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Claire ist ganz hingerissen von ihrem neuen Patienten. Der alte George Bellamy ist ein Charmeur und Gentleman, wie er im Buche steht. Darum zögert sie auch nicht, als er sie bittet, ihn den Sommer über an den Willow Lake zu begleiten. Vielleicht wird sie hier in der Abgeschiedenheit der Berge endlich vergessen können, was ihr so schwer auf der Seele liegt. Georges Enkel Ross ist die mysteriöse Claire nicht ganz geheuer - obwohl sein Herz jedes Mal in Flammen steht, wenn er in ihrer Nähe ist. Er beschließt, sie zu beschatten - nicht ahnend, dass er damit einen Mörder auf ihre Spur bringt, der sie bis in die idyllische Welt am Rande der Berge verfolgen wird.
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Seitenzahl: 566
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der
gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Susan Wiggs
Sommer unseres Lebens
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Ivonne Senn
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
The Summer Hideaway
Copyright © 2010 by Susan Wiggs
erschienen bei: MIRA Books, Toronto
Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Daniela Peter
Titelabbildung: Getty Images, München
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-405-9 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-404-2
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
Gesucht: Private Krankenschwester
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Anzeigennummer: 146002215
Bewerbungen an [email protected]
Gebildeter Herr gesetzten Alters sucht für die letzten
Tage seines Lebens eine private Krankenschwester, die
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Voraussetzungen:
• Alter: zwischen 25 und 35
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• muss Kinder aller Altersklassen mögen
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Zertifizierung wünschenswert
Leistungen:
• Krankenversicherung
• wöchentliche Bezahlung per Überweisung
Rustikale Unterkunft am Willow Lake in den Catskill
Mountains wird zur Verfügung gestellt.
Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan
Sein Frühstück bestand aus Pommes frites, die schmeckten wie Schuhsohlen. Dazu servierte man Rührei aus Eierkonzentrat, das ihn aus dem in kleine Fächer unterteilten Tablett anstarrte. Sein Becher war mit einer kaffeeähnlichen Substanz gefüllt, die von einem weißlichen Pulver aufgehellt wurde. Um ihn herum herrschte der übliche Kantinen-Lärm.
Am Ende seines zweijährigen Einsatzes fiel es Ross Bellamy schwer, dieses Essen auch nur anzusehen. Er war an seine Grenzen gekommen. Zum Glück war heute sein letzter Tag. Er kam ihm allerdings vor wie jeder andere Tag auch: langweilig und doch angespannt aufgrund der ständig in der Luft liegenden Bedrohung. Das Knistern von Funkgeräten bildete das Hintergrundgeräusch zum Klappern des Bestecks; ein Geräusch, das ihm inzwischen so vertraut war, dass er es kaum noch hörte. Am Kommandostand wartete jemand aus der Dustoff-Einheit darauf, dass das nächste medizinische Evakuierungsteam angefordert wurde. Denn ein Sanitätstrupp wie der von Ross musste jeden Tag, jede Stunde damit rechnen, in den Helikopter zu springen, um zu einem Noteinsatz geflogen zu werden.
Als das Walkie-Talkie losging, das an seiner Hemdtasche klemmte, schob er sein unappetitliches Frühstück ohne einen Blick des Bedauerns zur Seite. Der Ruf war das Signal für die diensthabende Crew, sofort alles stehen und liegen zu lassen – auch die Gabel, mit der man gerade ein Stück undefinierbares Fleisch zum Mund führen wollte. Ein Pokerspiel, bei dem man gerade auf der Gewinnerstraße war. Einen Brief an seine Liebste, der mitten im Satz abgebrochen und vielleicht nie mehr vollendet würde. Ein Traum von zu Hause, wenn man schläft. Ein Mann mitten im Gebet oder erst zur Hälfte rasiert.
Die Rettungshubschraubereinheiten waren stolz auf ihre Reaktionszeiten – fünf bis sechs Minuten vom Alarm bis zum Abheben. Männer und Frauen setzten sich in Bewegung, einige kauten noch, andere trockneten sich nicht mal mehr zu Ende ab, während sie in die Rollen schlüpften, die so hart und ihnen vertraut waren wie ihre Stiefel mit den Stahlkappen.
Ross biss die Zähne zusammen und fragte sich, was der Tag wohl für ihn bereithielt. Er hoffte, dass er ihn überstehen würde, ohne getötet zu werden. Er brauchte seine Entlassung, und er brauchte sie jetzt. Sein Großvater war krank, schon eine ganze Weile. Ross vermutete, dass es wesentlich ernster um ihn stand, als die Familie zugab. Es war schwer, sich seinen Großvater krank vorzustellen. Granddad war immer ein überlebensgroßes Vorbild gewesen. Von seiner Leidenschaft fürs Reisen bis zu seinem herzhaften Lachen, das einen ganzen Saal voller Menschen zum Lächeln bringen konnte. Für Ross war er mehr als ein Großvater. Was während seiner Kindheit geschehen war, hatte ein besonderes Band zwischen ihnen geschaffen, das bis heute ihre Beziehung bestimmte.
Aus einem Impuls heraus schnappte er sich den letzten Brief seines Großvaters und steckte ihn in die Brusttasche seiner Fliegerjacke, sodass er ihn nah am Herzen trug. Dass er diesen Drang verspürte, sah Ross nicht gerade als gutes Omen.
„Gehen wir, Leroy!“, sagte Nemo, der Crew Chief der Einheit. Dann sang er wie immer die ersten Zeilen von Get up Offa That Thing von James Brown.
Die Wege in der Army waren genauso unergründlich, wie man es von Gottes Wegen sagte, und so hatte Ross hier den Spitznamen Leroy verpasst bekommen. Es hatte angefangen, als sein Platoon ein wenig – viel zu wenig – über seinen familiären Hintergrund erfahren hatte. Die hochtrabenden Schulen, die Ivy League, die berühmte Familie – das alles hatte ihn zum perfekten Ziel für ihren Spott gemacht. Nemo hatte ihn „Little Lord Fauntleroy“ genannt, nach Der kleine Lord. Daraus war dann Leroy geworden und bis heute geblieben.
„Ich bin dabei.“ Ross ging mit großen Schritten in Richtung Helipad. Ranger und er würden den Vogel heute fliegen.
„Viel Glück mit dem FNG!“
FNG stand für „Fucking New Guy“ und bedeutete, dass Ross einen Neuling an Bord haben würde. Er schwor sich, nett zu ihm zu sein. Denn wenn es die neuen Jungs nicht gäbe, würde er hier für immer festsitzen. Doch laut dem Befehl, den er bekommen hatte, stand er kurz davor, sein „für immer“ endlich zu beenden. In wenigen Tagen war er wieder in den Staaten, vorausgesetzt, er ließ sich heute nicht umbringen.
Der FNG stellte sich als Frau heraus, eine Sanitäterin namens Florence Kennedy aus Newark, New Jersey. Sie hatte den entschlossenen Gesichtsausdruck, der typisch für die Neuen war – eine hauchdünne Maske, die die erbärmliche, die Eingeweide schmelzende Angst überdecken sollte.
„Worauf warten Sie verdammt noch mal?“, wollte Nemo wissen, als er an ihr vorbeiging. „Schaffen Sie Ihren Hintern in die Landezone!“
Sie schien wie erstarrt, ihr Gesicht war ganz blass. Sie machte keinerlei Anstalten, Nemo zu folgen.
Ross durchbohrte sie mit einem Blick. „Nun? Was zum Teufel ist los?“
„Sir, ich … Mir gefällt der Ton nicht, Sir.“
Ross stieß ein kurzes Lachen aus. „Sie stehen kurz davor, in ein Kampfgebiet zu fliegen, und machen sich darüber Gedanken? Soldaten fluchen nun mal, gewöhnen Sie sich dran. Niemand auf der Welt flucht so viel wie ein Soldat – und niemand betet so inbrünstig. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber für mich ist das kein Widerspruch. Und für Sie bald auch nicht mehr, glauben Sie mir.“
Sie sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Er wollte etwas sagen, um sie aufzumuntern, aber ihm fiel nichts ein. Seit wann wusste er nicht mehr, wie man nett war?
Seit er zu abgestumpft geworden war, um überhaupt noch etwas zu fühlen.
„Gehen wir“, sagte er also nur und eilte ohne einen Blick zurück weiter.
Der Hauptmann der Bodencrew ratterte die Checkliste runter. Alle kletterten an Bord. Schutzwesten und Helme wurden während des Fluges angelegt, um Zeit zu sparen.
Ross erhielt die Einsatzdetails über den Kopfhörer, während er seine Tabellen durchging. Es war einer der Aufträge, vor denen sie sich am meisten fürchteten – militärische sowie zivile Opfer, und der Feind befand sich immer noch in der Gegend. Apache-Kampfhubschrauber würden die Rettungshubschrauber begleiten, weil das rote Kreuz auf Nase, Tür und Unterseite den Feind nicht im Geringsten interessierte. Die Crew durfte sich davon aber nicht abhalten lassen; sie mussten sich beeilen. Wenn ein Soldat verwundet war, musste er den Schlüsselsatz hören: Dustoff ist unterwegs. Für jemanden, der blutend auf dem Schlachtfeld lag, war das die einzige Hoffnung aufs Überleben.
Innerhalb weniger Minuten waren sie unterwegs in nördlicher Richtung und hielten auf die grünen Berge der Provinz Kunar zu. Als er so mit Höchstgeschwindigkeit über die Landschaft aus zerklüfteten Gipfeln, majestätischen Wäldern und silbern schimmernden Flüssen jagte, fühlte Ross sich angespannt und nervös. Wegen des steten Lärms der Rotorblätter und der strengen Regeln, die während eines Einsatzes galten, beschränkten sie die Unterhaltungen über die Headsets auf das Notwendigste. Sich in unbekannte Gefahren zu stürzen gehörte zu ihrer Routine, doch Ross hatte sich nie richtig daran gewöhnt. Das ist deine letzte Mission, sagte er sich. Vermassel es nicht!
Das Korengal-Tal war einer der schönsten Plätze der Erde. Und einer der gefährlichsten. Manchmal trafen die Helikopter auf Boden-Luft-Raketen, Kanonenfeuer oder zwischen den Berggipfeln gespannte Stolperdrähte, die sie aus der Luft holten. In diesem Moment brach in der wunderschönen Landschaft ein wahres Gewitter an Maschinengewehrfeuer und Unheil verkündenden Rauchwolken aus. Jede von ihnen stand für eine auf die Hubschrauber gerichtete tödliche Waffe.
Der Abstand zwischen dem Aufblitzen des Mündungsfeuers und dem Einschlag war Ross inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Ein, zwei, drei Herzschläge, und man konnte getroffen werden.
Die Kampfhubschrauber drehten ab, um die Gegenden zu beschießen, aus denen das Mündungsfeuer aufblitzte. Das sorgte für ausreichend Ablenkung, damit die Rettungshubschrauber langsam herunterkommen konnten.
Ross und Ranger, der andere Pilot, konzentrierten sich darauf, die Entfernung zwischen sich und dem Ziel dieses Notrufs zu überwinden. Trotz aller Informationen, die ihnen gegeben worden waren, wussten sie nie, was sie wirklich erwartete. Die Hälfte ihrer Einsätze diente dazu, afghanische Zivilisten und Sicherheitspersonal zu evakuieren. Das Land besaß eine lausige medizinische Infrastruktur, und so kam es, dass sie mal für einen Krankentransport, mal für im Kampf zugezogene Verletzungen, mal für Unfälle und sogar für Hundebisse eingesetzt wurden. Die Einheit von Ross hatte alles gesehen, was es an Pech und Grauen gab. Aber von ihrem Ziel her zu urteilen würde es heute nicht um einen einfachen Krankentransport zur Bagram Air Base gehen. Diese Region war die tödlichste im Land der Taliban und wurde auch „Tal des Todes“ genannt.
Der Helikopter näherte sich dem Aufnahmepunkt und setzte zur Landung an. Die Wipfel der majestätischen Kiefern wankten unter dem Wind des Rotors vor und zurück und boten somit kurze Ausblicke auf das Terrain. Zwischen den Wänden des Tals lag eine Ansammlung von Hütten, deren Dächer aus getrockneter Erde bestanden. Ross sah hin und her eilende Zivilisten und Truppen, einige schwärmten auf der Suche nach dem Feind aus, andere bewachten die Verwundeten und warteten darauf, dass Hilfe eintraf.
Mündungsfeuer blitzte in den Bergen um das Tal herum auf. Ross wusste sofort, dass es unten zu viel Beschuss aus Handfeuerwaffen gab. Sie hatten zu wenige Kampfhubschrauber dabei.
Das Risiko, unter feindlichen Beschuss zu geraten, war groß, und als Pilot musste er eine Entscheidung treffen. Sich zurückziehen und die Crew schützen – oder landen und das Leben der Menschen dort unten retten. Wie immer war es eine quälende Entscheidung, die er aber schnell traf und dann mit eiserner Entschlossenheit durchsetzte. Hier war keine Zeit für lange Überlegungen.
Er lenkte den Hubschrauber nach unten und schwebte so nah er konnte über der Landemarke, doch er konnte nicht landen. Der andere Pilot schüttelte energisch den Kopf. Das Gelände war zu uneben. Sie würden eine Trage hinunterlassen müssen.
Nemo hing an der Lastentür und ließ das Kabel durch seine behandschuhten Hände gleiten. Eine Trage wurde hinuntergelassen, und der erste Soldat – derjenige, der am schlimmsten verwundet war – wurde hineingelegt. Ross hob ab und ließ die Winde die Trage hinaufziehen.
Der Korb war beinahe im Helikopter, als Ross eine frische Rauchwolke entdeckte – ein Raketenwerfer. In einer Höhe von gerade einmal fünfzig Fuß hatte er keine Zeit, ein Ausweichmanöver zu starten. Die Flugabwehrrakete schlug direkt in seinen Helikopter ein.
Ein weißer Blitz schoss durch den Innenraum. Alles regnete auf sie herab – Granatsplitter, Ausrüstung, abgeplatzte Farbe und ein gruseliges Gestöber aus getrocknetem Blut von vorangegangenen Einsätzen. Dann brach ein Feuer aus und schüttelte den Heli durch. Weitere Schüsse durchschlugen die Außenhaut. Der Hubschrauber buckelte und vibrierte, warf Aluminiumteile, Gurte, zerbrochenes Equipment inklusive einiger Funkgeräte von sich, während Ross seinen ersten Notruf an die Jungs im Kommandostand absetzte, die die Mission überwachten.
Er spürte, wie Kugeln in seinen gepanzerten Sitz einschlugen, in die Schutzscheibe vor seinem Gesicht und das obere Fenster. Irgendwas traf ihn im Rücken und ließ ihm den Atem stocken. Stirb nicht, befahl er sich. Wag es ja nicht, zu sterben! Er blieb am Leben, denn wenn er sich töten ließ, würde er alle mit in den Tod reißen. Einen besseren Grund, um am Leben zu bleiben, konnte es im Moment nicht geben.
Er hatte schon mal einen getroffenen Helikopter gelandet, aber nicht unter diesen Bedingungen. Es gab kein Wasser in der Nähe, auf dem er heruntergehen konnte. Er hoffte inbrünstig, dass er ihn auf den Boden bekam, ohne dass noch jemand zu Schaden käme. Er wusste nicht, ob die Crew den Korb inzwischen reingeholt hatte. Doch darüber durfte er nicht mal nachdenken – dass womöglich ein verwundeter Soldat unter seinem sich wild hin- und herwerfenden Heli baumelte.
Ranger versuchte es mit einem anderen Funkgerät. Die rote Spur einer Rauchgranate blühte auf und wurde dann vom Wind fortgetragen. Ross erblickte genau in dem Moment ein Stück flaches Land, als sie von einer weiteren Salve getroffen wurden. Die Verkleidung platzte ab, Stücke trafen ihn an der Schulter, am Helm. Der Helikopter wirbelte herum, als wäre er in einen gigantischen Mixer geworfen worden. Er hatte jegliche Kontrolle über ihn verloren. Sie hatten keinen Auftrieb mehr, nichts. Das Pfeifen und Weinen des sterbenden Choppers erfüllte seinen Kopf.
Als die Erde ihnen entgegenraste, fielen Ross die seltsamsten Dinge auf. Ein ramponiertes Werbeplakat für Babymilch. Ein kaputtes Fußballtor. Der Hubschrauber kreischte auf, als er auf dem Boden aufschlug. Noch mehr der Stahlverkleidung platzte ab. Der Aufprall fuhr Ross in jeden Knochen seines Körpers. Seine Backenzähne schlugen aufeinander. Ein Rotorblatt hatte sich gelöst und mähte alles ab, was ihm in den Weg kam. Ross war auf den Beinen, bevor der Hubschrauber gänzlich zur Ruhe gekommen war. