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Gibt es eine zweite Chance für die Liebe? In der längsten Nacht des Jahres verliert Jenny Majesky ihren gesamten Besitz in einem alles zerstörenden Feuer. Nur wenige Habseligkeiten kann sie aus der Asche retten. Ihr alter Freund Rourke McKnight eilt ihr zu Hilfe - und weckt damit Gefühle, die es zwischen ihnen nicht geben darf. Jenny zieht sich alleine in die kleine Holzhütte am See zurück. Hier, in der Stille und Einsamkeit der winterlichen Landschaft will sie endlich das Buch über ihre Familie schreiben. Dabei entdeckt sie unter ihren Habseligkeiten einen Schatz, dessen Herkunft ihr völlig rätselhaft ist. Gemeinsam mit Rourke macht sie sie daran, das Geheimnis zu ergründen. Es betrifft ihre verschwundene Mutter, ihren neu entdeckten Vater und einen Mann, der nicht zögern würde, sie für immer zum Schweigen zu bringen.
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Seitenzahl: 581
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich
Susan Wiggs
Das Geheimnis meiner Mutter
Roman
Aus dem Amerikanischen von
MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2011 by MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: The Winter Lodge
Copyright © 2007 by Susan Wiggs
erschienen bei: MIRA Books, Toronto
Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Stefanie Kruschandl
Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, Müchen; Corbis GmbH, Düsseldorf
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz /
Crystal Photography
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-117-1 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-116-4
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
In liebevoller Erinnerung an meine Großeltern,
DANKSAGUNGEN
Die Autorin dankt dem Beraterstab aus Port Orchard: Kate Breslin, Lois Dyer, Rose Marie Harris, P.H. Jough-Haan, Susan Plunkett, Sheila Rabe und Krysteen Seelen. Außerdem geht ein Dank an die Testküche von Bainbridge Island: Anjali Banerjee, Sheila Rabe, Suzanne Selfors und Elsa Watson. Wie immer Dankeschön an Meg Ruley und Annelise Robey von der Jane Rotrosen Agency und an Margaret O’Neill Marbury von MIRA Books.
Ein besonderer Dank an Joan Vassiliadis, Anna Osinski aus Warschau, Polen, Matt Haney, Polizeichef von Bainbridge Island, und an Ellen und Mike Loudon von den Bainbridge Bakers auf Bainbridge Island, Washington.
KOLACHES FÜR ANFÄNGER
Es ist lustig, wie viele Bäcker sich von Hefe einschüchtern lassen. Sie sehen sie als Zutat in einem Rezept aufgelistet und blättern schnell um. Dabei gibt es dafür gar keinen Grund.
Dieser spezielle Teig ist sehr gutmütig. Er ist elastisch, belastbar, und er erlaubt Ihnen, sich wie ein Profizu fühlen. Wie meine Großmutter Helen Majesky immer zu sagen pflegte: „Mit dem Backen ist es wie im Leben: Man weiß immer mehr, als man denkt.“
Ich habe alle Rezepte so übernommen, wie meine Großmutter sie mir beigebracht hat. Da viele noch aus Polen stammen und nicht jeder eine Waage hatte, sind die meisten Zutaten in Tassen angeben – denn eine Tasse gab es in jedem Haushalt. Suchen Sie sich zu Hause einfach eine Tasse aus, in die 200 Gramm Zucker passen, und machen Sie diese zu Ihrem ganz persönlichen Tassenmaß. Sie werden sehen, bald wollen Sie es gar nicht mehr anders haben.
Grundrezept Kolache
1 EL Zucker
2 Päckchen Trockenhefe
Tasse warmes Wasser
2 Tassen Milch
6 EL ungesalzene Butter
2 TL Salz
2 Eigelb, leicht aufgeschlagen
Tasse Zucker
6 Tassen Mehl
375 g Butter
Geben Sie die Hefe in einen Messbecher und streuen Sie einen EL Zucker darüber. Fügen Sie warmes Wasser hinzu. Wie warm? Die meisten Kochbücher sagen 40 – 45 Grad Celsius. Erfahrene Köche erkennen die richtige Temperatur, wenn sie sich ein paar Tropfen Wasser auf die Innenseite des Handgelenks tröpfeln. Anfänger sollten jedoch lieber ein Thermometer benutzen. Wenn das Wasser zu warm ist, tötet es die Aktivstoffe in der Hefe ab.
Erwärmen Sie die Milch in einem kleinen Topf. Fügen Sie die Butter hinzu und rühren Sie so lange, bis sie geschmolzen ist. Nehmen Sie den Topf vom Herd und lassen Sie ihn abkühlen, bis die Flüssigkeit lauwarm ist. Gießen Sie die Milch dann in eine große Rührschüssel. Fügen Sie Salz und Zucker hinzu und gießen Sie die geschlagenen Eigelbe in einem dünnen Strahl hinein, dabei kräftig rühren. Mischen Sie nun die Hefemischung unter.
Rollen Sie die Ärmel hoch und fügen Sie eine Tasse Mehl nach der anderen hinzu. Wenn der Teig zu schwer wird, um ihn mit dem Mixer zu rühren, nehmen Sie ihre Hände. Der Teig soll schön glänzend und klebrig werden. Fügen Sie weiter Mehl hinzu und kneten Sie, bis der Teig einen leichten Glanz annimmt. Geben Sie den Teigball in eine weitere geölte Rührschüssel und rollen ihn darin herum, bis er ganz von Öl bedeckt ist. Legen Sie ein feuchtes Küchenhandtuch über die Schüssel und stellen Sie diese an einen warmen, zugfreien Platz. Nach ungefähr einer Stunde hat der Teig seine Größe verdoppelt. Meine Großmutter steckte immer zwei bemehlte Fingerspitzen in die weiche Masse, und wenn die Dellen, die ihre Finger hinterlassen hatten, blieben, erklärte sie den Teig für fertig. Nun muss man ihn natürlich mit leichten Schlägen flach klopfen. Ein leises, seufzendes Geräusch und der warme Duft frischer Hefe zeigen an, dass der Teig bereit ist, sich zu ergeben.
Zwacken Sie eigroße Portionen ab und formen Sie sie zu Kugeln. Legen Sie sie mit etwas Abstand auf einem Backpapier aus. Lassen Sie sie erneut für 15 Minuten gehen und drücken Sie dann mit Ihrem Daumen ein tiefes Loch in jede Kugel. Hier kommt die Fruchtfüllung hinein. Welche Füllung die richtige ist, darüber werden seit Jahrhunderten endlose Debatten unter den polnischen Bäckern geführt. Meine Großmutter hat sich daran jedoch nie beteiligt. „Nimm, was gut schmeckt“ war ihr Motto. Einen Löffel Himbeermarmelade, Pfirsichkompott, Feigenkonfitüre, Pflaumenmus …
Jetzt mischen Sie Tasse geschmolzene Butter mit einer Tasse Zucker, Tasse Mehl und einem Teelöffel Zimt. Streuen Sie diese Mischung über die Kolaches. Stellen Sie das Blech noch einmal an einen warmen Ort – vielleicht über den Kühlschrank – und erlauben Sie dem Teig, sich noch einmal zu verdoppeln; das dauert ungefähr 45 bis 60 Minuten. In der Zwischenzeit heizen Sie den Ofen auf 190 °C vor. Backen Sie die Kolaches auf mittlerer Schiene in 20 – 40 Minuten goldbraun. Achten Sie besonders auf die Unterseiten, die schnell verbrennen, wenn sie zu nah an der Hitzequelle sind.
Nehmen Sie die Kolaches aus dem Ofen, pinseln sie sie mit geschmolzener Butter ein und nehmen Sie sie zum Abkühlen vom Blech. Dieses Rezept ergibt ungefähr drei Dutzend Kolaches.
Meine Großmutter hat mir immer gesagt, ich soll mir keine Gedanken darüber machen, wie zeitaufwendig der Vorgang ist. Backen ist ein Akt der Liebe, und wen kümmert es schon, wie lange Liebe dauert?
Jenny Majesky stand von ihrem Schreibtisch auf, streckte sich und massierte eine verspannte Stelle im unteren Rücken. Irgendetwas – vielleicht die tief greifende Stille des leeren Hauses – hatte sie um drei Uhr nachts geweckt. Einmal wach, hatte sie nicht wieder einschlafen können. In ihrem abgewetzten Bademantel und den flauschigen Hausschuhen hatte sie sich an ihren Laptop gesetzt und eine Weile an ihrer Zeitungskolumne gearbeitet. Im Moment ging es mit dem Schreiben allerdings nicht wesentlich besser als mit dem Schlafen.
Es gab so viel, was sie sagen wollte, so viele Geschichten zu erzählen, aber wie sollte sie es schaffen, die Erinnerungen und Küchenweisheiten eines ganzen Lebens in eine wöchentliche Kolumne zu pressen?
Andererseits hatte sie immer schon mehr schreiben wollen als nur eine Kolumne. Viel mehr. Sie erkannte, dass das Universum ihr langsam, aber sicher alle Entschuldigungen nahm. Sie sollte sich wirklich daranmachen, das Buch zu schreiben.
Wie jeder gute Autor versuchte Jenny, Zeit zu schinden. Träge nahm sie den Ehering ihrer Großmutter in die Hand, der in einem kleinen Porzellanschälchen auf dem Tisch gelegen hatte. Sie hatte noch nicht entschieden, was sie mit dem schmalen Goldreif tun wollte, den Helen Majesky fünfzig Jahre ihrer Ehe und weitere zehn Jahre ihrer Witwenschaft getragen hatte. Wenn sie backte, hatte Gran den Ring immer in ihre Schürzentasche gesteckt. Es war ein Wunder, dass sie ihn nie verloren hatte. Dennoch hatte Jenny ihr versprechen müssen, ihn nicht mit ihr zu begraben.
Sie drehte den Ring um die Spitze ihres Ringfingers und stellte sich die Hände ihrer Großmutter vor, wie sie fest und kräftig einen Teig kneteten oder leicht und sanft die Wange ihrer Enkelin streichelten oder ihre Stirn berührten, um zu sehen, ob sie Fieber hatte.
Jenny schob den Ring auf ihren Finger und ballte die Hand zu einer Faust. Sie hatte einen eigenen Ehering, den sie in einem Anflug von leichtfertiger Hoffnung angenommen, aber nie getragen hatte. Er lag nun ganz unten in einer Schublade, die Jenny nie öffnete.
Es war schwer, in dieser samtschwarzen Stunde nicht all ihre Verluste aufzuzählen – ihre Mutter, die sie verlassen hatte, als Jenny noch ganz klein gewesen war. Dann Jennys Großvater und schließlich der vielleicht wichtigste Mensch in ihrem Leben, ihre Granny.
