wie eine Virtuellprojektion. Es ist kaum zu glauben, dass das real ist.« Das von der Kuppel der Britain abgestrahlte Licht wurde von seinem Gesicht reflektiert und konturierte die feinen Linien um seinen Mund wie ein Relief. »Und es ist ein guter Name, Louise. Great Northern. In welche Richtung dein Raumschiff auch startet, es ist immer Norden – weg von der Sonne.«

Als Louise jetzt zu der illuminierten Northern hinaufsah, erinnerte sie sich an die virtuellen Reisen durch geisterhafte, am Computer entstandene Schiffe: Schiffe, die sich um sie herum entwickelt hatten, während die CAD-Software auf jeden ihrer Gedanken reagierte. Was hätte Brunel mit moderner Software alles erreichen können, die es der Vision von Einzelpersonen wieder einmal ermöglichte, derart riesige Projekte zu realisieren. Und einige dieser verlorenen Schiffe waren viel eleganter und kühner gewesen als die endgültige Konstruktion – die, wie immer, einen Kompromiss zwischen der Vision der Ingenieure und dem Rotstift der Kostenrechner dargestellt hatte.

… Und hier lag das Problem. Wenn man ein Ziel erst einmal erreicht hatte, war es immer eine Enttäuschung.

»Louise, du darfst keine Angst vor der Zukunft haben«, ermutigte Mark sie.

Louise reagierte sofort gereizt. »Ich habe keine Angst vor ihr«, dementierte sie. »Verdammt, begreifst du denn nicht mal das? Es ist Michael Poole und sein verdammter Interface-Zwischenfall. Ich fürchte mich nicht vor der Zukunft. Das Problem ist vielmehr, dass ich sie kenne.«

»Das tun wir alle, Louise«, erwiderte Mark, wobei sich ein Unterton von Ungeduld in seine Stimme schlich. »Und die meisten von uns lassen sich davon nicht irritieren …«

»Ach ja? Schau dich doch nur mal an, Mark. Was ist denn zum Beispiel mit deinem Haar? – bzw. dem nicht vorhandenen Haar.«

Peinlich berührt fuhr sich Mark mit der Hand über seine Glatze.

»Jeder weiß, dass dieser moderne Trend zum Kahlschlag von diesen irren menschlichen Rebellen aus der Zukunft ausgeht, den Freunden von Wigner. Du kannst mir also nicht erzählen, dass du dich nicht auch von den zukünftigen Ereignissen beeinflussen lässt. Allein deine Frisur ist schon ein Indiz für …«

»In Ordnung«, erwiderte er aufgebracht. »In Ordnung, ich habe verstanden. Du weißt auch nie, wann du besser die Klappe halten solltest, was? Aber, Louise – der Unterschied ist der, dass wir nicht alle von der Zukunft besessen sind. Im Gegensatz zu dir.«

Er ging weg, wobei sein Gang vor lauter Ärger steif war.

Sie stiegen in den Maschinenraum hinunter. Licht in allen Farben des Spektrums wurde durch ein riesiges Oberlicht gefiltert. Vier schräg stehende Zylinder bohrten sich durch den Boden des Schiffes; die Kolben verharrten in Ruhestellung wie die Gliedmaßen eiserner Giganten, und eine starke Kette zog sich um die Motorsteuerung.

Louise rieb sich das Kinn und starrte auf die Maschine. »Besessen? Mark, die Zukunft bringt uns die Xeelee – gottähnliche Wesenheiten, die so weit über uns stehen, dass wir wohl nie verstehen werden, welche Ziele sie verfolgen – und mit einer Technik und einem Ingenieurswesen wie Magie. Sie verfügen über einen Hyperantrieb.« Ihre Stimme wurde weicher. »Verstehst du, was das bedeutet? Es bedeutet, dass irgendwo im Universum, jetzt, die verdammten Xeelee in FTL-Schiffen herumfliegen, gegen die sich meine Northern wie ein Pferdefuhrwerk ausnimmt.

