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Abby, die junge, unscheinbare Tochter des Senators von Virginia, träumt heimlich davon, den attraktiven Boyd Butler zu erobern. Doch der Sohn des US-Vizepräsidenten hat nur Augen für ihre umschwärmte Schwester. Bis aus Abby mit der Hilfe des weltmännischen James Calhoun eine gefeierte Schönheit wird. Plötzlich steht sie im Mittelpunkt der Gesellschaft, bezaubert jeden Gentleman durch Anmut und geistreichen Charme. Ihre Ausstrahlung entgeht auch Boyd nicht, und sein Heiratsantrag macht schließlich Abbys kühnste Träume wahr! Doch da erkennt sie, dass sie ihr Herz inzwischen an James verloren hat ...
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Seitenzahl: 483
Susan Wiggs
Die schöne Tochter des Senators
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Rita Langner
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright dieses eBooks © 2014 by MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Halfway To Heaven
Copyright © 2001 by Susan Wiggs
erschienen bei: MIRA Books, Toronto
Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l
Konzeption/Reihengestaltung: fredebol&partner gmbh, Köln
Covergestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Bettina Lahrs
Titelabbildung: by Pino Daeni via Thomas Schlueck GmbH, Garbsen
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz
ISBN eBook 978-3-95576-404-3
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder
auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich
der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Der Brautstrauß flog an einem Dutzend gereckter Arme vorbei genau in Abigail Beatrice Cabots Gesicht und fiel ihr dann in die Hände. Für einen Moment sah sie Sterne; ihr tränten die Augen, und der aufdringlich süße Geruch der Gardenien stach ihr in die Nase. Sie blinzelte zweimal und brach dann in schreckliches Niesen aus.
Zuerst senkte sich Grabesstille über die fröhlichen Gratulanten, danach begannen die jungen Damen in der Nähe zu kichern, und schließlich flüsterten die Hochzeitsgäste erregt, die sich im Ostsaal des Weißen Hauses versammelt hatten.
„Ich bin allergisch gegen Gardenien“, entschuldigte sich Abi-gail, der die Angelegenheit sehr peinlich war. Blütenblätter schwebten an ihrem Gesicht und dem Oberteil ihres Kleides herab und hinterließen eine gelbe Puderspur. Ein Kamm hatte sich aus ihrem Haar gelöst, und sie merkte, dass ihr aufgesteckter Zopf herunterfiel.
Abigail ließ den Brautstrauß fallen, kümmerte sich nicht weiter darum, sondern dachte nur noch daran zu fliehen. Sie hörte, wie die Gäste leise tuschelten, als sie über das blanke Parkett eilte. Obwohl sie sich große Mühe gab, nicht hinzuhören, drangen doch einige nur allzu bekannte Sätze an ihr Ohr: „Wie peinlich für Senator Cabot! Seine Tochter war ja schon immer ein wenig merkwürdig, nicht wahr? Für ihn muss sie eine wahre Prüfung sein ...“
Derweil stand ihr Vater an einer Seite des Saals und warf ihr einen niederschmetternden, enttäuschten Blick zu. Statt seinen Auftritt als Senator aus Virginia zu schmücken, hatte sie es geschafft, allen Anwesenden vorzuführen, dass er sich mit all seinem Geld und dem Einfluss, den er hatte, eben keine ordentliche Tochter zu kaufen vermochte. Am liebsten wäre sie tot umgefallen. Die Miene ihres Vaters, das Kichern ringsum – das war einfach zu viel. In ihrer Hast wäre sie beinahe gestolpert und hingefallen. Sie taumelte ein wenig, und ihre Frisur löste sich noch mehr auf.
Abigail sah alles um sich herum wie durch einen Nebel: den schneidigen Bräutigam in seiner Galauniform, die zierliche Braut im perlenbestickten Gewand, die sehen wollte, was mit ihrem Brautstrauß geschehen war, die Herren, welche sich um den Präsidenten scharten und um seine Aufmerksamkeit wetteiferten, die First Lady mit ihrer Damenschar, die lebhaft über das letzte Missgeschick von Senator Cabots Tochter schwatzte.
Obgleich die Gäste sich vor ihr teilten wie das Rote Meer, wurde Abigail den Eindruck nicht los, alle hätten sich nur versammelt, um ihren Fauxpas mitzuerleben. Sie spürte, wie die Blicke der Anwesenden sich in ihren Rücken bohrten, während sie durch den Ballsaal flüchtete und hoffte, sie würde die Glastüren beim Nordostausgang erreichen, bevor sie erneut niesen musste.
Dass sie sich auf der Hochzeit ihrer Freundin so blamierte, war ihr äußerst unangenehm. Eigentlich hatte sie überhaupt nicht herkommen wollen. Sie hatte all ihre üblichen Gegenargumente angeführt und erklärt, sie sei zu schlicht, zu tollpatschig in der Gesellschaft und zu ungeschickt auf dem Tanzboden.
Ihr Vater hatte jedoch darauf bestanden, dass sie ihn begleitete, und Senator Franklin Rush Cabot setzte stets seinen Willen durch, besonders bei seiner jüngeren Tochter, die es ihm so gern recht machen wollte.