Erst wenige Wochen waren vergangen, seitdem Jenny ihre Großmutter zur letzten Ruhe gebettet hatte. Die anfängliche Flutwelle an Beileidsanrufen und Besuchen war abgeebbt, und Jenny fühlte es bis in ihre Knochen: Sie war wirklich allein. Ja, sie hatte Freunde, die sich um sie sorgten, und Mitarbeiter, die wie eine Familie für sie waren. Aber ihr fehlte die ständige Präsenz ihrer Großmutter, die sie wie eine Tochter aufgezogen hatte.
Aus Gewohnheit sicherte sie ihre Arbeit auf dem Laptop. Dann zog sie den Bademantel enger um sich herum und trat ans Fenster. Die Wange an die kalte Scheibe gedrückt, schaute sie in die Winternacht hinaus. Der Schnee hatte alle harten Ecken und Farben der Landschaft ausgelöscht. Mitten in der Nacht war die Maple Street vollkommen verlassen. Nur die einsam in der Mitte des Häuserblocks stehende Straßenlaterne warf ihr fahles gelbes Licht auf den Gehsteig. Jenny hatte ihr ganzes Leben hier verbracht. Unzählige Male hatte sie genau an dieser Stelle gestanden, darauf gewartet, dass … was? Dass sich irgendetwas änderte. Begann.
Sie stieß einen rastlosen Seufzer aus. Das Fenster beschlug von ihrem Atem. Das Schneegestöber hatte sich zu dicken Flocken gewandelt, die um das Licht der Straßenlaterne herumtanzten. Jenny liebte den Schnee, schon immer. Beim Blick auf die zugedeckte Landschaft konnte sie sich als Kind vor sich sehen, wie sie gemeinsam mit ihrem Großvater zum Schlittenhügel gestapft war. Sie war wortwörtlich in seine Fußstapfen getreten und von einem tiefen Stiefelabdruck in den nächsten gesprungen, wobei sie den leichten Plastikschlitten an einem Band hinter sich herzog.
Ihre Großeltern waren in jedem wichtigen Augenblick ihrer Kindheit bei ihr gewesen. Jetzt, wo sie fort waren, gab es niemanden, der die Erinnerungen mit ihr teilte, der sie anschaute und sagte: „Weißt du noch, wie du …“
Ihre Mutter war gegangen, als Jenny vier gewesen war. Ihr Vater war ein nahezu Fremder, den sie erst vor sechs Monaten kennengelernt hatte. Jenny nannte das Glück im Unglück. Von dem, was sie bisher über ihre biologischen Eltern erfahren hatte, wäre keiner von ihnen so gut gerüstet gewesen, ein Kind großzuziehen, wie es Helen und Leo Majesky gewesen waren.
Ein Geräusch – ein dumpfer Knall und dann ein Kratzen – riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie zusammenzucken. Sie neigte den Kopf, lauschte und entschied dann, dass es sich wohl um ein Schneebrett oder ein paar Eiszapfen gehandelt haben musste, die vom Dach gefallen waren. Man wusste nicht, wie leise ein Haus sein konnte, bis man ganz alleine darin war.
Seit ihre Großmutter gestorben war, wachte Jenny jede Nacht auf, den Kopf voller Erinnerungen, die darum bettelten, niedergeschrieben zu werden. Sie alle schienen aus der Küche zu strömen wie der Geruch von Grannys Backwaren. Jenny hatte ihr ganzes Leben lang Tagebuch geführt, und in den letzten Jahren hatte sich diese Angewohnheit von ihr zu einer regelmäßigen Kolumne für den Avalon Troubadour entwickelt. Es war eine Mischung aus Rezepten, Küchenkunde und Anekdoten. Seit Grannys Dahinscheiden konnte Jenny sich nicht mehr schnell bei ihr rückversichern oder sie wegen der Herkunft einer bestimmten Zutat oder einer Backtechnik befragen. Sie war nun auf sich allein gestellt, und sie hatte Angst, dass sie Dinge vergessen würde, wenn sie zu lang wartete.
Dieser Gedanke löste einen Aktionsdrang aus. Schon lange hatte sie vorgehabt, die alten Rezepte ihrer Großmutter abzuschreiben. Einige von ihnen waren noch auf Polnisch auf brüchigem gelben Papier geschrieben. Sie bewahrte die Rezepte in der Vorratskammer in einer verschlossenen Dose auf, die seit Jahren nicht geöffnet worden war. Ohne Rücksicht darauf, dass es halb vier Uhr in der Früh war, ging Jenny nach unten. Beim Betreten der Vorratskammer trat ihr ein schmerzhaft vertrauter Geruch in die Nase – der Geruch von Mehl und Körnern und den Gewürzen ihrer Großmutter. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich nach der metallenen Dose. Als sie sie vorsichtig vom Regal holte, verlor sie das Gleichgewicht und ließ die Dose fallen. Ihr Inhalt ergoss sich über ihre flauschigen Hausschuhe.
Sie stieß einen Fluch aus, der niemals über ihre Lippen gekommen wäre, solange Granny noch am Leben gewesen war, und zog sich dann vorsichtig auf Zehenspitzen zurück, um nicht auf eines der empfindlichen Dokumente zu treten. Jetzt würde sie eine Taschenlampe benötigen, weil es in der dunklen Speisekammer kein Licht gab. Sie fand die Lampe in einer Schublade, doch die Batterien waren leer und sie hatte auch keine neuen mehr im Haus. Sie überlegte, eine Kerze anzuzünden, entschied sich aber dagegen, weil sie keinen Unfall mit den alten Aufzeichnungen riskieren wollte. Mit einem Seufzer lehnte sie sich gegen die Arbeitsplatte in der Küche und verdrehte die Augen himmelwärts. „Tut mir leid, Granny“, sagte sie.
Ihr Blick landete auf dem Rauchmelder. Aha, dachte sie. Schnell zog sie einen Küchenstuhl darunter, stellte sich darauf, holte die beiden Batterien aus dem Gerät und steckte sie in die Taschenlampe.
Sie kehrte zur Speisekammer zurück und hob vorsichtig die Blätter auf, die wie trockenes Herbstlaub raschelten. Sie legte sie in die Dose zurück und trug sie in die Küche. Es waren alte Aufzeichnungen und Rezepte in der polnischen Muttersprache ihrer Großmutter. Auf der Rückseite eines vergilbten Blattes mit verknickten Ecken entdeckte sie eine Unterschrift in verblassender Tinte – Helenka Maciejewski stand dort wohl ein Dutzend Mal in der mädchenhaften Handschrift. Das war der Name ihrer Großmutter, bevor er anglisiert worden war. Sie musste das als junge Braut geschrieben haben.
Es gab Dinge, die ihre Großeltern betrafen, die Jenny nie erfahren würde. Wie war es für sie gewesen, als Frischverheiratete, die kaum ihre Kindheit hinter sich hatten, ihre Heimat zu verlassen, um eine halbe Welt entfernt ein neues Leben zu beginnen? Hatten sie Angst gehabt? Waren sie aufgeregt? Hatten sie miteinander gestritten oder sich aneinander festgehalten?
Sie schloss ihre Augen, als eine schon vertraute Welle der Panik in ihrem Magen losbrach, durch ihren Körper schoss und ihre Brust zusammendrückte. Diese Panikattacken waren ganz neu für Jenny. Eine schreckliche und unerwartete Entwicklung. Die Erste hatte sie im Krankenhaus überfallen, als sie wie erstarrt den ganzen Papierkram erledigt hatte, um den die nächsten Verwandten sich kümmern mussten. Sie hatte irgendein Formular unterzeichnet, als die Finger ihrer linken Hand mit einem Mal taub wurden und sie den Stift fallen ließ, um sich an die Kehle zu fassen.
„Ich kann nicht atmen“, hatte sie der Angestellten im Krankenhaus gesagt. „Ich glaube, ich habe einen Herzinfarkt.“
Der sie behandelnde Arzt, ein müde aussehender Einwohner von Tonawanda, war während der Untersuchung ruhig und mitfühlend gewesen und erklärte ihr im Anschluss ihren Zustand. Diese heftige Attacke war eine gar nicht mal so unübliche körperliche Reaktion auf ein emotionales Trauma. Die Symptome waren allerdings genauso real und Furcht einflößend wie bei einer echten Krankheit.
Seitdem waren Jenny diese Symptome nur zu vertraut geworden. Die praktische, nüchterne Jenny Majesky sollte sich nicht von etwas so Unkontrollierbarem und Irrationalem wie Panikattacken einschüchtern lassen. Und doch konnte sie nichts tun, als ein unangenehmes Gefühl in ihr aufstieg, wie eine Parade von Spinnen, die ihre Kehle hinaufkletterten. Ihr Herz schien sich in ihrer Brust auszuweiten.
Sie schaute sich hektisch um auf der Suche nach den Tabletten, die der Arzt ihr gegeben hatte. Sie hasste die Pillen beinahe so sehr wie die Panikanfälle. Warum konnte sie sie nicht einfach abschütteln? Warum konnte sie nicht ein paar tiefe Atemzüge nehmen und sich mit einer Tasse starkem Kaffee und dem Geschmack der mit Aprikosenmarmelade gefüllten Kolaches ihrer Großmutter beruhigen?
Zumindest wäre es eine Ablenkung. Der einzige Ort, wo sie um diese Uhrzeit mitten in der Nacht jemand anders finden konnte, der nicht schlief, war die Sky River Bakery, die 1952 von ihren Großeltern gegründet worden war. Helens Spezialität waren mit Marmeladen oder Frischkäse gefüllte Kolaches und Kuchen, die inzwischen weit über die Grenzen des Ortes hinaus bekannt waren. Sämtliche am Marktplatz liegenden Restaurants und Feinkostgeschäfte bestellten ihre Backwaren bei Helen und verkauften sie an die gut situierten Touristen, die im Sommer und Herbst nach Avalon kamen, um entweder der Hitze der Großstadt zu entfliehen oder das bunte Farbenspiel der Laubbäume zu bewundern.
Jetzt war Jenny die einzige Besitzerin der Bäckerei. Sie zog sich schnell an: lange Fleeceunterwäsche, karierte Bäckerhose und einen dicken Wollpullover, dazu warme Stiefel, eine Winterjacke und eine Mütze. Auf gar keinen Fall würde sie mit dem Auto fahren, bevor der Schneeräumdienst seine erste Runde gefahren war. Außerdem müsste sie erst die Auffahrt freischaufeln, bevor sie das Auto aus der Garage fahren könnte, und darauf hatte sie nun überhaupt keine Lust. Die Bäckerei lag nur sechs Häuserblocks entfernt, direkt am Hauptplatz in der Stadtmitte. In wenigen Minuten wäre sie zu Fuß da. Vielleicht würde die Anstrengung auch helfen, die Panik ein wenig in Schach zu halten.
Jetzt fiel ihr auch wieder ein, wo sie die Tabletten hingelegt hatte. Sie holte sie und steckte sie in die Jackentasche. Nur für den Notfall.
Dann schnappte sie sich ihre Handtasche und machte sich auf den Weg durch die gefrorene Stille. Es hatte aufgehört zu schneien, und die Wolken zogen davon und machten den Sternen Platz. Neuschnee quietschte unter ihren Schuhen, als sie der Strecke folgte, die sie kannte, seitdem sie ein kleines Mädchen gewesen war. Sie war in der Bäckerei aufgewachsen, umgeben von dem schweren Duft nach Brot und Gewürzen, den geschäftigen Geräuschen der Misch- und Rührmaschinen, klingelnden Küchenuhren und den rollenden Regalen, die nach draußen zum wartenden Lieferwagen geschoben wurden.
Eine einzige Lampe leuchtete über dem Hintereingang. Sie schloss die Tür auf und stapfte sich den Schnee von den Schuhen. Vor der blitzsauberen Schleuse, die in die Backstube führte, zog sie die Stiefel aus und schlüpfte in ihre Bäckereiclogs, die auf einem Regal vor der Tür standen.
„Ich bin’s“, rief sie und ließ den Blick durch die Backstube schweifen. Sie war so sauber wie immer. An einer Wand waren Zentnersäcke frisch gemahlenen Mehls säuberlich aufeinandergestapelt. Daneben standen Fünfhundertliterfässer Honig. Eine andere Wand wurde vom Boden bis zur Decke von einem Regal eingenommen, in dem spezielle Zutaten in durchsichtigen Plastikbehältern aufbewahrt wurden – Hirse, Pinienkerne, Oliven, Rosinen, Pekannüsse. Die Kühlschränke, Öfen und Arbeitsflächen aus Edelstahl schimmerten unter den Deckenlampen, und der reiche Duft von Zimt und Hefe erfüllte die Luft. Die Musik von „Three 6 Mafia“ dröhnte aus dem Radio, ein Hinweis darauf, dass Zach heute Frühschicht hatte. Zwischen den Hip-Hop-Beats konnte sie das Summen der Mischmaschine hören.
„Hey, Zach“, rief sie und reckte den Hals, um den Jungen zu finden.
Er kam aus dem Bereich, in dem die Teige angemischt wurden, und schob einen Wagen mit frischem rohen Teig vor sich her. Zach Alger ging in die Highschool und arbeitete bereits seit zwei Jahren nebenbei in der Bäckerei. Ihm schien das frühe Aufstehen und Arbeiten nichts auszumachen, und jeden Morgen machte er sich nach der Schicht mit einer Tüte frischer Backwaren auf den Weg in die Schule. Er war ein schlaksiger, gut aussehender Junge, dessen weißblonde Haare und blaue Augen seine nordische Herkunft verrieten.
„Stimmt was nicht?“, fragte er.
„Ich konnte nicht schlafen.“ Sie war ein wenig verlegen. „Ist Laura da?“
„Spezialbrote“, sagte er und machte sich dann wieder daran, die Wanne voller Teig in die Garkammer zu schieben.
Laura Tuttle arbeitete bereits seit dreißig Jahren in der Bäckerei. Davon fünfundzwanzig als Meisterin. Sie kannte das Geschäft sogar noch besser als Jenny. Sie behauptete immer, die frühen Morgenstunden zu lieben und dass dieser Arbeitsplan perfekt zu ihrer inneren Uhr passe. „Sieh einer an, wer da ist“, sagte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.
„Ich hatte Heißhunger auf eine Kolache.“ Jenny ging durch die Schwingtüren aus dickem Gummi in das Café, wo sie sich eine Tasse Kaffee eingoss und ein Gebäckstück vom Vortag aus der Auslage nahm. Dann kehrte sie in die Backstube zurück. Der Geschmack der Kolache breitete sich zwar vertraut auf ihrer Zunge aus, aber er konnte sie auch nicht beruhigen. Aus Gewohnheit nahm sie sich eine Schürze vom Haken.
Jenny arbeitete selten in der Backstube mit. Als Besitzerin und Managerin lagen ihre Aufgaben mehr im administrativen Bereich. Im oberen Stockwerk hatte sie ihr Büro mit Blick über den Marktplatz, und über den Monitor einer Sicherheitskamera konnte sie stets sehen, was im Café los war. Die meisten Tage verbrachte sie damit, sich mit Telefonhörer am Ohr und fest auf den Computer gerichtetem Blick um die Bedürfnisse der Angestellten, Lieferanten, Kunden und verschiedenen Ämter zu kümmern. Aber manchmal, dachte sie jetzt, muss man einfach die Ärmel aufrollen und etwas Handfestes tun. Es gab kein besseres Gefühl, als die Hände in einen warmen, seidigen Teig zu tauchen.
Sie zog sich die Schürze über den Kopf und gesellte sich zu Laura an die Arbeitsplatte. Die Spezialbrote wurden in kleineren Chargen hergestellt und von Hand geformt. Die heutige Auswahl würde aus einem traditionellen polnischen Brot mit Eiern, Orangenschale und Korinthen sowie einem von Laura erdachten Kräuterbrot bestehen. Sie und Laura arbeiteten Seite an Seite, kneteten und wogen Teig ab, obwohl sie das Gewicht aus Erfahrung auch so wussten.
Auf der anderen Seite des Raumes erblickte Jenny den gekühlten Tortenschrank, der mit Torten ihrer Großmutter gefüllt war. Technisch gesehen waren das natürlich nicht Helen Majeskys Torten. Aber die Originalrezepte für die luftige Zitronenrolle, die glänzende Drei-Beeren-Tarte mit Baisergitter, den cremigen Buttermilch-Käsekuchen und all die anderen Köstlichkeiten stammten von Helen und waren Jahrzehnte alt. Ihre Techniken waren von einem Bäckermeister zum nächsten weitergereicht worden, und sogar jetzt noch, nach ihrem Tod, suchte sie die Backstube so liebevoll und herzlich heim, wie sie es zu ihren Lebzeiten immer getan hatte.
Während sie den Teig zu dicken, runden Laiben formte, fühlte Jenny sich seltsam losgelöst von ihrem Körper. Sie schaute ihre weißen, mehlbedeckten Hände an und sah die Hände ihrer Großmutter, die den Teig in einem ruhigen Rhythmus kneteten, den Jenny von sich nicht kannte. Die Erkenntnis, dass ihre Granny tatsächlich von ihr gegangen war, setzte sich in ihrem Inneren fest. Es war drei Wochen, zwei Tage und vierzehn Stunden her. Jenny hasste es, so genau zu wissen, wie lange sie jetzt alleine war.
Laura arbeitete unermüdlich und legte jeden eingeölten Laib in eine Backform. Sie nickte im Rhythmus der Hip-Hop-Musik, die aus dem Radio tönte. Ihr schien Zachs Musikgeschmack zu gefallen, auch wenn Jenny annahm, dass Laura nicht allzu genau auf den Text hörte.
„Sie fehlt dir sehr, nicht wahr?“, fragte Laura. Sie war gut darin, die Gefühle und Gedanken anderer Menschen zu lesen.
„Ja, sehr“, gab Jenny zu. „Und ich dachte immer, ich wäre darauf vorbereitet. Ich weiß nicht, warum es mich so erschüttert. Ich bin nicht gut in solchen Dingen. Falsch, ich bin grottenschlecht darin. Schlecht darin, die Toten zu betrauern und alleine zu leben.“ Sie straffte ihre Schultern und versuchte, den Anfall von Panik und Melancholie abzuschütteln. Doch das gelang ihr nicht. Irgendwie hatte sie die Kontrolle verloren, und obwohl sie spürte, dass sie drauf und dran war zusammenzubrechen, konnte sie nichts dagegen tun. Das machte ihr Angst.
Irgendwo draußen heulte eine Sirene auf. Das Geräusch wurde lauter, klang verzweifelt, wie ein Schrei. Ein paar Hunde fielen heulend ein. Automatisch drehte Jenny sich um, um durch die Schwingtüren zu dem Fenster im noch dunklen Café zu schauen. Das Städtchen Avalon, New York, war klein genug, dass der Klang von Sirenen mitten in der Nacht noch Aufmerksamkeit erregte. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte sie dieses Geräusch das letzte Mal gehört, als sie den Rettungswagen gerufen hatte.
Sie hatten sie nicht mit ihrer Großmutter zusammen ins Krankenhaus fahren lassen. Sie hatte mit ihrem eigenen Auto zum Benedictine Hospital in Kingston hinterherfahren müssen. Dort angekommen, hatte sie ihre Großmutter angefleht, ihre Anordnung auf Verzicht zur Wiederbelebung rückgängig zu machen, die sie nach ihrem ersten Schlaganfall unterschrieben hatte. Aber Granny hatte davon nichts hören wollen. Jenny war nichts anderes übrig geblieben, als sich von ihrer geliebten Großmutter zu verabschieden, deren Lebenskraft immer weiter schwand.
Sie spürte, dass eine neue Panikattacke dabei war, sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen. Also behielt sie den stetigen Knetrhythmus bei, den ihre Großmutter ihr beigebracht hatte, und bearbeitete den Teig mit ruhiger Selbstsicherheit. Jeder, der ihr zuschaute, würde eine kompetente Bäckerin sehen; sie wusste, dass sie sich äußerlich nicht verändert hatte. Der sich in ihrem Inneren ansammelnde Druck war außen nicht sichtbar.
„Ich gehe mal kurz raus, um frische Luft zu schnappen“, sagte sie zu Laura.
„Ich habe gerade Sirenen gehört. Vielleicht taucht Loverboy ja auf.“
Loverboy war Lauras Spitzname für Rourke McKnight, den Polizeichef von Avalon. Seine Vorliebe für Frauen mit Modelmaßen war in einer so kleinen Stadt nicht unbemerkt geblieben. Jenny hingegen vermied es, ihn überhaupt irgendwie zu nennen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie und Rourke füreinander keine Fremden gewesen waren. Ganz im Gegenteil, sie hatten sich mit glühender Intimität gekannt, aber das war lange her. Seit Jahren hatten sie freiwillig kein Wort mehr miteinander gewechselt. Rourke kam jeden Morgen auf einen Kaffee in die Bäckerei, aber da Jenny oben in ihrem Büro arbeitete, kreuzten sich ihre Wege nie. Und sie beide arbeiteten hart daran, dass das auch außerhalb der Bäckerei so blieb.
