Proxima - Stephen Baxter - E-Book

Proxima E-Book

Stephen Baxter

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Beschreibung

Leuchten die Sterne noch im 27. Jahrhundert?

Die ferne Zukunft: Die bekannten Sternbilder existieren nicht mehr, und unsere Galaxis ist mittlerweile zu einem Haufen aus schwarzen Löchern, Staubnebeln und Neutronensternen zerfallen. Dennoch existiert Leben hier, eine gewaltige interstellare Intelligenz, die ihre Energie aus sterbenden Sternen zieht. Und dieser Geist lässt die Vergangenheit des Universums wieder aufleben – eine Vergangenheit, in der es einmal Menschen gab …

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Seitenzahl: 734

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DAS BUCH

Wir schreiben das Jahr 2160: Die Erde ist den Menschen zu eng geworden und zwischen den Vereinten Nationen und China ist ein gnadenloser Wettstreit um die Kolonien in unserem Sonnensystem entbrannt. Als Forscher auf dem Merkur eine geheimnisvolle Technologie entdecken, die die Entwicklung eines neuen Lichtgeschwindigkeitsantriebs ermöglicht, sind die Vereinten Nationen entschlossen, nun auch zu anderen Sonnensystemen aufzubrechen. Mit dem Raumschiff Ad Astra werden zweihundert Kolonisten ins vier Lichtjahre entfernte Alpha-Centauri-System geschickt, um dort den Planeten Centauri c zu besiedeln. Doch keiner der Passagiere ist freiwillig an Bord, und das aus gutem Grund: Fauna und Flora auf Centauri c sind für Menschen lebensfeindlich, die Sonne steht immer am gleichen Punkt und der Anbau von Nahrungsmitteln ist nahezu unmöglich. Kaum auf Centauri c angekommen, werden die schlimmsten Befürchtungen der Siedler sogar noch übertroffen: In Gruppen werden sie auf dem Planeten ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen. Einer von ihnen ist Yuri Eden, der zusammen mit der Astronautin Mardina Jones und einigen anderen versucht, sich auf Centauri c ein neues Leben aufzubauen. Doch auf dem Planeten lauern tödliche Gefahren und schon bald sind Yuri und die übrigen Siedler in einen brutalen Überlebenskampf verstrickt …

DER AUTOR

Stephen Baxter, 1957 in Liverpool geboren, studierte Mathematik und Astronomie, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er zählt zu den international bedeutendsten Autoren wissenschaftlich orientierter Literatur. Etliche seiner Romane wurden mehrfach preisgekrönt und zu internationalen Bestsellern. Stephen Baxter lebt und arbeitet im englischen Buckinghamshire. Zuletzt sind bei Heyne die Romane Die letzte Flut, Die letzte Arche und Evolution erschienen.

Mehr über Stephen Baxter und seine Romane auf:

STEPHEN BAXTER

Roman

Aus dem Englischen vonPeter Robert

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Titel der englischen Originalausgabe

PROXIMA

Deutsche Erstausgabe 10/2014

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2013 by Stephen Baxter

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von shutterstock/Igor Zh.

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN 978-3-641-15081-5V002

www.diezukunft.de

In den Herzen von hundert Milliarden Welten –

Über eine Billion sterbender Wirklichkeiten in einem tödlichen Multiversum hinweg –

In der chthonischen Stille –

Träumten Wesen, diffus und uralt, den Traum von der Endzeit.

Erster Teil

1

2166

Ich bin wieder auf der Erde.

Das war Yuris allererster Gedanke, als er in einem Bett erwachte: einem harten Bett mit fester Matratze und leichten Laken und Decken, aber dennoch in einem richtigen Bett, nicht in der vierstöckigen Etagenkoje eines Schlafraums in einer Kuppel auf dem Mars.

Er schlug die Augen auf und blinzelte ins helle Licht von Neonröhren an den Wänden. Eine sauber aussehende Decke. Menschen mit grünen Kitteln, Hygienehauben und Mundschutzmasken, das leise Murmeln kompetenter Stimmen, piepsende und zirpende Maschinen. Andere Betten, andere Patienten. Das Ambiente eines typischen Krankenhauses. Er sah das alles am Rand seines Gesichtsfelds; bisher hatte er noch nicht einmal den Kopf gedreht, so schwer fühlte er sich.

Das Letzte, woran er sich erinnerte, war die Nadel, die Friedenshüter Tollemache, dieser Drecksack, ihm in den Hals gerammt hatte. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie lange er bewusstlos gewesen war – Monate, wenn man ihn zur Erde zurückgebracht hatte –, und er wusste von seiner Erholungsphase nach den Jahrzehnten im Kälteschlaf, dass es ratsam war, beim Aufwachen Vorsicht walten zu lassen.

Allerdings war ihm klar, dass er sich auf der Erde befand. Er spürte es in den Knochen. Yuri wurde im Jahr 2067, vor fast hundert Jahren, auf der Erde geboren und hatte die heldenhafte Expansion der Menschheit ins Sonnensystem in einem Kryo-Tank verschlafen. Aufgewacht war er in einer Kolonie, die auf dem Mars lag, wie er im Lauf der Zeit herausfand. Doch nun, nach einem weiteren Zwangsschlaf, sah die Sache wieder anders aus. Er wagte es, die Hand zu heben. Die Muskeln in seinem Arm schmerzten schon allein von dieser Bewegung; er spürte, wie Schläuche an ihm zerrten, und die Hand fiel wieder herab und landete mit einem befriedigend schweren Aufschlag. Die herrliche Erdschwerkraft, nicht diese Weder-das-eine-noch-das-andere-Schweberei auf dem Mars. Es konnte nur die Erde sein, seine Heimat.

Eine Million Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. Zum Beispiel: Wo auf der Erde? Weshalb hatte man ihn zurückgeschickt, statt ihn auf dem Mars verrotten zu lassen? Und in welcher Einrichtung, was für einem Gefängnis befand er sich diesmal? Es machte ihm jedoch nichts aus, dass er die Antworten nicht kannte. Seit er auf dem Mars erwacht war, hatte er überhaupt nur sehr wenige Antworten bekommen, und außerdem war es ihm nicht wichtig genug gewesen, um Fragen zu stellen. Ganz egal, wie sehr sich hier unten alles verändert hatte, seit er in den Kryo-Tank gestiegen war: Der schlimmste Käfig auf der Erde war besser als die tollste Luxusbude, die es auf dem Mars geben mochte. Denn auf der Erde konnte man jederzeit die Tür aufmachen, die Luft atmen, selbst wenn es eine überhitzte, vergiftete Suppe war, und einfach losmarschieren, weiter und immer weiter …

Er schloss die Augen.

»Hopp, hopp, raus aus den Federn, Schlafmütze.«

Ein Gesicht zeichnete sich über ihm ab, eine schwarze Frau in einem grünen Kittel mit einem Namensschild, das er nicht lesen konnte, das Haar unter einer grünen Stoffhaube verborgen. Sie trug keinen Mundschutz, und sie lächelte ihn an. Sie sah müde aus.

Er versuchte zu sprechen. Sein Mund war trocken, und die Zunge klebte schmerzhaft am Gaumen. »Ich … ich …«

»Hier. Trink einen Schluck Wasser.« Sie hielt ihm ein Nuckelfläschchen hin, wie das eines Babys. Das Wasser war warm und schal. Es schien ihr Mühe zu bereiten, die Flasche in die Höhe zu halten, als wäre sie selber schwach. »Weißt du, wie du heißt?« Sie warf einen Blick aufs Fußende seines Bettes. »Yuri Eden. Das ist alles, was wir über dich haben. Keine näheren Angehörigen. Stimmt das?«

Er zuckte nur die Achseln, eine vorsichtige Bewegung, flach auf dem Rücken liegend.

Sie musterte ihn von oben bis unten, schaute ihm in die Augen, warf einen prüfenden Blick auf einen Monitor neben dem Bett. »Ich bin Dr. Poinar. Ich gehöre zur IRF und habe einen Mannschaftsrang, aber du kannst mich mit ›Doktor‹ anreden. Du hast dir reichlich Zeit gelassen, aus dem künstlichen Koma aufzuwachen, in das die Friedenshüter dich versetzt haben. Na ja, so hat es mit dem Start jedenfalls besser geklappt. Tatsächlich hat mehr als die Hälfte der Crew alles verschlafen. Mal sehen, ob wir uns aufsetzen können. Okay?« Sie drückte auf einen Knopf.

Mit dem Summen von Servomotoren klappte der obere Teil des Bettes langsam hoch, richtete seinen Oberkörper auf, beugte ihn in der Taille. Er fühlte sich schwach, und sein Kopf war wie eine Wanne, in der Flüssigkeit schwappte. Die Station um ihn herum färbte sich grau. Er spürte ein Kribbeln im rechten Arm, irgendeine Flüssigkeit wurde in ihn hineingepumpt.

Dr. Poinar musterte ihn aufmerksam. »Alles in Ordnung? Gut. Dann kommt jetzt die Fünf-Sekunden-Info – später gibt es noch einen richtigen Einführungsprozess, den jeder phasenweise absolviert, zuerst das theoretische Zeug und der Zugriff auf die Datenbanken, während man wieder zu Kräften kommt, dann körperliche Arbeit, einschließlich der anteiligen Wartungsdienste.« Sie warf einen kurzen Blick auf sein Datenblatt. »Mehr davon, wenn du in einem Strafkommando landest, und angesichts deiner Akte dürfte das mehr als wahrscheinlich sein. Aber das Wichtigste ist, dass du erst mal wieder auf die Beine kommst. Dein Körper muss sich neu auf die volle Schwerkraft einstellen. Die Nervenrezeptoren, die deine Haltung und jede Art von Bewegung regeln, sind im Moment total durcheinander. Dein Innenohr weiß nicht, was, zum Teufel, hier los ist. Dein Flüssigkeitshaushalt ist komplett aus den Fugen, und du wirst noch eine Weile unter den Symptomen von niedrigem Blutdruck leiden. Hier, trink das.«

Sie hielt ihm eine weitere Flasche hin, und diesmal nahm er sie. Es war eine salzige Flüssigkeit; er spuckte unwillkürlich aus.