Abigail hielt den Kopf gesenkt, konzentrierte sich auf ihre Flucht und schlängelte sich um Hochzeitsgäste, Topfpflanzen und vorbeikommende Kellner herum. Zwar schaffte sie es, ein erneutes Niesen zu unterdrücken, doch nun war sie beinahe taub. Allerdings nicht so taub, dass sie die Bemerkungen nicht hätte hören können, die wie eine ansteckende Krankheit weitergetragen wurden: „Einfach skandalös, nicht wahr? Sie müsste schon längst verheiratet sein. Hätte ihre Mutter das noch erlebt, wäre sie erschüttert gewesen ...“
Diese Hochzeit findet im Weißen Haus statt, sagte sich Abigail und warf einen verstohlenen Blick auf die Kritikerinnen. Wunderschön gewandet und mit einem Benehmen, das ebenso scharf geschliffen war wie ihre Zungen, stellten sie die Elite der hauptstädtischen Gastgeberinnen dar – Gattinnen von Senatoren, Staatssekretären und Industriellen. Fanden diese Damen denn zu ihrer Belustigung nichts Interessanteres als ausgerechnet Abigail Cabot?
Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Ziel: Flucht! Die Tür zum nordöstlichen Tor stand in dieser Herbstnacht offen und bildete den Rahmen für den tiefschwarzen Himmel mit seinem endlosen Sternenbogen.
Abigail lief, so schnell sie es wagen konnte, aber mit ihrem schlurfenden Schritt war sie wie immer viel zu langsam. Aus Angst vor einer weiteren Blamage drängte sie sich dennoch zur Eile, obwohl sie sich inzwischen an die Erniedrigung gewöhnt haben sollte. Seit frühester Kindheit wusste sie, dass sie anders war als andere. Sie konnte nicht rennen, nicht hopsen und nicht spielen wie andere Kinder. Doch nachts, wenn sie den Himmel nach Sternen absuchte, dann vermochte sie hoch hinaufzufliegen.
Die leere Ostveranda schien sie zu sich zu winken. Abigail hatte es fast geschafft. Sie war beinahe frei.
Sie huschte durch die Glastüren hinaus in den wohltuend leeren Innenhof. Schwarze Schatten lagen auf Gehwegplatten und Pfaden. Die Luft dieses späten Herbstabends war empfindlich kühl. Abigail drückte die Hände an die verzierte Betonbrüstung. Wahrscheinlich beschmutze ich mir daran die Handschuhe, dachte sie. Doch das war ihr jetzt gleichgültig; sie würde ohnehin heute Abend keinen Tanzpartner oder sonst jemanden finden, der ihre Hand halten wollte.
Behutsam zog sie den lockeren Kamm aus dem Haar und steck-te damit den aufgerollten Zopf wieder fest. Als sie danach an dem Geländer entlangging, hörte sie, wie ihr der Rock um die Beine rauschte. Der Windhauch kühlte ihren Hals, und der Nachthimmel übte seinen beruhigenden Zauber auf sie aus. Meistens behinderten Seenebel und Stadtbeleuchtung den Ausblick, aber heute war der Himmel ungewöhnlich klar. Dort erkannte sie Andromeda, die in alle Ewigkeit angekettete Prinzessin. Da, hoch im Süden, galoppierte der große, geflügelte Pegasus. Saturn befand sich im Aufstieg; einen Monat später würde Jupiter an der Reihe sein. Der immer währende Sternenhimmel, der sich langsam zu drehen schien, ließ Abigail für einen Augenblick ihre Schmach vergessen. Der glorreiche Himmel blickte niemals richtend auf bedeutungslose Erdenbewohner herab, die es sich zur Gewohnheit machten, sich ständig zu blamieren.
Doch unausweichlich kamen die Bedenken einer Erdgebundenen dazwischen: Sie vernachlässigte ihre Pflichten und versteckte sich hier draußen wie ein Feigling. Dies hier war schließlich keine beliebige Hochzeitsfeier, sondern eine, bei der der Präsident und die First Lady als Gastgeber fungierten. Die Präsidentengattin hatte zusammen mit der Braut, Nancy Kerry Wilkes, das Lyzeum von Miss Blanding besucht.
Abigail hatte so sehr gehofft, ihrem Vater zu gefallen, doch bis jetzt war es ihr nur gelungen, von dem Brautstrauß getroffen zu werden und davon einen Niesanfall in aller Öffentlichkeit zu erleiden. Doch die Nacht ist ja noch jung, sagte sie sich, richtete sich auf und straffte die Schultern. Wie ein Soldat, der einem Erschießungskommando gegenübertritt, drehte sie sich um und näherte sich wieder den Glastüren.
Samtvorhänge mit goldenen Kordeln und Quasten umrahmten den glitzernden Empfang. Während seiner Amtszeit hatte Präsident Grant den Saal wie einen Gespensterdampfer dekorieren lassen. Um sich davon nicht ausstechen zu lassen, hatte Präsident Arthur Louis Comfort Tiffany beauftragt, die Decke in Silber zu täfeln und in jedem Kreissegment einen Palmendschungel zu erschaffen. Was nun die gegenwärtige Administration hier vorhatte, vermochte sich Abigail nicht auszudenken.
Im sanften Licht der Bakkaratlüster wirkte die Szene wie ein schönes lebendiges Gemälde. Die Damen, deren pastellfarbene Gewänder sich von den schwarzen Smokings der Herren abhoben, drehten sich wie Ballerinen. Die Militärangehörigen sahen noch beeindruckender aus in ihren Galauniformen – Marineblau für die Männer aus Annapolis, frisches Hellgrau für die Leute von Westpoint, Militärblau für das Gardekorps. Jeder einzelne wirkte ungemein elegant in dem bunten Reigen der Tänzer, in dem sie die glitzernden Teile eines großartigen Musters bildeten, und alle drehten sich um die strahlenden Brautleute, die mit erfreulicher Präzision einen lebhaften Walzer vollführten. Alle bewegten sich wie gut geölte Zahnräder in einem riesigen Uhrwerk. Gottlob – die Welt hatte Abigail vergessen.
Wie eine Prinzessin im Märchen hatte Nancy Kerry einen gut aussehenden Westpointabsolventen mit makellosem Stammbaum und ebensolchem militärischen Verhalten geehelicht. Das strahlende Paar vermittelte den Eindruck, als wäre es ganz einfach, perfekt zu sein. Für die beiden sah es tatsächlich ganz einfach aus, glück-lich zu wirken.
Abigails Vater stand beim Punschbüfett und unterhielt sich angeregt mit Vizepräsident Butler. Mit den langen Frackschößen und den glänzenden Gamaschen ähnelten sie einem Paar riesiger, ernsthafter Käfer.
Abigail hielt nun nach ihrer Schwester Ausschau, doch Helena war nirgends zu entdecken. Wahrscheinlich beeindruckte sie irgendwo ihre Umgebung mit ihrer Schönheit und ihrem empörenden Benehmen, denn auf beides verstand sie sich bestens. Jedenfalls war es ganz gut, dass Helena sich im Moment rar machte; bei einer Hochzeit gehörte es sich nicht, die Braut auszustechen.
Wie üblich, blieb es Abigails Sache, das zu tun, was richtig war und was erwartet wurde, wobei es nicht darauf ankam, dass sie in beidem nicht besonders gut war. Dass man die beste Person für eine Aufgabe war, zählte weniger, als die Aufgabe tatsächlich auszuführen.
Da Helena drei Jahre älter war als die Schwester, sollte sie eigentlich diejenige sein, welche die pflichtbewusste Tochter spielte, wie Abigail fand. Doch dazu wäre es natürlich nötig gewesen, dass Helena sich ein wenig um Schicklichkeit kümmerte.
Niemandem lag mehr daran als Abigail, und die hielt sich einen ernsten, stummen Vortrag: Ich bin jetzt eine erwachsene Frau, sagte sie sich, und ich muss meinen lähmenden Widerwillen ablegen, in den Ballsaal zurückkehren und meinen Fehler wieder gutmachen.
Als sie indes an die Türklinke fasste, sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung an der Ecke des Innenhofs. Ein von Steinbänken gesäumter Kiespfad schlängelte sich durch den dunklen Garten beim Weißen Haus. Und auf einer dieser Bänke, umgeben von spätblühenden Spinnenlilien und Herbstkrokussen, saß ein eng umschlungenes Paar.
Abigail stockte der Atem. Die beiden auf der Bank merkten nichts von ihrer Anwesenheit; in einem leidenschaftlichen Kuss vereint, umarmten sie einander. Ein unerklärlicher Impuls zog Abi-gail über den Innenhof, wo sie sich in den Schatten verbarg, um besser sehen zu können.
Um Himmels willen, der Mann hatte seine Hand unter den Rock der Dame geschoben! Ihr Bein lag über seinem Schoß und gab den Blick auf ein dunkles Strumpfband frei. Abigails Faszination wuchs, als die Frau aufstöhnend den Kopf zurückwarf und ihr Dekollete entblößte. Ihre Brüste waren so hell und glatt wie zwei Halbmonde. Der Mann küsste das schattige Tal zwischen ihnen, und Abigail fühlte in sich eine schreckliche Hitze aufsteigen, für die sie keinen Namen hatte.
Sie sank gegen ein Geländer und stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn ein Mann sie auf diese Weise küsste und sie so umarmte, als wollte er sie nie wieder freigeben.
„Oh ...“ Die Frau stöhnte erneut und voller Leidenschaft. „Ach Jamie, Jamie ...“ Sie beugte sich noch weiter zurück und drehte sich dabei ein wenig, so dass der schwache Mondschein ihr Gesicht umspielte.
Gebannt von dieser Szene, rückte Abigail noch etwas näher. Der Zweig eines Liliengewächses strich ihr übers Gesicht. Sie schob ihn zur Seite, um die Frau besser sehen zu können, die nun mit zurückgelegtem Kopf, geschlossenen Augen und in ihrer Ekstase halb geöffnetem Mund in seinen Armen lag. Sie hatte zarte Hände, ein helles, betörendes Lachen und ein überaus bekanntes Gesicht. Als Abigail sie erkannte, blieb ihr fast die Luft weg. Grundgütiger Himmel, das war ja Mrs. Caroline Fortenay, die Schwester des Präsidenten – seine verwitwete Schwester!
Abigail fühlte ein unheilvolles Kribbeln in der Nase. Oh nein! dachte sie, hielt sich das Taschentuch vors Gesicht und entfernte sich vorsichtig von der Blumenhecke. Trotz aller Bemühungen gelang es ihr nicht, das nächste Niesen zurückzuhalten, das nun geradezu wie ein Vulkan aus ihr hervorbrach.
Das Paar auf der Bank fuhr auseinander. Der Mann äußerte ein Wort, das Abigail noch nie gehört hatte, obwohl sie allein bei dem wütenden Klang errötete.
Rasch stieß sie sich von der Wand ab, überquerte den Innenhof und lief zum Eingang zurück. Das Taschentuch flog ihr aus der Hand und schwebte zu Boden. Sie kümmerte sich nicht weiter darum, sondern schlüpfte schnell in den Ballsaal.
In der Hoffnung, niemand möge ihr hastiges Eintreten gesehen haben, presste sie sich gegen die Wand, schloss die Augen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Unterdessen ging das Fest weiter, es wurde gelacht und geredet, und kein Mensch schien ihre Anwesenheit zu bemerken. Abigail seufzte tief und erleichtert auf. Wer hätte aber auch gedacht, dass ein Niesanfall sie in solche Schwierigkeiten bringen konnte!