Ihm aus dem Weg zu gehen bedeutete, dass sie sich an seine Gewohnheiten erinnern musste. Während der Woche hatte er ganz normale Bürozeiten, aber dank eines schmalen Budgets musste er sich mit einem unterdurchschnittlichen Gehalt zufriedengeben und mit einer Mannschaft, die selbst für Kleinstadtverhältnisse zu klein war. Also nahm er oft eine Extraschicht am Wochenende an und fuhr Streife wie jeder andere Polizist auch. Manchmal fuhr er sogar den Schneepflug für die Stadt. Jenny tat so, als wüsste sie nichts davon, als interessierte sie das Leben von Rourke McKnight nicht im Geringsten, und er erwiderte diesen Gefallen, indem er sie komplett ignorierte. Zur Beerdigung ihrer Großmutter hatte er allerdings Blumen geschickt. Die Nachricht auf der Karte war in ihrer Einsilbigkeit typisch für ihn: „Es tut mir leid.“ Der Strauß dazu war so groß gewesen wie ein VW Käfer.
Als sie ihren Parka anzog und durch die Hintertür nach draußen schlüpfte, merkte Jenny schon die inzwischen so vertrauten Anzeichen eines neuen Panikanfalls. Das fürchterliche Kribbeln der Kopfhaut, eine unsichtbare Armee von Ameisen, die ihre Wirbelsäule hochkletterte. Ihre Brust verengte sich und ihre Kehle schien sich zu verschließen. Trotz der eiskalten Temperaturen brach ihr der Schweiß aus. Dann begann das gespenstische Pulsieren am Rande ihres Sichtfelds.
Sie trat in die kleine Gasse hinter der Bäckerei und atmete tief ein. Als sie den beißenden Geschmack von Zigarettenrauch auf der Zunge spürte, stieß sie die Luft sofort wieder aus.
„Meine Güte, Zach“, sagte sie zu dem an der Hauswand lehnenden Teenager. „Die Dinger werden dich noch mal umbringen.“
„Nö“, sagte er und schnippte die Asche in den Mülleimer. „Bevor das passiert, höre ich auf.“
„Aha.“ Sie räusperte sich. „Das sagen sie alle.“ Sie hasste es, wenn Kinder rauchten. Sicher, ihr Großvater hatte auch geraucht. Selbstgedrehte. Aber zu seiner Zeit hatte man auch noch nichts von den Gefahren des Rauchens gewusst. Heutzutage galt diese Entschuldigung nicht mehr. Sie nahm eine Handvoll Schnee und warf sie auf die Zigarette, um die Glut zu löschen.
„Hey“, sagte er.
„Du bist ein kluger Junge, Zach. Ich hab gehört, dass du ein hervorragender Schüler bist. Wie kann es also sein, dass du so dumm bist, was das Rauchen angeht?“
Er zuckte die Schultern und hatte wenigstens den Anstand, ein bisschen verlegen auszusehen. „Frag meinen Dad. Ich bin in vielen Dingen dumm. Er will, dass ich das nächste Jahr oben an der Rennbahn in Saratoga arbeite, um mir das Geld fürs College selber zu verdienen.“
Matthew Alger war Verwaltungsbeamter der Stadt, und anhand der winzigen Trinkgelder, die er im Coffeeshop der Bäckerei gab, wusste Jenny, dass er auch privat sein Geld sehr zusammenhielt. Das galt offenbar auch in Bezug auf seinen Sohn. Jenny war ohne Vater aufgewachsen und hatte sich öfter, als sie zählen konnte, einen gewünscht. Doch Matthew Alger war der lebende Beweis dafür, dass diese von ihr so lang ersehnte Beziehung manchmal auch überbewertet wurde.
„Ich habe gehört, mit dem Rauchen aufzuhören spart dem durchschnittlichen Raucher fünf Dollar am Tag.“ Sie fragte sich, ob ihre Stimme in seinen Ohren seltsam klang, ob er hören konnte, mit welcher Mühe sie jedes Wort an der Enge ihrer Kehle vorbeipressen musste.
„Ja, das hab ich auch gehört.“ Er schnippte die feuchte Zigarette in den Mülleimer. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er, bevor sie ihn schelten konnte. „Ich wasche meine Hände, bevor ich mich wieder an die Arbeit mache.“
Er schien jedoch keine Eile zu haben, wieder hineinzugehen. Sie überlegte, ob er mit ihr reden wollte. „Will dein Dad, dass du ein ganzes Jahr arbeitest, bevor du aufs College gehst?“
„Er will, dass ich arbeite, Punkt. Er erzählt mir immer wieder, wie er sich ganz alleine durchs College gebracht hat, ohne Hilfe von seiner Familie und so.“ In seinen Worten klang keine Bewunderung mit.
Was wohl mit Zachs Mutter war? Sie hatte schon vor längerer Zeit wieder geheiratet und war nach Seattle gezogen. Zach sprach nie über sie. „Was willst du denn, Zach?“, fragte Jenny.
Er sah überrascht aus, als wäre er das schon lange nicht mehr gefragt worden. „Ich will irgendwo weit weg aufs College gehen“, sagte er. „Irgendwo anders leben.“
Das konnte Jenny nachempfinden. In seinem Alter war sie auch davon überzeugt gewesen, dass irgendwo weit weg ein aufregendes Leben auf sie wartete. Sie hatte es allerdings nie aus der Tür hinaus geschafft. „Dann solltest du das tun“, sagte sie mitfühlend.
Er zuckte die Schultern. „Ich schätze, ich werde es versuchen. Jetzt muss ich aber zurück an die Arbeit.“
Er ging hinein. Jenny blieb noch draußen stehen und blies falsche Rauchringe in die kalte Luft. Auch wenn die Unterhaltung sie kurzfristig abgelenkt hatte, hatte das nicht gereicht, die drohende Panik zu verscheuchen. Jetzt war sie allein mit dem Gefühl; es schrie in ihrem Inneren wie Sirenen in der Stille der Nacht. Und wie die Sirenen wurde auch das Gefühl immer stärker und lauter. Der Sternenhimmel schien immer näher zu kommen und sie mit seinem Gewicht nach unten zu drücken.