Und wir glauben, dass sie sogar einen IntraSystem-Antrieb haben – ihr sogenanntes Diskontinuitäten-Triebwerk –, das in den Nightfighter-Schiffen eingebaut ist, die mit blattähnlichen Tragflächen mit mehreren hundert Kilometern Spannweite versehen sind …

Ich will gar nicht bestreiten, dass mein GUT-Antriebsmodul ein schönes Stück Maschinenbau darstellt. Aber im Vergleich zu dem, was wir über die Xeelee-Technologie wissen, Mark, ist es … ist es eine primitive Dampfmaschine. Wir verwenden sogar noch Eis als Reaktionsmasse. Stell dir das mal vor! Was für einen Sinn hat es denn, etwas zu bauen, das bereits vor dem Start veraltet ist?«

Mark legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie. Seine Berührung war warm und fest, und – was er zweifelsfrei auch beabsichtigt hatte – beunruhigend intim. »Deshalb läufst du also davon.«

»Ich würde eine Kolonisierungs-Expedition nach Tau Ceti, von der es keine Wiederkehr gibt, kaum als ›weglaufen‹ bezeichnen.«

»Natürlich ist es das. Hier kannst du etwas bewirken – hier, mit den Ressourcen eines Sonnensystems. Du bist Ingenieurin, verdammt. Was willst du denn auf einem Planeten von Tau Ceti erschaffen? Am Ende noch eine wirkliche Dampfmaschine.«

»Aber …« Sie suchte krampfhaft nach Worten, die selbst nach ihren Maßstäben nicht wie ein exkulpierendes Jammern klangen. »Aber vielleicht würde das mehr zählen, in einer übergeordneten Perspektive, mehr als selbst ein Dutzend größerer und besserer Northerns. Verstehst du?«

»Nicht ganz.« Seine Stimme klang müde; vielleicht ließ er sich gerade ausnüchtern.

Sie standen eine Weile da, in einem Schweigen, das nur durch ihren Atem unterbrochen wurde. »Es tut mir leid, Louise«, sagte er schließlich. »Ich bedauere, dass solche Stimmungen deinen Abend des Triumphes trüben. Aber ich habe genug; es kommt mir so vor, als ob ich mir diesen Sermon schon mein halbes Leben lang anhörte.«

Wie immer, wenn sich bei ihm ein solcher Stimmungsumschwung vollzog, empfand sie tiefes Bedauern. Sie wollte eine Hand auf die seine legen, die sich noch immer auf ihrer Schulter befand.

»Mark …«

Er zog seine Hand zurück. »Ich lasse mich von der Fähre zum Schiff zurückbringen und kippe mir noch ein paar hinter die Binde. Willst du mitkommen?«

Sie überlegte. »Nein. Schick die Fähre dann wieder zurück. Einige von den Kabinen hier sind bezugsfertig; ich kann …«

Vor ihnen lag ein Funkeln in der Luft. Sie wich irritiert zurück; Mark bewegte sich nach vorne, um mehr sehen zu können.

Pixel – daumennagelgroße Lichtkuben – wirbelten durcheinander und projizierten glitzernde Spotlights auf Brunels antike Maschine.

Abrupt konfigurierten sie sich zu einer lebensgroßen, semitransparenten virtuellen Darstellung eines menschlichen Kopfes: Rund, kahl und fröhlich. Das Gesicht öffnete den Mund zu einem Grinsen. »Louise. Entschuldige bitte die Störung.«

»Gillibrand. Was, zum Geier, willst denn du? Ich dachte, dass du schon bewusstlos wärst.«

Sam Gillibrand, der wie vierzig aussah und in Wirklichkeit auf die hundertfünfzig zuging, war Louises Chef-Assistent. »War ich auch. Aber meine Nanobots waren mit dem Interkom verbunden; sie haben mich schnell ausgenüchtert, als die Meldung reinkam. Zum Teufel mit ihnen.« Gillibrand schaute immerhin wieder ganz fröhlich aus. »Na gut; ich werde eben einen zweiten Durchgang machen, und …«

»Der Interkom? Was für eine Meldung war das, Sam?«

Gillibrands Grinsen wurde unsicher. »Sie kam von der Stadtverwaltung. Sie haben den Flugplan geändert.« Gillibrand sprach den starken Akzent des mittleren Westens der USA, wobei seine Fistelstimme kaum imstande war, eine besondere Dramatik zu transportieren. Und doch ging ein Schaudern durch Louise, als Gillibrand ihr eröffnete: »Der Flug nach Tau Ceti findet nicht statt.«

3DIEALTE FRAU beugte sich auf ihrem Platz neben Kevan Scholes vor.

Die Oberfläche der Sonne, die kaum sechzehntausend Kilometer von der transparenten Kabine der Lightrider entfernt brodelte, zog sich wie ein Boden durch das Universum. Die Photosphäre wirkte wie eine körnige Landschaft, wobei jedes dieser Körner groß genug gewesen wäre, die Erde zu verschlucken, und die Chromosphäre – die sechzehnhundert Kilometer dicke äußere Atmosphäre lag wie ein leichter Dunst über der Szenerie.