»Du bekommst eine Reihe von Injektionen, um den Kalziumverlust in deinen Knochen auszugleichen, und noch ein paar andere Dinge. Und Physiotherapie zum Aufbau deiner Muskelkraft und Knochenmasse. Die darfst du auf keinen Fall auslassen. Oh, und dein Immunsystem wird gelitten haben. Jedes Virus, das jemand in diesen Zylinder mitgebracht hat, ist wie verrückt umgegangen; damit wirst du noch ein paar Wochen Spaß haben. Später folgen dann weitere medizinische Programme – Voradaptation für Prox, diverse präventive Eingriffe.« In ihrem Grinsen lag ein Hauch von Grausamkeit. »Wie geht’s deinen Zähnen? Aber die kommen erst in einem Jahr oder später dran.«

Prox?

Nicht weit entfernt begann ein Baby zu schreien.

»Irgendwelche Fragen? Ach, bestimmt jede Menge. Benutze einfach deinen gesunden Menschenverstand. Jetzt bleib erst mal so sitzen, bis das Schwindelgefühl abgeklungen ist. Leg dich nicht wieder hin. Ich komme später noch mal vorbei und schaue, ob du schon feste Nahrung zu dir nehmen kannst. Und achte auf den Katheter, die Schwester wird ihn später entfernen. Lass es ruhig angehen, Yuri Eden.« Sie verschwand aus seinem Blickfeld.

Dieses Baby schrie noch immer, ganz in der Nähe zu seiner Linken.

Sehr vorsichtig drehte er den Kopf in diese Richtung; wieder wurde alles grau, und er hörte ein Klingeln in den Ohren, aber er wartete, bis es vorbeiging. Er sah weitere Betten, die sich in einem Raum mit einem Durchmesser von höchstens sieben, acht Metern drängten – kleiner, als er erwartet hatte. Einige der Betten waren von Trennwänden aus Stoffbahnen umgeben. Weiteres Krankenhauspersonal und ein paar Servoroboter glitten durch die schmalen Lücken zwischen den Betten. Von der Decke baumelten Geräte, darunter auch so etwas wie ein ferngesteuertes Operationsbesteck, lauter Manipulatorarme, Laserdüsen und Messer.

In Yuris linkem Nachbarbett lag eine junge Frau, eigentlich eher ein Mädchen, blass, blondes Haar, zerbrechliche Statur. Ausgesprochen hübsch. Sie hielt ein Baby in den Armen, ein Bündel von Decken; während sie es wiegte, ebbte das Schreien allmählich ab. Sie sah, dass Yuri zu ihr herüberschaute. Er wandte den Kopf ab, und wieder drehte sich ihm alles vor Augen. In Eden hatte er sich angewöhnt, Blickkontakt zu vermeiden, den Leuten ihre privaten Rückzugsräume zu lassen.

»Ist schon gut.« Sie hatte einen weichen, vielleicht osteuropäischen Akzent.

Er sah wieder zu ihr hin. »Ich wollte dich nicht anstarren.« Seine Stimme war rau und heiser.

»Ach, der kleine Cole hat geschrien und jeden gestört.« Sie lächelte. »Tut mir leid, wenn er dich aufgeweckt hat.«

Das verwirrte ihn. Dann merkte er, dass sie scherzte. Er versuchte zu lächeln, hatte aber keine Ahnung, was für eine Grimasse sein taubes Gesicht zog.

»Ich heiße Anna Vigil.«

»Ich bin Yuri.«

»Yuri Eden. Hat die Ärztin gesagt.« Der kleine Cole zappelte und gurgelte leise. »Ihm geht’s gut. Ich bin diejenige, die herkommen musste. Ein Schnupfenvirus hat mich umgehauen, ich bin noch schwach vom Stillen. Natürlich sollten wir gar nicht hier sein. Ich war hochschwanger, als die Aushebung stattfand. Irgendwas ist da schiefgelaufen. Cole ist das einzige Kind hier drin.«

»Cole, hm? Hübscher Name.«

Sie schien darüber nachzudenken, als wären seine Worte ein wenig absonderlich. »Sein Namenspatron ist natürlich Dexter Cole. Der erste Mensch auf Proxima.«

Natürlich. Wer? Wo? Er stieg aus dem verwirrenden kleinen Gespräch aus, zog sich in sich selbst zurück.

»Hey, Kumpel.«

Er drehte den Kopf nach rechts.

In dem Bett auf dieser Seite lag ein Mann, um die dreißig, Asiate. Verbände umhüllten seinen Kopf, und die linke Seite seines zerschlagenen Gesichts war so aufgedunsen, dass ein Auge beinahe zugeschwollen war. Trotzdem lächelte er. »Alles okay mit dir?«

Yuri zuckte steif die Achseln.

»Hör zu. Ist bloß das Schlafmittel, das die Cops einem geben. Und sie setzen es nicht gerade sparsam ein. Ich habe selbst ein paar Dosen abgekriegt, während ich ihnen ganz ruhig zu erklären versuchte, dass ich als ausländischer Staatsangehöriger nicht in ihr Aufgebot für die Ad Astra gehöre. Dauert eine Weile, bis man wieder richtig wach wird. Keine Sorge, der Nebel wird sich schon noch lichten.« Sein Akzent klang amerikanisch, vielleicht Westküste, aber Yuris Ohr war hundert Jahre hinter der Zeit zurück.

»Danke«, sagte Yuri. »Aber ich schätze mal, Sie sind nicht deshalb hier. Wegen der Schlaferei.«

»Du solltest Arzt werden. Nein, diesmal hat mich der Große hierhergebracht. Obwohl es beim letzten Mal ein paar Friedenshüter waren, die mich breitschlagen wollten und mir dabei eine Rippe gebrochen haben …«

»Der Große?«

»Gustave Klein, so heißt er. Vermutlich weißt du das nicht. Er ist hier der King, oder jedenfalls hält er sich dafür. Nimm dich in Acht vor ihm. Also, Yuri Eden, hm? Auf dem Mars bist du mir nie über den Weg gelaufen. Mein Name ist Liu Tao.« Er buchstabierte ihn.

»Amerikaner?«

»Ich? Nein. Aber ich habe auf einer Schule für im Ausland lebende USNA-Bürger in Neu-Beijing Englisch gelernt. Deshalb ist mein Akzent ein bisschen altmodisch, das fällt jedem auf. Ich bin Chinese. Tatsächlich bin ich Offizier in der Raumflotte des Volkes. Yuri Eden? Heißt du wirklich so? Du hast in Eden gelebt, stimmt’s?«

»Ja.«

»Wie war’s da so?«

Obwohl er keinerlei gemeinsame Bezugspunkte mit diesem Burschen hatte, versuchte Yuri, es ihm zu beschreiben. Eden war der größte Außenposten der Vereinten Nationen auf dem Mars gewesen, und einer der ältesten. Die Menschen wohnten in zylindrischen, nissenhüttenartigen Tanks, den Überresten der ersten gelandeten Schiffe, die man umgekippt, mit Erdreich überhäuft und in Schutzräume umgebaut hatte, aber auch in vorgefertigten Kuppeln und sogar in ein paar Gebäuden aus roten marsianischen Sandsteinblöcken. Die ganze Kolonie war Yuri wie ein Gefängnis oder ein Arbeitslager erschienen. Dabei war sie nur ein Nadelstich, eine kleine Bastion; den Gerüchten zufolge würde eine Kolonie wie diese von den riesigen Städten in den Schatten gestellt werden, die die Chinesen auf dem übrigen Planeten bauten, Städten wie ihre Hauptstadt Obelisk in Terra Cimmeria.

Liu Tao hörte mit ausdrucksloser Miene zu.

»Und wie sind Sie hier gelandet?«

»Reines Pech. Ich war als Pilot eines Shuttles auf dem Weg von Rot Zwei, einer unserer Orbitalstationen, zu unseren Vorratsdepots und Manufakturen im Phaethontis-Gebiet, als eines der Hilfstriebwerke ausgefallen ist. Wir mussten in großer Höhe aussteigen, mein Kumpel und ich, und das ist auf dem Mars kein Vergnügen. Er ist wohlbehalten runtergekommen – nehme ich jedenfalls an, ich habe es nie erfahren. Meine Muschelschale, mein Hitzeschild, hatte einen Sprung. Ich hatte Glück, dass ich überlebt habe. Aber ich bin in der Nähe von Eden runtergekommen, und zwei von euren Friedenshütern waren als Erste bei mir.

In klarem Widerspruch zu diversen Verträgen haben sie mich festgehalten und mich zahlreichen ›Verhören‹ unterzogen.« Er ließ das Wort in der Luft hängen. »Ich sollte ihnen die internen Geheimnisse der Triangel verraten. Weißt du darüber Bescheid? Das ist dieser große Handelsring, den wir gerade aufbauen, von der Erde zu den Asteroiden und zum Mars und zurück. Aber ich bin bloß ein Fährenpilot aus dem Marsorbit. Bei Maos Eiern, es ist ja nicht so, als würden wir euch in Eden ausspionieren!« Er lachte über diese Vorstellung. »Na ja, sie haben mich dort festgehalten, und ich dachte schon, sie würden mich gar nicht mehr gehen lassen, ich meine, vielleicht hatten sie meinen Vorgesetzten ja erzählt, sie hätten mich tot aufgefunden oder so. Was wollten sie mit mir anstellen, mich umbringen? Es ist wohl keine Überraschung, dass sie mich ins Aufgebot gesteckt und in diesem Zylinder eingesperrt haben, stimmt’s? Aus den Augen, aus dem Sinn. Aber wir alle sind hier Gefangene …«

»Niemand ist ein Gefangener«, sagte Dr. Poinar, die mit einem Tablett voller bunter Pillen geschäftig durch die Station eilte. »So steht es in unseren Richtlinien, also muss es wohl stimmen, oder? Jetzt nimm das hier, Yuri Eden, du brauchst mehr Schlaf.«

Verwirrt, so schwach wie Annas Baby, aber noch immer berauscht von der schlichten Tatsache, dass er heimgekommen war, auch wenn er in diesem »Zylinder« festsaß, nahm Yuri gehorsam seine Tablette und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

2

Nachdem Yuri einen Tag lang vorsichtig gymnastische Übungen gemacht hatte, ein wenig herumgelaufen und ohne fremde Hilfe auf die Toilette gegangen war, erklärte ihm Dr. Poinar, seine Zeit sei um. »Wir brauchen dein Bett. Tut mir leid, mein Freund. Später wird man dir eine Koje zuweisen. Falls du irgendwelche Habseligkeiten dabeihattest …«

Yuri zuckte die Achseln.

»Jetzt musst du zu einem Kurs. Du bist schon spät dran.«

»Was für ein Kurs?«

»Einstiegs- und Orientierungskurs«, sagte Liu Tao. »Irgendein Astronaut, der uns hübsche Bilder zeigt.« Er lachte, obwohl er zusammenzuckte, wenn er seinen zerschlagenen Mund weit öffnete.

»Sie sind im selben Kurs, Liu. Warum zeigen Sie Ihrem neuen besten Freund nicht den Weg?« Poinar legte jedem von ihnen einen Stapel Grundbekleidung in leuchtendem Orange aufs Bett und ging davon.

Yuri hatte die Krankenstation für überfüllt und lärmig gehalten. Doch als er Liu in einen Raum folgte, der ihm auf den ersten Blick wie das Innere eines großen Metallturms vorkam, erkannte er sofort, dass die Station ein Hort des Friedens und der Harmonie gewesen war. Er blickte nach oben. Der Turm war nicht besonders hoch, vielleicht vierzig oder fünfundvierzig Meter, und wurde von einer großen Metallkuppel gekrönt. Gitterböden unterteilten den Raum in Stockwerke; es gab Leitern, eine Art Wendeltreppe an der Wand und eine Rutschstange, die sich in der Achse des Turms durch Lücken in den Gitterböden fädelte. Die Wände verschwanden hinter Ausrüstungsboxen und Magazinen, aber hier und dort sah er leichte Klapptische und Klappstühle sowie abgeteilte Räume mit Etagenbetten und weiteren Klappmöbeln. In diesen Kabinen waren Leute, die offensichtlich zu schlafen versuchten; er hatte keine Ahnung, wie sie das schaffen sollten. Schlaf schien hier ein Luxus zu sein, genauso wie auf dem Mars.

Und in diesem Tank wimmelte es überall von Menschen. Die meisten trugen leuchtend orangefarbene Overalls, so wie Yuri und Liu, ein paar andere das Blau der Friedenshüter oder ein exotischeres Schwarz und Silber. Er sah ausschließlich Erwachsene, keine Jugendlichen, keine Kleinkinder. Ihre Stimmen hallten von den Metallflächen wider. Und über all dem nervtötenden Radau war das Surren von Pumpen und Ventilatoren, von irgendwelchen Klima- und Sanitäranlagen zu hören, genauso wie in Eden. Als wäre er in einer weiteren geschlossenen Einrichtung.

Liu, der sich selbst vorsichtig bewegte – offenbar hatten ihn die Schläge nicht nur im Gesicht getroffen –, ging mit Yuri zu der mit einem Sicherheitsgeländer versehenen Treppe am Rand, deren Stufen an der gekrümmten Wand befestigt waren, und führte ihn hinauf.

Zumindest fiel es Yuri nicht schwer, sich hier zurechtzufinden, ebenso wenig wie auf dem Mars. Seit seinem ersten Erwachen hatte er festgestellt, dass die Technologie des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts recht bedienungsfreundlich war. Irgendwann, bevor man ihn eingefroren hatte, schienen die Nutzerschnittstellen schon standardisiert worden zu sein. Selbst die Sprache hatte sich mehr oder weniger stabilisiert, wenn auch nicht die Akzente; Englisch wurde jetzt auf mehreren Welten gesprochen und musste für jedermann verständlich bleiben, und es gab einen gewaltigen Bestand aufgezeichneter Kultur – alles Dinge, die dazu führten, dass die Sprache weitgehend statisch blieb. Die Fahrzeuge und Vokabulare des Jahres 2166 bereiteten ihm keine Probleme. Nur aus den Menschen wurde er nicht schlau. Und jetzt stieg Yuri durch eine Flut von Gesichtern nach oben, von denen ihm keines vertraut war.

Unwillkürlich hielt er Ausschau nach einem Fenster. Er hatte immer noch keine Ahnung, in welchem Teil der Erde er sich befand. Und warum waren sie in diesem Bauwerk eingeschlossen? Vielleicht handelte es sich um irgendein Klimarefugium in den mittleren Breiten; er hatte gehört, dass sich der gesamte mittlere Gürtel der Erde seit seiner Zeit aufgeheizt hatte, dass er ausgetrocknet und verlassen worden war. Er konnte überall sein. Aber der stetige Zug der Schwerkraft war beruhigend, selbst als er sich mit seinen vom Mars erschlafften Muskeln die Treppe hinaufquälte. Er fragte sich, wann seine erste Physiotherapie stattfinden würde.

Sie gelangten zu einem von beweglichen Trennwänden umschlossenen Raum mit Reihen von Klappstühlen, wie in einem Hörsaal. Vorne stand ein Bursche in schwarz-silberner Uniform, das Gesicht von dem runden Dutzend Personen im Raum abgewandt, und redete, während eine Abfolge von Bildern gezeigt wurde, Sternenfelder und Weltraumsatelliten.

Eine Frau in ähnlicher Uniform stand mit einer Tafel an der Tür. Sie hielt Liu und Yuri auf, als sie eintreten wollten. Yuri las ihr Namensschild: IRF LT MARDINA JONES. Sie war vielleicht dreißig und sehr dunkel, mit kleinen schwarzen Löckchen. »Ihr seid spät dran«, sagte sie.

»Entschuldigung. Wir kommen direkt von der Krankenstation.« Liu nannte ihre Namen.

»Namensschilder?«

Liu förderte seines aus einer Tasche zutage und zeigte es ihr; sie glich es mit den Daten in ihrer Tafel ab und wandte sich an Yuri. »Und du?«

Yuri hob nur die Schultern.

»Wie gesagt, wir kommen direkt von der Krankenstation«, wiederholte Liu.

»Gerade aufgewacht, hm?« Jones schüttelte den Kopf und machte sich eine Notiz in ihrer Tafel. »Typisch. Regelt das später.« Sie hatte einen starken australischen Akzent. »Setzt euch, aber leise, bitte.«

Es erwies sich als gar nicht so einfach, einen Platz in dem halbdunklen kleinen Saal zu finden. Drei Männer saßen zusammen in einer Reihe von einem Dutzend ansonsten freier Stühle. Als Yuri in dieser Reihe Platz nehmen wollte, stieß Liu ihn in den Rücken. »Geh weiter«, flüsterte er.

Yuri wurde schnell wütend, seit er auf dem Mars zum ersten Mal aufgewacht war. »Warum sollte ich?«

»Weil der Kerl in der Mitte Gustave Klein ist. Warte, bis du wieder bei Kräften bist, bevor du dich mit dem anlegst.«

Aber es war schon zu spät, merkte Yuri. Klein war weiß, vielleicht fünfzig Jahre alt, stämmig, wenn auch nicht übergewichtig, und sein Kopf war auf kunstvolle Weise geschoren. Seine auf den Knien liegenden Fäuste ähnelten Dampfhämmern. Und Yuri hatte Blickkontakt mit ihm aufgenommen. Den beiden Kerlen, die bei Klein waren – typische Kampfhunde –, schenkte er kaum Beachtung. Klein sah Liu spöttisch an, betrachtete seine Blessuren und wandte verächtlich den Blick ab.

Sie gingen im Dunkeln vorsichtig weiter. »Was ist so Besonderes an ihm?«

»Er war der beste Sabatier-Ofen-Ingenieur seiner Kolonie«, flüsterte Liu. »Das ist ein Teil des Wiederaufbereitungssystems – kennst du, oder? Er hat ihn so modifiziert, dass niemand anders mehr mit diesen Systemen umgehen konnte. Er war ein verdammter Wasserkönig. Kein Wunder, dass sie ihn weggeschafft haben. Und es sieht so aus, als würde er alles daransetzen, die Dinge hier auf dieselbe Weise in den Griff zu kriegen.«

»Ein Wasserkönig.« Yuri grinste. »Bis es regnet, stimmt’s?«

Liu sah ihn sonderbar an.

»Yuri!«, zischte jemand. »Hey, Yuri! Hier drüben!« Eine magere Gestalt watschelte eilig eine Reihe entlang und machte zwei Plätze frei. Die Leute dahinter protestierten leise.

»Lemmy?« Es war die erste bekannte Stimme, die er hörte, seit er in diesem Gefängnis aufgewacht war. Yuri setzte sich neben ihn, gefolgt von Liu.

