Die Wiege der Schöpfung - Stephen Baxter - E-Book

Die Wiege der Schöpfung E-Book

Stephen Baxter

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 2255. Das Raumschiff Shadow hat die Grenzen unseres Sonnensystems erreicht. Die Crew sucht nach dem „neunten Planeten“, ein Objekt jenseits der Plutobahn, das bisher nur theoretisch angenommen wird. Die zwanzigjährige Salma, das einzige Kind, das auf der Shadow geboren wurde, ist die erste, die es entdeckt und es mit eigenen Augen sieht. Doch was ist dieser „Planet neun“? Das Objekt verhält sich weder wie ein Planet noch wie ein schwarzes Loch. Schnell findet Salma heraus, dass es Signale aussendet. Als gleichzeitig ein Quasar 25.000 Lichtjahre entfernt aufleuchtet, wird der Menschheit klar, dass sie nicht allein im Universum ist …

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Seitenzahl: 599

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Wir schreiben das Jahr 2255. Das Raumschiff Schatten hat die Grenzen unseres Sonnensystems erreicht. Die Crew sucht nach dem »neunten Planeten«, ein Objekt jenseits der Plutobahn, das bisher nur theoretisch angenommen wird. Die zwanzigjährige Salma, das einzige Kind, das auf der Schatten geboren wurde, ist die Erste, die es entdeckt und es mit eigenen Augen sieht. Doch was ist dieser »Planet Neun«? Das Objekt verhält sich weder wie ein Planet noch wie ein schwarzes Loch. Schnell findet Salma heraus, dass es Signale aussendet. Als gleichzeitig ein Quasar 25000 Lichtjahre entfernt aufleuchtet, wird der Menschheit klar, dass sie nicht allein im Universum ist …

Der Autor

Stephen Baxter, 1957 in Liverpool geboren, studierte Mathematik und Astronomie, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er zählt zu den international bedeutendsten Autoren wissenschaftlich orientierter Literatur. Etliche seiner Romane wurden mehrfach preisgekrönt und zu internationalen Bestsellern. Stephen Baxter lebt und arbeitet im englischen Buckinghamshire.

Mehr über Stephen Baxter und seine Werke erfahren Sie auf:

diezukunft.de

STEPHEN BAXTER

DIE WIEGE DER SCHÖPFUNG

ROMAN

Aus dem Englischen vonMichael Siefener

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

CREATIONNODE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 02/2025

Redaktion: Ralf-Oliver Dürr

Copyright © 2023 by Stephen Baxter

Copyright © 2025 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,unter Verwendung des Originalmotivs vonBlacksheep-uk.com / Cover Image: Shutterstock

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-32333-2V002

www.diezukunft.de

Zur Erinnerung an meinen Vater Eric Augustine Baxter (1929–1983), an meinen Großvater William Henry Baxter (1882–1946) und an meinen Urgroßvater William Charles Baxter (1844–1919).

Jahr 0

AD 2255

1

Im Jahr 2255 war es von allen fühlenden Wesen in ihrem Universum ausgerechnet eine Frau namens Salma, die als Erste das Objekt mit der Bezeichnung Planet Neun vollständig sehen konnte. Sie sah es mit ihren eigenen Augen, auch wenn ihr Blick durch die Instrumente ihres Schiffes leicht verzerrt war. Und sie erkannte nicht, was es war. Noch nicht.

Auch nicht, dass das Objekt ein Planet oder das »neunte« in irgendeiner Reihe war.

Aber als sie die verblüffenden Ergebnisse ihrer ersten Analyse der Strahlung betrachtete, die von Neun ausging, veränderte sich Salmas Universum für immer, auch wenn ihr das erst später klar werden sollte.

Im Grunde war sie die erste Person, zu der Neun sprach.

Nach diesen Beobachtungen und der Analyse, der die ersten zaghaft formulierten Schlüsse folgten, wartete Salma eine Weile, bevor sie es dem Rest der Besatzung mitteilte.

Auch Hild Kanigel, die als Kapitänin der kleinen Besatzung diente, seit die Schatten vor fünfunddreißig Jahren gestartet war, erfuhr es noch nicht, genauso wenig wie Meriel Breen, die Ärztin und Herrin der Hydrokulturen an Bord, die für Salma seit dem Tod ihrer Mutter so etwas wie eine Tante ehrenhalber geworden war. Diese beiden waren von den sechs Besatzungsmitgliedern der Schatten die beiden Menschen, die Salma am nächsten standen. Sie musste sicher sein, dass es nicht bloß eine falsche Berechnung war. Das gebot ihr Stolz.

Sie war zufällig darauf gestoßen. Dies hätte auch jedem anderen passieren können. Aber um ehrlich zu sein, war es sehr wahrscheinlich gewesen, dass Salma die wesentliche Beobachtung machte, denn sie erklärte sich oft freiwillig bereit, ihre Zeit auf dem Wissenschaftsdeck zu verbringen.

Salma war das Ergebnis der einzigen Geburt an Bord der Schatten. Sie war die ganze Zeit hindurch das einzige heranwachsende Kind auf dem gewaltigen, langsamen Schiff gewesen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie die Stunden, die sie allein auf diesem Deck verbrachte, so sehr liebte. Die Arbeit füllte ihre Tage aus.

Hier steckte man in einer großen Kugel aus gehärtetem Glas, das aus Materialien der Oortschen Wolke erschaffen war – aus Kometenmaterial, wie der größte Teil der Schatten. Diese Kugel war weit entfernt vom Schiffskörper und mit diesem durch eine Transitröhre verbunden. Das Glas war fast vollkommen durchsichtig; der Blick nach draußen wurde nur durch die eigene geisterhafte Widerspiegelung gestört, die von einem schwachen Notlicht hervorgerufen wurde, und weiterhin durch die Monitore unterhalb der Befestigung der Kugel mit dem Schiff.

Man saß umgeben von Glas mitten im tiefsten Weltraum. Wenn man allein sein wollte, war dies der richtige Ort dafür.

Was für eine Aussicht! Man war allein am Rand des Sonnensystems mit den fernen Sternen.

Am Rand des Sonnensystems … Sie befand sich etwa siebenhundert astronomische Einheiten von der Sonne entfernt. Das war die siebenhundertfache Entfernung der Erde vom Zentralstern. Die Erde – das war ein Ort, den sie nur aus den Bordbüchern kannte.

Sie waren zwanzigmal weiter von der Sonne entfernt als Neptun, der äußerste größere Planet, und etwa fünfzehnmal weiter als der äußere Rand der uralten Schuttwolke hinter den Planeten, die Kuipergürtel genannt wurde. Salma war sechs- oder siebenmal so weit von der Sonne entfernt wie die Grenze der Heliosphäre, wo der Wind von der Sonne, ein Strom rasend schneller aufgeladener Partikel, schließlich im kühleren interstellaren Raum verwehte.

Wenn sie dorthin zurückschaute, sah sie das innere Sonnensystem nur als verschwommenen Lichtfleck – das Licht eines eng begrenzten Raumes, angefüllt mit Planeten, Monden, Asteroiden und dem Schutt von Planetenbildungen. Es war nicht leicht, die Sonne auszumachen, obwohl sie noch immer knapp der hellste Stern im Himmel war. Ihr Licht benötigte fast vier Tage, bis es die Schatten erreichte. Aber dieses diffuse Sonnenlicht war noch stark genug, das gewaltige Sonnensegel der Schatten zu speisen.

Und alle lebenden Menschen, jene wimmelnden Milliarden, auch diejenigen weit entfernt auf der Erde selbst, und jene an Bord der Industrieschiffe des Konsortiums, die im Weltraum unterwegs waren, und alle in den anderen Kolonien und Schiffen der Bewahrer, die um den inneren Rand der Oortschen Wolke verteilt waren – sie alle befanden sich innerhalb jenes Lichtflecks.

Alle außer den sechs Personen an Bord der Schatten.

Während sie als einziges auf dem Schiff geborenes Kind herangewachsen war, das keine Gefühlsbeziehung zu den Planeten und ihren Menschenmassen besaß, hatte Salma lieber den Blick in die andere Richtung genossen. Sie wusste, wo sie inmitten des gleißenden Lichts der Sternenwolken nach dem Mittelpunkt der Galaxie mit dem supermassereichen Schwarzen Loch zu suchen hatte. Dieser Mittelpunkt war hinter dem Schleier der relativ nahen Sterne zu finden, die das spektakuläre Sternbild des Schützen bildeten.

Tatsächlich war dieses gigantische Schwarze Loch ein großer Bruder dessen, was einige Theoretiker hinter »Planet Neun« vermuteten, lange bevor die erste Besatzung eines Schiffes hierhergekommen war. Zum Ärger anderer Wissenschaftler handelte es sich nämlich gar nicht um einen Planeten.

Sondern um ein Schwarzes Loch am Rande des Sonnensystems.

Und nun hatte es die Schatten nach all den Theorien und Argumenten und heroischen Leistungen der Ingenieure bis hierher geschafft, und da war Neun. Es handelte sich in der Tat um ein Schwarzes Loch, was schon sein Schwerkraftprofil bewies. Für das menschliche Auge war es wegen des Sturms aus schimmernden Gasen, von denen es umgeben war, nicht sichtbar gewesen.

Aber nun war es durch kurze Lücken in dem Lichtsturm – jenem glimmenden Nebelfleck, den es selbst geschaffen hatte – hin und wieder zu erkennen. So wie ihre Instrumente es vorhergesagt hatten, sah Salma es schließlich.

Es war eine vollkommene schwarze Kugel.

