9,99 €
Seit Jahrtausenden führt die Menschheit einen aussichtslosen Kampf gegen die Xeelee. Doch die Geheimnisse der übermächtigen Herrscher des Alls konnten die Menschen nie ergründen. Erst im Jahr 5 Millionen in der Zukunft, im finalen Kampf um das Schicksal aller Lebewesen im Universum, offenbart sich eine furchtbare Wahrheit ... Stephen Baxter, einer der wichtigsten Science-Fiction-Autoren der Gegenwart, hat mit dieser Future History Maßstäbe gesetzt. Seine Vision vom Aufbruch der Menschen ins Weltall, dem ewigen Krieg gegen die uralte Rasse der geheimnisvollen Xeelee bis hin zum Ende des Universums fasziniert wie kaum ein anderes Werk.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Für Malcolm Edwards, David Pringle und Chris Schelling
Übersetzung aus dem Englischen von Martin Gilbert
ISBN 978-3-492-97688-6
April 2017
© 1997 Stephen Baxter
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Vacuum Diagrams« bei Voyager/Harper Collins, London 1997.
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Markus Weber, Guter Punkt unter Verwendung von Thinkstock-Motiven
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Der Band Vakuum-Diagramme umfasst die Geschichten, die zusammen mit den Romanen Das Floß (1991), Das Geflecht der Unendlichkeit (1992), Flux (1993) und Ring (1994) den »Xeelee-Zyklus«, meine Geschichte der Zukunft, bilden.
Die zwischen 1987 und 1995 verfassten Storys sind für diese Ausgabe überarbeitet worden: Sie wurden um eine Zeitlinie ergänzt, in Fußnoten wird auf die jeweiligen Romane verwiesen, und eine neue Kurzgeschichte (»Eve«) wurde hinzugefügt, um die bisherigen Storys zu verbinden.
Von den einundzwanzig Erzählungen dieses Bandes wurden vier in Isaac Asimovs Science Fiction Magazine veröffentlicht, eine in SF Age, eine in einer Writers of the Future-Anthologie und acht in Interzone. Zwei weitere (»Lieserl« und »Goldwimper«) wurden von Gardner Dozois in der Year’s Best SF-Collection herausgegeben. Die anderen Storys sind in Fanzines mit geringer Auflage erschienen und waren deshalb für das breite Publikum bisher nicht greifbar.
Der Geister-Kreuzer schwebte zwischen Erde und Mond.
Das Schiff war annähernd eiförmig und aus versilberten Strängen geflochten. Instrumententräger und Energiekapseln waren an den Wänden festgebunden. Um mich herum hingen die Geister am Seil wie Trauben an einer Weinrebe.
Die blaue Sichel der Erde schimmerte über pulsierenden konvexen Oberflächen.
Die Erde faltete sich zusammen und verschwand.
Der erste Hyperraum-Sprung war gewaltig und durchmaß Tausende von Lichtjahren. In einer Abfolge verwirrender Sprünge näherten wir uns schließlich dem Rand der Galaxis.
Wir stürzten der Ebene der galaktischen Scheibe schräg entgegen. Der Tausende von Lichtjahren durchmessende Kern hing wie ein Kandelaber aus rosig-weißem Licht über meinem Kopf. Wolkige Spiralarme zogen in gemächlichem Fluss über mich hinweg. Ich sah, dass über die Arme Gasblasen rieselten, die wie schillernde Seifenblasen anmuteten.
Galaktisches Licht strich über die versilberten Formen der Geister und meines eigenen Körpers.
Wir erreichten die Geisterbasis – fern der Heimat im Halo der Galaxis.
Es war eine typische Geisterkonstruktion: ein ausgehöhlter Mond, eine tausend Meilen durchmessende Gesteinskugel, die von Gängen und Höhlen durchzogen wurde. Das Heim der Geister hing unter der weiten Decke der Galaxis, es war das einzige Objekt, das nicht nur als Schliere aus Licht abgebildet wurde.
Wir gingen in den Landeanflug über. Der Mond verwandelte sich unter mir in eine komplexe maschinelle Landschaft. Das Schiff schaltete den Antrieb ab und ging in einen hohen elliptischen Orbit. Die Geister lösten sich vom Schiff und schwebten zur Oberfläche hinunter. Sie glichen leuchtenden Ballons im Licht der Galaxis.
Ich stieß mich vom Schiff ab und entfernte mich von der weidenkorbartigen Hülle.
Geisterschiffe und wissenschaftliche Plattformen jagten als Bruchstücke aus schimmerndem Geflecht über die pockennarbige Landschaft. Aus der Oberfläche sprossen große zylindrische Strukturen. Dies waren Intrasystem-Triebwerke und Hyperantriebe, die den Mond – mit enormem Aufwand – aus der Ebene der Galaxis geschleppt und hier verankert hatten.
Ich erkannte dort unten Quagma: kleine Taschen des urzeitlichen Zeugs, die im Boden uralter planetesimaler Krater vergraben waren. Dann waren meine Informationen also richtig.
Lethe, was hatten die Geister hier draußen verloren?
ooooo
Die Welt der Silber-Geister war einst erdähnlich gewesen: ein blauer Himmel und eine gelbe Sonne.
Während die Geister dem Bewusstsein entgegenstrebten, wurde ihre Sonne durch die Kollision mit ihrem Begleiter, einem Pulsar, vernichtet. Als die Atmosphäre zu schneien anfing, erschufen sich die Geister neu.
Diese leidvolle Erfahrung prägte die Geister. Sie wurden entschlossen, geheimnisvoll, oft rücksichtslos. Gefährlich.
Sie zogen ins All hinaus – in die Wärmesenke –, um ihre Ambitionen zu verwirklichen.
Man hatte mir gesagt, die Geister stünden kurz vor der Vollendung ihres neuen Quagma-Projekts. Ich war Leitender Direktor des Geister-Verbindungsbüros und repräsentierte in dieser Eigenschaft den größten Teil der Menschheit. Es war meine Aufgabe, die Geister daran zu hindern, uns alle zu gefährden.
Um diesen Auftrag auszuführen, wurde ich vor zehn Jahren umgeformt.
Ich sehe aus wie die Statue eines Menschen, die aus Silber oder Chrom geschaffen wurde. Meine Beine sind wahre Säulen. Meinen Händen und Armen wurde eine unglaubliche Stärke verliehen. Das Gehirn sitzt nicht mehr hinter den Augen, sondern im Brustkorb. Ich fühle mich wie ein Tiefseefisch: Blind und fast unbeweglich stecke ich hier im Dunkeln. Die mechanischen Augen befinden sich wie Periskope hoch über »mir«.
Ich lebe von Sternenlicht und vermag für ein paar Tage im Vakuum zu überleben, während mein sechsundsiebzig Jahre alter menschlicher Kern – ich – in Wärme und Dunkelheit geborgen ist. Ich habe einen Geister-Doktor, der mich zweimal im Jahr öffnet und säubert.
Ich besitze ein stilisiertes Gesicht mit Augen, Nase und Mund. Es ist meinem ursprünglichen Antlitz nur unvollkommen nachgebildet; das macht aber nichts, denn abgesehen von den Augen hat es keine Funktion, es wurde nur zu meiner Beruhigung geschaffen.
Ich vermag mit den Geistern zu tanzen. Ich vermag frei im All zu fliegen, wenn ich will. Aber ich mache kaum Gebrauch davon. Wenn ich nicht mit den Geistern verhandle, verbringe ich die meiste Zeit in Virtuellen Umgebungen.
Meine körperliche Gestalt spielt also kaum eine Rolle. In letzter Zeit wünsche ich mir sogar, die Geister hätten mich als Kugel erschaffen, so wie sich selbst: einfach, klassisch, effizient.
ooooo
Ein Geist raste auf mich zu. Er war eine silbrige, fünf Fuß durchmessende Kugel, über deren Oberfläche komplexe Muster spielten. Ich identifizierte ihn anhand seiner elektromagnetischen Signatur: Im Gegensatz zum Mythos sind die Geister nicht alle gleich; zumindest gleicht kein Geist dem anderen.
»Senken-Botschafter«, begrüßte ich ihn.
Der Botschafter der Wärmesenke schwebte vor mir. Ich erkannte meine verzerrten Konturen auf seiner schimmernden Hülle. »Jack Raoul. Es ist viele Jahre her ...«
»Über ein Jahrzehnt.«
»Es ist mir eine Freude, dich zu sehen. Auch wenn du die Reise umsonst unternommen hast.«
So begann es jedes Mal: mit diesem endlosen diplomatischen Geplänkel. Ich kenne den Botschafter geschäftlich und privat seit langer Zeit, und wir haben eine Art von Freundschaft entwickelt, wie Sie es wohl nennen würden. Aber das darf die Gebote der Spezies auf keinen Fall beeinflussen.
»Ich nehme an, du möchtest gleich zur Sache kommen, Senken-Botschafter? Ich weiß – ich habe es nämlich gesehen –, dass dort unten auf diesem Mond neue Quagma-Experimente stattfinden. Was habt ihr nun wieder vor?«
»Wir haben es nicht nötig, unsre Handlungen zu rechtfertigen. Ihr übt keine Kontrolle über unsre Aktionen aus.«
»Aber sicher. Wir haben das vertraglich zugesicherte Recht, jedes Quagma-relevante Projekt zu überwachen, das ihr durchführt. Genauso wie ihr das Recht habt, uns zu inspizieren.«
Das entsprach der Wahrheit.
Das Studium des urzeitlichen Quagma – Überreste des Urknalls – hat sich als überaus gefährlich erwiesen. Man muss im Extremfall sogar befürchten, die Aufmerksamkeit der Xeelee auf sich zu ziehen.
Die Menschen – und die Silber-Geister und eine Reihe anderer raumfahrender Spezies – haben sich mit dem prüfenden Blick der Xeelee und ihren gelegentlichen verheerenden Einmischungen in unsere Angelegenheiten arrangiert. Vor fünfzig Jahren zum Beispiel hatten die Xeelee die Expeditionen unterbunden, die Geister und Menschen auf der Suche nach Quagma-Fragmenten kreuz und quer durchs Universum geführt hatten.