»Endlich wach, hm?« Lemmys Flüstern war weich und geübt. »Tollemache, dieser Scheißkerl, hat dir wirklich eine volle Ladung verpasst, was? Tja, er hat gekriegt, was er verdient.«

Yuri versuchte, aus seinen Worten schlau zu werden. Lemmy Pink, neunzehn Jahre alt, war der einzige halbwegs echte Freund gewesen, den Yuri auf dem Mars gefunden hatte. Selbst wenn Lemmy nur Schutz suchte.

Yuris letzte Erinnerung an den Mars war, dass er und Lemmy aus ihrer Kuppel ausgebrochen waren. Yuri hatte einfach rausgemusst. Jedes Atom in seinem Körper lechzte danach, draußen auf dem Marsboden zu sein, auch wenn es nur eine gefrorene, von ultravioletter Strahlung bombardierte Wüste sein mochte. Beim Notfalltraining hatte er den Umgang mit dem Raumanzug und der Luftschleuse gelernt, aber er war noch nie draußen gewesen. Er hatte es kaum je geschafft, aus einem Fenster zu schauen. Also hatten sie einen Rover gestohlen, waren zu den Hügeln gerast, einem lokalen Gebilde namens »das Chaos« – waren mit dem Fahrzeug umgekippt und von den Friedenshütern aufgelesen worden. Er erinnerte sich an Tollemache. Du bist der Eisjunge, stimmt’s? Eine ewige Nervensäge, seit sie dich aufgetaut haben. Na, du wirst nicht viel länger mein Problem sein. Und dann hatte er mit einer behandschuhten Faust eine Nadel in Yuris Hals gestoßen, und das rotbraune Marslicht war in sich zusammengeschrumpft …

Und er war in diesem Tank aufgewacht.

»Was meinst du damit, er hat gekriegt, was er verdient?«

»Er ist auch hier. Im Zylinder. Ha! Der hat sein Fett weg, das kannst du mir glauben. Aber nur, weil er uns nicht davon abgehalten hat, diesen Rover zu klauen, nicht wegen dem, was er dir angetan hat.«

Yuri boxte ihm spielerisch gegen den Arm. »Freut mich, dass sie dich auch nach Hause geschickt haben, Mann.«

Lemmy zuckte zurück. »Fass mich nicht an. Ich hab all diese verfluchten Schnupfenviren im Leib, die in diesem Sarg umgehen, typisch für mich, dass ich die alle kriege.«

»Was ist mit Krafft?« Lemmys zahme Ratte in der Kuppel.

Lemmy machte ein langes Gesicht. »Haben sie mir weggenommen. War ja nicht anders zu erwarten.«

»Tut mir leid.«

Sie störten den Astronauten bei seinem Vortrag. Mardina Jones war direkt hinter ihnen, ihre Stimme ein strenges Gemurmel. »Wenn ihr beiden Arschgesichter nicht endlich die Klappe haltet und Major McGregor zuhört, verpasse ich euch eine Disziplinarstrafe.«

Sie verstummten. Doch als sie sich zurückzog, starrte Lemmy Yuri im Halbdunkel an. »Was hast du da gerade gesagt?«

»Was? Das mit der Ratte?«

»Nein … dass sie uns nach Hause geschickt hätten oder so.«

»Keine Ahnung, Mann. Ich weiß nicht, ob ich schlafe oder wach bin.« Aber Lemmy starrte ihn weiterhin an.

Desorientiert, verwirrt, abgelenkt vom Lärm der Menschen nur einen halben Meter hinter der Trennwand, schaute Yuri zu dem Astronauten am Rednerpult in seiner glitzernden nachtschwarzen Uniform hinauf. Auf dem Mars hatte jeder die Astronauten gehasst, weil sie turnusmäßig abgelöst wurden; sie durften wieder nach Hause. Yuri versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was er sagte.

»Schon ein einziges Pixel dieser sehr frühen Bilder der neuen Welt verriet den Astronomen eine Menge. Die Spektralanalyse zeigte, dass sie eine Atmosphäre mit freiem Sauerstoff, Methan und Distickstoffmonoxid besitzt.«

Major McGregor, vielleicht Ende zwanzig, war hochgewachsen, aufrecht und peitschendünn, aber athletisch. Im Licht der Bilder, die er zeigte, lag ein gesunder Schimmer auf seinen Wangen. Er hatte einen geleckten Angleterre-Akzent, und sein Haar – blond, gebürstet, geölt – sah aus, als würde ihm mehr Fürsorge zuteil als den meisten Menschen in dieser Einrichtung.

»Sauerstoff, was sagt man dazu! Auf einmal hatten wir eine bewohnbare Welt, direkt vor unserer Haustür. Sie alle kennen ja aus eigener Anschauung die Kolonien auf dem Mars und dem Mond – trostlose, ungastliche Welten, und doch das Beste, was das Sonnensystem zu bieten hat. Und jetzt plötzlich das.

Im Lauf der Zeit haben uns Schwankungen der Helligkeit und des Spektralgehalts etwas über die Verteilung von Kontinenten und Meeren erzählt. Subtilere Schwankungen spiegelten offenbar sich verändernde Wetterverhältnisse wider. Und nicht nur das: Die Existenz von Sauerstoff ist ein starker Indikator für Leben, das heißt für einheimisches Leben, denn etwas muss all diesen Sauerstoff in die Luft bringen.« Er zeigte ihnen Schaubilder mit Schlängellinien. »Diese auffällige Besonderheit im roten Teil des Spektrums deutete auf das Vorhandensein von so etwas wie unserem Chlorophyll hin, einem Pigment, das Licht erntet. Und all das lässt sich aus der Betrachtung eines einzigen Lichtpunkts ableiten …«

Yuri hatte keine Ahnung, wovon er redete. Aber seit er auf dem Mars aufgeweckt worden war, hatte er so gut wie nie gewusst, was um ihn herum vorging, und es schien keinen wesentlichen Unterschied zu machen.

Ihm war bewusst, dass Klein, dieser Höhlenmensch, ihn beobachtete. Während der Astronaut weiter seinen Text hinunterleierte, begann er darüber nachzudenken, wie er damit umgehen sollte.

Doch Lemmy starrte ihn immer noch an, als ginge ihm gerade ein Licht auf. »Niemand hat es dir gesagt. Mein Gott.«

»Niemand hat mir was gesagt?«

Gustave Klein schien einen Instinkt für Ärger zu haben. Er beugte sich vor. »Was ist los?«

Lemmy ignorierte ihn. »Du hast gesagt, du wärst nach Hause geschickt worden oder so. Jetzt hab ich’s endlich kapiert. Du denkst, das hier sei die Heimat, stimmt’s? Du denkst, das sei …«

»Die Erde?«, fragte Liu Tao jetzt erstaunt, während er Yuri anstarrte.

Klein stand auf. »Was denkt er? Was für ein Arschloch …«

Das Auditorium geriet in Auflösung, die »Studenten« drehten sich auf ihren Plätzen, um zu sehen, was der ganze Wirbel sollte. Major McGregor verstummte endlich und blieb mit verärgertem Stirnrunzeln vor seinen Spektrogrammen stehen.

Mardina Jones kam erneut von hinten herbeigeeilt und tippte sich dabei an eine Epaulette auf ihrer Schulter. »Friedenshüter auf Ebene drei, Hörsaal … Was ist hier los? Hat das was mit dir zu tun, Eden?«

Yuri stand mit ausgebreiteten Händen auf, antwortete aber nicht. Er hatte schon längst gelernt, dass Antworten normalerweise sinnlos waren, sie änderten nichts daran, wie er behandelt wurde. Aber er fühlte sich umzingelt von den Astronauten und den Kursteilnehmern, die grinsend zur Kenntnis nahmen, dass jemand anders Ärger bekam. Selbst Lemmy starrte ihn an.

Und Gustave Klein war wie ein bösartiger Puppenspieler. »Er weiß es nicht! Du hast recht, du Zwerg«, sagte er zu Lemmy. Trotz seines deutsch klingenden Namens hatte er einen starken hispanischen Akzent. »Er hat nicht die leiseste Scheiß-Ahnung. Was für ein Witz.«

Nun kam Friedenshüter Tollemache in voller Uniform hereingeeilt, flankiert von zwei rangniedrigen Offizieren. Sie alle hielten Gummiknüppel in der Hand – aber keine Schusswaffen, wie Yuri in diesen ersten Augenblicken bemerkte.

»Du«, sagte Tollemache. »Der Eisjunge. Ich hätte es wissen müssen. Gerade mal fünf Minuten raus aus der Krankenstation, und schon gibt’s Ärger.« Er ließ seinen Gummiknüppel schwingen.

Yuri spannte sich an und machte Anstalten, auf ihn loszugehen.

Mardina Jones trat dazwischen. »Schluss damit! Das ist ein Befehl, Friedenshüter.«

»Sie haben keinen höheren Rang als ich.«

»O doch«, sagte sie kalt. »Sie kennen die Richtlinien. Legen Sie sich mit dem Kapitän an, wenn Sie möchten. Ich wollte Sie hier unten haben, um für Ordnung zu sorgen, nicht um noch mehr Schädel einzuschlagen. Und du – was immer du sonst bist, Yuri Eden, du bist gut darin, dir Feinde zu machen.«

Tollemache funkelte Yuri an, wich jedoch zurück. »Du bist der Grund, weshalb ich in diesem Scheißhaus bin, du kleiner Wichser.«

Yuri grinste. »Freut mich zu hören, Friedenshüter.«

Tollemache hielt seinem Blick noch eine Sekunde lang stand. Im Hintergrund saugte Gustave Klein den Konflikt mit spöttischem Grinsen in sich auf.