Scholes konnte sich einen Blick auf die Nachbarin nicht verkneifen. Ihre Körperhaltung war steif, und die Hände – akkurat über dem Sicherheitsgurt im Schoß gefaltet – waren hager, wobei die Haut von Leberflecken übersät war und lose um die Knochen hing. Wie Handschuhe, dachte er. Sie trug einen schlichten silbergrauen Overall, der als einzige Dekoration eine Brosche auf der Brust aufwies. Die Brosche stellte eine stilisierte Schlange dar, die sich um eine goldene Leiter wickelte.

Das kleine Schiff überflog ein Korn der Photosphäre; Scholes sah geistesabwesend zu, wie es sich unter ihnen entfaltete. Erhitzter Wasserstoff wallte mit einer Geschwindigkeit von fast einem Kilometer pro Sekunde aus dem Sonneninneren auf und verteilte sich über die Oberfläche der Photosphäre. Diese Gasquelle hatte einen Durchmesser von etwa anderthalbtausend Kilometern, und in ihrem Orbit, der die Photosphäre fast touchierte, bewegte sich die Lightrider so schnell, dass sie das Korn nach wenigen Minuten überflogen hatte. Und als Scholes sich umdrehte, sah er, dass sich das Korn bereits wieder auflöste und der dagegen anbrandende Wasserstoffschwall versiegte. Die einzelnen Körner hatten eine durchschnittliche Lebensdauer von nicht einmal zehn Minuten.

»Wie schön das ist«, befand seine Begleiterin beim Blick hinunter auf die Sonne. »Und wie komplex – wie kompliziert, wie eine riesige Maschine oder gar eine ganze Welt.« Sie wandte sich ihm zu, wobei ihr Mund – umgeben von einem dichten Netz aus Falten – zusammengepresst war. »Ich könnte mir vorstellen, den Rest meines Lebens nur mit der Betrachtung der langsamen Metamorphose dieser Oberfläche zu verbringen.«

Scholes ließ den Blick über die wabernde Sonne schweifen. Die Photosphäre war eine Masse in zäher Bewegung, die an die Oberfläche einer leicht köchelnden Flüssigkeit erinnerte. Die Körner, einzelne Konvektionszellen, waren ihrerseits in lockere Verbände integriert: Supergranulat mit einem Durchmesser von mehr als zehntausend Kilometern, das durch dünne, mobile Wände aus Edelgas grob fixiert wurde. Er sah, wie ein Korn explodierte und seine Materie plötzlich über die Oberfläche der Sonne versprühte; benachbarte Körner wurden verdrängt, so dass eine glühende, amorphe Narbe auf der Oberfläche zurückblieb, eine Narbe, die durch die Eruption neuer Körner langsam verheilte.

Scholes betrachtete seine Begleiterin. Das Licht der Sonne konturierte ihr Gesicht und vertiefte die Linien und lockeren Fleischfalten. Es ließ sie beinahe dämonisch erscheinen – oder wie ein Relikt einer entfernten, besseren Vergangenheit. Sie sah ihn schweigend an und schien eine Reaktion von ihm zu erwarten, und er spürte, dass es mit seiner üblichen Schnoddrigkeit – mit der er im solaren Habitat für gewöhnlich seine Konversation bestritt – jetzt nicht getan war.

Nicht bei ihr.

Mit etlicher Anstrengung brachte er ein Lächeln zustande.

»Ja, es ist schön. Aber …« Scholes hatte einen Großteil der vergangenen fünf Jahre in einer Entfernung von anderthalb Millionen Kilometern zur Sonne verbracht und hatte dennoch gerade erst begonnen, sich an die ewige Präsenz des Sterns zu gewöhnen. »Man kann unmöglich vergessen, dass sie da ist … Vermutlich selbst dann nicht, wenn ich in Thoth bin, dem größten im Raum schwebenden Habitat in der Nähe der Wurmloch-Portale, und die Wände abgedunkelt habe – wenn ich mich im Grunde sonstwo im System befinden könnte.« Er zögerte in plötzlicher Verlegenheit; ihre kalten, wässrigen Augen musterten ihn prüfend. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken könnte.«

Erschien da der Anflug eines Lächelns auf diesem verwüsteten Gesicht? »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.«

Kevin Scholes hatte sich freiwillig für diesen Auftrag gemeldet – eine banale dreistündige Tour im Orbit mit dieser mysteriösen Frau, die vor wenigen Tagen zur Sonne gebracht worden war, zum Zentrum des Wurmloch-Projektes. Es hätte eigentlich kaum mehr als eine Rundreise sein sollen – und eine Chance, mehr über diese alte Frau zu erfahren und vielleicht etwas über die wahren Ziele des Suprahet-Wurmlochprojektes selbst.