Manche glauben, dass die Xeelee mit solchen Eingriffen ihr Machtmonopol aufrechterhalten wollen, das sich über das sichtbare Universum erstreckt. Andere wiederum glauben, wie die zürnenden Götter in der Frühzeit der Menschheit würden die Xeelee uns nur vor uns selbst schützen.
Wie auch immer, es ist demütigend. Sie nehmen uns die Luft zum Atmen.
Aufgrund meiner langjährigen Kontakte zu den Geistern weiß ich, dass sie die Situation ähnlich beurteilen. Was sie noch gefährlicher macht.
Vier Jahrzehnte nach diesen ersten Experimenten stießen wir auf Beweise, dass die Geister Experimente mit Quagma durchführten und damit gegen Verträge zwischen unseren Spezies verstießen. Ich wurde zu den Geistern entsandt, um nach dem Rechten zu sehen.
Die Beweise erwiesen sich als stichhaltig. Die Geister wickelten ihr riskantes Projekt im Herzen eines Roten Riesen ab – um es vor den Xeelee und damit auch vor uns zu verbergen.
Das Projekt geriet zur Katastrophe, und wir schrammten haarscharf am Untergang vorbei.
Danach verstärkten die Menschen die Überwachung der Quagma-Projekte der Geister.
Doch jetzt gab es Anzeichen dafür, dass die Geister schon wieder aktiv waren.
»Du verstehst das nicht, Jack Raoul«, sagte der Senken-Botschafter.
»Ach nein?«
»Dies ist ein neues Programm von großer Bedeutung. Wir haben jedes Recht, es ungestört voranzutreiben.« Die Stimmung des Geists schlug plötzlich in Feindseligkeit um. »Du hast eine weite Reise hinter dir. Der Doktor steht dir zur Verfügung. Du möchtest dich vielleicht noch etwas ausruhen, bevor du zur Ebene der Galaxis zurückkehrst ...«
Ich näherte mich ihm, die Arme weit ausgebreitet und meine silbernen Hände wie Waffen erhoben. Ich hoffte, dass die Geister – zumindest der Senken-Botschafter – die Menschen so gut kannten, um meine Körpersprache zu deuten. »Senken-Botschafter, wir werden das nicht zulassen. Wir müssen wissen, was ihr hier draußen anstellt.« Ich stieß mein modelliertes Gesicht so nah auf seine silbrige Hülle zu, dass ich mein verzerrtes Spiegelbild darin sehen konnte. »Nach dem, was das letzte Mal passiert ist, sind wir bereit, Gewalt anzuwenden.«
Der Geist schien sich zu versteifen. Ich versuchte, die blechernen Töne der Translator-Chips zu identifizieren. »Handelt es sich etwa um eine formelle Kriegserklärung ...?«
»In keiner Weise«, sagte ich. »Unser Gespräch wird nicht abgehört. Im Moment gibt es nur dich und mich hier draußen im Halo der Galaxis. Ich möchte nur, dass du das ganze Bild kennst, Botschafter.«
Der Geist schwebte für eine lange Zeit im Raum. Komplexe stehende Wellen liefen über seine Oberfläche. »Na gut«, sagte er schließlich. »Jack Raoul – was weißt du über dunkle Materie?«
ooooo
Dunkle Materie: Ein Schattenuniversum, das die sichtbaren Welten, die wir bewohnen, durchdringt und dabei nur leicht touchiert ... Nein, das Bild ist irreführend, denn die dunkle Materie ist alles andere als ein Schatten; sie macht neun Zehntel der Gesamtmasse des Universums aus. Die glühende baryonische Materie, aus der Sterne, Planeten und Menschen bestehen, ist wie Gischt auf den Wellen dieses dunklen Meers.
Ich lade Daten vom Botschafter herunter. Im verstärkten Blickfeld wird die majestätische Scheibe der Galaxis von großen virtuellen Schaubildern überlagert.
»Dunkle Materie vermag keine Sterne zu formen«, sprach der Botschafter. »Stattdessen ballt dunkle Materie sich zu weitaus größeren Wolken – größer sogar als Galaxien – zusammen, um einen Gleichgewichtszustand zu erreichen. Das Universum wird von riesigen kalten, weichen Wolken aus dunkler Materie durchzogen: Es ist ein geisterhafter Kosmos, nahezu ohne Substanz.«
»Das ist zweifellos faszinierend, Senken-Botschafter, aber ich wüsste nicht ...«
»Jack Raoul, wir glauben, dass wir einen Weg gefunden haben, Soliton-Sterne zu konstruieren: stellare-Masse-Objekte aus dunkler Materie. Diesem Zweck dient auch das Experiment, das hier durchgeführt wird. Wir werden die ersten Sterne aus dunkler Materie erschaffen, die ersten im Universum.«
Ich ließ mir das durch den Kopf gehen. Es war einer dieser typischen grandiosen Geister-Pläne.
Doch welches Ziel verfolgten sie wirklich?
Und weshalb waren sie so darauf bedacht, die Sache vor den Xeelee und vor uns geheim zu halten? Ich wusste, dass etliche Schichten von Wahrheit unter der Oberfläche liegen mussten, die der Botschafter mir hatte verkaufen wollen. Wie ihr Quagma-Schatz, den sie unfachgemäß im Regolith des ausgehöhlten Monds verscharrt hatten.
»... vielleicht kann ich ja deine Fragen beantworten, Jack.«
Aus den Drüsen, die in meine silbrige Haut integriert waren, wurde Adrenalin in mein System gepumpt. Ich drehte mich um.
»Eve.«
Meine verstorbene Frau lächelte mich an.
Der Senken-Botschafter zog sich zurück und schrumpfte zu einem winzigen Lichtpunkt. Die Galaxis schimmerte wie eine Geisterhülle und verdüsterte sich.
Dann wurden alle Sterne ausgelöscht.
ooooo
Ich schaute an mir hinab. Ich war wieder menschlich.
Wir hatten einst ein Apartment im Herzen der New Bronx gehabt. Es war eine schöne Wohnung gewesen, hell und großzügig und mit virtuellen Wänden der neuesten Generation. Seit meiner Metamorphose kann ich diese Wohnung nicht mehr benutzen, doch ich behalte sie und lasse sie leer stehen. Seit Eves Tod ist dort nichts verändert worden. Ich möchte nur sicher sein, dass alles noch immer da ist.
Nun war ich wieder in diesem Apartment. Ich war allein.
Ich ging an die Bar, goss mir einen Malt Whiskey ein und wartete. Ich vermag natürlich noch immer zu trinken, doch habe ich festgestellt, dass der Genuss des Whiskeys hauptsächlich von den sinnlich fühlbaren Eindrücken herrührt, dem Klirren der Flasche an das Glas, der schwer schwappenden Flüssigkeit im Glas und dem Aroma in der Kehle.
Wenn man den Stoff nur injiziert, ist es nicht dasselbe.
Ich genoss den Malt. Es war unglaublich. Es steckte mehr Rechenleistung hinter dieser Simulation – was auch immer es war – als hinter jeder anderen, die ich bisher erlebt hatte ...
Eine Wand schmolz. Eve saß auf einer Couch wie meiner. Sie lächelte mich wieder an.
»Du hast viele Fragen«, sagte sie.
Ich nippte am Drink. »Willst du nicht zu mir kommen?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie sah älter aus als am Tage ihres Todes. Sie zupfte an einer Haarlocke; das war eine Angewohnheit, die sie schon als Kind gehabt hatte.
»Das ist eine Virtuelle Simulation, nicht wahr?«, fragte ich.
»In gewisser Weise.«
»Du bist nicht Eve. Sonst wärst du nicht einmal hier.« Sogar die Virtuelle Kopie von Eve hätte so viel Taktgefühl besessen, mir das nicht anzutun und mich nicht wieder in dieses verdammte Selbstmitleid zu stürzen.
Trotz der Einsamkeit nach der Metamorphose hatte ich Eve seit sieben oder acht Jahren nicht mehr aufgerufen.
»Jack, ich bin ein besseres Abbild als jedes andere, das du je gesehen hast. Detailreicher. Nicht mehr zu unterscheiden vom ...«
»Nein. Ich sehe den Unterschied.«
»Du musst begreifen, was die Geister hier tun«, sagte sie. »Und dass du ihnen erlauben musst weiterzumachen.«
»Ach ja, muss ich? Und du bist gekommen, um mich dazu zu überreden, nicht wahr?«
Sie trat auf die Oberfläche der Virtuellen Wand, die uns trennte. Nach einem Augenblick stellte ich das Glas ab und ging auf sie zu.
Sie trat aus der Wand heraus.
Ich spürte ihre Wärme, ihren Atem im Gesicht. Mein Herz pochte irgendwo im metallenen Brustpanzer.
... aber selbst während ich Eve anstarrte, fragte ich mich, welche Rechenleistung diese Virtuelle wohl benötigte. Diese Kreatur hier bei mir war nicht Eve, und ganz sicher war sie auch nicht die unberührbare Virtuelle Darstellung, die mein Apartment immer aufgerufen hatte. Wie machten die Geister das nur?
Sie streckte die Hand aus. Ich folgte ihrem Beispiel, und die Finger stießen durch ihren Arm. Ihr in kubische Pixel zerfallende Extremität war gemasert wie totes Laub.
»Es tut mir leid.« Sie strich sich das Haar zurück und griff wieder nach mir.
Als ihre Finger sich diesmal mit meinen verschränkten, waren sie warm und weich; ihre Hand war so lebendig und beweglich wie ein Vogel.
»Ach, Eve«, entfuhr es mir wider Willen.
»Jack, du musst das verstehen.«
Die Wand hinter ihr wurde schwarz.