Mardina Jones wandte sich an Lemmy. »Du. Was soll das heißen: Er denkt, das hier sei die Heimat?«

»Überlegen Sie doch mal. Der Friedenshüter hat ihn ausgeschaltet, als er noch auf dem Mars war! Er hat rein gar nichts mitgekriegt, weder die Aushebung noch die Verladung und auch keine der Info-Veranstaltungen. Wenn man sie so nennen kann. Außerdem kommt er aus einer anderen Zeit. Das wissen Sie bestimmt. Ihm fehlt die Grundlage, um es zu verstehen.«

Mardina runzelte die Stirn und schaute auf ihre Tafel hinab; vielleicht hatte sie es nicht gewusst, dachte Yuri.

»Wir dachten alle, er wüsste, was los ist. Schätze ich mal. Dass er es sich zusammenreimen könnte. Aber …«

»Aber vielleicht auch nicht.« Jetzt gesellte sich auch Major McGregor zu der kleinen Gruppe. Er musterte Yuri mit belustigtem Interesse. »Ich habe schon von Ihnen gehört. Ich wusste, dass wir so jemanden an Bord haben, einen Kalten Hund. Ein Überlebender der Heldengeneration, hm? Und jetzt sind Sie hier, und so verwirrt. Wie komisch.« Offenbar aus einem spontanen Impuls heraus fügte er hinzu: »Folgen Sie mir, Mr. Eden. Nehmen Sie Ihren kleinen Bettwärmer mit, wenn Sie wollen. Sie kommen besser auch mit, Lieutenant. Und Sie, Friedenshüter, sofern Sie sich beherrschen können. Nur falls die Sache aus dem Ruder läuft.«

»Wohin bringen Sie ihn?«, fragte Mardina.

McGregor grinste und zeigte nach oben. »Was meinen Sie wohl? Das wird ein faszinierendes Experiment. Kommen Sie mit.«

3

McGregor führte die kleine Gruppe vom Vortragsbereich zur Wendeltreppe, die sich an der Wand des Turms entlang nach oben schraubte. Er schaute sich zu Yuri um, der unmittelbar hinter ihm kam. »Wir haben zwei von diesen Habitat-Modulen, Seite an Seite und fest miteinander verbunden, der Redundanz wegen, verstehen Sie … Sie müssen mir sagen, wie Sie das Ganze finden. Von der Größe her orientieren sie sich an der ersten Stufe der alten Saturn-V-Mondrakete, aus nostalgischen Gründen, nehme ich an. Natürlich hat vieles von dem, was wir tun, ebenso symbolische wie praktische Bedeutung.«

Am oberen Ende des Turms befand sich ein Kuppeldach. Sie stiegen hindurch und gelangten schließlich in eine Art Kontrollraum mit einem zentralen, momentan leeren Kommandosessel, etlichen Reihen hell leuchtender Bildschirme und einer weiteren, mitternachtsdunklen Kuppel über ihren Köpfen. Entlang der Wände saßen Männer und Frauen in Astronautenuniformen an Terminals. Ein oder zwei von ihnen schauten sich stirnrunzelnd zu McGregor und seinem Gefolge um, voller Missbilligung über diesen Einfall ins Allerheiligste der Kommandozentrale.

McGregor musterte Yuri belustigt. »Was denken Sie jetzt, wo Sie sind?«

Yuri hob gleichgültig die Schultern, obwohl eine tief sitzende Angst an seinem Magen nagte.

»Immer langsam, Lex«, sagte Mardina leise.

»Nein, wirklich. Sagen Sie’s mir. Na los, Mann, machen Sie den Mund auf.«

»Ganz oben im Turm.«

McGregor dachte darüber nach. »Ja, das ist richtig. In gewissem Sinn. Jedenfalls unter dem Wahrnehmungsaspekt, in Anbetracht des Vektors der vom Schub erzeugten Schwerkraft. Aber das ist noch nicht alles.« Er klatschte in die Hände. »Licht aus.« Die Wandlampen erloschen rasch. »Schauen Sie einfach nach oben. Lassen Sie sich einen Moment Zeit, bis Ihre Augen sich angepasst haben.«

Yuri gehorchte. Langsam kamen die Sterne über der Kuppel zum Vorschein, ein leuchtendes Feld, wie nachts in der Marswüste. Direkt über ihm war ein besonders auffälliger Haufen.

»Was sehen Sie?«

»Sterne. Na und? Es ist eine wolkenlose Nacht.«

»Eine ›wolkenlose Nacht‹. Was glauben Sie denn, wo Sie sind?«

Yuri zuckte die Achseln. »An irgendeinem Ort, wo es einen schönen Himmel gibt. Arizona.« Er erinnerte sich undeutlich an eine hoch gelegene Sternwarte mit großen astronomischen Teleskopen. »Chile?«

»Chile. Was Sie da sehen, ist eine Simulation, müssen Sie wissen, eine Live-Übertragung von Kameras, die auf dem ISM-Schild montiert sind.«

»ISM?«

»Interstellare Materie.« McGregor klatschte erneut in die Hände. »VR-Sternenfeld, Rundumsicht.«

Die Wände und der Boden des Decks schimmerten und zerflossen. Es war, als stünde Yuri zusammen mit McGregor, Lemmy, Mardina Jones, Tollemache, Liu Tao und der Handvoll Leute an ihren Bildschirmen auf einem Glasboden. Und überall um sich herum, über und unter sich sah er Sterne. Ein besonders helles Exemplar leuchtete genau unter seinen Füßen.

McGregor grinste im Licht der Sterne und der Bildschirme. »Na, was sehen Sie jetzt? Wo ist die Erde? Wo ist der Planet, auf dem Sie zu stehen glaubten? Wo ist die Erde, Yuri Eden?«

Das Universum war so nah um ihn herum, dass Yuri spürte, wie ihm schwindlig wurde, als verlöre er wegen seines gestörten Flüssigkeitshaushalts erneut das Bewusstsein.

McGregor zeigte nach unten. »Dort. In dieser Lichtpfütze da unten. Das ist die Sonne. Wir haben die Umlaufbahn um den Mars vor einem Monat verlassen. Jetzt sind wir …« – er warf einen Blick auf einen Bildschirm – »… zweihundertdreißig astronomische Einheiten von der Sonne entfernt. Also zweihundertdreißigmal so weit wie die Erde von der Sonne und ungefähr achtmal so weit wie Neptun – etwa einen Lichttag, wenn ich mich nicht irre. Sie sind sehr, sehr weit von der Erde entfernt, mein Freund.«

»Ein Schiff.« Es klang nicht wie seine eigene Stimme. »Das ist ein Schiff.«

»Nicht bloß irgendein Schiff. Es ist die Ad Astra. Und wir fliegen …« – er zeigte senkrecht nach oben, auf den Sternenhaufen im Zenit – »… dorthin.«

»Du bist auf einem Sternenschiff«, sagte Mardina Jones ruhig und gelassen und schaute Yuri in die Augen. »Unterwegs nach Proxima Centauri.«

»Proxima Centauri«, wiederholte Yuri dumpf. Der Name sagte ihm nichts.

»Yuri Eden, dies ist das Schiff Ad Astra der Internationalen Raumflotte der Vereinten Nationen. Zweihundert Kolonisten, in zwei Zylindern wie diesem. Ein Kernel-Triebwerk treibt uns mit der konstanten Beschleunigung von einem g an. Dieses Schiff ist wie der Jumbo, der Sie zum Mars gebracht hat. Aber daran erinnern Sie sich natürlich nicht. Es sind etwas mehr als vier Lichtjahre bis Proxima. Wegen der Zeitdilatation werden wir drei Jahre und sieben Monate subjektive Zeit brauchen, um dorthin zu gelangen. Davon haben wir bereits einen Monat hinter uns …«

McGregor starrte ihn an, suchte nach einer Reaktion. »Was denken Sie gerade, Mann aus der Vergangenheit?«

Friedenshüter Tollemache war direkter. »Ha! Er denkt, was bin ich bloß für ein Wichser. Du hast gedacht, du wärst auf der Erde, was? Tja, du verdammter …«

Einen Stern konnte Yuri nicht schlagen, Tollemache aber schon. Er landete einen hübschen Treffer, bevor er ins Traumland befördert wurde, diesmal von Mardina Jones.

Es würden lange drei Jahre und sieben Monate werden.

Zweiter Teil

4

2155

Nicht viel mehr als ein Jahrzehnt, bevor Yuri Eden feststellte, dass er sich auf einem Sternenschiff befand, war ein Schiff namens International-One, das als Erstes die neue Kernel-Antriebstechnologie der Ad Astra vorführte, vom Planeten Merkur aus zu seinem Jungfernflug gestartet. Lex McGregor, damals siebzehn Jahre alt und Kadett der Internationalen Raumflotte, war bei jenem Flug dabei gewesen.

Und dank McGregor war Stephanie Penelope Kalinski, damals elf Jahre alt, zum ersten Mal dem Sternenschiff ihres Vaters begegnet, das auf einer ganz anderen Technologie beruhte.

Als Stef mit ihrem Vater an Bord eines UN-UEI-Linienschiffs die lange, langsame, antriebslose Reise auf der Flugbahn von der Erde nach innen Richtung Sonne antrat, kam es ihr seltsam vor, dass nicht nur ein, sondern zwei neue Schiffstypen – die International-One und die Angelia – gleichzeitig an einem solch unattraktiven Ort wie dem Merkur starten sollten.

Ihr Vater verdrehte nur die Augen. »Pech für mich. Oder für die Menschheit. Wenn ich Verschwörungstheoretiker wäre, hätte ich den Verdacht, dass diese verdammten Kernels unter der Kruste des Merkurs deponiert worden sind, damit wir sie jetzt finden, wo wir uns gerade von den Torheiten der Heldengeneration erholen und aus eigenen Kräften nach den Sternen greifen …«

Stef hatte keine allzu genaue Vorstellung davon, was ein »Kernel« war. Aber sie interessierte sich für das alles, für die verschiedenen Schiffstypen, die experimentelle Technik, die sie in den Labors ihres Vaters daheim am Rand von Seattle gesehen hatte, die Gerüchte, dass diese energiereichen Kernels aus Bergwerken auf dem Merkur stammten … Sie wusste, dass es sich bei der International-One nur um so etwas wie ein zum interplanetarischen Flug fähiges Vorführmodell für die Technologie handelte, während das Schiff ihres Vaters, wenn auch unbemannt, zu den Sternen fliegen würde, die erste echte interstellare Expedition, seit Dexter Cole vor Jahrzehnten zu seiner außergewöhnlichen Reise aufgebrochen war. Aber sie hatte Andeutungen gehört, dass diese auf dem Merkur gefundenen Kernels, von denen die I-One mit Energie versorgt werden würde, in Wahrheit viel exotischer waren als alles, woran ihr Vater arbeitete.

Solche Sachen erregten immer ihre Aufmerksamkeit. Sie machte sich gut in der Schule, erreichte hohe Punktzahlen in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern, bei den deduktiven Fähigkeiten, aber auch bei körperlicher Leistungsfähigkeit und Führungsqualitäten. Paradoxerweise war ihr Vater erfreut gewesen, als die Schule warnend darauf hingewiesen hatte, dass sie zur Introvertiertheit neigte. »Alle großen Wissenschaftler sind introvertiert«, hatte er gesagt. »Alle großen Ingenieure übrigens auch. Das Kennzeichen eines starken, unabhängigen Geistes.« Stef interessierte sich jedoch stets weniger für sich selbst als für all die Dinge, die außerhalb ihres Kopfes vor sich gingen. Die interplanetarische Mission der I-One war bei Weitem nicht so ehrgeizig wie die der Angelia, aber die I-One verfügte über die heiße Technologie. Stef interessierte sich nicht nur dafür. Sie war fasziniert davon.

Der Flug von der Erde zum Merkur gefiel ihr jedoch nicht besonders. Stef hatte das Flugprofil verfolgt, während ihr Schiff immer tiefer ins Herz des Sonnensystems sank, immer näher an das zentrale Feuer herankam, und allmählich befielen sie seltsame klaustrophobische Anwandlungen. Anscheinend hatten die von den Vereinten Nationen geführten Länder und China, die bereits die Erde unter sich aufgeteilt hatten, auch das Sonnensystem aufgeteilt, aber China beherrschte alles von der Erdumlaufbahn auswärts, vom Mars und den Asteroiden bis hin zu den Jupitermonden. Wenn man vom beengten Zentrum des Systems nach draußen schaute, schien China die bessere Hälfte abbekommen zu haben, fand Stef, mit diesen geräumigen äußeren Regionen, den Familien kalter Welten, die wie Laternen im Dunkeln hingen.

Auf dem Merkur landeten sie bei einem großen Konstruktionskomplex in einem Krater namens Yeats. Dieser lag unweit des Äquators, sodass die große, bedrohlich nahe Sonne während des Planetentages hoch am Himmel stand und das Licht und die Energie für die quadratkilometergroßen Solaranlagen herabströmen ließ, die den größten Teil des Kraterbodens wie ein Teppich bedeckten.

Die Schwerkraft war um knapp zwei Drittel geringer als zu Hause, und in den hohen Kuppeln, die so groß dimensioniert waren, dass sie die Industrieanlagen beherbergen konnten, die hier später einmal entstehen sollten, konnte man herumlaufen, herumhüpfen und alle möglichen Weitsprungrekorde brechen. Das war interessant und amüsant.

Doch für Stef verblassten die Reize des Merkurs rasch. Draußen war es so heiß, dass man Blei hätte schmelzen können, jedenfalls zur lokalen Mittagszeit. Bei ihrer Ankunft war es in diesem Teil des Merkurs Morgen gewesen, und da der »Tag« hier 176 Erdtage dauerte (eine eigentümliche Folge der langsamen Achsrotation des Planeten und seines kurzen Jahres – Stef hatte eine Weile gebraucht, um das herauszufinden), hing die große Sonne einfach nur einen Kuppeltag nach dem anderen tief am Himmel, und die langen Schatten bewegten sich kaum über den flachen, von Lava überzogenen Boden des Kraters. Letztendlich gab es auf dem Merkur nichts anderes als Felsgestein, und sie konnte nur in begrenztem Maße Interesse an Solarparks oder sogar an den monumentalen Pipeline-Systemen vortäuschen, die gebaut worden waren, um Wasser von den Eisvorräten im Permaschatten an den Polen des Planeten herbeizuschaffen.

Außerdem musste sie viel Zeit allein verbringen.

Ihr Vater steckte bis über beide Ohren in den abschließenden Tests und Simulationen für sein Sternenschiff, und Stef wusste aus langer Erfahrung, wann sie ihm aus dem Weg gehen musste. Als ihre Mutter noch gelebt hatte, war er genauso gewesen. Das Problem war, dass es hier, anders als zu Hause, niemanden gab, der deutlich weniger als dreimal so alt gewesen wäre wie Stef. Der Merkur war wie ein riesiges Bergwerk, das im großzügigen, Energie spendenden Licht der Sonne trieb, aber kein Ort, um Kinder großzuziehen, wie es schien; man arbeitete hier ein paar Jahre, verdiente sein Geld und flog wieder heim, um es auszugeben. Obwohl die virtuellen Einrichtungen genauso gut waren wie in Seattle, begann sie rasch, sich zu langweilen und sich einsam zu fühlen.

Es wurde ein bisschen besser, als weitere Leute auftauchten, die wegen der Starts von der Erde und vom Mond kamen.

Stef erkannte rasch, dass in Wirklichkeit zwei verschiedene Gruppen für die beiden separaten Projekte – die Angelia und die International-One – eintrafen. Beim Projekt ihres Vaters, der Angelia, ging es im Grunde um Wissenschaft: Es war eine einmalige unbemannte Mission nach Proxima Centauri mit dem Ziel, dort eine Sonde zur Untersuchung der bewohnbaren Welt abzusetzen, die, wie die Astronomen vor fünfzig Jahren entdeckt hatten, jenen fernen Stern umkreiste. Natürlich hatte man im Gefolge dieser Entdeckung bereits einen Menschen nach Proxima geschickt, einen Mann namens Dexter Cole, der schon Jahrzehnte vor Stefs Geburt gestartet war und seine Mission ohne Wiederkehr erst noch vollenden musste; die Angelia, die eine neue Generation der Technologie repräsentierte, würde ihn beinahe einholen. Die Menschenmenge, die sich versammelte, um den Start der Angelia mitzuerleben, bestand hauptsächlich aus Wissenschaftlern und Experimentalingenieuren, aber auch aus jenen Staats- und UN-Bürokraten, die das Projekt unterstützten. Es waren Männer und Frauen in glanzlosen Anzügen, die mehr Zeit damit verbrachten, sich über Sektgläser hinweg anzuschauen, als ihren Blick durchs Fenster auf den Merkur zu richten, eine völlig fremdartige Welt, wie es Stef schien.

Die International-One hingegen war das Projekt eines riesigen Industriekonglomerats namens Universal Engineering, Inc. – UEI. Dessen Boss, ein gedrungener, polternder, vierzigjähriger Australier namens Michael King, reiste mit einer viel exotischeren Entourage aus den Reihen der Reichen und Berühmten an. »Billionärsabenteurer«, wie ihr Vater sie abschätzig nannte.

Sogar ein paar Chinesen waren da, die als »Gäste« der UN und der UEI die großartigen Ereignisse »beobachten« sollten, die hier auf dem von den UN beherrschten Merkur stattfinden würden. Stef fand allerdings, dass es eine komische Art des »Beobachtens« war, wenn man sich rein gar nichts Wichtiges aus der Nähe ansehen durfte.

Bei Cocktailpartys und anderen Anlässen musste sie an der Seite ihres Vaters erscheinen. Vom Billionärsklub war Michael King der Einzige, der irgendein Interesse an ihr persönlich zeigte, statt sie als eine Art Anhängsel ihres Vaters zu behandeln. Als ihr Vater sie vorstellte, beugte sich King onkelhaft herunter – der Champagner in seinem Glas schwappte in der niedrigen Schwerkraft hin und her – und schaute ihr ins Gesicht. »Gute, klare Augen. Unerschrockener Blick. Neugier. Das gefällt mir. Du wirst es weit bringen. Kommst du in der Schule gut mit, Stephanie?«

»Stef. Ja, ich glaube schon. Ich mag …«

»Was fehlt dir hier?«

»Was mir fehlt?«

»Du bist ein Kind von der Erde, das auf dem Merkur festsitzt. Was vermisst du am meisten? Was könnte ich dir jetzt sofort verkaufen?«

Sie überlegte. »Limo«, sagte sie. »Anständige Limonade. Hier ist sie zwar schön kalt, aber immer abgestanden. Genau wie auf dem Mond.«

»Ja. Dieser Champagner ist auch abgestanden.« King warf ihrem Vater einen Blick zu. »Hat das was mit der geringen Schwerkraft zu tun, George? Vielleicht macht der niedrige Luftdruck in den Kuppeln ja irgendwas mit der Kohlensäure? Limo. Ich werd’s mir merken und die Sache weiterverfolgen. Könnte sein, dass ich durch dich gerade eine weitere Million verdient habe, Kleine. Und, was hältst du von all dem hier?« Er schwenkte sein Glas zu den Leuten, die hin und her wogten, den Gesprächen, die hoch über Stefs Kopf stattfanden.

»Ich komme mir vor, als hätte ich mich in einem Wald aus sprechenden Bäumen verirrt.«

King lachte bellend. »Sehr gut! Ehrliche Antwort, und ein klares Bild. Geistreich obendrein. Hör zu. Ich weiß, du bist noch ein Kind – nichts für ungut. Aber du solltest aufpassen und lernen, so viel du kannst. Lehrbücher sind okay, aber Menschen in freier Wildbahn sind was anderes, und es sind die Menschen, mit denen du zusammenarbeiten musst, wenn du vorankommen willst.« Er hatte einen breiten australischen Akzent, und seine Ausdrucksweise war knapp, präzise und leicht verständlich. »Schau mich an. Ich komme aus armen Verhältnissen. Na ja, damals war in Australien jeder arm, wegen der Austrocknung. Anfangs habe ich mich als Strandräuber durchgeschlagen, da war ich nicht älter als du. Wir sind in die Wracks von Öltankern und Seewasser-Aufbereitungsanlagen rein, die absichtlich auf Strand gesetzt worden waren, und haben für ein paar UN-Dollar am Tag alles rausgeholt, was nicht niet- und nagelfest war.

Mit zwanzig bin ich dann zur UEI gegangen, habe eine Lehre als Programmierer gemacht, und nach zehn Jahren saß ich im Vorstand. Anfangs bestand unsere Arbeit hauptsächlich im Rückbau, wir haben schmutzige alte Atomreaktoren auseinandergenommen. Da waren wir natürlich schon nach Kanada übergesiedelt, also in die heutige nördliche USNA-Region, weil Australien zusammen mit Japan, den Ländern im fernen Osten und Teilen von Sibirien in den Verbund eingemeindet worden war, das chinesische Wirtschaftsimperium … Na ja, die Details spielen keine Rolle. Und jetzt werde ich hier ein neuartiges Raumschiff vorstellen. Was will man mehr? Und weißt du, wie ich so weit gekommen bin?«

»Menschen«, sagte sie aufgeweckt.

Er grinste ihren Vater an. »Sie haben wirklich ein kluges Kind, George. Genau – Menschen. Ich hatte Kontakte. Ich wusste, an welche Fachleute und an wen aus der Finanz- und Politikergemeinde auf nationaler, zonaler und UN-Ebene ich mich wenden musste, um die Sache gebacken zu kriegen. Diese Kontakte hatte ich nämlich über viele Jahre hinweg bei Veranstaltungen wie dieser gepflegt. Jetzt hast du die Chance, und es ist nie zu früh, damit anzufangen.«

Ihr Vater schnaubte. »Verschonen Sie mich damit, Michael. Ihr wichtigster Kontakt ist gar nicht menschlich.«

»Sie meinen Erdschein.«

»Oder einen seiner Kern-KI-Rivalen. Jeder weiß, dass die Ihre größten Geldgeber sind.« Ihr Vater ließ den Blick fast spielerisch über die Menge gleiten. »Er hat ein oder zwei Avatare hier, nicht wahr? Müssen wir aufpassen, was wir sagen?«

»Witzig, George, sehr witzig. Ich glaube nicht … oh, entschuldigen Sie mich. Sanjai! Hier drüben!«

Und das war’s. Er eilte davon, zu einer neuen Begegnung.

Stef kam zu dem Schluss, dass sie Michael King mochte, ob er nun wirklich von den sinistren alten Kern-KIs – Entitäten, die sie sich nicht einmal richtig vorstellen konnte – unterstützt wurde oder nicht. Ihr Vater mokierte sich darüber, dass King keinerlei akademische oder technische Qualifikationen besaß, aber seine Energie, seine konzentrierte Aufmerksamkeit, seine Vitalität zogen Stef an, und sie nahm sich vor, seinen Rat zu beherzigen.

Ein paar Kuppeltage später vergaß sie Michael King jedoch völlig, denn da trafen die Astronauten ein.

Sie waren die menschliche Besatzung von Kings neuem Schiff, der International-One.

Wenn sie durch einen Raum gingen, wandten sich ihnen alle Gesichter zu, wie Eisenspäne in einem Magnetfeld. Als wären sie Mitglieder des Königshauses wie King Harold von Nordbritannien, Medienstars oder Menschen wie die Ingenieure der Heldengeneration in deren Glanzzeit, sagte ihr Vater. Sie waren waschechte Weltraum-Pioniere, und sie trugen allesamt die Uniform der Internationalen Raumflotte der Vereinten Nationen, ein spektakuläres Pechschwarz, gesprenkelt von glitzernden Sternen.

Stefs Aufmerksamkeit galt insbesondere dem einzigen Mitglied der I-One-Crew, das nicht schon im fünften Lebensjahrzehnt war. Lex McGregor stammte aus Angleterre, dem Süden Britanniens – der unabhängige Norden hatte nichts zur IRF beigesteuert –, er war blond, ebenso hochgewachsen wie die anderen, aber erst siebzehn. Offenbar gehörte er nicht so richtig zur Crew; er war ein Kadett der Raumflotte, noch im Anfangsstadium seiner Ausbildung. Aber er hatte so gute Ansätze gezeigt, dass er aus irgendeinem internen Wettbewerb siegreich hervorgegangen war und nun als einziger Kadett am Jungfernflug der I-One teilnehmen durfte.

»Und dass er höllisch fotogen ist«, sagte Stef zu ihrem Vater, »hat ihm wahrscheinlich auch nicht gerade geschadet.«

Er lachte. »Viel zu zynisch für dein Alter. Aber vermutlich hast du recht. Sag nicht ›höllisch‹.«

»Entschuldige, Dad.«

So wie Lex für Stef diejenige Person war, die ihr altersmäßig am nächsten kam, galt das auch umgekehrt, und irgendwie fühlten sie sich zueinander hingezogen. Stef war erleichtert, dass er sie nicht wie ein verzogenes Kind behandelte. Er nannte sie »Kalinski«, als wäre sie selbst eine Kadettin.

Sie spielten alberne Spiele und veranstalteten selbst erfundene Sportwettkämpfe in den Kuppeln; er war gut darin, sich Regeln auszudenken, die ihm ein Handicap zuwiesen und ihr zumindest eine Chance auf den Sieg einräumten. Einer ihrer Lieblingswettkämpfe war der Dachlauf, bei dem man auf eine gekrümmte Kuppelwand zulief und hinaufrannte, die niedrigere Schwerkraft überwand und durch reine Zentrifugalkraft an der Wand klebte, bis man wieder herunterfiel und (theoretisch) nach einem langsamen Ein-Drittel-g-Purzelbaum mit den Füßen auf dem gepolsterten Boden landete. Das Trainingsprogramm eines Raumkadetten war ziemlich anstrengend, und sie nahm an, dass Lex noch Kind genug war, um mit Freuden Dampf abzulassen, ja sogar die Vorschriften ein wenig zu umgehen.

Wahrscheinlich war es deshalb Lex, der sie mit dem Sternenschiff ihres Vaters bekannt machte.

5

Es war ein Kuppelmorgen, nur ein paar Tage vor dem Start der I-One. Der Start der Angelia war für ein paar Kuppeltage später angesetzt. Paradoxerweise hatte Lex jetzt mehr Freizeit, weil die IRF-Verantwortlichen wollten, dass sich ihre Crew vor dem Stress der Mission entspannte.

Deshalb lud Lex Stef zu »einer EVA« ein, womit er einen Ausflug auf die Oberfläche des Merkurs meinte.

Sie trafen sich bei einem in die Kuppelwand eingelassenen Spind. Er grinste, als sie auftauchte. »Dachte schon, du würdest nicht kommen, Kalinski. Schienst nicht besonders scharf drauf zu sein.«

»Ich war auch auf dem Mond schon mal draußen. Was ist so Besonderes an einem Haufen Steine?«

Er zwinkerte ihr zu. »Hier ist das was anderes. Schau dir deinen Anzug an.« Er drückte auf einen Knopf.

Ein Wandsegment glitt beiseite und gab den Blick auf eine Reihe von Anzügen frei, die große Ähnlichkeit mit abgeworfenen Insektenhäuten hatten. Jeder besaß eine harte, silberne Schale, die den Rumpf, die Beine und die Arme bedeckte, einen nüchternen Helm mit golden getönter Sichtscheibe und Flügel, außerordentlich dünne Konstrukte, die aus Gelenken hinter den Schultern sprossen. Alle Anzüge waren mit diversen Markierungen – farbigen Streifen und Bändern – versehen, zweifellos zur Identifizierung ihres Trägers.

»Na, wie findest du die?«, fragte Lex.

»Hässlich.«

»Sind aber gar nicht so schlecht. Glaub mir, du wirst den Anzug nicht mal bemerken, sobald du dort draußen auf der Oberfläche bist. Ich wette, du errätst nicht, wozu die Flügel da sind.«

»Ist doch klar. Um Wärme abzustrahlen.«

»Sehr gut.« Er klang ehrlich beeindruckt. »Die meisten Leute in der Kuppel sagen: ›Zum Fliegen.‹ Dann halten sie plötzlich inne und sagen: ›Aber hier gibt’s ja gar keine Luft, also …‹«

»Ich weiß.« Stef seufzte, wie es ihr Vater immer tat. »Ist echt ermüdend.«

Er lachte. »Okay, Kalinski, hör auf mit dem Theater. Schau, es ist ganz einfach, den Anzug anzulegen, er schließt sich von selbst um dich und passt sich deinen Körperformen an. Zieh einfach die Schuhe aus …«

Sobald sie in dem Anzug steckte und durch eine massive Luftschleuse hinausgegangen war, bemerkte sie ihn erstaunlicherweise wirklich nicht mehr, jedenfalls nicht visuell. Der Anzug enthielt ein immersives VR-System; wenn sie nach unten schaute, war es, als stünde sie unter dem schwarzen Himmel des Merkurs in ihrer Alltagskleidung neben Lex auf einem Boden aus zerklüftetem Felsgestein. Die Sonne, mehr als doppelt so groß, wie man sie von der Erde aus sah, warf lange Schatten über eine mondähnliche Ebene. Versuchshalber bückte sie sich; sie kam sich ein wenig steif vor und konnte sich nicht ganz so gut beugen, wie sie es gewohnt war. Aber sie berührte ihre Zehen und hob einen losen Stein auf.