Ich gebe auf, dachte sie und schob ihre Hände in die Taschen ihrer Bäckerhose. Ihre Finger schlossen sich um das Plastikfläschchen mit den Tabletten. Die Tablette war nicht sonderlich groß. Sie schluckte sie ohne Wasser und wusste, dass die Wirkung nicht lange auf sich warten lassen würde. Es ist schon erstaunlich, dachte sie, dass so eine kleine Pille das furchterregende Schlagen meines Herzens in meinem Brustkorb beruhigen und das panische Zischen in meinem Kopf herunterkühlen kann.
„Nehmen Sie die Tabletten nur, wenn es gar nicht anders geht“, hatte der Arzt sie gewarnt. „Dieses Medikament kann sehr schnell abhängig machen, und der Entzug davon ist extrem unangenehm.“
Trotz der Warnung fühlte sie sich bereits ruhiger, als sie das Fläschchen wieder wegsteckte. Sie strich mit der Hand ihre Hosentasche glatt.
Ihre Gedanken kehrten zu Zach zurück, während sie ihren Blick über die vertraute Nachbarschaft mit ihren historischen Backsteinhäusern, in denen sich Büros, Geschäfte und Restaurants befanden, gleiten ließ. Wenn jemand ihr vor Jahren gesagt hätte, dass sie in ihrem jetzigen Alter immer noch in Avalon sein und in der Bäckerei arbeiten würde, hätte sie ihn ausgelacht. Sie hatte große Pläne gehabt. Sie würde die kleine, ruhige Oase verlassen, in der sie aufgewachsen war. Ihr Ziel waren die große Stadt, eine gute Ausbildung, eine Karriere gewesen.
Es war vermutlich nicht fair, Zach in ein kleines gemeines Geheimnis einzuweihen: Das Leben hatte so seine Art, einem einen Strich durch die ausgefeiltesten Pläne zu machen. Im Alter von achtzehn Jahren hatte Jenny die fürchterlichen Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems kennengelernt, unter denen vor allem die Selbstständigen zu leiden hatten. Mit einundzwanzig wusste sie, was man tun musste, um Privatinsolvenz anzumelden. Es war ihr gerade eben so gelungen, das Haus in der Maple Street zu behalten. Es war keine Frage, dass sie ihre Granny nicht alleine lassen würde, verwitwet und körperlich eingeschränkt nach einem schweren Schlaganfall.
Die Wirkung der Tablette setzte ein und bedeckte die scharfen Kanten ihrer Nerven wie eine Schneedecke, die sich über eine zerklüftete Landschaft legte. Sie atmete tief ein und ganz langsam wieder aus, schaute der Atemwolke hinterher, bis sie verschwunden war.
Der Himmel im Norden, in Richtung Maple Street, schien in einem unnatürlichen Licht zu flackern und zu glühen. Sie blinzelte. Vielleicht handelte es sich nur um einen komischen Nebeneffekt der Panikattacke. Daran sollte sie sich inzwischen eigentlich gewöhnt haben.
Als aus dem Funkgerät in Rourke McKnights Streifenwagen ein dringender Alarmton ertönte und er den Aufruf „Alle verfügbaren Einheiten zur 472 Maple Street“ hörte, wäre sein Herz beinahe stehen geblieben.
Das war Jennys Haus.
Er war am anderen Ende der Stadt gewesen, aber sobald er den Aufruf hörte, hatte er sein Funkgerät gegriffen, seinen Standort und seine vermutliche Ankunftszeit am Einsatzort durchgegeben und das Gaspedal durchgetreten. Die Reifen wirbelten Sand und Schnee auf, als er mit schlingerndem Heck auf der Straße wendete und in Richtung Maple Street raste. Parallel rief er in der Vermittlung an. „Ich bin auf dem Weg. Ich lass dich wissen, wenn ich Code elf bin.“ Seine Stimme klang seltsam flach, wenn man die Gefühle bedachte, die durch seinen Körper rasten.
Es war das allgemeine Signal ausgeschickt worden, dass das Gebäude – Gott, Jennys Haus – bereits „im Vollbrand“ stand. Jenny war bisher jedoch noch nicht gesichtet worden.
Als er endlich das Haus an der Maple Street erreichte, war das gesamte Gebäude in grelle Feuerbänder gehüllt, und Flammen schlugen aus jedem Fenster und leckten an den Regenrinnen.
Er brachte den Wagen zum Stehen, wobei er einen Scheinwerfer in einer Schneewehe versenkte, und stieg aus, ohne die Tür hinter sich zuzumachen. Schnell verschaffte er sich einen Überblick über die Lage. Die Feuerwehrmänner, ihre Wagen und ihre Ausrüstung waren in das orangerote flackernde Licht getaucht. Mit zwei Schläuchen versuchten sie, des Feuers Herr zu werden. Weitere Männer bemühten sich, einen Hydranten aus dem Schnee freizugraben. Die Szene war erstaunlich ruhig und überhaupt nicht chaotisch. Allerdings war die Flammenwand undurchdringlich, und die Feuerwehrleute konnten es nicht einmal in voller Ausrüstung wagen, das Haus zu betreten.
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