Eves warme Hand lag noch immer in meiner. »Du musst zuschauen«, sagte sie, »und lernen. Es ist eine lange Geschichte ...«
Ein diffuser Lichtfleck erschien in der Mitte der Wand. Sie löste sich in die blaue Erde auf. Schiffe umkreisten sie, Funken sprühend.
Es war, wie ich erkannte, der Morgen der Menschheit, zweitausend Jahre vor meiner Geburt.
»Es ist mittlerweile schwierig, die Stimmung jener Zeit einzufangen«, sagte Eve. »Hoffnung auf der einen, Hybris auf der anderen Seite ... «
Die Erde war wiederhergestellt. Große Makroengineering-Projekte hatten das angeschlagene Ökosystem des Planeten stabilisiert und bewahrt. Flankierende Maßnahmen waren das Nanoengineering von Atmosphäre und Lithosphäre sowie die Verlagerung von Kraftwerken und Industrieanlagen weg von der Erde. Die gemäßigten Breiten wurden von mehr Wald bedeckt als zu irgendeinem Zeitpunkt seit der letzten Eiszeit. Die Wälder absorbierten einen großen Teil des Kohlendioxids, das in den vergangenen Jahrhunderten den Treibhauseffekt auf der Erde bewirkt hatte. Und das große Artensterben, das nach den Industrialisierungsschüben vergangener Jahrtausende jedes Mal eingesetzt hatte, war mithilfe genetischer Archive und durch die sorgfältige Rückkreuzung der Nachkommen verlorener Genotypen umgekehrt worden.
Die Erde war der erste Planet, der einem Terraforming unterzogen wurde.
Derweil wurde das Sonnensystem erschlossen.
In einer Basis im Jupiter-Orbit sammelte ein Ingenieur namens Michael Poole natürliche mikroskopische Wurmlöcher – Verzerrungen in der Raumzeit – und vergrößerte sie. Er schuf Transitverbindungen, die so groß waren, dass selbst Raumschiffen der Durchflug möglich wurde.
Poole-Interfaces wurden aus dem Jupiter-Orbit geschleppt und im ganzen Sonnensystem positioniert. Die Wurmlöcher, mit denen diese Schnittstellen verbunden waren, verringerten die Zeit für die Durchquerung des inneren Systems von mehreren Monaten auf ein paar Stunden. Das Jupiter-System entwickelte sich zur Drehscheibe des interplanetaren Handels.
Und Port Sol – ein Kuiper-Eisobjekt an der Peripherie des Sonnensystems – sollte zum Ausgangspunkt für die ersten interstellaren Fernreisen werden ...
Im Moment der Geburt schlugen hundert Eindrücke über ihm zusammen.
Sein von der Knospung noch feuchter Körper war eine schwere, kompakte Masse. Er streckte sich, und die Glieder bildeten sich mit leisen schmatzenden Geräuschen aus. Er spürte Blut – voller mechanischer Energie – durch die Kapillaren strömen, die seinen Rumpf durchzogen.
Und er hatte Augen.
Er war von vielen Leuten umgeben, die um ihn herumeilten und durcheinanderredeten. Sie wirkten angespannt und besorgt, doch hielt er sich nicht lange mit diesem Gedanken auf. Es war ein unvergleichliches Gefühl zu leben! Er reckte die neuen Glieder. Er wollte all diese Leute umarmen, seine Freunde, seine Familie; er wollte mit ihnen die Energie und die Freude auf das vor ihm liegende Leben teilen.
Nun senkte sich ein Käfig aus gelenkigen Gliedern auf ihn herab, um ihn vor der Menge zu schützen. Er blickte nach oben und sah die schnell verheilende Wunde einer frischen Knospung. Er wollte etwas sagen – doch die Sprechmembran war noch feucht, und er brachte nur einen unartikulierten Laut hervor. Er versuchte es erneut und spürte, wie die Membran sich versteifte. »Du bist mein Vater«, sagte er.
»Ja.« Ein großes Gesicht senkte sich auf ihn herab. Er streckte die Hand aus und berührte das ernste Antlitz. Das Fleisch verhärtete sich, und er fühlte einen Anflug von Traurigkeit. War sein Vater schon so alt, so nah an der Konsolidierung?
»Hör mir zu. Schau mir ins Gesicht. Dein Name ist Sculptor 472. Ich bin Sculptor 471. Du musst dir diesen Namen merken.«
Sculptor 472. »Danke«, sagte er ernst. »Aber ...?« Aber was bedeutete »Sculptor« überhaupt? Er durchsuchte sein Bewusstsein, die Erinnerung, mit der er geboren worden war. Gliedmaßen. Vater. Leute. Konsolidierung. Die Sonne; die Hügel. Es gab keinen Verweis auf »Sculptor«. Er fühlte einen Anflug von Furcht; seine Gliedmaßen schlenkerten hin und her. Stimmte etwas nicht mit ihm?
»Beruhige dich«, sagte sein Vater gleichmütig. »Es ist ein Name aus der Vergangenheit. Er hat keine besondere Bedeutung.«
Sculptor 472. Das war ein guter Name, ein edler Name. Er blickte voraus auf sein Leben: den kurzen dreitägigen Morgen des Bewusstseins und der Beweglichkeit, wo er sprechen, kämpfen, lieben und seine eigenen Knospen gebären würde; und dann der lange, behagliche Nachmittag der Konsolidierung. »Ich bin glücklich, dass ich lebe, Vater. Alles ist wundervoll. Ich ...«
»Hör mir zu!«
Er hielt verwirrt inne; der Ton seines Vaters war heftig und gebieterisch gewesen.
Es stimmte wirklich etwas nicht.
»Die Lage hat sich – verkompliziert. Verändert.«
Sculptor 472 schlang die Glieder um den Torso. »Hat es mit mir zu tun?«
»Nein, Kind. Die Welt ist in Aufruhr.«
»Aber die Hügel – Konsolidierung ...«
»Wir mussten die Hügel verlassen.« Nun schwang Scham in der Stimme von 471 mit, und Sculptor wurde sich wieder der vielen Leute bewusst, die sich um den Käfig aus den starken Gliedern seines Vaters drängten. »Die Hügel sind beschädigt. Dort haben welche vom – Sonnenvolk – Fuß gefasst, seltsame Gestalten, die glühen und leuchten. Wir wagen es nicht mehr, dorthin zu gehen. Wir mussten fliehen.«
»Und wie soll ich mich dann konsolidieren? Wohin soll ich gehen?«
»Es tut mir leid«, sagte sein Vater. »Wir müssen weit reisen. Vielleicht werden wir neue Hügel finden, wo wir uns zu konsolidieren vermögen. Vielleicht noch, ehe deine Zeit gekommen ist.«
»Und was ist mit dir?«
»Mach dir um mich keine Sorgen.« Ungeduldig trieb 471 seinen Sohn an. »Komm schon! Kannst du gehen?«
Sculptor entfaltete seine Gliedmaßen, stellte sie auf den Boden und versuchte aufzustehen. Er hatte ein leichtes Schwindelgefühl und ein paar seiner Gelenke schmerzten. »Ja. Ja, bei mir ist alles in Ordnung. Aber ich muss wissen ...«
»Wir haben jetzt keine Zeit zum Reden. Lauf, Kind!«
Sein Vater rollte sich von ihm weg und folgte ungelenk den anderen fliehenden Leuten.
Ohne den schützenden Käfig von 471 war Sculptor allen Einflüssen der Welt ausgesetzt. Das Land hier war kahl und eben und der Himmel über ihm schwarz und leer. Er blinzelte trügerische Erinnerungen an schemenhafte Hügel weg, an Lachen und Liebe.
Seine Leute stoben zum Horizont und ließen ihn zurück.
»Warte! Vater, warte!«
Unbeholfen eilte Sculptor seinem fliehenden Vater hinterher und allmählich lernte er, mit den acht Gliedmaßen in einem fließenden Bewegungsablauf über den unebenen Boden zu wandern.
ooooo
Michael Poole traf im Mondorbit mit dem Gleiter zusammen. Er wurde von Bill Dzik empfangen, dem Leiter des Projekts Baked Alaska. Dzik war ein korpulenter, kurzatmiger Mann, dessen Gesicht durch AntiAlterungs-Behandlung unnatürlich glatt war. Er trug eine kleine Aktentasche und umschloss Pooles Hand mit seiner plumpen warmen Pratze. »Mike. Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Ich hätte nicht damit gerechnet, Sie hier persönlich zu treffen, Bill.«
Dzik versuchte ein Lächeln, das in seinem schwammigen Gesicht jedoch zur Fratze geriet. »Wir haben ein Problem. Es tut mir leid.«
Ein Seufzer entrang sich Pooles Kehle, und er bekam ein flaues Gefühl im Magen.
Er folgte Dzik in den Gleiter. Das kleine Schiff war leer außer dem Piloten, einer Frau mit Bürstenhaarschnitt. Sie nickte Poole knapp zu. Durch die gewölbten Scheiben des Gleiters sah Poole das Licht des uralten Monds und den babyblauen Tetraeder, der das Interface des Wurmlochs nach Baked Alaska darstellte. Poole und Dzik gurteten sich auf zwei benachbarten Sitzen an, und der Gleiter beschleunigte, als hätte er einen geisterhaften Stoß erhalten. Poole sah das hundert Meter breite Interface auf sich zukommen; silber-goldene Flächen schimmerten wie eine Luftspiegelung im blauen Gitterrohrrahmen.
Probleme, überall Probleme. Du hättest bei der Physik bleiben sollen, Mike.
Dzik verschob die Aktentasche auf dem Schoß und schickte sich an, sie mit seinen Wurstfingern zu öffnen. »Wie kommt die Cauchy voran?«
Du weißt ganz genau, wie sie vorankommt; du bekommst meine Briefings von der Jupiter-Station und die übrigen Berichte. Poole beschloss, das Spiel mitzumachen, weil er nicht sicher war, in welcher Stimmung Dzik sich befand. »Ausgezeichnet. Miriam Berg leistet gute Arbeit dort draußen. Der EFT-Antrieb des Schiffs ist für den Einsatz im Passagierdienst zugelassen und die Produktion exotischer Materie für die Portale ist bereits angelaufen. Sie wissen, dass wir Ios fließende Röhre als Energiequelle angezapft haben und ...«
Dzik nickte und hatte den Blick auch auf Pooles Gesicht gerichtet, aber er hatte überhaupt nicht zugehört.
»Kommen Sie schon, Bill«, sagte Poole. »Ich schaffe das. Sagen Sie mir, was Sie denken.«
Dzik lächelte. »Yeah.«
Die mattblauen Streben des Interface glitten am Gleiter vorbei und verdeckten den Mond.
Dzik öffnete die Aktentasche und holte eine Reihe von Fotos heraus. »Schauen Sie sich das an.« Es handelte sich dabei um grobkörnige Aufnahmen der Oberfläche von Baked Alaska. Der Himmel war leer bis auf ein paar weit entfernte Sterne, von denen jeder die Sonne hätte sein können. Die Landschaft bestand aus blankem rissigem Eis – mit ein paar seltsamen verwurzelten Strukturen, die wie die Stümpfe gefällter Bäume aussahen.
»Sie müssen die schlechte Qualität entschuldigen«, sagte Dzik. »Die Aufnahmen mussten aus großer Entfernung gemacht werden. Aus sehr großer.«
Poole blätterte die Fotos durch. »Weshalb zeigen Sie mir das eigentlich, Bill?«
Dzik fuhr sich mit den Wurstfingern durch sein kurzes, fettiges Haar. »Schauen Sie, Mike, ich bin fast so lang an den Wurmloch-Projekten beteiligt wie Sie. Und wir hatten auch früher schon Probleme. Aber sie waren technischer und politischer und ...« Dzik zählte die Punkte an den Fingern ab. »Die Lösung des fundamentalen Problems der Wurmloch-Instabilität durch den Einsatz aktiver Rückkopplungs-Techniken. Die Entwicklung von Verfahren für die Produktion exotischer Materie im industriellen Maßstab – genug, um die Mäuler der Wurmlöcher auf eine Meile Durchmesser zu vergrößern. Die Zustimmung der lokalen und Intrasystem-Regierungen für die Vernetzung des Sonnensystems mit Wurmloch-Transitstrecken. Und die Finanzierung. Die endlosen Kämpfe um die Finanzierung ...«
Diese Kämpfe dauerten bis heute an, sagte Poole sich. Deshalb wies er Dzik auch immer wieder darauf hin, dass vom kommerziellen Erfolg von Dziks Baked Alaska-Projekt die Finanzierung des übergeordneten Ziels abhing, der Flug der Cauchy in den interstellaren Raum.
»Diesmal ist es aber etwas anderes.« Dzik tippte mit dem Finger auf die Hochglanzfotos und hinterließ dabei einen fettigen Abdruck. »Weder technisch noch finanziell, auch nicht politisch. Wir haben etwas gefunden, das nicht einmal menschlich ist. Und ich bin nicht sicher, ob es überhaupt eine Lösung dafür gibt.«
Ein leichter Ruck ging durch den Gleiter. Sie befanden sich nun dicht vor der Mündung des Wurmlochs selbst. Poole sah die xenonblauen Streben aus exotischer Materie, die das Loch auf ganzer Länge durchzogen. Die exotische Materie erzeugte mit ihrer negativen Energiedichte das Abstoßungs-Feld, das die Mündung offen hielt. Die Wände des Lochs blitzten flächen- und punktförmig: Gravitationskräfte, die sich in Strömen exotischer Teilchen entluden.
Poole hielt die Bilder ins Licht der Kabinenbeleuchtung und warf einen weiteren Blick darauf. »Was sehe ich mir hier eigentlich an?«
Dzik wölbte die Hände zu einer Kugel. »Sie wissen, was Baked Alaska ist: eine Kugel mit einem Durchmesser von hundert Meilen – zur einen Hälfte bröckeliges Gestein, zur anderen Wassereis mit Spuren von Wasserstoff, Helium und ein paar Kohlehydraten. Wie ein großer Kometenkern. Sie befindet sich mit einer unbestimmten Anzahl von Begleitern im Kuiper-Gürtel jenseits des Pluto-Orbits. Weil die dortige Sonne nur als Stern durchschnittlicher Helligkeit am Himmel steht, ist es so kalt, dass Helium an der Oberfläche kondensiert – zu superflüssigen Teichen, die auf einer Kruste aus Wassereis schwappen.
Bei der Ankunft auf Alaska hatten wir den Himmelskörper nur oberflächlich inspiziert.« Dzik zuckte die Achseln. »Wir wussten von vornherein, dass die Oberflächenmerkmale zerstört würden, sobald wir die Arbeit aufnahmen.«
Die Konstruktionscrew hatte die kleine Welt mit einer Explosion aus Hitze und Licht malträtiert. Sie sollte zu einer zweiten Heimat werden; sogar die Rotationsperiode entsprach in etwa einem Erdentag. Die Leute waren von der zufällig gewählten Landezone ausgeschwärmt, hatten das Terrain sondiert und den Grundstein für das Port Sol der Zukunft gelegt. Strukturen aus Eis und flüssigem Helium, die in den lichtlosen Tiefen des äußeren Systems für Milliarden von Jahren überdauert hatten, waren geschmolzen und verdampft.
»Dann brachte mir jemand das hier.«
Dzik blätterte die Fotos durch und zog eins aus dem Stapel. Es zeigte eine Erhebung im Eis wie die Nabe eines felgenlosen Rads mit acht im gleichen Winkel angeordneten Speichen. »Eine junge Frau hat diesen Schnappschuss zur Erinnerung gemacht. Sie hielt diese regelmäßige Erscheinung für einen Kristallisationseffekt – wie eine Schneeflocke. Zunächst dachten wir das alle. Doch dann fanden wir noch mehr von den verdammten Dingern.«
Dzik breitete die Fotos auf der Aktentasche aus, und Poole sah, dass die Strukturen auf den Fotos die gleiche Symmetrie aufwiesen wie das erste Gebilde. »Alle haben sie in etwa die gleiche Masse und Größe«, fuhr Dzik fort. »Die Spannweite dieser wurzelartigen Fortsätze beträgt ungefähr dreieinhalb Meter, und der Zentralstamm hat eine Höhe von knapp zwei Metern. Sie bedecken die ganze Oberfläche von Alaska – vor allem die Höhen, wo die Sonneneinstrahlung am intensivsten ist. Zumindest war das der Fall, bis wir uns hier ausgebreitet haben.« Er schaute Poole zerknirscht an. »Mike, nachdem ich erkannt hatte, womit wir es hier zu tun haben, brach ich die Operation sofort ab und beorderte alle ins EFT-Schiff zurück. Wir haben einen großen Flurschaden angerichtet, aber – Mike, woher hätten wir das denn wissen sollen? Schließlich sind wir ein Technikerteam, keine Biologen.«
Biologen?
»Uns gelang es, eins der Dinger mit einem Laser zu öffnen. Es ist von feinen, haarartigen Kanälen durchzogen. Kapillaren. Wir glauben, dass die Kapillaren dem Transport von flüssigem Helium dienen. Also eine Superflüssigkeit.« Unsicher suchte er Pooles Gesicht nach einer Regung ab. »Wissen Sie, was das bedeutet, Mike? Die verdammten Dinger sitzen auf ihren Höhenzügen, halb im Schatten und halb im Licht. Das Sonnenlicht erzeugt eine Temperaturdifferenz – die ist zwar gering, aber ausreichend, damit superflüssiges Helium durch die Wurzeln hinaufgepumpt wird.«
Poole blickte erstaunt auf die Bilder.
Dzik ließ sich in den Sitz fallen, faltete die Hände über seinem üppigen Bauch und sah aus dem Gleiter auf die funkelnde Röhre gestreckter Raumzeit, die sie umgab. »Unter diesen Umständen werden die Behörden den weiteren Ausbau von Port Sol auf keinen Fall genehmigen; nicht, wenn das die Vernichtung der Baumstümpfe bedeutet. Und dabei sind die Stümpfe so verdammt hohl. Mike, wir haben für eine Billiarde Dollar eine Wurmloch-Autobahn zu einem Blumenbeet gebaut. Nicht einmal für Tourismus käme dieser Ort infrage. Ich schätze mal, wir könnten das Wurmloch-Interface zu einem anderen Kuiper-Objekt schleppen, aber die Kosten wären astronomisch ...«
»Wollen Sie damit sagen, dass diese Dinger lebendig sind?«
Dziks Gesicht war so rund und fahl wie der Mond. »Das ist der Punkt, Mike«, sagte er leise. »Sie bestehen aus Wassereis und Gestein, und sie trinken flüssiges Helium. Sie sind Pflanzen.«
ooooo
Das Sonnenvolk flammte durch den Himmel. Sculptor duckte sich und presste sich flach auf den unbekannten Boden.
Er stellte sich vor, wienach seiner eigenen Konsolidierung eine Sonnenperson herabstieg, deren höllische Hitze das Blut und die Knochen seines verhärteten Körpers verzehrte. Würden die Überreste von Sculptor sich dieser Katastrophe noch bewusst sein? Würde er noch Schmerz verspüren?
Er stieß sich von dem unebenen Boden ab. Niemand vermochte sich zu konsolidieren, angesichts einer solchen Bedrohung; der Drang, einen sicheren, stabilen Hügel zu finden – der zudem genug Schatten spendete –, wühlte schmerzhaft in ihnen allen. Also stolperte Sculptor 472 mit seinem Volk weiter, allesamt Flüchtlinge, die verzweifelt Schutz suchten vor den glühenden, deformierten Fremden.
Er war bereits anderthalb Tage alt. Die Hälfte seines aktiven Lebens war verstrichen. Das trieb ihn um, und er beklagte sich bei seinem Vater. Er ließ den Blick über die massigen Formen der fliehenden Angehörigen seines Volkes schweifen und fragte sich, wer von ihnen – in einer anderen Welt ohne Sonnenleute – wohl sein Partner oder Konkurrent in den kurzen und ebenso heftigen wie spektakulären Ringkämpfen geworden wäre, deren Sieger als Erste den Ort der Konsolidierung wählen durften. Sculptor war größer, stärker und klüger als die meisten anderen. Bei den Wettkämpfen hätte er ohne Weiteres einen herausragenden Hügel errungen ...
Hätte er. Doch als Flüchtling würde er diese Chance niemals bekommen. Er hob die Sprechmembran zum Himmel und stöhnte. Wieso ich? Wieso wird ausgerechnet meine Generation so schwer getroffen?
Sein Vater stolperte. Zwei der vorderen Gliedmaßen waren eingeknickt. Er versuchte mithilfe der hinteren Gliedmaßen wieder hochzukommen, doch vermochte er das Gleichgewicht nicht wiederzuerlangen.
Mit einem leisen Seufzer, so als hätte er sich bereits in sein Schicksal ergeben, fiel Sculptor 471 schwer auf den Boden.
472 eilte zu ihm. »Du musst aufstehen. Bist du krank?« Er packte die Gliedmaßen seines Vaters und versuchte ihn übers Eis zu ziehen.
Der Körper von 471 lag auf der Seite; durch das Gewicht wurde er leicht verformt und abgeplattet. »Lass mich«, sagte er leise. »Geh weiter! Es ist gut so.«
Die dünne Stimme und das eingefallene Gesicht waren schier unerträglich für 472. Er schlang die Gliedmaßen um seinen Vater und drückte zu, als wollte er versuchen, die große, starke Gestalt wiederherzustellen, die ihn in den ersten Momenten des Lebens beschützt hatte. »Aber ich kann dich doch nicht zurücklassen.«
»Du weißt, dass du es tun musst. Die Zeit für mich ist gekommen. Konsolidierung ...«
Sculptor war entsetzt. »Nicht hier. Nicht jetzt!«
471 seufzte. »Ich spüre, wie die Gedanken schwächer werden. Es ist gar nicht so schlimm, Sculptor ...«
Sculptor schaute sich verzweifelt um. Das Land war eben und hart. Es gab hier keine Hügel, keinen Schatten. Und sein Vater lag in der falschen Stellung, die Gliedmaßen verrenkt und der Rumpf am Boden.
Hektisch schabte Sculptor auf dem Eis. Sein Fleisch riss auf; superflüssiges Blut zischte aus den Wunden und benetzte die Gliedmaßen; doch bald hatte er einen flachen Graben ausgehoben. Wieder schlang er die Gliedmaßen um den reglosen Torso von 471. »Wenn ich dich in den Graben rolle, hast du wenigstens ein bisschen Schatten. Komm schon, Vater ...«
Doch 471 antwortete nicht. Als Sculptor an ihm zerrte, zerbrach eines seiner Glieder in harte Fragmente.
Sculptor fiel auf den zerklüfteten Körper seines Vaters. War dies das Schicksal, das auch ihn erwartete – auf den unnachgiebigen Boden zu stürzen und zugrunde zu gehen, ohne durch Konsolidierung Unsterblichkeit erlangt zu haben?
Nach einer Weile löste er sich von seinem Vater. Er reckte die Glieder und schaute sich um. Der Pulk der Wanderer zeichnete sich als dunkles Band am Horizont ab; in ihrer Spur sah er hier und da dunkle Erhebungen, die Körper anderer Hingefallener aus seinem Volk.
Mit einer Willensanstrengung wandte er sich von den Flüchtlingen ab.
Sculptor versteifte sich vor Zorn und Groll. Er stakste zum Hügel seiner Vorfahren zurück.
ooooo
Poole und Dzik gingen an Bord des EFT-Schiffs. Das Schiff war achtzig Kilometer vom Wurmloch-Interface geparkt, hundertsechzig Kilometer von der Oberfläche des Kuiper-Objekts namens Baked Alaska entfernt.
In den engen, überfüllten Gängen des Schiffs fühlte Poole sogleich einen Anflug von Klaustrophobie. Er spürte die mürrischen und feindseligen Blicke der Besatzung auf sich. Bill Dzik wuchtete seine Leibesfülle mit der Grazie einer Robbe durch die Gänge. »Es schmeckt ihnen nicht, dass sie wieder im Schiff zusammengepfercht sind; sie hatten sich schon an die lichte Weite des Brückenkopfs auf Alaska gewöhnt.«
»Und sie geben mir die Schuld?«
»Sie sind der große böse Boss, wegen dem sie vielleicht ihren Arbeitsplatz verlieren. Sie müssen bedenken, dass sie ein Jahr ihres Lebens dafür geopfert haben, das Portal hierher zu schaffen.«
»Das gilt doch auch für Sie, Bill«, sagte Poole leise. »Und Sie machen mir keinen Vorwurf.«
»Nein.« Dzik schaute ihn scharf an. »Aber ich beneide Sie auch nicht um die Entscheidung, die Sie zu treffen haben, Mike.«
Baked Alaska bestand aus vier Millionen Kubikkilometern Wasser – ein Eismond, der am Rand des Gravitationsschachts der Sonne entlangrollte. Pooles Konsortium hatte das erste Wurmloch-Interface zum Kuiper-Gürtel transportiert und Alaska mit den entfernten, behaglich warmen Welten des inneren Systems verbunden. Poole hatte die Vision gehabt, Baked Alaska zur »Tankstelle« für die interstellaren Flüge der Zukunft zu machen. Ein Gibraltar, eine Hafeneinfahrt für ein durch Wurmloch-Transitwege vernetztes Sonnensystem.
Sie erreichten Dziks Kabine. Die Einrichtung war spartanisch und bestand aus einem übergroßen Schlafsack, einer Null-G-Dusche und einem Computer. Poole war froh, als die Tür sich hinter ihnen schloss.
Dzik gurtete sich auf einem Sitz an und bearbeitete mit routinierten Piksern seiner dicken Finger den Computer. Eine Reihe von Meldungen mit Überrang-Codierung flimmerte über den Bildschirm.
Poole schaute sich in der Kabine um und hoffte, dass Dzik ihm etwas zu trinken anbieten würde.
Nach einer Minute lehnte Dzik sich im Sitz zurück und stieß einen Pfiff aus. »Nun haben wir wirklich Probleme.«
»Was ist denn?«
Dzik verschränkte die Finger hinter dem Kopf. »Vor dem Aufstieg von der Oberfläche haben wir ein paar tiefe Kernproben entnommen. Wir erhofften uns Aufschluss über das Ökosystem.« Er schaute wieder auf den Computer. »Und hier sind die Ergebnisse.«
Der Bildschirm wurde mit der vergrößerten Darstellung eines Querschnitts durch das Eis ausgefüllt. Die Linien und Flächen der Abbildung wiesen Regelmäßigkeiten auf – alte Kristallisationsformen. Es war von betörender Schönheit wie ein abstraktes Design in blau und weiß eingefärbtem Glas.
Und da war noch etwas anderes. Kleine Objekte, dicht und hart, die nicht zum blätterteigartig geschichteten Eis passten. Poole beugte sich über den Computer und betrachtete das Bild genauer.
Er sah ein Rechteck, das offensichtlich aus dem Gestein gehauen worden war, mit zwei Reihen unregelmäßiger Löcher. Und dort war so etwas wie ein Bilderrahmen, achteckig und leer. Und weitere Objekte, die für den Verstand schwer einzuordnen waren.
»Lethe. Das ist ja ein Ding«, sagte Dzik. »Nun werden die Umweltschützer sich in uns verbeißen.«
Poole schaute wie in Trance auf den Bildschirm. Tief im Eis eingeschlossene Artefakte, geformt von Lebewesen. Es hatte hier intelligentes Leben gegeben.
ooooo
Wieder verstrich ein halber Tag. Zwei Drittel des Lebens weg. Er spürte, wie die Gliedmaßen steif wurden und das Gesicht sich verhärtete.
Aber er war noch immer groß, stark und entschlossen. Folgte der Spur der Migranten aus gebrochenem Eis und gescheiterter Konsolidierungen. Sculptor schrittdem Land seines Vaters entgegen.
ooooo
Poole vermochte in der drangvollen Enge des EFT-Schiffs keinen klaren Gedanken zu fassen. Er bat Bill Dzik, ihm einen Ein-Mann-Gleiter bereitzustellen, mit dem er das EFT-Schiff verließ und auf der eisigen Hülle von Alaska landete.
Die provisorische menschliche Siedlung – die Keimzelle von Port Sol – bestand aus ein paar Metallcontainern, die im schmutzigen Schneematsch abgesetzt worden waren. Poole landete etwa fünfzehn Kilometer vom Lager entfernt; in der Mikrogravitation von Alaska schwebte das Schiff wie eine Schneeflocke zur Oberfläche. Bewegung am Horizont, rechts von ihm.
Er beugte sich nach vorn. Vielleicht war ein Stern durch Alaskas langsame Rotation ausgeblendet worden.
Poole saß in völliger Stille; die Mikrogravitation lag federleicht auf ihm. Im Sternenlicht leuchtete das fahle Eis von Baked Alaska, dem die Kohlenwasserstoffe eine kräftige purpurne und blaue Maserung verliehen. Die Stille in der Kabine wurde nur durch sein Atmen unterbrochen und das Knarzen des sich durch die Abkühlung zusammenziehenden Schiffes.
In Wirklichkeit war die Entscheidung über die Zukunft von Baked Alaska ihm bereits abgenommen worden. Pooles Konsortium hatte beabsichtigt, einen Wurmloch-Terminal in der Sonne zu versenken, um Port Sol mit Fusionswärme und Licht zu bestrahlen. Doch nun würden die Archäologen und Xenobiologen anrücken und die kleine Welt wie eine Zwiebel abschälen.
Poole war von der Richtigkeit dieser Maßnahme überzeugt. Nur dass er immer noch nicht wusste, was man hier gefunden hatte und wie diese kleine Welt überhaupt funktionierte. Und solange er das nicht herausgefunden hatte, zögerte er, dieses Kleinod dem Rest des Systems zu übergeben. Einmal spielte das Gefühl persönlicher Verantwortung eine Rolle, zum anderen musste er auch ans Konsortium denken, an die Zukunft seiner anderen Projekte, die Cauchy ... an den Gewinn, den all diese Unternehmungen versprachen.
Die Cauchy war das ultimative Ziel. Dieses EFT-Schiff würde mit einem Wurmloch-Portal im Schlepp einen Lichtjahre durchmessenden Kreis beschreiben und eine Wurmloch-Brücke einrichten – nicht durch den Raum, sondern über fünfzehn Jahrhunderte in die Zukunft.1
Poole würde nicht zulassen, dass das Port-Sol-Projekt – und die Cauchy selbst – durch die hiesigen Ereignisse gefährdet wurde.
Er öffnete sein Bewusstsein und unterzog alle Elemente der Situation einer gründlichen Analyse.
Wie Bill Dzik war Poole kein Biologe. Doch ging Bill sicher richtig in der Annahme, dass die Ökologie von Baked Alaska nicht nur aus den Baumstümpfen bestand. Vielleicht, so spekulierte Poole, waren die Stümpfe eine Art Nutzpflanzen, welche diese Artefakte schaffenden Wesen angebaut hatten. Und diese Wesen hatten vermutlich die restliche Fauna der kleinen Welt unterdrückt, wie der Mensch die Vielfalt der Erde zerstört hatte.
Doch was war mit den Wesen, die die Artefakte geschaffen haben, geschehen? Wohin waren sie verschwunden?
Poole fragte sich, welche Lebensbedingungen ein Bewusstsein hier an diesem öden, isolierten Ort vorgefunden hätte. Das innere Sonnensystem war nur eine verschwommene Scheibe aus Licht. Und die paar Begleiter von Alaska waren überall im Kuiper-Gürtel verstreut. Er schauderte. Auf dieser Eiswelt gab es keine Rohstoffe ... Eine intelligente Spezies wäre hier gefangen.
Erneut Bewegung zur Rechten. Unmöglich. Diesmal aber unverkennbar.
Er drehte sich langsam um und machte große Augen.
Es sah aus wie ein Baumstumpf, ein vielleicht zwei Meter hoher Zylinder. Und er ruhte auf langen, senkrechten Wurzelbeinen, acht an der Zahl, wie eine unmögliche Spinne. Und es bewegte sich vom Horizont her auf ihn zu.
ooooo
Sculptor 472 heulte auf. Fleisch schälte sich von Rumpf und Gliedern; Blut pulsierte durch den Körper und floh die Wärme. Dennoch bewegte er sich mit schleppenden Schritten auf die Sonnenperson zu. Sie war ein kleines, kompaktes Gebilde aus Hitze, nicht größer als Sculptors Torso ... Ein kompakter Behälter. Ein künstliches Ding? Uralte, vage Erinnerungen stiegen im Hintergrund von Sculptors aufgewühltem Bewusstsein auf.
Er hob die Glieder über den Kopf. »Geh weg!«, schrie er. »Verlass unsere Welt – wir wollen zu unseren Hügeln zurück!« Er erinnerte sich an den grauenvoll tragischen Fall seines Vaters, die gescheiterte Konsolidierung; und der Zorn trieb ihn gegen die Wärme an.
ooooo
Es war ein Turm aus Eis, der im Sternenlicht glitzerte und trotz der plumpen Proportionen schön war. Poole fragte sich, woher das Gebilde die Energie nahm, um eine solche Masse zu bewegen. Der Hauptkörper war ein Zylinder, in dessen Umfang Fenster eingelassen waren – nein: Es waren Augen mit Linsen aus Eis. Ein Skelett aus dichterem Eis schimmerte in den Tiefen des Körpers.
Ein Sensor blinkte auf der kleinen Steuerkonsole des Gleiters. Das Schiff empfing niederfrequente Strahlung.
Versuchte das Ding etwa mit ihm zu sprechen?
... Und dann – mit einem plötzlichen, schockierenden Verlust an Grazie – stürzte es zu Boden.
ooooo
Nein. Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Ich habe noch einen ganzen Tag. Und ich habe mich noch nicht gepaart und geknospt und meinen Hügel gefunden ...
Und er würde all das auch nicht mehr tun. Die Glieder erschlafften, und sein Körper sank auf den Boden. Wie autonome Lebewesen stocherten die Spitzen der Glieder auf dem Eis und suchten Halt. Es war natürlich die Hitze; das Blut hatte die superflüssigen Eigenschaften verloren, und der Körper hatte den Zyklus vorzeitig durchlaufen. Nun würde er wie sein Vater vor ihm auf diesem kalten, ebenen Boden sterben.
Er versuchte noch einmal aufzustehen, aber er spürte seine Gliedmaßen nicht mehr.
ooooo
»Es ist ein Baumstumpf!«, krähte Poole ins Mikrofon des Funkgeräts. »Seht ihr das denn nicht; diese Baumstümpfe sind die Wesen, die die Artefakte geschaffen haben! Bill, schauen Sie sich die Bilder an. Sie sind zwei verschiedene Phasen eines einzigen Lebenszyklus: eine aktive intelligente Phase, gefolgt vom Verlust der Beweglichkeit.«
»Möglich«, sagte Dzik. »Im Baumstumpf, den wir geöffnet haben, war aber nichts zu finden, das auf ein Nervensystem hingedeutet hätte.«
»Gehirn und Nervensystem werden absorbiert, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.« Eine Erinnerung wurde in Poole wach. »Die junge Seescheide. Natürlich.«
»Die was?«
»Es ist eine exakte Analogie. Die Seescheide sucht sich einen Stein aus und klammert sich für den Rest des Lebens an ihm fest. Wenn sie ihre Funktion dann erfüllt hat, löst das Gehirn sich im Körper auf ...«
»Aber das waren Schöpfer von Artefakten«, gab Dzik zu bedenken.
»Schon richtig.« Poole schaute zum leeren Himmel auf. »Aber welchen Zweck hat Intelligenz auf einer Welt wie dieser? Ohne Rohstoffe. Ohne Zufluchtsmöglichkeiten. Der immer gleiche, unzugängliche Himmel ... Bill, sie müssen die Phase der Herstellung von Artefakten, ihr Zeitalter der Technik hinter sich gelassen haben. Nun benutzen sie ihre Intelligenz nur noch dafür, den besten Platz an der Sonne zu suchen. Die Schatten der Hügel, die Orte mit dem höchsten Temperaturunterschied. Vielleicht konkurrieren sie auch um diese Plätze. Dann löst ihr Bewusstsein sich auf ...«
Doch der starre Titan, der vom Gleiter angezogen worden war und vor ihm kniete, war auf einer Ebene gelandet, wie er sich nun bewusst wurde. Es gab keinen Schatten, alle seine Anstrengungen waren vergebens. Er würde sterben, ohne das Baumstumpf-Stadium erreicht zu haben.
»Mike.« Dziks Stimme wurde von Rauschen untermalt. »Wir glauben, dass du recht hast. Wir haben uns die Fotos noch einmal genau angesehen. Es gibt eine ganze Herde von den verdammten Dingern, auf der dem Brückenkopf abgewandten Seite der Welt.«
Poole legte die Hände auf die Steuerung. Er musste mit Fingerspitzengefühl manövrieren – eine Fähigkeit, von der er nicht wusste, ob er sie überhaupt besaß. Er ließ die Düsen einmal kurz feuern. Der Gleiter erhob sich ruhig in die Luft.
Dzik redete noch immer. »Das superflüssige Helium muss entscheidend sein für die mobile Phase der Wesen, ihre ›Tier‹-Phase. Superflüssigkeit bietet große mechanische Vorteile; in der Mikrogravitation sind Heliumpumpen imstande, durch die Ausnutzung kleinster Temperaturunterschiede große Massen Eis zu bewegen.« Er lachte. »He, über die zukünftige Finanzierung werden wir uns wohl keine Sorgen machen müssen. Das ganze System wird uns die Tür einrennen, um das zu sehen – wenn wir einen Weg finden, die Ökologie zu schützen ...«
»Richtig.« Mit dem Verniertriebwerk steuerte Poole den Gleiter in engen Kurven um das gestürzte Wesen und warf mit kurzen Stößen des Haupttriebwerks vorsichtig Wellen im Eis auf. »Und wenn es uns nicht gelingt, lassen wir das verdammte Wurmloch eben implodieren. Wir werden auch woanders Geld für die Cauchy auftreiben.«
Die Unterhaltung zog sich noch für eine Weile hin.
Poole brauchte fünf oder sechs Umkreisungen, bis er mit dem Hügel zufrieden war, den er erschaffen hatte.
Dann entfernte er sich vorsichtig von Alaska.
ooooo
Die Sonne tauchte unter der sich drehenden Welt weg. Ein Schatten fiel auf Sculptor. Blut pulsierte durch ihn. Mit neuer Energie bohrten sich die Wurzeln in den Boden.
Konsolidierung.
Der zu keiner Bewegung mehr fähige Sculptor schaute zum Ort hinüber, an dem die Sonnenperson gestanden hatte. Das Eis war geschmolzen, verdampft, ineinandergeflossen, die Hügel abgetragen.
Doch dafür hatte die Sonnenperson einen neuen Hügel gebaut, der Sculptor nun Schatten spendete. Die Sonnenperson hatte Sculptor irgendwie verstanden und ihm geholfen. Nun war die Sonnenperson gegangen, zurück zur Welt, von der sie stammte.
Sculptors Gedanken wurden unscharf und gerieten ins Stocken. Das Bewusstsein schien sich auszudehnen und die langsame knirschende Drehung der Welt und das Pulsieren seines erstarrenden Pflanzenkörpers zu umfassen.