»Wie ist der Anzug?«

»Gut.« Sie untersuchte den Stein; ihre Finger schienen sich nicht ganz um ihn zu schließen. »Fühlt sich irgendwie … seifig an.« Sie warf den Stein, als wollte sie ihn über Wasser hüpfen lassen. Der Stein schoss davon; er fiel nicht so schnell wie auf der Erde, aber schneller als auf dem Mond. Beim Aufschlag machte er kein Geräusch; das gehörte nicht zur Simulation.

»Gehen wir ein Stück.« Mit lässigen Schritten marschierte Lex über die Oberfläche des Merkurs, begleitet von seinem langen Schatten. Seine Stimme klang, als käme sie von ihm statt aus Stöpseln in ihren Ohren. »Der Anzug sorgt dafür, dass dir nichts passiert.«

»Ich weiß.« Nur ältere Leute mussten bei so etwas beruhigt werden; Leute in Stefs Alter gingen einfach davon aus, dass die Technik funktionierte. Sie folgte ihm, passte aber auf, wohin sie trat. In diesem Kraterbecken war die Oberfläche glatter, als sie erwartet hatte; Staub überdeckte den von kleineren Einschlägen zernarbten Felsboden. Sie bewegte sich mühelos, kam sich jedoch ein bisschen schwer vor, als hätte sie zu viele Muskeln, wie nach einem Aufbautraining im Fitnessstudio. Der Anzug musste exoskelettale Verstärker besitzen.

Die Kuppeln der Yeats-Basis waren große Blasen, an deren Außenwänden man zum Schutz vor Meteoriten und der Sonnenstrahlung bis hoch oben Erdreich angehäuft hatte. Weiter draußen gab es Lagergebäude, Reserveanlagen für die Luft- und Wasseraufbereitung und staubige Rover auf Gleisen, die über den Boden des Kraters hinweg in die Ferne führten. Unweit der bewohnten Einrichtungen war die Randzone des Kraterbodens mit Solarzellen bedeckt, eine schimmernde, spiegelnde Fläche wie ein Teich aus geschmolzenem Silber, die sich kilometerweit erstreckte.

Und noch weiter draußen erspähte sie einige der Berge, die diese von einem Wall eingefasste Ebene wie abgebrochene, verfaulte Zähne umringten. Dort draußen standen größere Anlagen, mit blinkenden Warnlichtern gekennzeichnet und allesamt weit genug von den bewohnten Kuppeln entfernt, um die erforderlichen Sicherheitsabstände einzuhalten. Dort befanden sich auch der große, gehärtete Landeplatz, auf dem Schiffe wie ihre Fähre aus der Umlaufbahn heruntergekommen waren, Treibstoff- und Energiespeicher und eine lange, glänzende Nadel, der Massebeschleuniger, der Frachten mit von Sonnenenergie gespeistem Elektromagnetismus aus dem Schwerkraftschacht des Merkurs durchs Sonnensystem schleuderte. Im Schatten der Berge selbst sah sie die großen Gerüste des Bohrprojekts der UEI, die mehrere Hundert Kilometer tiefe Schächte durch Lavaschichten und von Einschlägen zernarbtes Grundgestein zum Rand des Eisenmantels trieben, wo die mysteriösen Kernels zu finden waren.

Und dort stand auch ein höheres Gerüst, eine schlanke Rakete, die sich in den Schatten kauerte: ein seltsamer Anblick für Stef, wie etwas in einem Geschichtsbuch. Dies war das neueste Raumfahrzeug der Menschheit, die International-One, die darauf wartete, Lex und seine Crew in den Weltraum zu befördern.

Lex machte einen Schritt, stampfte auf den Boden und wirbelte dabei kleine Staubwolken auf, die rasch wieder herabsanken. »Es ist eine interessante kleine Welt.«

»Das sagst du.«

Er lachte. »Nein, ehrlich. Sie hat nur oberflächliche Ähnlichkeit mit dem Mond. Schau dir diese Bohrtürme da drüben an. Hier braucht man nur ein paar Hundert Kilometer tief zu bohren, bis man den Mantel erreicht. Auf der Erde müsste man beispielsweise zehnmal so tief hinunter. Weißt du, warum das so ist?«

»Natürlich weiß ich das …«

Wie ihr Vater hörte auch er nicht immer zu, bevor er ihr Vorträge hielt. »Weil eine gewaltige Explosion oder vielleicht auch ein gewaltiger Einschlag auf dem jungen Merkur, so glauben wir, den größten Teil der Gesteinskruste weggesprengt hat.«

Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie hier stand, während dieser gewaltige Einschlag stattfand. Aber es gelang ihr nicht. »Was ich wissen möchte, ist: Hat das alles irgendwas mit der Entstehung der Kernels zu tun, die man hier gefunden hat?«

»Gute Frage«, antwortete eine andere Stimme. »Niemand weiß es. Aber mir ist klar, weshalb du diese Frage stellst. Du bist Stephanie Kalinski, nicht wahr?«

Eine Frau kam von den Kuppeln her auf sie zu – groß, vielleicht ein bisschen stämmig, aber dennoch anmutig. Offenbar projizierte sie ein virtuelles Bild, denn sie schien normale Kleidung zu tragen: eine adrette blaue Jacke und Hose, fast wie eine Uniform, aber nicht so auffällig wie Lex’ IRF-Anzug. Sie schien um die dreißig zu sein, wirkte jedoch auf seltsame Weise alterslos, als wäre sie stark geschminkt. Ihr Akzent war neutral, vielleicht Ostküsten-Amerikanisch.

»Ich heiße Stef«, erwiderte sie automatisch. »Nicht Stephanie. Ich kenne Ihr Gesicht. Ich habe Ihr Bild in den Dossiers meines Vaters gesehen.«

»Natürlich«, sagte Lex grinsend. »Deshalb fand ich ja, ihr beiden solltet euch mal kennenlernen. Die beiden Töchter von Dr. Kalinski, sozusagen. Er wäre nämlich gar nicht auf die Idee gekommen, euch zusammenzubringen, stimmt’s?«

»Ich bin Angelia«, sagte die Frau.

Das verwirrte Stef. »Das ist der Name des Sternenschiffs. Angelia.«

»Ich weiß. Ich bin Angelia. Ich weiß, was du denkst. Dass ich ein PR-Gag bin. Ein Model, von deinem Vater engagiert als Personifizierung der …«

»Ist mir eigentlich piepegal«, sagte Stef abrupt.

Das überraschte Lex. »Du hast eine ungeduldige Ader, was, Kalinski?«

»Wenn jemand sich bewusst unklar ausdrückt, schon.«

»Tut mir leid«, sagte Angelia. »Das ist nicht meine Absicht. Wenn dein Vater dir das Missionskonzept erklärt hätte …«

»Du weißt von mir. Wieso?«

»Ich habe deinen Vater während unserer Zusammenarbeit kennengelernt. Und er spricht sehr viel von dir, Stef. Er ist sehr stolz auf dich.«

»Ich weiß«, blaffte Stef. Sie verspürte eine unbestimmte Eifersucht.

»Sei nett, Kalinski«, sagte Lex. »Jetzt musst du fragen: ›Was für ein Missionskonzept?‹«

»Ach, Lex, es interessiert mich nicht. Ist doch klar, dass diese Frau eine Projektion ist.« Aus einem spontanen Impuls heraus bückte sie sich, hob einen kleinen Stein auf, ein bei einem Einschlag abgesplittertes Stück Merkurfels, und warf ihn nach Angelia.

Angelia fing den Stein mühelos. »Keine Projektion. Und eigentlich auch kein Android.« Sie sah den Stein an, steckte ihn sich dann in den Mund und schluckte ihn hinunter. »Ich stecke nicht in einem Anzug wie den euren.«

»Du bist programmierbare Materie.«

»Richtig.« Angelia hob die linke Hand und sah zu, wie sie sich in ein Büschel winziger Sonnenblumen verwandelte, die ihre Köpfe zur tief stehenden Sonne drehten.

»Iiih«, sagte Lex. »Gruselig.«

»Tut mir leid.« Sie verwandelte die Blumen wieder in eine Hand und zeigte zum leeren Himmel hinauf. »Ich werde vom Mikrowellenstrahl des ausgedienten Sonnenenergie-Satelliten deines Vaters da oben in den interstellaren Raum geschossen. Ich bin die Nutzlast. Aber hier drin steckt ein Ich. In gewissem Sinn sogar eine Million Ichs. Eine ganze Schwesternschaft, alle in hohem Maße empfindungsfähig. Dein Vater wird dir das Missionskonzept bestimmt darlegen, Stef …«

»Aber das spielt keine Rolle.« Lex ging um Angelia herum und betrachtete sie. »Ob du empfindungsfähig bist oder nicht, meine ich. Du bist nicht menschlich. Wenn es darum geht, die Hand nach einer neuen Welt auszustrecken, kommt es auf echte, physische menschliche Präsenz an. Eine KI wie dich hinzuschicken zählt nicht. Deshalb sind die Kernel-Schiffe hier der entscheidende Durchbruch, denn sie können Menschen transportieren. Vielleicht sogar bis zu den Sternen – und zurück, anders als beim armen alten Dexter Cole.«