Salma beugte sich wieder über die Daten.

Das Schwarze Loch – das Neun zu sein schien – war gleichzeitig sehr klein und sehr groß. Das war nach der herrschenden Theorie zu erwarten gewesen.

In menschlichen Dimensionen gerechnet war es klein, denn sein Umfang entsprach ungefähr dem eines Menschenkopfs. Aber was seine Masse anging – und, was entscheidend war, auch sein Gravitationsfeld –, so war es größer als die meisten Planeten; seine Masse war etwa zehnmal größer als die Masse der Erde.

Und während Neun seiner zwanzigtausend Jahre dauernden Umlaufbahn um die Sonne gefolgt war, hatte seine stets hungrige Gravitation, die größer als die eines durchschnittlichen Planeten war, alles in sich eingesaugt, was die Natur bereitstellte. Hier draußen gab es natürlich nicht viel in jedem Kubikmeter – verstreutes Eis und Staub sowie die Überreste uralter Kometen aus dem Inneren des Sonnensystems und Schutt aus weit entfernten Katastrophen. Aber mit der Zeit war Neun durch eine gewaltige Anzahl von Kubikmetern geflogen, und durch seine tiefe und starke Gravitationsquelle hatte er mit der Zeit eine unregelmäßige Wolke um sich gebildet.

Es war eine Wolke, an dem die Magnetfelder des sich drehenden Lochs beharrlich arbeiteten. Materie, die durch die Schwerkraft im Inneren verschwand, wurde ionisiert, gepackt und umhergeschleudert »wie das Cape eines Matadors«, wie es Hild einmal zu Salmas Verblüffung ausgedrückt hatte. Das Ergebnis war eine Wolke, die sich andauernd veränderte. Sie war asymmetrisch und angesichts der reinen Geometrie des Objekts in ihrem Innern erstaunlich unordentlich. »Ein verdammtes Feuerwerk«, hatte der mürrische alte Boyd gesagt, was Salma ebenfalls verwirrt hatte.

Wenn man Planet Neun mit eigenen Augen sehen wollte, musste man diese Wolke – dieses »Feuerwerk« – durchdringen. Genau das tat die Schatten nun schon seit mehr als einem Jahr, und zwar immer vorsichtiger, bis das Schiff fast zum Stillstand gekommen war. Es war in die innere Wolke eingedrungen und versuchte, den heftigeren Ausbrüchen dieses Sturms auszuweichen, was nicht leicht war, da die Schatten nur durch ein etwa vierzig Kilometer breites Sonnensegel angetrieben wurde.

Näher und näher kamen sie an den Dämon in seinem Käfig aus Licht heran.

Und als der erste klare, ungetrübte Blick möglich wurde, war es zufällig Salma, die auf dem Wissenschaftsdeck Dienst tat und Neun im Auge behielt, wie Hild es ihr befohlen hatte. Salma war es, die das in der Wolke verborgene Objekt als Erste wirklich sah. Salma war da, als der Sturm vor dem Schiff plötzlich und auf wundersame Weise kurz abflaute. Eine zufällige Berichtigung der Flugbahn, eine unerwartete Lücke in der leuchtenden Schuttwolke …

Es war, als hätte sich ein Lichtkorridor geöffnet. Und da, endlich …

Salma arbeitete fiebrig. Sie beobachtete, zeichnete auf, studierte die Daten, die ausgespuckt wurden.

Insbesondere die visuellen Aufzeichnungen.

Es war eine vollkommene Kugel, wie die Theorie es angenommen hatte – eine Kugel, um die man die Arme hätte schlingen können, deren Gravitation aber das gesamte äußere Reich der Sonne und der kalten Himmelskörper darin beeinflusste. Dies war vermutlich das exotischste Objekt, das sie in ihrem ganzen Leben sehen würde, dachte Salma, und doch war es für das Auge ein völlig gewöhnlicher Anblick: im Profil gesehen nichts als ein dunkler Kreis. Während sie darüber nachdachte, zupfte etwas an ihr. Es war eine Art von … Wiedererkennen.

Sie berührte das Medaillon, das sie an einer Kordel um den Hals trug.

Es war ein schwerer Anhänger, eine Scheibe, schwarz wie ein Schatten – das Geschenk einer Mutter, die sie nie kennengelernt hatte. Sie trug es aus Gewohnheit, seit sie sich erinnern konnte.

Salma spürte einen Wirbel aus Gefühlen und Bildern.

Sie versuchte, analytisch vorzugehen. Der Anhänger ihrer Mutter. Ein Schwarzes Loch. Vollkommene Kreise, strukturlos …

Sie träumte. Auf ihren Konsolen flammten weitere Zeichen auf.

Etwas hatte sich verändert.

Da sich der Schleier aus heißen Gasen zeitweise gehoben hatte, fing sie nun ein schwächeres Signal auf, eine mattere Strahlung, die nicht aus den schimmernden Gasen kam, sondern aus der Tiefe innerhalb der Schwerkraftquelle des Schwarzen Loches selbst.

Sie hatte die Theorie der Schwarzen Löcher studiert. Daher wusste sie, worum es sich bei diesem tiefen Signal handeln musste: um Hawking-Strahlung, ein zufälliges Rauschen, das vom Ereignishorizont verursacht wurde und nach einem lange verstorbenen Weisen benannt worden war, der ihre Existenz vorhergesagt hatte. All das zeichnete Salma auf.

Auf ihren Konsolen flammten weitere Warnsymbole auf. Als sie die gesammelten Daten rasch überflog, bemerkte sie, dass es Anomalien in ihnen gab. Es stellte sich heraus, dass die Strahlung, die der Ereignishorizont abgab, doch nicht ganz strukturlos und zufällig war. In jenem Rinnsal aus Strahlung existierten Muster.

Muster, die aus dem Loch selbst stammen mussten. Aus dem Ereignishorizont – aus jenem kugelrunden Knoten aus verzerrter Raumzeit.

Strahlung aus einem Schwarzen Loch mit einer komplexen Struktur.

Wie … ein Signal.

Verwirrt betrachtete sie die Messergebnisse.

Sie stimmten überein. Salma war verblüfft. Überwältigt.

Überglücklich.

Ein Signal?

Genug im Triumph geschwelgt, sagte sie sich. Noch weiß niemand, was du herausgefunden hast. Es ist Zeit, Bericht zu erstatten.

Sie sprach leise in die Luft und schickte damit Kapitänin Hild eine private Nachricht – eine kurze Zusammenfassung, eine noch kürzere Überschrift, eine einfache Botschaft: »Über Neun. Es gibt Anomalien, Kapitänin. Du solltest hierherkommen.«

Hild antwortete sofort. »Anomalien? Nicht nur ein kleines Schwarzes Loch? Na ja, wir sind nicht den ganzen Weg bis hierhergereist, nur um uns langweilen zu lassen. Ich bin unterwegs. Du musst mir alles zeigen, was du hast.«

»Das werde ich.«

Aber was hatte sie? Nur eine Vermutung.

Die Vermutung, dass das Schwarze Loch mit ihnen zu kommunizieren versuchte.

2

Als Hild eintraf, verschwendete sie keine Zeit mit Höflichkeiten. »Zeig’s mir.« Hild beugte sich vor und betrachtete die Daten und Bilder.

Dann verbrachte sie eine Viertelstunde damit, die Zusammenfassungen zu studieren, die Salma für sie vorbereitet hatte.

Salma trieb in der schwerelosen Luft des Decks zurück und ließ die Kapitänin allein, wie sie es bevorzugte, während sie schweigend die Daten abglich. Hild war siebzig Jahre alt, gertenschlank – sie benutzte regelmäßig die Gymnastik-Einrichtungen des Schiffs – und hatte dichtes weißes Haar, das sie sehr kurz trug, weil es praktisch war. Während sie arbeitete, bemerkte Salma, dass sie den kleinen Bildschirm im Auge behielt, durch den Nachrichten und Warnungen übermittelt wurden. Hild war die Kapitänin eines Schiffes, das sich an einem gefährlichen Ort befand, und sie war immer im Dienst.

Schließlich hob sie den Blick und schaute Salma an. »Wie lauten deine Ergebnisse?«

Salma holte tief Luft. »Es ist eindeutig ein Schwarzes Loch«, sagte sie, »wie es schon vor langer Zeit auf der Erde vermutet wurde. Das hier ist die endgültige Bestätigung. Es hat die zehnfache Masse der Erde, was der Grund für unsere vorsichtige Flugbahn ist. Aber es ist klein, hat nur etwa einen Viertelmeter Durchmesser …«

»Erstaunlich, dass wir es überhaupt entdeckt haben. Und aufgrund seiner Größe können wir seinen Ursprung bestimmen, nicht wahr?«

Salma war mit dieser Art von provokativen Fragen aufgewachsen. Immer wieder hatten Hild und die anderen versucht, ihr eigenständiges Denken beizubringen. Sie war das einzige Kind und die einzige Schülerin auf einem Raumschiff gewesen, das mit einfach zu bedienenden Informationsgeräten ausgestattet war und eine Mannschaft aus klugen, gelangweilten Erwachsenen hatte. Nach der Erkrankung und dem Tod ihrer Mutter war sie eine Waise gewesen; ihr Vater war ein unbekannter Samenspender, der irgendwo im inneren Sonnensystem lebte.

Schon bevor sie ihre Antwort gab, wusste Salma, dass sie unbefriedigend war.

»Sozusagen.«

»Sozusagen? Wenn das die einzige Schlussfolgerung ist, die du ziehen kannst, hätten wir zu Hause bleiben sollen …«

»Es handelt sich anscheinend um ein primordiales Schwarzes Loch«, sagte Salma hastig.

»Anscheinend?«

Salma behandelte die Frage wie einen Test und legte die Fakten dar. »Wir kennen in der Natur drei Arten von Schwarzen Löchern. Da sind die massiven Schwarzen Löcher im Mittelpunkt einer Galaxie … wie in der unseren …«

Hild schaute geistesabwesend durch das Glas der Kuppel auf das schimmernde Herz der Galaxie im Sternbild des Schützen – oder zumindest auf den Schleier aus Staub und Gas und Sternen, die dieses Objekt verbargen.

Salma fuhr vorsichtig fort: »Es gibt Schwarze Löcher mit der Masse von Millionen Sonnen, die sich vermutlich in der Frühzeit des Universums gebildet haben, als gewaltige Gaswolken durch aufgewühlte Felder aus dunkler Materie zusammengezogen wurden. Es waren bloße Objekte, die sich im Herzen neuer Galaxien eingenistet haben …«

»Und?«

»Und dann gibt es noch Stellare Schwarze Löcher, bei denen es sich um Überbleibsel späterer Sterne handelt. Sie bilden sich, wenn einem großen Stern der Brennstoff für die Kernschmelze ausgeht und er abkühlt. Er hinterlässt Reste, die noch so gewaltig sind, dass sie zum Stadium eines Weißen Zwergs implodieren oder sogar zu einem Neutronenstern, während der Gravitationsdruck die Quanteneffekte überwindet, die bis dahin dem Zusammenfallen Widerstand geleistet haben. Am Ende steht ein Überbleibsel, das die Masse unserer Sonne um ein Vielfaches übertrifft.«

»Aber dieses Ding hier hat nur ein Vielfaches der Erdenmasse, ist also viel kleiner. Und jetzt wirst du mir sagen, dass Neun ein primordiales Schwarzes Loch sein muss.«

»Richtig«, bestätigte Salma. »Es ist kein Rest einer Sternenbildung, sondern das Nebenprodukt des hochenergetischen Quantengravitationsfeldes, welches das Universum erschaffen hat – als sich die Raumzeit entfaltet und ausgedehnt hat und an manchen Stellen wieder in sich selbst zurückgefallen ist. Dabei sind möglicherweise Schwarze Löcher mit verschiedenen Massen und Größen entstanden. Einige könnten so klein wie ein Atomkern sein.« Sie runzelte die Stirn. »Aber ich glaube, dass die kleinsten sich schnell aufgelöst haben …«

»Dieser Meinung waren die Experten einige Jahrhunderte lang«, sagte Hild. »Und gleichzeitig haben sie sich Gedanken über Planet Neun gemacht – ein offenbar massives Objekt mit der Masse eines oder mehrerer Planeten, die im ganzen Sonnensystem bemerkbar ist – als würde der Planet Uranus hierher geschleudert und seine Schwerkraft Kometen und andere Planeten aus ihren Umlaufbahnen ziehen –, aber bisher von niemandem gesehen wurde. Das macht doch nachdenklich. Wenn es sich wirklich um ein primordiales Schwarzes Loch handelt, dann ist es so alt wie unser Universum. Milliarden Jahre älter als Sonne und Erde. Älter als jeder Stern im Himmel. Älter als die Galaxien.« Sie sah Salma an. »Du bist noch nicht alt. Du hast noch nie einen wirklich alten Menschen gesehen. Auch ich bin erst siebzig. Ich glaube, man interessiert sich umso mehr für das Alter der Dinge und ihr Überleben, je älter man selbst wird. Falls das hier wirklich aus der Geburt des Universums stammt, dann werden sich schon die reinen wissenschaftlichen Daten gut verkaufen lassen. Und es gibt noch exotischere Möglichkeiten. Einige Kosmologen behaupten schon seit Jahrhunderten, dass diese uralten Schwarzen Löcher möglicherweise aus einem anderen Universum stammen … aus einem früheren Kosmos, der im Urknall zusammengefallen ist, der wiederum unseren Kosmos erschaffen hat – in einem gewaltigen Kataklysmus, den diese älteren Schwarzen Löcher überlebt haben. Ich bin zwar der Meinung, dass die wahrscheinlichsten Kandidaten für ein solches Überleben die großen Löcher in der Mitte von Galaxien sind, aber …«

Salma hörte beiläufig zu. Sie wusste, dass die Bewahrer nichts dagegen hatten, solche Daten an die Wissenschaftler auf der Erde zu verkaufen, oder an die Minengesellschaften auf dem Mond, das sogenannte Konsortium, das sich für gewöhnlich um die praktischen Probleme kümmerte, zum Beispiel wie man noch ein wenig mehr Helium-3 zur Kernfusion aus einem Kilogramm trockenen Mondbodens herausquetschen konnte.

Aber sie wusste, dass es jetzt und hier nicht um so etwas ging. Als Hild kurz innehielt, sagte Salma ihr das.

Hild runzelte die Stirn. »Worum geht es dann?«

Nun zögerte Salma. Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, sie hätte eine gleichaltrige Person zur Unterstützung.

»Dieses Schwarze Loch scheint ein paar … ungewöhnliche Eigenschaften zu besitzen.«

»Ungewöhnlich? Es ist schließlich nicht so, dass wir es jeden Tag der Woche mit einem Schwarzen Loch zu tun bekommen.«

Salma wusste noch immer nicht genau, was eine »Woche« war.

»Nein. Vielleicht ist ›ungewöhnlich‹ nicht das richtige Wort. Es ist eher verwirrend. Zum einen dreht es sich«, sagte sie fest. »Es rotiert sehr schnell.«

Hild zog erneut die Stirn kraus. »In Ordnung. Und das erkennst du an …«

»An den Zugkräften. In der Nähe eines Schwarzen Lochs ist sogar das Licht diesen Zugkräften ausgesetzt. Warte, ich zeige es dir.«

Sie versuchte, nicht allzu eifrig zu wirken, als sie Bilder von Neun aufrief, die ihn vor dem Hintergrund der fernen Sterne zeigten. Auf diesen sorgfältig vergrößerten Bildern waren verzerrte Lichthöfe um das Loch zu erkennen, da – wie Salma wusste – das Sternenlicht gekrümmt wurde, wenn es am Horizont des Lochs vorbeifiel.

Der Ereignishorizont war der Ort, von dem alles nur noch mit Lichtgeschwindigkeit entkommen konnte. Nichts Materielles war dazu in der Lage, denn keine Materie konnte Lichtgeschwindigkeit erreichen.

Hild nickte. »Ich habe solche Bilder von Löchern im Zentrum einer Galaxie schon öfter gesehen. Aber sie waren viel größer. Es gibt einen Bereich, der Ergosphäre genannt wird. In ihm wird das Licht zur Seite abgelenkt und gebogen. Da sind wunderbare Bilder – die ersten, die solche Auswirkungen bei einem primordialen Schwarzen Loch zeigen.« Sie lächelte. »Gute Arbeit, Salma.«

Salma erwiderte ihr Lächeln nicht. »Danke. Aber da ist noch etwas.«

Hild betrachtete sie eingehend. »Du willst auf etwas anderes hinaus, nicht wahr? Ich kenne dich. Das alles ist nur ein Vorspiel für etwas, worüber du dir nicht sicher bist. Sag mir einfach, was du hast.«

Salma holte tief Luft. Sie wusste, dass das, worauf sie hinauswollte, einfach ungeheuerlich war. Aber es schien wahr zu sein. Und Hild lächelte noch immer.

»Es ist dir bekannt, dass Schwarze Löcher nicht wirklich schwarz sind«, begann sie.

»Ja«, sagte Hild langsam. »Hawking-Strahlung, nicht wahr?«

»Genau. Ich vermute, du weißt, wie sie zustande kommt.«

Hild erwiderte nichts darauf und zwang Salma damit, weiterzureden.

»Keine Materie kann dem Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs entkommen, aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Unter den extremen Bedingungen in der Nähe des Ereignishorizonts ist die Schwerkraft so gewaltig, das Energiebündel zu kurzlebigen Partikeln zusammengepresst werden können …«

»Energie wird zu Masse. Virtuelle Partikel, nicht wahr?«

»Richtig. Zu Partikeln und ihrer Antimaterie. Es kann passieren, dass eines dieser Partikel in das Schwarze Loch fällt, während das andere entkommt. Das ist die Hawking-Strahlung. Etwas entkommt dem Schwarzen Loch, als ob das Gravitätsfeld aufgrund seiner eigenen Stärke Energie ausbluten würde.«

»In Ordnung. Und du hast nach dieser Strahlung gesucht und sie entdeckt …«

»Es gibt eine Menge davon, und sie kommt aus diesem Loch. Die Hawking-Strahlung. Mehr als es der Theorie nach möglich sein sollte – zumindest soweit ich es verstehe und überprüfen kann.« Sie zögerte.

Hild war klug genug, auf das zu warten, was nun kommen mochte.

Salma sagte vorsichtig: »Die Hawking-Strahlung ist nicht bloß ein Quantenrauschen.«

Nun sah Hild sie verständnislos an. »Wie bitte? Wenn es nicht nur ein Rauschen ist …«

»Kapitänin, deshalb habe ich dich gerufen. Es liegt eine Struktur darin, glaube ich. Ich bin der Meinung, dass in der Hawking-Strahlung eine Botschaft verborgen ist.«

Da. Nun war es heraus.

Nervös schaute sie Hild an. »Klingt das für dich genauso verrückt wie für mich?«

Hild öffnete den Mund, schloss ihn wieder. »Ich … nein, das klingt nicht verrückt. Eher sonderbar, aber …« Sie betrachtete den Bildschirm. »Aber wir könnten kaum an einem Ort sein, der noch sonderbarer als dieser hier ist, nicht wahr?« Sie sah Salma an. »Eine Botschaft. Du glaubst, der Strahlung unterliegt eine Struktur?«

»Unsinn«, unterbrach Boyd über die Gegensprechanlage, ohne sich vorher bemerkbar gemacht zu haben. »Ich habe zugehört. Kann man mir das verübeln? Ja, Informationen können in einem Schwarzen Loch gespeichert werden. Wenn ein Körper in ein solches Loch stürzt, ist es möglich, alle Daten, die diesen Körper charakterisiert haben, bis zur Quantenebene zurückzuholen. Die Ausdehnung des Schwarzen Lochs verhält sich proportional zu den Informationen, die es enthält. Als ob es mit winzigen, quantengroßen Schindeln bedeckt wäre, die entweder schwarz oder weiß sind oder … Aber es ist unmöglich, von dort Informationen zu erhalten. Hat euer Freund Hawking das nicht bewiesen?«

Hilda antwortete: »Es gibt Theorien, die zeigen, dass Informationen – Quanteninformationen – niemals verloren gehen, sondern … umherbewegt werden.« Sie zwinkerte Salma zu. »Wie dem auch sei, seit wann bist du ein Fan der Kosmologie, Boyd?«

»Seit ich eines Tages auf einer Mission ins Nirgendwo aufgewacht bin und nichts zu lesen hatte außer einigen Büchern über das Schwarze Loch, zu dem ich unterwegs war. Sonst war nichts da – außer veralteten Sportergebnissen von der Erde …

Aber zurück zur Hawking-Strahlung. Sie ist ein reales Phänomen. Damit hast du recht, Salma. Ok. Wie du sagtest, kann man am Ereignishorizont ein wenig Energie – oder Information – erhalten, die von dieser Grenze gedehnt und zu zwei einzelnen Partikeln umgeformt wird. Das eine ist Materie, das andere ist Antimaterie. Eines fällt zurück in das Loch, das andere fliegt davon. Die Schwärze hat damit etwas Energie verloren und verdampft ein klein wenig. Aber das geschieht wahllos. Jede Information, die in diese Oberfläche eingeschrieben ist, wie zum Beispiel die Geschichte der Entstehung des Schwarzen Lochs, geht in dem Augenblick verloren, in dem das zurückbleibende Partikel in den Ereignishorizont einsinkt. Aus einem Schwarzen Loch kannst du keine Informationen erhalten. Ich gebe zu, dass das schon immer ein Paradox war, da Quanteninformationen eigentlich als unzerstörbar gelten.«

Hild nickte Salma zu. Berichtige ihn.

Salma nahm all ihren Mut zusammen. »Das ist nicht ganz richtig, Boyd. Es gibt Theorien, die zeigen, dass …«

»Übrigens später von deinem Kumpel Hawking bewiesen«, sagte Hild.

»… die zeigen, dass das Partikelpaar, das am Ereignishorizont erschaffen wurde, miteinander verbunden bleibt – durch Quantenmechanik –, während das eine untergeht und das andere davonfliegt. Wenn es dir gelingt, den entkommenen Partner einzufangen, kannst du durch die weiterhin bestehende Verbindung die Daten desjenigen Partikels rekonstruieren, das im Ereignishorizont gefangen ist.«

Boyd zögerte. Dann sagte er: »Na gut, beweise es.«

Hild lächelte Salma an. Mach es.

Salma tippte gegen den Bildschirm. »Boyd, sieh dir diese Stelle an. Das ist die Strahlung, die aus dem Loch dringt. Du kannst erkennen, dass es da eine Struktur gibt. Es existiert ein klar definiertes Pulsieren verschiedener, aber immer wiederholter Länge. Es sind regelmäßige Schwingungen mit einheitlichem, wiederholtem Inhalt. All das geschieht unglaublich schnell und ist sehr komprimiert, aber es ist da. Struktur. Ich bin mit der Analyse bisher noch nicht weit gekommen. Zuerst hatte ich geglaubt, eine Fibonacci-Folge zu erkennen …«

Hild lachte laut auf. »Bei der man jeweils die vorhergehenden zwei Zahlen addiert? Eins. Eins. Zwei. Drei. Fünf. Acht … Ein einfaches Signal. Mein Gott. Wenn dieses Schwarze Loch wirklich ein Überlebender aus einem älteren Universum ist, dann ist das ein Signal von … irgendwo anders.« Sie schüttelte den Kopf. »Die alten SETI-Leute müssen sich im Grabe umdrehen. Sie haben die ganze Zeit am falschen Ort gesucht. Anstatt nach außerirdischen Signalen von den Sternen Ausschau zu halten, hätten sie sich dem Rand unseres eigenen Sonnensystems zuwenden sollen. Oder den Grenzen zwischen den Universen …«

Eines der Worte hatte Salma nicht verstanden. »S…eti?«

»Egal.« Hild schwebte aus ihrem Stuhl. »Salma, du bist wirklich das Essen wert, das wir dir gegeben haben – und du isst wie eine Heldin. Es war richtig, dass du mich hergerufen hast.«

»Und mich«, sagte Boyd.

Salma glaubte sein Grinsen zu hören. Boyd verlangte viel, aber er wusste gute Arbeit zu schätzen.

Hild fuhr fort: »Wir werden die ganze Mannschaft so bald wie möglich daransetzen. Und wenn du recht hast, werden wir alles dem Außenposten schicken. Dann können sie dort mit den Universitäten und Denkschmieden auf der Erde um Unterstützung für eine ausführliche Analyse verhandeln …«

Der Außenposten, der gerade noch innerhalb der Heliopause, der physischen Grenze des Sonnensystems kreiste, war das, was für die Bewahrer einem Basislager am nächsten kam.

Hild nagte an ihrer Unterlippe. »Aber ich nehme an, dass der Außenposten geschickt verhandeln muss. Es wird der Ruf nach weiteren Untersuchungen laut werden. Nach mehr Schiffen und mehr Wissenschaftlern. Es könnte sogar bis in Präsidentin Masons Büro gelangen …«

Salma schüttelte den Kopf. »Auf all das will ich nicht warten.«

Hild runzelte die Stirn. »Was willst du denn?«

»Hild …«

»Kapitänin Hild.«

»Ich … ich habe mich hinreißen lassen und ein Experiment vorbereitet. Noch habe ich es nicht durchgeführt, weil ich auf deine Erlaubnis warten wollte.«

»Was für ein Experiment?«

»Ich habe die Hawking-Strahlung aufgezeichnet. Die Informationen. Ich konnte keinen Sinn darin erkennen, aber ich hatte bereits angenommen, dass es sich um eine Botschaft handelt. Und ich dachte, wir könnten etwas davon zurückschicken. Zu Neun. Wir könnten einen Laser auf ihn richten. Wir sind zwar nicht in der Lage, Schwerewellen hervorzubringen, und wir kennen die Bedeutung der Botschaft nicht, aber wir könnten trotzdem das gleiche Muster zurücksenden und so zeigen, dass wir verstanden haben.«

»Mein Gott«, sagte Hild leise.

Das klang für Salma nach einem seltsamen Archaismus.

Sie redete weiter: »Wir können das, was aus dem Loch kommt, nicht übersetzen. Aber wenn wir es zurückschicken, zeigen wir damit wenigstens, dass es hier bei uns intelligentes Leben gibt, nicht wahr? Wir könnten noch mehr tun, als nur das Signal zu spiegeln. Wir sollten verdeutlichen, dass wir eine intelligente Lebensform sind. Wir könnten das Signal beschleunigen oder es umdrehen und damit beweisen, dass es nicht nur eine zufällige Spiegelung ist. Und wenn es dort drinnen Intelligenz gibt, könnte diese erkennen, was wir tun, und … uns antworten.«

»Antworten? Wie?«

Weitere Gedanken hatte sich Salma noch nicht gemacht.

Aber nach einigen Sekunden fuhr Hild sie an: »Mach es.«

»Was?«

Hild grinste. »Antworten. Natürlich sollten wir das versuchen. Du hast recht. Wir scheinen ein Signal von irgendeiner … Intelligenz erhalten zu haben, das voller Informationen steckt. Vielleicht sendet sie das Signal, weil sie die Künstlichkeit unseres Schiffes und unserer Technologie spürt. Irgendwie. Oder … ich weiß nicht. Selbstverständlich sollten wir antworten. Und du hast recht, dass wir es sofort tun sollten. Ein Austausch mit dem Außenposten würde angesichts unserer jeweiligen Positionen viele Stunden erfordern. Und was könnte uns der Außenposten schon sagen, was wir noch nicht wissen? Worauf zum Teufel sollen wir noch warten? Bist du bereit?«

»Jawohl. Bist du sicher?«

»Mach es. Ich übernehme die volle Verantwortung … Nein. Warte.«

Sie gab dem Rest der Mannschaft durch die Gegensprechanlage einen hastigen Lagebericht.

Als sie damit fertig war, grinste sie. »Das ist eine der ungewöhnlichsten schiffsweiten Ankündigungen, die ich je gemacht habe. Vielleicht die ungewöhnlichste seit deiner Geburt, Salma. Es ist gut, die anderen auf Trab zu halten. Ok. Fang an.«

Mit klopfendem Herzen murmelte Salma dem Schiffssystem Anweisungen zu.