Und außerdem war es eine willkommene Unterbrechung seiner eigentlichen Arbeit. Scholes leitete die Montage eines Eckpunktes von einem Wurmloch-Interface, wobei Komponenten aus exotischer Materie verwendet wurden. Wenn das Wurmloch dann fertiggestellt war, würde ein Paar seiner viereckigen Schnittstellen eine dichte Umlaufbahn um die Sonne einschlagen. Das andere würde mit einem hochentwickelten KI-Komplex direkt in der Sonne versenkt werden.

Die Arbeit war gut bezahlt, wenn auch anspruchsvoll; aber sie war langweilig, routinemäßig und brachte keine Erfüllung. So kam eine Unterbrechung gerade gelegen … Aber er hatte nicht geahnt, von dieser außergewöhnlichen Frau derart irritiert zu werden.

Er unternahm einen neuen Vorstoß. »Wir sind hier alle Wissenschaftler oder Ingenieure, müssen Sie wissen«, erläuterte er. »Ein Gefühl für Wunder ist bei der Arbeit an diesem Projekt keine Bedingung – es wäre wahrscheinlich eher hinderlich. Aber es gibt dennoch einen Stern dort draußen: mit einem Durchmesser von fast anderthalb Millionen Kilometern – fünf Lichtsekunden – und mit der Masse von dreihunderttausend Erden. Selbst wenn ich ihn nicht sehen kann, weiß ich, dass er da ist; es ist eine Art psychischer Druck.«

Sie nickte und richtete den Blick wieder auf die Sonne. »Aus diesem Grund belasten uns die Spekulationen über seine Zerstörung auch so extrem. Und zu einem gewissen Grad befinden wir uns natürlich schon innerhalb der Sonne selbst. Kann man das so sagen?«

»Ich glaube schon. Der Radius der Sonne ist nicht exakt definiert; die Dichte nimmt zunächst stark ab, wobei diese Verringerung sich dann außerhalb der Photosphäre verlangsamt … Ich werde es Ihnen zeigen.«

Er berührte sein Notebook, und die semisensitive Hülle blendete das Glühen der Photosphäre aus. In der neuen Falschfarbendarstellung der Sonne dominierten Dunkelrot und Purpur; das Granulat siedete wie unterseeische Vulkane, deren Krater sich mit Magma füllen.

»Meine Güte«, murmelte sie. »Das sieht ja aus wie eine Landschaft in einer mittelalterlichen Hölle.«

»Schauen Sie nach oben«, sagte Scholes.

Sie folgte dieser Aufforderung und schnappte nach Luft.

Die Chromosphäre lag als ein dünner, amorpher Nebel um das Schiff. Und die Corona – die äußere Atmosphäre der Sonne, die sich viele Sonnendurchmesser über die Photosphäre hinaus erstreckte – wölbte sich wie eine Kathedrale aus Gas über ihnen; jetzt, da das Licht der Photosphäre ausgeblendet war, konnte man sie leicht erkennen. Schlieren und Streifen hoher Dichte zogen sich durch dieses Gas; sie schienen sich inmitten einer gewaltigen, langsamen Explosion zu befinden, die expandierte und schier den Raum ausfüllte.

»Da ist so viel Struktur«, stellte sie fest. Sie blickte nach oben, ohne dass die großen, wässrigen Augen dabei geblinzelt hätten. Ihre Intensität verursachte Scholes Unbehagen. Er stellte die Transparenz der Hülle wieder her, so dass die Corona erneut überlagert wurde.

Ein Sonnenfleck – der durch die intensive Schwärze im Mittelpunkt den Eindruck einer tiefen Wunde in der Hülle der Sonne vermittelte – entfaltete sich wuchtig unter ihnen.

»Wir scheinen so langsam zu fliegen«, konstatierte sie.

Er lächelte. »Wir befinden uns im freien Fall um die Sonne. Unsere Geschwindigkeit beträgt dabei fünfhundert Kilometer pro Sekunde.«

Er sah, dass sich ihre Augen weiteten.

»Ich weiß«, meinte er sanft. »Es dauert eine Weile, bis man sich an die Dimensionen der Sonne gewöhnt hat. Sie ist eben kein Planet. Wenn die Erde im Mittelpunkt der Sonne hinge, würde selbst die Mondumlaufbahn noch innerhalb des Sterns liegen …«