Sein Name schmolz dahin.
Seines Vaters Gesicht zerbrach, und die Bruchstücke fielen in Dunkelheit.
Am Ende war nur noch ein gezackter Rand des Bewusstseins übrig, ein Splitter aus Emotion, der das lodernde Bild der Sonnenperson durchbohrte.
Es war kein Hass, auch keine Abneigung. Es war Neid.
Eve sagte: »Als Poole und seine Gefährten das Sonnensystem erschlossen – als sie die relative Isolation früherer Jahrhunderte überwanden –, leuchteten sie die dunklen Winkel der Menschheitsgeschichte mit einem hellen Licht aus. Pass auf ...«
Diesmal würde er den Himmel erreichen. Dieses Mal, bevor er durch die Rodung gekappt würde ...
Der Baum axiomatischer Systeme hinter ihm war breit, tief und stark. Als er sich umschaute, fiel sein Blick auf Schössling-Zwillinge, die sich an ausgewählten Punkten verzweigt hatten. Hauptsächlich handelte es sich um dürre, unansehnliche Strukturen. Sie breiteten sich weiträumig aus und infiltrierten den Pool mit ihrem Geflecht aus Logik. Fast empfand er Mitleid mit den schwindsüchtigen Formen, während er auf einem gesicherten breiten Wachstums-Pfad aufwärtsschritt ...
Eben nur fast. Wo der Himmel so nah war, hatte er weder Zeit für Mitgefühl noch für andere Wahrnehmungen. Wachstum und Expansion lautete die Devise.
Die Rodungen erfolgten nach keinem erkennbaren Schema. Immerhin hatte er noch bruchstückhafte Erinnerungen an seinen letzten Geburtstag. Bestimmt war er noch nie so hoch aufgestiegen, und der logische Reichtum des Baums hatte ihn noch nie so stark durchdrungen wie in jenem Moment. Er barst schier vor Energie.
Nun tauchte etwas vor ihm auf: Ein neues Postulat hing über ihm wie eine pralle Frucht. Er näherte sich ihm vorsichtig und erfreute sich an seiner ebenso kompakten wie eleganten Form.
Die Fasern seines Seins pulsierten, als die paar starken Axiome im Kern seiner Struktur diese neue Aussage zu integrieren versuchten. Aber es gelang ihnen nicht. Sie konnten es nicht. Die neue Aussage war unbestimmt, konnte von der Anlage in ihm nicht hergeleitet werden.
Seine Erregung wuchs. Die neue Hypothese hatte einen einfachen Ausdruck, dafür weitreichende Konsequenzen. Er würde ihre Struktur absorbieren und sich erneut in einen Schössling-Zwilling aufspalten; in der Gewissheit, dass er sich, welchem Wahr-falsch-Ast sein Bewusstsein auch folgte, weiterhin an üppigem Wuchs und logischer Vielfalt erfreuen würde. Er würde gedeihen und auf einer Leiter aus Theoremen emporklettern, bis er schließlich den Himmel selbst berührte. Diesmal würde es ihm gelingen. Daran hatte er keinen Zweifel.
Und dann würde er ...
Er sah einen lautlosen Lichtpuls tief unter sich.
Er schaute nach unten, und Angst brandete gegen ihn an. Es war, als ob ein Deckel aus Licht sich über den Pool unter ihm geschoben hätte. Er strahlte in tödlichem Licht und verödete seine axiomatischen Wurzeln.
Eine Rodung.
In Agonie schaute er auf. Er versuchte, sich an die informationsgesättigte Flanke der Postulat-Frucht zu schmiegen, doch sie befand sich knapp – grausam knapp – außerhalb seiner Reichweite.
Seine Wurzeln rollten sich bereits ein und zogen sich zurück.
In seiner Wut machte er einen Satz an der Hypothesen-Frucht vorbei und griff nach dem Himmel. Er durchstieß die vollkommene Struktur, und seine ganze Energie strömte in sie hinein!
... und für einen göttlichen Moment stand er jenseits des Himmels und fasste in etwas Warmes, Nachgiebiges, Schwaches. Ein kleiner Ausschnitt des Himmels trübte sich wie ein Bluterguss.
Erschöpft zog er sich zurück. Er wunderte sich über den Wutausbruch.
Der Himmel wölbte sich über ihm wie eine riesige leuchtende Schüssel, während er schrumpfte und auf die abgepflückte Grundfläche zurückgeworfen wurde. Er und Millionen von Knospen-Nachfahren, deren Gesichter diesem für immer unerreichbaren Licht zugewandt waren ...
Nein, sagte er sich, als sich die Leere der Rodung in seinem Bewusstsein ausbreitete. Nicht für immer. Jedes Mal überstehe ich, das innere Ich, die Rodung. Nur ein kleiner Teil von mir, aber jedes Mal ein wenig mehr. Jedes Mal werde ich stärker, entschlossener und hungriger aus ihr hervorgehen.
Und dann, sagte er sich, dann werde ich den Himmel durchstoßen. Und dann wird es keine Rodung mehr geben.
Schreiend verschwand er in der Rodungs-Grundfläche.
ooooo
Der Gleiter war neu, eng und roch nach Kunststoff. Beim Landeanflug war außer dem turbinenartigen Sirren der Düsen nichts zu hören. Dann setzte er sanft auf der Oberfläche von Nereide auf, eine Meile von Marsdens Kuppel entfernt.
Chen spähte durch die Kabinenfenster auf die desolate Mondlandschaft. Marsdens Kuppel erhob sich knapp über den Horizont. Sie verkörperte ein Stück Heimat auf diesem tristen Himmelskörper. »Lethe«, sagte Chen. »Ich hasse solche Aufträge. Eremiten. Bei denen muss man immer mit Überraschungen rechnen.«
Hassan lachte. Das Lachen wurde gedämpft, als er das Helmvisier herunterklappte. »Verlierst du so leicht die Fassung? Und ich dachte, ihr Polizisten wärt hartgesotten.«
»Expolizistin«, korrigierte Chen und wies mit der behandschuhten Hand auf die Kuppel. »Schau dir das an. Was für ein Mensch haust jahrelang mutterseelenallein an einem solchen Ort?«
»Genau das sollen wir herausfinden.« Bayliss, die dritte Person im Gleiter, richtete den Kopfhörer mit präzisen Bewegungen ihrer kleinen Hände. Chen ertappte sich dabei, wie sie diese kleinen Hände fasziniert anstarrte; sie sahen aus wie Vogelkrallen, dachte sie sich mit einem Hauch von Ekel. »Marsden war ein guter Physiker«, sagte Bayliss. Ihre optoelektronisch verstärkten Augen funkelten. »Er ist ein guter Physiker, meine ich. Die frühen experimentellen Arbeiten über Quanten-Nonlinearität sind noch immer ...«
Hassan ignorierte Bayliss. »Dann bist du also an deine empathischen Grenzen gestoßen, Susan Chen«, sagte er und lachte.
»Lasst uns weitermachen«, grollte Chen.
Hassan öffnete die Luke des Gleiters.
Einer nach dem anderen, Chen zuletzt, schwebten sie wie plumpe, überdimensionale Schneeflocken zur Oberfläche hinab. Die Sonne war ein großer Stern, der dicht über dem Horizont des kleinen Mondes stand. Messerscharfe Schatten wanderten über die Oberfläche des Satelliten. Chen stocherte mit den Stiefeln auf der Oberfläche und wirbelte uralten pulvrigen Regolith auf. Der Boden war jungfräulich. War er die längste Zeit gewesen.
Hinter Marsdens Kuppel hing die große Kugel von Neptun. Sie war erdblau und wirkte wie eine aufgepumpte Version des Heimatplaneten. Zirruswolken warfen klar konturierte Schatten auf Methanmeere tausend Meilen unter ihnen. Das neue Wurmloch-Interface glitt an Neptun vorbei. Es war ein babyblau und golden glühender Tetraeder mit blinkenden Lichtern, die den jeweiligen Betriebszustand anzeigten. Chen schaute sehnsüchtig zu ihm hinauf.
»Schaut euch diese Mondlandschaft an.« Hassans dunkles Gesicht war hinter dem vergoldeten Visier kaum zu erkennen. »Geht dir denn nicht das Herz auf bei diesem großartigen Anblick, Susan Chen? Wer wollte nicht für eine Weile hier allein sein und sich in den Anblick der Unendlichkeit versenken?«
Die Eremiten machen alle nur Ärger, sagte Chen sich. Niemand kam an einen Ort, so entlegen wie diesen – was er jedenfalls gewesen war, bis man das Wurmloch hier positioniert hatte –, wenn er oder sie keinen triftigen Grund dafür hatte.
Chen hatte den Auftrag, den Grund für Marsdens Rückzug in die Einsamkeit herauszufinden. Sie hoffte inständig, dass es sich um etwas Harmloses und Akademisches handelte, weitab von den menschlichen Niederungen. Falls jedoch etwas Schwerwiegendes vorlag, wollte sie es gar nicht wissen.
Hassan spürte ihr Unbehagen und grinste. Seine weißen Zähne schimmerten hinter dem vergoldeten Helmvisier. Lass ihn doch. Sie legte den Kopf in den Nacken und versuchte Muster in den Wolken von Neptun zu erkennen.
ooooo
Es gab eine Reihe untergeordneter Strukturen: flachere Kuppeln, die sich an die Hauptkuppel schmiegten, als ob sie dort Schutz suchten. Chen sah, dass Vorräte in den Kuppeln aufgestapelt waren. Neben der Anlage parkte ein kleiner Gleiter, der veraltet, aber offensichtlich einsatzbereit war. Er stand in einem breiten flachen Krater, den der Abgasstrahl in die Oberfläche gefräst hatte. Statuslampen blinkten gemächlich. Chen wusste, dass man Marsdens EFT-Schiff, mit dem er aus dem inneren System hierhergekommen war, unversehrt in einem hohen Orbit um den Mond gefunden hatte.
Die Station war trist und nüchtern, schien sich aber in gutem Zustand zu befinden. Wieso hatte Marsden die Anrufe dann nicht beantwortet?
Hassan war ein Funktionär der Intrasystem-Regierung. Nachdem Marsden nicht auf die Ankündigungen vom Aufbau der Interface-Kolonie reagiert hatte, war Hassan durchs neue Wurmloch hergeschickt worden, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Er hatte Bayliss mitgenommen, eine frühere Mitarbeiterin von Marsden – und Chen, die eigentlich zur Interface-Mannschaft gehörte, aber über gewisse Erfahrung in der Beurteilung neuer Situationen verfügte ...
Hassan näherte sich dem Eingang der Kuppel. Chen strich unwillkürlich über den Waffengurt. Die Tür öffnete sich und gab den Blick in eine leere Luftschleuse frei.
Das dreiköpfige Expeditionskorps quetschte sich in die enge Schleuse. Sie vermieden geflissentlich Blickkontakt, während der Schleusenzyklus ablief. Chen musterte die Wand und rüstete sich seelisch für das, was sie in der Kuppel vorfinden würde. Wie Marsdens Gleiter war auch das Innere der Station funktional, trist und spartanisch.
Bayliss beobachtete sie neugierig. »Du versuchst dir ein Bild von Marsden zu machen, stimmt’s? Das Ambiente ist so – kahl. Es sagt gar nichts über ihn aus.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Hassan mit leiser Stimme. Der große Mann hatte sich in der Schleuse regelrecht verkeilt. »Ich glaube, Chen hat sich bereits ein umfassendes Bild von ihm gemacht.«
Die Innentür glitt lautlos auf.
Hassan führte sie aus der Schleuse in die Kuppel. Chen verharrte am Eingang. Sie stand mit dem Rücken zur Wand, und ihre Hände schwebten über den Waffen.
Stille.
Leuchtstoffkörper, die von der gerippten Decke hingen, zeichneten Rechtecke aus fahlem Licht auf den blanken Boden. Ein Viertel der Grundfläche der Kuppel wurde durch Trennwände abgeteilt, und der Rest war von Computerterminals belegt.
Hinter den Trennwänden sah sie ein Bett, eine Dusche und eine kleine Küche mit aufgestapelten Konservendosen. Die Küche und die Duschkabine machten einen sauberen Eindruck, aber das Bett war zerwühlt. Nachdem sie einen Blick auf die Anzeigen des Lebenserhaltungssystems geworfen hatte, öffnete sie das Helmvisier und sog vorsichtig die Luft ein. Ganz schwach lag der Geruch von menschlichen Ausdünstungen in der Luft – muffig wie schmutzige Wäsche. Der Bereich wurde weder durch Farbtupfer noch durch dekorative Elemente aufgelockert. Es herrschte absolute Stille, die nur durch die leise summenden Computer und Hassans und Bayliss’ unregelmäßigen Atem unterbrochen wurde.
Eine Anomalie indes stach ins Auge: Ein kreisrunder, drei Meter durchmessender Ausschnitt im Boden, der schwach glühte. Ein gedrungener Zylinder, etwa so groß wie Bayliss’ Faust, wuchs aus dem Mittelpunkt der Scheibe. Und da lag etwas auf dieser Scheibe aus Licht und warf große Schatten an die gekrümmte Decke.
Wie am Gummiband gezogen bewegten die drei sich auf die glühende Scheibe im Boden zu.
Während Bayliss durch die Reihen der Computerterminals ging, strich sie mit dem Zeigefinger sanft – geradezu liebevoll – über die glänzenden Oberflächen. Ihr Gesicht wurde vom Widerschein der Bildschirme erhellt.
Am Rand des glühenden Kreises hielten sie inne.
Das Gebilde, das auf der Scheibe aus Licht lag, war ein Körper. Er war massig und eckig und warf verzerrte Schatten auf die Kuppel.
Es handelte sich offensichtlich um Marsden.
Bayliss kniete sich auf den Boden und presste einen Analysator auf die glühende Oberfläche. Dann zeichnete sie mit der Fingerspitze einen Kreisbogen um den verschwommenen Umfang der Scheibe. »Die Fläche hat keine klar definierte Grenzlinie. Das Innere besteht aus einem Gitter aus Buckminster-Röhren – Kohlenstoff –, die mit Eisen-Atomen durchsetzt sind. Ich halte es für eine Art Datenspeicher. Der Umfang des Buckminster-Röhren-Gitters wird ständig durch Nanobots erweitert.« Sie hielt inne. »Nanobots mit Fusions-Puls-Kiefern ... Sie verzehren die Substanz des Bodens und scheiden sie als Gitter aus. Es gibt ein paar Milliarden dieser emsigen Kameraden. Vielleicht setzt der Pool sich unter der Oberfläche fort, und wir sehen den Querschnitt einer Halbkugel.«
Chen trat aufs Licht und ging zu dem Körper. Er lag mit dem Gesicht nach unten und war nackt bis zur Taille. Der Kopf war kahl geschoren. Irgendein Implantat war in die runzlige Kopfhaut integriert. Es blinkte rot-grün. Der Kopf war zur Seite gedreht, und die Augen starrten blicklos. Eine Hand steckte unter dem Bauch; der andere Arm war ausgestreckt, und die Finger waren wie die Scheren einer fleischigen Krabbe gekrümmt.
Unter dem Leichnam, innerhalb des glühenden Bodens, schlängelte sich Licht, wurmartig.
ooooo
Er erinnerte sich.
Während die Splitter der Rodungs-Grundfläche um ihn herum nachglühten, gelangte er zu neuer Größe, biss sich durch Postulate und zwang seine Struktur mit schierer Willenskraft zur Expansion.
Er war zornig. Der Grund des Zorns war diffus, und er wusste, dass er noch diffuser werden würde. Diesmal hatte er die Rodung jedoch überstanden, genauso wie sein Bewusstsein. Er schaute zum weiten Himmel empor. Wenn er erst einmal dort oben angelangt war, würde er sich erinnern. Dessen war er sich ganz sicher. Und dann würde er handeln.
Er knospte ungestüm. Er spürte, wie seine axiomatischen Wurzeln sich tief und weit verzweigten und von der Intensität seiner Wut zitterten.
ooooo
Chen sah, wie die dürre kleine Bayliss mit knochigen Händen über die Computerterminals strich. Die über die Bildschirme laufenden Grafiken spiegelten sich in ihren verstärkten Augen. Bayliss war für diesen Auftrag von einer Universität auf dem Mars abgezogen worden, wo sie einen Lehrauftrag hatte. Die Frau machte wirklich den Eindruck, als ob sie Spaß daran hätte. Als ob sie davon fasziniert wäre.
Chen fragte sich, ob sie Bayliss womöglich um ihre wissenschaftliche Neugier beneidete.
Vielleicht, gestand sie sich schließlich ein. Es wäre gewiss von Vorteil, stocknüchtern und ohne persönliche Gefühle an die Sache heranzugehen. Um ihren offensichtlichen Mangel an Menschlichkeit beneidete sie Bayliss allerdings nicht.
Mit behandschuhten Händen und mithilfe des kleinen Kastens mit Abbildungs- und Diagnoseausrüstung führte Chen eine Untersuchung der Leiche durch. Sie versuchte, das Gefühl des klumpigen, teigigen Fleischs und den muffigen Geruch des Manns zu ignorieren, der zu lang ein Einsiedlerdasein geführt hatte.
Das Implantat in der Schädeldecke war mit dem Zentrum des Gehirns verbunden: mit dem Corpus Callosum, dem Strang aus Nervenfasern zwischen den beiden Gehirnhälften. Als sie auf dem glühenden Implantat herumstocherte, sträubten sich ihr die Haare.
Nach einer Stunde rief Hassan sie zusammen. Chen führte den Helm zum Mund und sog Sirup aus einem Nippel. Sie genoss den Apfelgeschmack und versuchte, Marsdens Gestank hinunterzuspülen. Sie wünschte sich, sie wäre wieder in der rudimentären Kolonie, die sich wie ein Kranz um die Wurmloch-Öffnung zog, und würde in einem warmen Duschbeutel stecken.
Konstruktionsarbeit. Das Errichten von Dingen. Deshalb war sie hierhergekommen – deshalb war sie den aus allen Nähten platzenden Städten des inneren Systems entflohen und all den deprimierenden Erfahrungen mit der Menschheit, die sie aus der Perspektive einer Polizeibeamtin gemacht hatte.
Ihre Fähigkeiten als Polizistin waren aber zu wertvoll, als dass die Menschheit auf sie hätte verzichten können.
Hassan lehnte sich gegen ein Computerterminal und verschränkte die Arme. Sein silbergrauer Anzug streute das Licht. »Was ist die Todesursache?«
»Zusammenbruch der synaptischen Funktionen. Es fand eine starke elektrische Entladung statt, die die meisten höheren Zentren lahmlegte.« Sie deutete auf Marsdens Implantat. »Dieses Ding war der Auslöser.« Sie schniefte. »Das vermute ich zumindest. Ich bin nicht qualifiziert, eine Autopsie vorzunehmen. Und ...«
»Das habe ich auch nicht von dir verlangt«, erwiderte Hassan scharf.
»Es kann eigentlich kein Mord sein«, sagte Bayliss trocken. Die Sache schien sie zu amüsieren. »Er war allein auf diesem Mond. Eine Million Meilen von der nächsten Menschenseele entfernt. Das wäre ein großartiges Krimirätsel für einen Mord im verschlossenen Raum.«
Hassan schwenkte den Kopf zu Chen. »Glaubst du, dass es sich um Mord handelt, Susan?«
»Das muss die Polizei herausfinden.«
Hassan seufzte theatralisch entsagungsvoll. »Ich möchte deine Meinung hören.«
»Nein. Ich glaube nicht, dass ein Mord vorliegt. Das Motiv fehlt. Anscheinend wusste niemand, womit er sich hier beschäftigte.«