Es dauerte nur eine Stunde, das gespiegelte Signal zurückzuschicken.

Natürlich geschah es lautlos. Die Hochfrequenzstrahlung badete das uralte Schwarze Loch in ihrer schwachen Wärme. Aber die Instrumente verrieten Salma unmissverständlich, dass die Übertragung stattfand. Das von einem Laser zurückgesandte Signal war in der Tat eine genaue Kopie der Daten, die sie durch die ursprüngliche Hawking-Strahlung erhalten hatten. Salma sorgte dafür, dass auch die anhaltenden Signale aus dem Schwarzen Loch weiterhin aufgezeichnet wurden.

Und dann …

Sie holte tief Luft. Und noch einmal. Zuerst musste sie sich vergewissern, dass die Veränderungen in den Daten mehr als nur Hintergrundrauschen waren.

»Ich glaube, ich habe eine Abweichung entdeckt … Man kann es kaum als Signal bezeichnen … Es scheint zu funktionieren!«

Hild machte sich Notizen. Aber sie wirkte abgelenkt und schaute aus dem Fenster auf das Lichtspektakel in der Mitte der Galaxie.

Während Salma auf ihre Anzeigen sah, erkannte sie am Rande ihres Blickfelds eine Anomalie. Es waren seltsame Daten. »Da geschieht etwas. Die Temperatur unserer Außenhülle scheint leicht zu steigen. Der Rumpf des Schiffes …«

Hild deutete auf den zentralen Bildschirm. »Da geschieht etwas? Glaubst du das wirklich?«

Sie stieß sich von ihrem Stuhl ab, schwebte durch die Luft, packte Salma am Kragen und zog sie zum Fenster, damit sie die Sternenfelder betrachten konnte.

Das war bei Schwerelosigkeit kein leichtes Manöver, wie Salma wusste.

»Sieh dir das an.«

»Was?«

»Das Sternbild des Schützen. Die Sternenwolken. Das Zentrum der Galaxie, verdammt! Kannst es nicht erkennen?«

»Ich weiß nicht …«

»Seit wann hat der Mittelpunkt der Galaxie einen hellroten Fleck?«

Nun sah Salma ihn.

Hild tippte etwas in die Tastatur. »Unserem Monitor zufolge ist er aufgeflammt, als du dieses verdammte Signal gesendet hast. In derselben Sekunde. Wir müssen die Reihenfolge der Ereignisse festlegen. Der rote Fleck hat das gleiche Spektrum wie die Galaxie im Hintergrund, aber er ist intensiver. Ich will versuchen, ihn aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Wenn dieser rote Fleck in unserer Nähe sein sollte, nur wenige Lichtsekunden entfernt, und zufällig gerade in einer Linie mit dem Zentrum der Galaxie steht, sollte ich es rasch herausfinden …«

Sie wurde von den Daten auf weiteren Bildschirmen abgelenkt.

»Oh. Und wir stellen tatsächlich einen Anstieg der Temperatur fest. Er ist winzig, aber … An der äußeren Schiffhülle. Könnte das mit dem roten Objekt in Verbindung stehen? … Nein, das ergibt keinen Sinn. Der Mittelpunkt der Galaxie ist fünfundzwanzigtausend Lichtjahre entfernt. Wenn dieser Fleck nicht nur ein Überbleibsel des Systems, sondern real ist …« Sie tippte weiter. »Es kann keine kausale Verbindung geben. Es muss eine ungeheure Energie haben, wenn es von hier aus sichtbar ist. Was auch immer es … entzündet hat, liegt fünfundzwanzigtausend Jahre in der Vergangenheit. In Anbetracht dieser Tatsache muss das Licht zufällig gleichzeitig mit deinem Experiment aufgetaucht sein.« Sie starrte auf den Bildschirm. »Hm, innerhalb derselben Sekunde …«

Sie verstummte.

Boyd meldete sich wieder. »Ich spreche es nicht gern an, aber wenn ihr nach einer Verbindung sucht … Falls Neun wirklich ein primordiales Schwarzes Loch und ein Überlebender aus einem anderen Universum ist, dann könnte es beim Zentrum der Galaxie genauso sein. Es ist ein weiteres primordiales Schwarzes Loch und ebenfalls ein Relikt … von einem anderen Ort.«

Einen Augenblick lang schwiegen sie entsetzt. Ihnen fehlten die Worte.

Salma erkannte, dass nun alles auf eine gespenstische, spekulative Art zusammenpasste.

Was bedeutet das? Was haben wir getan?

Hild schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Das ergibt keinen Sinn. Behalte die Monitore im Auge. Ich rufe den Rest der Besatzung zusammen. Und irgendwann werde ich mit dem Außenposten reden müssen. Und der Außenposten wird mit der Erde reden müssen … Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis Präsidentin Mason davon erfährt.«

Salma schaute angestrengt auf die Bildschirme. »Hild, sieh dir das an. Ich glaube, wir erhalten ein weiteres Hawking-Signal …«

Und so begann es.

Und anderswo, anderswann …

Weit entfernt im Quantenschaum des Multiversums – »weit« nach Begriffen, die den meisten Menschen nichts bedeutet hätten – war es so, als hätte jemand ganz sanft und zögerlich an eine Tür geklopft. Und das Klopfen wurde gehört.

Später würden die Menschen ihn Terminus nennen.

Seine Pflicht bestand in der Hauptsache darin, dazusitzen und zu warten. An einer der Türen zu warten.

Verstreut in jedem Universum, in jeder Blase im Schaum der Wirklichkeit, gab es etwas, das man Türen oder Risse oder Portale nennen konnte – sie waren Öffnungen auf einer Grenze. Die Menschen hätten manche von ihnen Schwarze Löcher genannt, aber die meisten waren weitaus höher entwickelt als jene groben Verwerfungen in der Raumzeit. Doch grundsätzlich funktionierten sie alle nach demselben Prinzip.

Sie verbanden Universen miteinander.

Terminus wusste nicht, wie die Portale erschaffen und verteilt worden waren. Sie stammten aus einem unvorstellbaren Davor. Aber er wusste, dass sie alle nur einem einzigen Zweck dienten. Und seine Aufgabe war es, zu warten und Ausschau zu halten …

Darauf zu warten, dass jemand in einem der Zieluniversen auf der anderen Seite ein solches Portal entdeckte. Und danach griff. Und es berührte – was immer das in der jeweiligen Körperform der anderen bedeuten mochte.

Und dann würde sich für jenen Jemand alles verändern.

Nun war eines der Portale ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit gerückt. Es hatte eine Berührung gegeben.

Das war alles, was Terminus benötigte.

Lächeln war ein menschlicher Reflex. Aber nun konnte man tatsächlich sagen, dass Terminus lächelte.

Inzwischen verbreitete sich die Nachricht von den Entdeckungen in der Oortschen Wolke unter der Menschheit.

3

Hoch über der Erde hielt Bheki Molewa die Hand seines Ehemanns und wartete darauf, dass die Wissenschaftsberaterin der Präsidentin eintraf. Er sagte: »Weinst du? Willst du mich auf den Arm nehmen? Das da draußen ist doch bloß die Erde. Du warst schon an viel seltsameren Orten.«

Jeorg North schaute aus dem Panoramafenster des großen alten Raumlifts und betrachtete die strahlende Erde unter ihm. Er konnte nichts erwidern.

Bheki hatte recht, wie Jeorg fand. Man musste kein Psychiater und spezialisiert auf die psychologischen Auswirkungen langer Raumflüge sein, um es zu verstehen. Bheki war selbst Pilot und hatte sicherlich Mitgefühl.

Jeorg war oft durch den Weltraum geflogen. Zu oft? Seine berühmteste Mission, die die Aufmerksamkeit des irdischen, meist mit sich selbst beschäftigten Publikums erregt hatte, war eine Reise zu Ceres, dem größten Asteroiden des Hauptgürtels gewesen, wo sie nach Bodenschätzen geschürft hatten. Es war eine halb legale Reise gewesen, die vom Mond-Konsortium argwöhnisch beobachtet worden war, weil es selbst an die Bodenschätze des Asteroiden herankommen wollte. Entweder wartete es, bis die Erde beschloss, die Schürfrechte zu vergeben, oder das Konsortium würde eines Tages beschließen, einfach mit dem Abbau anzufangen.

Aber was Jeorg anging, so hatte er derart weite und lange Reisen unternommen, dass er am Ende zu viel Zeit im Weltraum verbracht, seine Gesundheit und seine Aussicht auf Langlebigkeit aufs Spiel gesetzt hatte – und sogar die Hoffnung auf eine lange Ehe mit Bhekiokwakhe Molewa, der nun an seiner Seite war.

All das hatte er bewusst getan. Aber warum? Nicht nur um des Ruhmes wegen. Auch nicht wegen der wissenschaftlichen Daten, deren Sammeln der Grund für die meisten Missionen gewesen war, obwohl er offenbar so gut darin gewesen war, dass sich die Wissenschaftsberaterin heute hier oben mit ihm treffen wollte. Vielleicht gab sie ihm eine neue Gelegenheit, wieder aufzubrechen – auch wenn er keine Ahnung hatte, wohin die Reise diesmal gehen sollte. Aber die Beraterin ließ ihn warten.

Er hatte das alles getan, weil er nichts anderes wollte als fliegen. Er wollte stets der Erste sein: auf Ceres und sonstwo. Das war der Grund, warum er einfach nicht stillsitzen konnte. Auch wenn ihn die Erde gleichzeitig zurückrief …

Es ist nur die Erde. Er drückte die Hand gegen das Glas, und Bheki legte seine Hand auf die von Jeorg. Die beiden Handrücken waren dunkel; die helleren Handflächen waren auf die schimmernde Erde gerichtet.

Jeorg wusste, dass er nicht der Einzige war, der eine solche Verwirrung empfand, wenn er in der Nähe der Erde war. Jeorg war nur ein Pilot von vielen, die gegenwärtig unterwegs waren, und viele hatten ihm ähnliche Gefühle gestanden, wenn sie vom Weltraum aus ihren Heimatplaneten betrachteten.

Von ihrer geostationären Umlaufbahn hoch über dem Pazifik sahen sie die Erde als einen Teller aus Wasser und Wolken. Der gewaltige Ozean wurde nur von der Ankerinsel des Lifts unter ihnen durchbrochen, und diese Insel war künstlich angelegt. Jeorg hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sich die Menschheit des 23. Jahrhunderts von den alten Küstenlinien auf Floßstädten ins Meer ausgebreitet hatte, die über den untergegangenen Küstensiedlungen errichtet worden waren. Es war Schönheit und Tragik zugleich. Jeorg hatte so viel seiner Lebenszeit für den Weltraum gegeben und empfand es als grausam paradox, dass er – wie viele andere auch – bei jeder Rückkehr zur Erde wie ein Baby heulen wollte.

Lange schwiegen die beiden, als ob sie die Erde in diesem gewaltigen Bauwerk allein umkreisen würden. Die Anziehungskraft von Mutter Erde konnte man niemals abschütteln, egal wie weit man gereist war.

Es ist nur die Erde …

Es klopfte leise an der Tür.

Die wissenschaftliche Beraterin Elizabeth Vasta war aufgrund ihrer vielen Medienauftritte sofort zu erkennen, auch wenn weder Jeorg noch Bheki sie je persönlich getroffen hatten. Sie war eine kleine, stämmige Frau in den Fünfzigern. Sie wirkte stark.

Jeorg empfand diese Ablenkung vom Anblick der Erde als Erleichterung.

Sie stellten einander kurz vor. Vasta trug eine lange, dunkle Robe in feierlichem, düsterem Schwarz. Soweit Jeorg sehen konnte, trug sie nur ein einziges Schmuckstück: einen einfachen silbernen Anhänger, der eine Perle zu umschließen schien – eine vollkommene Kugel, ebenfalls aus tiefem Schwarz. Angesichts ihrer dunklen Robe schien das eine seltsame Wahl zu sein. Schwarz auf Schwarz. Vielleicht handelte es sich um ein Erinnerungsstück.

Sie wirkte beinahe klösterlich, fand Jeorg. Aber schließlich war die Regierungsarbeit in diesen Tagen eine sehr düstere Angelegenheit.

Als Vasta den Raum betrat, zeigte sich sofort an der Art, wie sie mit ihrer Navigationshilfe für die Schwerelosigkeit umging, dass sie nicht an den Weltraum gewöhnt war. Sie hielt den Rahmen in Brusthöhe so fest gepackt, dass die Knöchel weiß hervorstanden, und hatte die Füße tief in die pantoffelartigen Halterungen gerammt, während das Gestell sie durch die Panorama-Lounge leitete, während die elektromagnetischen Felder, die von den Wänden abgestrahlt wurden, leise summten und die Lenkdüsen gelegentlich zischten.

Jeorg und Bheki warteten geduldig. Jeder, der nicht im Weltraum geboren worden war, sah sich diesen grundlegenden Herausforderungen der Anpassung gegenüber. Obwohl der Raumlift wie ein gewaltiger Mammutbaum fest in der Erde verankert war, herrschte hier oben keine Schwerkraft mehr. Hier war man schon im Weltraum.

Aber Vasta rückte entschlossen vor.

Elizabeth Vasta war die leitende Wissenschaftsberaterin von Melanie Mason, der Präsidentin der (zumindest sozusagen) vereinigten Erde. Damit steckte sie tief im Herzen der Regierung. Wenn Jeorg es recht bedachte, war Vasta wegen der gegenwärtigen Bedeutung von Wissenschaft, Technologie und verwandten Bedrohungen und Möglichkeiten vermutlich wichtiger für die Welt und ihre Angelegenheiten als die Präsidentin. Und heute war sie hier und besuchte Jeorg North, den rastlosen Piloten, Ingenieur und Forscher. Warum?

Jeorg war noch nie so froh gewesen, Bheki an seiner Seite zu haben.

Als das Leitgestell sie schließlich einige Schritte vor Jeorg und Bheki zum Stillstand brachte, warf Vasta reflexartig einen raschen Blick auf einen schick aussehenden Armreif an ihrem Handgelenk. Vielleicht wollte sie sich vergewissern, dass keine dringenden Nachrichten eingegangen waren, auch wenn es nur wenige Minuten her war, dass sie die Mitarbeiter, die sie hierher begleitet hatten, zurückgelassen hatte.

Nachdem sie sich ein wenig ausgeruht hatte, hob sie den Blick und lächelte.

»Kapitän North, Pilot Molewa, vielen Dank, dass Sie einverstanden waren, sich mit mir zu treffen. Kapitän North, man sagte mir, dass dies die einzige Möglichkeit ist, da es für Sie nicht sicher ist, auf die Erdoberfläche gebracht zu werden …«

Bheki warf ein: »Wir danken Ihnen, dass Sie zu uns heraufgekommen sind. Ja, mein Mann hat zu lange in geringer Gravitation oder gar in Schwerelosigkeit gelebt, um sich noch an die Verhältnisse auf der Erde anpassen zu können, obwohl ein großer Teil seines Skeletts, die inneren Organe und sogar die Augen durch Bio-Cyberelemente ersetzt wurden …«

»Genau wie bei dir«, gab Jeorg zurück.

Bheki zuckte mit den Achseln. »Das kommt davon, dass ich dir den größten Teil meines Erwachsenenlebens gefolgt bin. Aber es ist tragisch, dich beim Anblick der Erde, auf der du nie wieder landen kannst, weinen zu sehen.« Er milderte seine Worte ab, indem er seinen Mann zart an der Schulter berührte.

»Sie beide sind entzückend«, sagte Elizabeth Vasta mit leicht angespannter Stimme, während sie sich mit weißen Fingern an ihrem Gestell festhielt. »Auch wenn es paradox klingt, würde ich mich lieber setzen, als durch die Luft zu schweben. Außerdem erinnert mich dieses Gestell an die Gehhilfe meiner Mutter in ihren letzten Tagen. Unten auf der Erde, meine ich. Und so weit bin ich noch nicht. Wo könnten wir …«

Sie schlugen ein kleines Café auf der Station vor, das Jeorg und Bheki gern besuchten. Bheki zeigte Vasta, wie sie dem Gestell befehlen konnte, das zu tun, was sie wollte, und es drehte sich sanft und zog Vasta mit, die sich krampfhaft festhielt; dann führte es sie mit fast lautlosem Zischen der Düsen den gebogenen Korridor entlang.

Diese Orbitalstation war das Kernstück für die Konstruktion des Aufzugs gewesen und hing fast fünf Erdradien hoch über der künstlichen Insel am pazifischen Äquator. In dieser Höhe brauchte ein Satellit vierundzwanzig Stunden für die Umkreisung der Erde, was zur Erdrotation passte. Daher wirkte es so, als würde die Station, die im Weltraum zusammengebaut worden war, über diesem Ort im Ozean schweben.

Von hier aus war ein Haltekabel auf die Insel herabgelassen und dort verankert worden, sodass die Station zunächst wie ein gewaltiger Winddrachen an einem Seil gewirkt hatte, der jedoch hoch über der Luftschicht des Planeten segelte. Gleichzeitig war ein Gegengewicht, eine weitere komplexe Maschine, langsam von der Station tiefer in den Weltraum gebracht worden. Dieses Gegengewicht hing an einem Seil, das ganze achtzehntausend Kilometer lang war. So wurde das Kabel als Ganzes unter beständiger Spannung gehalten.

Seit seiner Inbetriebnahme vor einem Jahrhundert war der Aufzug für den jüngst vereinten Planeten zum wichtigsten Knotenpunkt des Transports in den Weltraum geworden. Das Ergebnis war ein minimaler Einsatz von Energie und kaum noch Verschwendung durch abstrahlende Wärme. Es mussten keine dampfspeienden Raketen mehr von der Erdoberfläche starten, und es gab keine Wiedereintritte mehr, die die Atmosphäre verbrannten. Heutzutage achteten die Menschen auf ihren Planeten – auf »das, was davon übrig ist«, wie es in dem einschränkenden Slogan einer Gruppe von Organisationen hieß, die sich dem Schutz des Planeten verschrieben hatten.

Aber selbst der zehn Jahrzehnte alte Weltraumaufzug war ein umstrittener Gegenstand der modernen Politik, wie Jeorg genau wusste.

Die wenige Energie, die zu seinem Betrieb nötig war, wurde – wie fast überall in der menschlichen Zivilisation – durch äußerst wirksame und saubere Helium-3-Fusionsreaktoren zur Verfügung gestellt.

Aber wo war dieses so lebenswichtige Helium-3 zu finden?

Auf der Erde kam es in derart kleinen Mengen vor, dass es sozusagen gar nicht vorhanden war. Selbst die geringe Konzentration von vier Kilogramm in einer Masse von einer Million Kilogramm des Mondbodens machte es ökonomisch sinnvoll, es dort abzubauen und hinunter zur Erde zu bringen.

Diese harte Tatsache stand nach Jeorgs Meinung hinter der angespannten Politik des gesamten Erde-Mond-Systems – und vielleicht bald sogar hinter der eines stärker ausgebeuteten Sonnensystems. Im Weltraum kam Helium-3 im Überfluss vor, und zwar in den vereisten Asteroiden wie Ceres, auf dem Jeorg selbst geschürft hatte, sowie in großer Menge in der Atmosphäre der riesigen gasförmigen äußeren Welten wie Jupiter oder Saturn.

Doch das lag alles noch in ferner Zukunft. Die Erde brauchte das Helium jetzt, aber gegenwärtig konnte sie es nur von den Minenkolonien auf dem Mond kaufen. Die ökonomische Konstellation war brutal – und sprach dennoch zugunsten der Erde.

Jeorg wusste, dass der Mond reich an Uran war. Früher hatte die Erde davon so viel gekauft, wie geliefert werden konnte, statt es auf dem eigenen Planeten abzubauen. Aber nun wollte die Erde Helium-3 haben. Eigentlich sollte man glauben, dass dies die Preise hochtrieb – aber die Erde hatte zunächst noch eigene Monopole. Insbesondere für Stickstoff, die Grundlage jeder Ökosphäre, die von Menschen bewohnt werden konnte – ein Gas, das den Großteil der Erdatmosphäre ausmachte, auf dem Mond aber nur zu verschwindend geringen Anteilen vorkam.

Es war eine Art gegenseitigen Würgegriffs, bei dem jede Partei ihre eigenen Monopole benutzte, um das Wachstum der anderen zu begrenzen. Aber dabei hatte die Erde die besseren Karten.

Vermutlich war all das am Ende der Grund dafür, dass die Wissenschaftsberaterin der Präsidentin hier war, hoch über der Welt, und sich mit einem ramponierten Raumschiffpiloten und dessen zu Hause bleibendem Mann traf.

Doch Jeorg fragte sich, ob es vielleicht auch um eine seltsame Entdeckung außerhalb des Sonnensystems ging. Eine Entdeckung, die großen Einfluss auf das ökonomische und politische Gleichgewicht des von den Menschen beherrschten Sonnensystems haben könnte.

Mehr wusste Jeorg nicht, als Vastas Mitarbeiter ihn um dieses Treffen gebeten hatte. Aber er erlaubte sich die Hoffnung, dass all dies für ihn und seinen Mann eine gute Gelegenheit sein würde.

In dem Café stand jeder Tisch über einer Art von Guckloch, durch das vergrößerte Bilder der Erde zu sehen waren, die stets in gleicher Position blieb. Aber das intelligente optische System zeigte mehr als nur den gewohnten Blick auf die übliche pazifische Hemisphäre unter ihnen. Eine ganze Reihe von Kameras, die in geringeren Höhen um den Planeten verteilt waren, boten Ansichten der Länder, der Ozeane und des Lebens. Es wirkte, als würde man in einer niedrigen Umlaufbahn in einem primitiven Raumschiff um die Erde schweben.

Vasta setzte sich und schien die Aussicht zu genießen. »Es wirkt sehr touristisch, aber es ist hübsch.«

Jeorg lächelte. »Wenn die Perspektive rasch schwenkt, fühlt man sich wie ein Gott.«

»In diesen demütigeren Zeiten ist das nicht unbedingt eine gute Sache …«

Sie wurden von zurückhaltenden kuppelförmigen Robotern bedient, die fett und gedrungen wirkten. Die Kuppeln falteten sich zu Tabletts mit Speisen oder Getränken aus, die von Armen mit mehreren Gelenken serviert wurden.

Die Raumfahrer bestellten Wasser; Vasta bat um Kaffee.

»Er ist ein wenig kalt«, murmelte Vasta, als ihre Kanne gebracht wurde. »Liegt das am niedrigen Luftdruck?«

Bheki zuckte mit den Achseln. »Er ist niedriger als auf den Erdmeeren – gerade so groß, wie es zum Atmen nötig ist, ohne den Körper stark zu belasten. Wenn es Sie stört, können Sie eine Kanne mit Wärmefunktion bestellen …«

»Nein, nein.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Das ist mein zweiter Ausflug in den Weltraum. Ich glaube, unter meinen Mitarbeitern werde ich allmählich als Brummbärin bekannt. Das ist doch ein jahrhundertealter Traum! Ich sollte mich in diese Erfahrung stürzen und fröhlich alle Unannehmlichkeiten wie kalten Kaffee oder Ähnliches in Kauf nehmen.« Dann warf sie einen Blick auf Jeorgs ausgemergelte Gestalt und schüttelte den Kopf. »Oh, es tut mir leid. Ich wollte damit nichts über Ihren Zustand sagen …«

»Kein Problem.« Er ballte eine Faust und streckte dann die Finger wieder aus. »Das, was man im Weltraum benutzt, zum Beispiel die Hände, wird stärker und kräftiger. Und die Körperteile, die es sich leisten können, träge zu sein – nun ja, einige von ihnen verlieren ihre Funktion, wenn man nicht achtsam ist.«

»Was du nie warst«, sagte Bheki mit einem leisen Vorwurf in der Stimme. »Ministerin Vasta, wussten Sie, dass ich ebenfalls Pilot bin? Allerdings fliegt Jeorg schon länger als ich. Er steuerte bereits Raumschiffe, bevor wir uns kennenlernten. Und so hatte ich nur einen Logenplatz, während der mutige Kapitän North alle Ratschläge verwarf und es zu seiner persönlichen Mission machte, alle ernsten Symptome langer Weltraumflüge in sich zu vereinigen. Niedrige Knochendichte, unregelmäßiger Blutdruck, geschwächtes Herz, Augenprobleme …«

»Ja, ja!«

»Während Sie den Weltraum nicht so sehr mögen, liebt er ihn, auch wenn es ihm zum Schaden gereicht. Am Ende habe ich die Teile von ihm geheiratet, die noch funktionierten …«

»Ich kann erkennen, wie sehr Sie einander lieben.« Vasta lächelte, während sie redete. »Sie beide haben Glück. Und ich weiß Ihr … Opfer zu schätzen, Kapitän North. Sie haben Ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt und waren unter anderem der erste Mensch auf Ceres …«

Seit jener Mission, die für die irdischen Belange und die des Mondes von gleicher Bedeutung gewesen war, hatte Jeorg seine Kontakte sowohl im Gravitationsfeld der Erde als auch außerhalb sorgsam gepflegt. Man konnte nie wissen … Nun sah es so aus, als würde sich diese Strategie auszahlen.

Er stellte fest, dass er unbedingt erfahren wollte, was Vasta mit ihm vorhatte.

Aber Vasta war wieder abgelenkt, wie North bemerkte. Während sie redete, neigte sie den Kopf und wollte offenbar einen besseren Blick aus dem Guckloch erhaschen.

Bheki lächelte. »Sie kommen wirklich nicht oft hier hoch, oder?«

»Meine Arbeit gibt mir nur selten einen Anlass dazu. Und dabei ist das hier eine der großartigsten Ingenieurleistungen der Menschheit. Außerdem verschafft es die wunderbarsten Ausblicke.«

Jeorg ächzte leise. »Ich stimme Ihnen zu, aber etliche Mondarbeiter würden es nicht tun. Das hier ist … altmodisch. Technologie von gestern.«

»Bei Ihrer Art von Arbeit kommen Sie bestimmt mit vielen von ihnen in Berührung.«

»Mit Leuten vom Mond-Konsortium? Ja, mit einigen, über die Jahre.« Über die Jahrzehnte, berichtigte er sich stumm; er war zweiundfünfzig Jahre alt. »Verrückterweise höre ich mehr über die irdischen Pläne bei Gesprächen auf dem Mond als von den Bewohnern der Erde.«

Vasta nickte. »Dann werden Ihnen die Überlegungen vertraut sein, die Nutzung von Helium-3 auszuweiten«, sagte sie trocken.

Jeorgs Herz schlug ein wenig schneller. Bleib ruhig, alter Knabe. Unter den Piloten war dies ein heißes Thema. Antriebe mit der gewaltigen Energie aus Helium-3-Fusionen versprachen Reisen zu den äußeren Planeten, die nicht mehr Jahre, sondern nur noch Wochen dauerten. Dann wäre selbst die Oortsche Wolke in Reichweite. Und eines Tages vielleicht sogar die Sterne …

Bheki beugte sich vor. »Ich habe schon einiges darüber gehört. Die Regierung testet bereits ein Extraktionsverfahren für Helium-3 – aber auf dem Saturn, nicht wahr?«

Vasta zuckte mit den Schultern. »Hm. Mir hätte klar sein sollen, dass Sie davon wissen. Der Ruhm Ihres Ehemanns bringt einige Beziehungen mit sich, wie ich annehme. Ja, die Erdregierung denkt darüber nach, den Einsatz der Helium-3-Fusion auszuweiten. Und, ja, der Plan sieht zumindest gegenwärtig vor, Helium-3 aus den Wolken des Saturn zu ernten. Dort kommt es in relativ großen Mengen vor. Die Gasriesen sind offensichtlich viel ergiebiger als die Asteroiden. Obwohl Jupiter näher ist, haben wir ihn wegen seiner höheren Schwerkraft und den Strahlengürteln ausgelassen. Um ihn kümmern wir uns später.

Wir schätzen, dass in den Wolken von Jupiter und Saturn genug Helium-3 steckt, um auf der Erde eine Kultur vom Typ Kardaschow I für Zehntausende von Jahren zu etablieren … Wissen Sie, was ich damit ausdrücken will? Ich meine damit eine industrielle Kultur, die so viel Energie produziert, wie der Planet an Sonnenlicht einfängt. Sie müssen sich eine Anlage im Orbit vorstellen – vielleicht wird dieser Aufzug hier eines ihrer Kernelemente sein –, die die benötigte Energie produziert, ohne dass dafür das Sonnenlicht oder die Bodenschätze des Planeten angezapft werden müssen. Auf diese Weise kann die Erde geschützt werden, und der menschlichen Zivilisation eröffnen sich neue Möglichkeiten.

Wir haben darüber debattiert, ob das alles moralisch richtig ist. Wir sind keine Bewahrer, die nichts anrühren würden, was nicht erneuerbar ist, obwohl ihre moralischen Maßstäbe wichtig für die gesamte Menschheit sind. Ja, wir würden andere Planeten plündern – die Gasriesen. Aber dort gibt es keine Anzeichen von Leben – auf keinen Fall von intelligentem Leben. Wir plündern dort, damit wir Leben und Geist hier erhalten.«

Jeorg nickte. »Ich verstehe, dass all diese Entwicklungen wie eine Lawine sind.« Er warf Bheki einen raschen Blick zu und holte Luft. Es musste es einfach sagen. »Aber in der nahen Zukunft … werden Sie einen Helium-3-Antrieb entwickeln, nicht wahr? Eine schnelle, auf Heliumgas basierende Transportmöglichkeit …«

Sie lächelte. »Ich wusste, dass Sie gut informiert sind. Und dass es Sie natürlich interessieren wird. Ja, ein solches schnelles Raumschiff würde die Möglichkeit eröffnen, zum Beispiel auf dem Saturn Helium im großen Stil zu ernten. Die Erträge könnten weitere Forschungsreisen und die Erschließung neuer Abbaumöglichkeiten finanzieren und die Industrien der Erde befördern. Das Letztere ist unser Hauptziel.«

Bheki dachte darüber nach. »Stimmt das wirklich noch? Verzeihen Sie, aber haben sich die Prioritäten nicht inzwischen verschoben. Im Augenblick dreht sich doch alles um Planet Neun, nicht wahr? Vielleicht gibt es dort exotische physikalische Phänomene zu erkunden. Wer weiß, wie das unsere interplanetare Ökonomie verändern würde? Und das liegt in den Händen der Bewahrer …« Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich sind sie ja harmlos, aber sie scheinen immer mystischer zu werden.«

Vasta nickte widerstrebend. »Sie haben natürlich recht. Wir wissen nicht, welches destabilisierende Potenzial dieser Joker haben könnte, den sie im Ärmel haben. Im augenblicklichen Zustand unserer Zivilisation wäre eine Destabilisierung katastrophal. Genau das ist es, worüber ich mit Ihnen reden will.«

Jeorg und Bheki sahen sich kurz an.

Wie in unausgesprochener Übereinstimmung verstummten die drei Personen und betrachteten die Erde durch das Fenster.

Von seiner Position hoch über der Erde sah Jeorg auf einer niedrigeren Umlaufbahn langsam eine Weltraumfabrik vorbeischweben, und ein kantiger künstlicher Mond segelte unter ihnen dahin. Die alten Industrien der Erde wurden nach und nach von dem Planeten weggeholt, da die Erde irgendwann wieder den Zustand vor der Industrialisierung und vielleicht sogar vor der intensiven Landwirtschaft erreichen sollte.

Zwischen diesen schwebenden Fabriken befanden sich auch Waffensysteme, die nicht mehr nach unten, sondern in den Weltraum gerichtet waren. Diese Waffen waren zwar noch nie abgefeuert worden, aber sie befanden sich in Bereitschaft. Und weiter draußen gab es noch mehr von ihnen: auf kleinen, schnellen Angriffsschiffen, die die Sonnenfarmen im Erdorbit und die Lieferkette von Helium-3 schützten, das unter so großen Mühen aus dem Mondboden geschürft wurde, wohin es in geringsten Mengen von der Sonne geschleudert worden war. Noch weiter draußen suchten Überwachungsgeräte nach hereinkommenden Asteroiden oder Asteroidensplittern, die auf die Erde zu prallen drohten – nach Asteroiden, die entweder zufällig oder absichtlich gelenkt auf diesem Weg waren.

Ein sich erholender Planet, der allmählich wieder grün wurde, ein Sonnensystem, das langsam und vorsichtig kolonisiert wurde – all das konnte rasch zu einem möglichen Schlachtfeld werden.

Und nun der Saturn …

Bheki sagte: »Beraterin Vasta, ich glaube, Sie sollten uns jetzt endlich sagen, was Sie von uns wollen.«

4

»Also gut«, sagte Vasta. »Es geht um Strategien auf höchster Ebene.«

»Wenn man bedenkt, wem gegenüber Sie berichten, ist es wohl die allerhöchste Ebene«, meinte Bheki.

»Das stimmt. Sie können mir glauben, dass Präsidentin Mason der ganzen Sache ihr höchstes Interesse entgegenbringt. Was Sie durch dieses Fenster unter Ihnen sehen können, erzählt eigentlich schon die ganze Geschichte.

Vor etwa einem Jahrhundert haben wir – die Menschheit – uns vereinigt, um die Erde zu retten. Aber nun treiben wir wieder auseinander. Der Geist der Einheit verblasst, und wir beobachten das Auftreten – oder eher das Wiederauftreten – von großen Lagern und Parteien.

Die bedeutendste – oder zerstörerischste – Fraktion ist wohl die der Industrialisten, der Anhänger des freien Marktes, die nichts dagegen hätten, für das wirtschaftliche Wachstum die Bodenschätze in der unmittelbaren Umgebung der Erde zu plündern. Dieses Wachstum würde weiteres Wachstum befeuern, und so würde es immer weitergehen.«

»Ja. Dazu gehört das Mond-Konsortium«, sagte Bheki.

Vasta nickte. »Ja, es ist die größte Gruppe. Im Einklang mit den Gesetzen der Weltregierung konnten wir sie bisher von Ceres fernhalten.« Sie nickte Jeorg zu. »Trotz Ihrer eigenen Reise dorthin. Aber inzwischen blicken wir weiter. Wie es auch die Industrialisten tun.«

»Auf die Gasriesen«, sagte Bheki. »Sie fragen sich, ob Sie die Gasriesen ausbeuten können.«

»Wir haben bereits mit Versuchen vor Ort begonnen.«

Jeorg riss den Mund auf. »Das würde die Mondökonomie in naher Zukunft zu Fall bringen. Und die Hoffnung des Konsortiums auf langfristiges Wachstum und weitere Ausbeutung zerstören.«

»Vielleicht. Wir hoffen auf einen friedlichen, einvernehmlichen Übergang. Aber selbst wenn das Mond-Konsortium zusammenbrechen sollte, wird es ähnlichen Druck von anderen Seiten geben.

Historisch gesehen ist das Konsortium keine Anomalie. Der Drang nach Profit, nach Konsum, nach technischem Fortschritt und schnellstmöglichem Wachstum – das war früher das, was alle gemacht haben und was seit der industriellen Revolution alle tun wollten. Bis alles zusammengebrochen ist. Nun glauben die Prospektoren auf dem Mond, dass sie diesen Traum in den Weltraum gebracht haben. Vielleicht wird es zu einem weiteren Zusammenbruch führen – noch nicht jetzt, möglicherweise erst in einigen Jahrtausenden. Aber es ist ihnen egal.

Auf der Erde dagegen haben wir nach den Jahrzehnten, in denen wir das Klima stabilisiert haben, nun eine andere Sichtweise. Eine zweite philosophische Gruppe – wenn Sie so wollen – hat inzwischen einen stärkeren Einfluss auf die Regierung. Man nennt uns die Kardaschow-Fraktion.« Sie sah die beiden Männer nacheinander an. »Wie ich es Ihnen schon beschrieben habe.«

Jeorg sagte: »Ein Ring aus Städten, der den Planeten umgibt.«

»Das ist unser Traum.« Sie lächelte. »Aber kein Bewahrer würde unseren Plänen zustimmen. Sie wollen nur Mittel benutzen, die ansonsten verloren wären oder wirklich vollständig erneuerbar sind. Daher ist ihnen zufolge das Anzapfen der Sonnenenergie erlaubt und auch das Abernten von Kometen, die von außerhalb unseres Sonnensystems kommen. Das Ergebnis: eine statische, erstickende Ökonomie. Wir hoffen, einen Mittelweg gefunden zu haben.«

Bheki nickte. »In Ordnung. Aber der Schlüssel zu alldem ist das extraterrestrische Helium-3, nicht wahr? Und Sie haben beim Saturn schon damit angefangen?«

»Korrekt.«

Nun fügten sich in Jeorgs Kopf einige Gedanken zusammen. »Ah! Ich glaube, ich weiß etwas darüber. Und ich weiß, warum Sie mit mir sprechen wollten. Es geht um die Kronos, nicht wahr?«

Bheki runzelte die Stirn. »Die Kronos? Das ist doch dieser große Saturn-Frachter, oder? Der mit dem Uranspaltungsantrieb …«

»Sie ist das majestätischste Schiff, das seit den großen Tagen der Ozeandampfer abgelegt hat. Nach der Rückkehr von ihrer ersten Mission zum Saturn hatte ich überlegt, ob ich mich als Besatzungsmitglied für die nächste Reise anmelden sollte, selbst wenn ich nicht der Kommandant sein konnte. Was für ein Abenteuer!«, rief Jeorg.

»Warum hast du mir das nie gesagt?«