Vielleicht sollte sie etwas trinken, um ihre Nerven zu beruhigen. Während sie zu dem Tisch mit den Getränken ging, strich sie sich über den Rock. Sie wünschte, sie hätte auf Helena gehört und sich ein neues Gewand bestellt, statt nur ein bisschen Spitze an ihr einziges gutes Kleid zu nähen. Abigail wusste jedoch immer einen besseren Verwendungszweck für ihr Geld und ihre Zeit; für Modisches fehlte ihr der Sinn. Doch jetzt, mitten in dieser Gesellschaft, merkte sie, dass das ein Fehler war. Sie sah aus wie eine arme Verwandte, wie eine altjüngferliche Tante vom Lande.
„Miss, Sie haben etwas fallen lassen.“
Abrupt blieb Abigail stehen, als sie die volltönende Stimme vernahm. Ihre Schultern verspannten sich, und ein heißer Schauer lief ihr über den Nacken. Langsam drehte sie sich um und sah sich einem ungewöhnlich groß gewachsenen Fremden gegenüber. Ein schneller Blick zeigte ihr kalte, eisgraue Augen, sonnengoldenes Haar, ein Gesicht, das von harter Erfahrung gezeichnet war, und einen Mund, auf dem das spöttischste Lächeln lag, das sie jemals gesehen hatte.
Das war er – der Mann aus dem Garten! ,Ach Jamie, Jamie ...‘ Der Mann, der die Schwester des Präsidenten verführt hatte, hielt Abigail nun das Taschentuch entgegen, als wäre es ein toter Vogel.
Sie errötete bis unter die Haarwurzeln und riss ihm das Stück-chen Stoff aus der Hand. „Danke“, murmelte sie und wünschte, sie könnte sich irgendwo verstecken.
„Keine Ursache“, erwiderte er mit einer tiefen und weichen Stimme, die sie für einen Augenblick ganz gefangen nahm.
,Ach Jamie, Jamie ...‘
„Ja, dann ...“ Abigails Mund war trocken, und ihre Wangen glühten. Zwanglose Gespräche mit Fremden fielen ihr ohnehin schwer genug; und in diesem Fall handelte es sich zudem um einen fremden Mann, den sie eben beim Liebesspiel mit der Schwester des Präsidenten beobachtet hatte. „Ich ... nun ... ich fragte mich schon, wo ich es gelassen hatte.“
„Nun, jetzt wissen Sie es.“ Ein unverschämtes Lächeln lag auf seinem Gesicht, und in seinen kalten Augen erkannte sie deutlich, dass er ganz genau wusste, wer sie war und was sie gesehen hatte.
Und was sie während ihrer Beobachtung gefühlt hatte.
„Dafür habe ich Ihnen zu danken“, erwiderte sie rasch. „Und nachdem ich es nun getan habe, muss ich gehen.“
Er räusperte sich. „Miss, Sie sollten das Taschentuch vielleicht benutzen, um sich ...“ Mit dem Zeigefinger deutete er auf ihren Wangenknochen.
Oh Himmel! Sie rieb über die Stelle, sah dann auf das Taschentuch und fand darin den gelben Blütenstaub aus dem Brautstrauß. Sie zwang sich, zu dem Mann hochzuschauen. „Noch irgendwo?“
Er nickte und stellte sich so hin, dass die anderen Gäste sie nicht sehen konnten. Dann hob er einen Finger an sein eigenes Gesicht und deutete auf zwei weitere Stellen. Abigail rieb schnell über ihre Wangen, bis er zustimmend nickte. „Sehr viel versprechend“, bemerkte er.
„Nun, also dann.“ Sie knickste unbeholfen. „Auf Wiedersehen.“ Abigail erkannte, dass dieser Mann es geschafft hatte, aus ihr in wenigen Minuten eine Vollidiotin zu machen. Sie musste hier verschwinden, bevor noch jemand etwas davon merkte. Das Taschentuch steckte sie unter ihre Gürtelschärpe und entfernte sich. Immer noch kämpfte sie darum, ihre Unruhe in den Griff zu bekommen, als sie sich plötzlich dem einzigen Menschen gegenübersah, den sie noch lieber anschaute als die Sterne.
Leutnant Boyd Butler III.
Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war er ein Junge mit kurzen Hosen und dürren Beinen gewesen, der sie mit feuchten Händen angefasst und sich mit ihr durch die Tanzstunde gequält hatte. Selbst damals fand sie ihn schon großartig und ungeheuer galant. Dann war er auf die Schule gekommen, und sie hatten sich aus den Augen verloren. Jetzt war er zurückgekehrt, und die Jahre auf der Marineakademie hatten einen prächtigen Mann aus ihm gemacht. Heute traf sie ihn zum ersten Mal auf einer Gesellschaft und war entsprechend aufgeregt.
„Miss Cabot.“ Der Sohn des Vizepräsidenten verneigte sich. „Ich gestehe, Sie haben mich überrascht.“
„Guten Abend, Leutnant Butler.“ Sie warf einen Blick über die Schulter, um festzustellen, ob der Fremde ihr gefolgt war, doch er war glücklicherweise in der Menge verschwunden.
Wie es von ihr erwartet wurde, bot sie Boyd Butler die rechte Hand. Zu spät erinnerte sie sich, dass sie sich die Handschuhe draußen an der Brüstung beschmutzt hatte, und jetzt wusste sie nicht, ob sie ihre Hand fortziehen sollte oder nicht. Während sie noch schwankte, fasste er ihre Finger und hob ihren Handrücken an die Lippen, wobei er nur einen kurzen Blick zu den schwarzen Schmutzstreifen auf den weißen Handschuhen warf.
In dieser Haltung fanden Abigails und Leutnant Butlers Väter die beiden auf ihrem Rundgang durch den Saal vor.
„Na so etwas!“ rief der ältere Mr. Butler aus. „Machen sich hier vielleicht unsere Sprösslinge miteinander bekannt?“
„Wir kennen uns bereits, Sir“, stellte der Leutnant richtig. „Miss Cabot war so freundlich, unsere Bekanntschaft zu erneuern, als ich Dienst im Marineobservatorium hatte.“
Abigails Bewunderung für ihn steigerte sich noch. Tatsächlich hatte man ihr nämlich den Zutritt zum Observatorium verweigert. An jenem Abend war sie jedoch so entschlossen gewesen, hineinzukommen, dass sie gedroht hatte, sich beim Präsidenten persönlich zu beschweren. In diesem Augenblick war Boyd dazugetreten und hatte gemeint, es würde nicht schaden, wenn man einer Frau den Zutritt zum Observatorium gestattete. Wie ungemein liebenswürdig von ihm, jetzt nicht darauf hinzuweisen, wie dreist sie sich seinerzeit aufgeführt hatte!
„Offen gestanden“, fuhr Leutnant Butler fort, „wollte ich gerade Miss Cabot um einen Tanz bitten.“
Tanzen – lieber Himmel! Sie warf einen verzweifelten Blick zu ihrem Vater. Perfekt getrimmte Koteletten rahmten sein Gesicht ein, das von Ehrgeiz und Entschlossenheit geprägt war. Tief in seinen intelligenten Augen leuchtete ein Versprechen, eines, das er jedoch zurückhielt. Nicht, dass ihr Vater sie nicht liebte; er war einfach nicht der Mann, der seine Zuneigung blind verschenkte. Er erwartete eine Gegengabe, etwas, das so schlicht wie unmöglich war.
Abigail wollte sich jedoch bemühen. Mit dem Gedanken an das Versprechen, das sie in den Augen ihres Vaters erkannt hatte, versuchte sie, sich so charmant und damenhaft zu verhalten, wie es andere junge Ladys taten. Sie drehte sich ein wenig zu Boyd Butler III. um und lächelte ihn an. Er war ein gutes Stück größer als sie. Das lag allerdings vor allem daran, dass sie recht klein war. Auch darin sah sie eine ihrer zahlreichen persönlichen Unzulänglichkeiten.
„Ich darf sagen, mir ist nie ein freundlicherer Mensch begegnet als an jenem Abend im Observatorium“, erklärte sie, während der Senator und der Vizepräsident sie betrachteten.
Ihr Vater bedachte sie mit einem sehr beherrschten Lächeln. „Mr. Butler, das ist dann ja wohl eine Empfehlung für Ihren Sohn. Man muss nämlich schon ungemein tolerant sein, um die ungewöhnliche Begeisterung meiner Tochter für diese Sternguckerei zu ertragen.“
Obwohl sie diese Bemerkung wie ein Stich traf, ruhte ihr Blick weiter auf dem Gesicht des Leutnants. Oh, wenn er sie in diesem Moment in Schutz nähme, würde sie ihn für immer lieben! Strahlend lächelte er ihren Vater an. „Sir, ich sehe keinen großen Unterschied darin, ob sich das Interesse einer Dame auf eine Wissenschaft oder auf Stickerei richtet. Beides ist mir gleichermaßen ein Rätsel.“
Die drei Männer lachten, und Abigail vermochte nicht zu beurteilen, ob Leutnant Butler sie nun tatsächlich verteidigt hatte. Doch da er so unglaublich gut aussah, beschloss sie, im Zweifelsfall für ihn zu entscheiden. Ja, er hatte so höflich wie möglich ihrem Vater widersprochen, ohne den Senator zu beleidigen. Dieser Mann hatte einfach Klasse!
„Miss Cabot, darf ich Sie um die Ehre dieses Tanzes bitten?“ fragte er.
Sie fühlte sich wie ein Kaninchen, das einen Wolf in seiner Nähe spürte. Reglos stand sie da, doch ihr Herz pochte beinahe schmerzhaft heftig. Ihr Vater beobachtete sie wartend. Das Versprechen in seinen Augen verblasste, und bald würde es ganz verschwunden sein. Sie durfte seine Wertschätzung nicht verlieren. An diesem Abend hatte sie sich bereits einmal mit dem Brautstrauß blamiert. Und falls sie den Tanz mit dem Sohn des Vizepräsidenten jetzt ablehnte, würde sie die Enttäuschung ihres Vaters jemals ertragen können?
Mit den hölzernen, eckigen Bewegungen einer Marionette drehte sie sich zu ihrem Partner um. „Es wäre mir ein Vergnügen, Leutnant Butler.“
Ihre Antwort erzielte in der Runde die erwünschte Reaktion. Boyd der Jüngere reichte ihr lächelnd die Hand; Boyd der Ältere nickte zufrieden. In den Augen ihres Vaters las sie Stolz und Zuneigung, die Abigails Seele erwärmten. Jetzt musste sie nur noch ohne Missgeschick den Tanz überstehen.
Sie verbarg ihre Furcht hinter einem Lächeln, legte ihre Hand in die von Leutnant Butler und folgte ihm zur Tanzfläche, um das nächste Stück abzuwarten. Bitte lass es etwas Langsames sein, betete sie. Einen gemessenen Paartanz würde sie gerade noch hinbekommen.
Die hohen Töne der Violinen schienen sich wie flüssiges Silber über den Saal zu ergießen. Leutnant Butler vollführte eine perfekte Verneigung, die Abigail mit einem kurzen Knicks beantwortete. Danach legte er ihr eine Hand an die Taille, während er mit der anderen ihre Hand fasste. Seine verlässliche Präzision und Verbindlichkeit gaben ihr Sicherheit und Zuversicht, als die ersten Takte des Tanzes erklangen.
Man spielte gottlob ein langsames Stück, dessen Tanzschritte ihr bekannt waren, denn oft lag sie nachts wach und sah sich selbst mit makelloser Anmut tanzen. Die Realität war jedoch etwas ganz anderes. Als sie sich nun beide über das Parkett bewegten, umklammerte sie seinen Oberarm wie im Todesgriff und konzentrierte sich so sehr, dass ihre Miene immer finsterer wurde. Leutnant Butler konnte nicht wissen, dass dieser Tanz für Abigail wie eine Reise voller Gefahren war. Er durfte es nicht merken, dass sie kurz davor stand, wie eine zerbrochene Puppe zusammenzusinken.
Oh Gott! Oh ihr Monde der Venus – er redete ja mit ihr, fragte sie etwas. „... eine hervorragende Verbindung, finden Sie nicht auch?“
„Oh gewiss“, sagte sie rasch. „Eine hervorragende Verbindung.“
„Das überrascht mich nicht.“ Leutnant Butler schien sich seiner Wirkung auf die weiblichen Hochzeitsgäste überhaupt nicht bewusst zu sein. Jedes Mal, wenn sie bei den Damen vorbeikamen, erschienen bemalte Seidenfächer wie Regenschirme bei einem Unwetter und flatterten vor hübschen Gesichtern, die bei jedem seiner Blicke erröteten. Er personifizierte den amerikanischen Traum, mit den dunklen, von Makassar-Öl glänzenden Haaren bis zu seinen messerscharf gebügelten Uniformfalten. Unwillkürlich betrachtete Abigail seinen wundervollen Mund, den ein perfekt gewachster Schnurrbart beschattete. Was würde wohl geschehen, wenn sie diesen Mund küsste? Würde das Wachs rissig werden? Würde es unter ihrer Glut Schaden nehmen?
Bei den kühnen Gedanken errötete Abigail und war ungeheuer stolz, dass dieser Mann sie erwählt hatte. Sie war nicht halb so hübsch wie die Mädchen von Albemarie, nicht annähernd so geistreich wie die aus New York angereisten Erbinnen und auch nicht so anmutig wie die Kusinen der Braut aus Baltimore. Allerdings war sie intelligenter als alle zusammen. Doch was nutzte ihr dieser Vorzug?
„Weshalb überrascht es Sie nicht?“ fragte sie und konzentrierte sich auf die einfachen Tanzschritte. Sie wusste noch immer nicht, wovon eigentlich die Rede war, doch das war ihm bis jetzt gar nicht aufgefallen.
„Weil mein Vater der oberste Beamte des Senats und Ihrer der Vorsitzende des Eisenbahnkomitees ist. Beide zusammen kontrollieren im Wesentlichen den gesamten Kongress.“
Abigail nickte und wäre beinahe mit einem vorbeitanzenden Paar zusammengestoßen. Sie erkannte Mrs. Fortenay, die jetzt geradezu königlich über das Parkett schwebte. Und ihr Tanzpartner war kein anderer als der Mann, dem sie auf der Veranda begegnet war. Ihr stockte der Atem.
„Beunruhigt Sie das?“ erkundigte sich Leutnant Butler.
„Selbstverständlich nicht“, beeilte sie sich zu antworten. „Unsere Sache könnte in keinen besseren Händen liegen, meinen Sie nicht auch?“
Der Fremde ertappte sie dabei, wie sie ihn über die Schulter des Leutnants hinweg ansah. Er zwinkerte ihr zu. Er zwinkerte! Ein Schauder durchlief sie. Zuerst glaubte sie, dass sie sich diese Aufdringlichkeit nur eingebildet hatte, doch dazu war das spöttische Zwinkern für sie zu offensichtlich gewesen. Und ihre körperliche Reaktion darauf war ebenso unmissverständlich für ihn.
„Wer ist dieser Mann?“ platzte sie heraus, ehe sie sich besann. „Der unverschämte, an dem wir eben vorbeitanzten.“
Butler wandte sich ein wenig um und schaute an ihr vorbei. „Ach, der.“
„Sie kennen ihn also.“ Als sie sich wieder im Tanz drehten, verlor sie fast das Gleichgewicht, konnte jedoch einen besseren Blick auf den fremden Mann erhaschen. Er war bemerkenswert groß, weit über sechs Fuß, und sein Maßanzug saß perfekt. Das helle Haar trug er ein wenig zu lang, und im Gegensatz zu den meisten modebewussten Herren hatte er weder einen dick gewachsten Schnurrbart noch Koteletten.
„Ich hörte von ihm“, stellte Leutnant Butler richtig. „James Calhoun.“ Abigail ließ sich diesen seriösen, fast konventionellen Namen auf der Zunge zergehen, doch im Geist hörte sie die Schwester des Präsidenten ausrufen: „Ach Jamie, Jamie ...“ Der Mann sah auch mehr nach einem Jamie als nach einem James aus.
„Ich hörte, er habe in Europa die Universität besucht. Es hieß, dies geschah gegen den Willen seiner Eltern, die der Meinung waren, ein echter Gentleman aus Virginia sollte Old Dominion besuchen.“
Abigail versuchte, sich die Eltern vorzustellen, die von einem Sohn enttäuscht waren, der auf dem Kontinent studierte. „Und wer sind diese Leute?“
„Sein Vater, Charles Calhoun, züchtet Rennpferde. Man erzählte mir, der Sohn habe ein gutes Auge für den Ankauf von Arabern und sei schon an gefährliche Orte gereist, um diese Tiere zu erwerben.“ Butler lachte leise. „Und jetzt ist er Kongressabgeordneter geworden.“ Der Leutnant wurde wieder ernst und wirkte jetzt etwas unzufrieden.
„Was haben Sie?“ Abigail zog ihren Fuß nach. Ohne Zweifel hielt Butler sie für eine ungeschickte und langweilige Tanzpartnerin.
„Ich fühle mich an meine eigenen Pflichten erinnert“, gestand er. „Manchmal glaube ich, die Augen der Welt seien auf mich gerichtet.“
Abigail fand zwar, dass er mit der öffentlichen Aufmerksamkeit hervorragend zurechtkam, schwieg jedoch. Es war kein Geheimnis, dass die Partei seines Vaters Leutnant Butler für eine große politische Karriere ausersehen hatte – möglicherweise sogar eines Tages für die Präsidentschaft.
„Ich weiß natürlich, dass ich gebraucht werde“, erklärte er ohne falsche Eitelkeit. „Ich weiß, dass man führende Köpfe benötigt, doch es ist eine schwere Bürde. Gelegentlich brauche selbst ich ...“ Er sprach nicht weiter.
„Was brauchen Sie, Leutnant Butler?“ Wonach immer er sich sehnt, ich möchte so gern diejenige sein, die es ihm gibt, dachte sie.
„Ach, nichts. Sie müssen mich für vollkommenen verrückt halten.“
„Nicht doch! Bitte, sagen Sie es mir.“
Er richtete den Blick zu Boden. „Ich wünsche mir oft, in meinem Leben gäbe es nur Romanzen und Poesie.“
Abigail verlor beinahe das Gleichgewicht, und nur mit vor Schmerz zusammengebissenen Zähnen vermied sie es, tatsächlich zu stürzen. Weshalb müssen die Damen aber auch immer rück-wärts tanzen? fragte sie sich und fand es ungerecht; in ihrem Fall konnte es schlicht verheerende Auswirkungen haben.
„Das ist doch ein höchst ehrenwerter Wunsch“, erklärte sie ihm. Ach Boyd, Boyd, sang ihr Herz; ich werde dir Romanzen und Poesie schenken – zu jeder einzelnen Minute des Tages. Sie hatte zwar nicht die leiseste Ahnung, wie sie das anstellen sollte, doch für ihn wollte sie schon einen Weg finden.
„Mit Ihnen kann man sich gut unterhalten, Miss Cabot“, stellte er fest. „In Ihrer Gegenwart fühle ich mich sehr wohl. Der Druck, den meine Stellung mit sich bringt, fällt von mir ab, wenn Sie in meiner Nähe sind.“
Wäre Abigail nicht so hoffnungslos erdgebunden gewesen, hätte sie in diesem Augenblick einen Höhenflug in den Himmel angetreten. Dies war ihre Chance. Dies war der Moment, ihm zu erzählen, wie es in ihrem Herzen ausgesehen hatte, seit sie beide tollpatschige Jugendliche gewesen waren. Sie holte tief Luft, schwankte noch eine Sekunde und fasste dann Mut. „Leutnant Butler, ich möchte Ihnen sagen, dass es mir ebenso geht.“
„Große Güte!“ Butler starrte über ihre Schulter auf irgendetwas und hätte sie beinahe losgelassen, wenn sie sich nicht an ihm festgehalten hätte.
„Was haben Sie denn?“ Abigail fürchtete schon, sie hätte ihn mit ihrer kühnen Äußerung beleidigt.
„Wer ist dieses Geschöpf?“ fragte er, ohne sie dabei anzusehen. Er schien ganz vergessen zu haben, dass sie noch existierte. „Sie ist eine Göttin!“
Abigail verdrehte den Hals und folgte Butlers Blickrichtung. Die Wirklichkeit hatte sie eingeholt, und Abigail stand mit beiden Füßen wieder fest auf dem Boden der Tatsachen. Leutnant Butler starrte offenen Mundes auf den geschwungenen Eingang, so wie jeder andere Mann im Ostsaal – der Bräutigam eingeschlossen. Doch Abigail musste gar nicht genau hinschauen, um zu wissen, wessen Ankunft ein solches Aufheben verursachte. Das hatte sie schon Dutzende Male zuvor erlebt.
Wenn sich jeder männliche Blick wandte, wenn in jedem männlichen Kopf nur noch ein einziger Gedanke herrschte, dann konnte das nur eines bedeuten: Ihre Schwester Helena war eingetroffen.
Wie Venus auf ihrer Muschelhälfte, ans Ufer getragen von einer schaumgekrönten Woge, glitt sie herein und blieb auf der Schwelle stehen. Auch heute hatte sie auf die Mode des Tages verzichtet und sich für ein fließendes, schmal geschnittenes apfelgrünes Gewand entschieden, das ihre perfekte Figur betonte. Mit den kupferfarbenen Locken und dem schönen Gesicht erregte sie selbst bei den abgehärtetsten Herren Aufmerksamkeit.
Abigail warf einen Blick auf ihren Tanzpartner, der sie schon fast vergessen hatte. Ihre tief empfundenen Worte hatte er offenbar überhört, und ihre hoch fliegenden Hoffnungen schwanden langsam dahin. Fünf Minuten lang hatte sie vollkommen glücklich in Leutnant Butlers Armen getanzt. Sie hatte zu hoffen gewagt, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, und vielleicht war es ja für diese wenigen Minuten auch so gewesen. Doch jetzt hatte sie ihn natürlich verloren.
„Das ist meine Schwester, Miss Helena Cabot“, teilte sie ihm mit, weil sie das Unvermeidliche nicht lange hinauszögern wollte. „Vornehm verspätet wie üblich.“
Sie ahnte, was jetzt kommen würde. Ihr Tanzpartner würde äußern, sie wirke erhitzt und überanstrengt, denn sicherlich habe er ihre Kräfte überbeansprucht, und es sei nun seine Pflicht, sie zu einem Sofa beim Büfett zu geleiten. Und dann würde er sein Bestes tun, um nicht allzu durchsichtig darum zu bitten, Helena vorgestellt zu werden.
Und Abigail ihrerseits würde versuchen, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, sondern lächelnd zurücktreten, während er sich Hals über Kopf in ihre Schwester verliebte.
Ohne ihr Dazutun hatte Helena die ganze Tanzformation durcheinander gebracht, und zu spät merkte Abigail, dass Boyd sie rückwärts zum Rand der Tanzfläche schob.
Und dann passierte es. Sie knickte mit dem Fuß um, fühlte den Schmerz in ihrem Bein hochschießen und klammerte sich hastig an den Leutnant, konnte sich jedoch nicht an ihm festhalten und taumelte rückwärts. Über ihre Schulter hinweg sah sie den Tisch mit der riesigen Hochzeitstorte, dem kostbaren Präsidentenporzellan, Dolly Mastersons Silberservice sowie eine Pyramide von Champagnergläsern aus irischem Kristall. Mit wild rudernden Armen fiel sie nach hinten, ohne etwas zu finden, woran sie sich hätte festhalten können.
Leutnant Butler sah sie entsetzt an. Er sprang auf sie zu, um ihren Sturz aufzuhalten, kam indes zu spät.
Und dann geschah ein Wunder. Zwei starke Arme fassten sie von hinten und zogen sie an eine starke, breite Brust.
„Immer mit der Ruhe, Miss.“ Die tiefe, weiche Stimme mit dem Akzent des Mannes aus Virginia kannte sie. „Sie wollen doch nicht der Hauptgang beim Bankett werden.“
Das war der Fremde, Jamie Calhoun. Die Wärme und die Festigkeit seines Körpers erschreckten sie. Er wirkte wie eine solide Wand zwischen ihr und der Katastrophe.
Sanft fasste er ihre Finger und klopfte lässig einen Schmutzstreifen von ihrem Handschuh. „Mir gefällt eine Frau, die sich nicht scheut, sich bei ihrer Pflichterfüllung die Hände schmutzig zu machen.“ Das Lachen in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Restlos gedemütigt, zog sie ihre Hand fort. „Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Sir. Und nun wünsche ich ...“
„Hat man Ihnen noch nie gesagt, dass Sie mit Ihren Wünschen vorsichtig sein müssen? Kommen Sie, Teuerste. Der Tanz ist noch nicht vorüber.“ Er führte sie, als wäre sie ein abhanden gekommenes Kind, und übergab sie wieder an Leutnant Butler.
„Sir“, bemerkte er, „ich rate Ihnen, in Zukunft Ihre Partnerin fester an die Kandare zu nehmen.“ Damit trat er zur Seite, um sich zu vergewissern, dass er die beiden zusammengeführt hatte und dass Abigail wieder fest auf den Füßen stand. „Sie wissen doch, was man von schnellen Frauen und Vollblutpferden sagt“, fügte er mit demselben Zwinkern hinzu, mit dem er sie vorhin schon empört hatte. „Wenn Sie denen die Zügel schießen lassen, rennen sie Sie über den Haufen.“ Er lachte leise über seinen völlig unangebrachten Scherz und zog sich dann zurück.
Abigail brannte vor Erniedrigung, und sie war sich sicher, dass auch Leutnant Butler diese Hitze wie ein Fieber fühlen musste.
Sie verabscheute diesen Calhoun mitsamt seinem groben Witz und seinem Spott abgrundtief. Dennoch musste sie eine Tatsache anerkennen: Während jeder andere Mann in diesem Saal Helena angaffte, hatte Mr. James Calhoun sie, Abigail, beobachtet.
Was für ein armseliges Geschöpf, dachte Jamie Calhoun und betrachtete das braunhaarige Mädchen in Butlers Armen. Als der Tanz endete, spiegelte das Gesicht des Leutnants die Erleichterung eines Mannes wider, der Zeuge einer Sterbehilfe geworden war.
Jamie lehnte sich mit der Schulter an eine der gerillten und vergoldeten Säulen und betrachtete das Geschehen aus der Ferne. Für seinen Geschmack dauerte die Gesellschaft schon entschieden zu lange. Der Präsident und die First Lady hatten sich bereits zurück-gezogen, doch Braut, Bräutigam und ihre Gäste schienen entschlossen, noch bis in die Morgenstunden weiterzufeiern. Caroline Fortenay besaß durchaus ihren Charme, doch nach der ungehörigen Störung im Garten hatte sie ihn gemieden.
Die Politik und eine lose Verbindung zu dem Bräutigam hatten ihn zu dieser Veranstaltung ins Weiße Haus gebracht. Als neu gewählter Kongressabgeordneter musste er sich um Verbündete bemühen, und dieser Empfang bot die größte Konzentration politisch Einflussreicher an der Potomac-Grenzlinie.
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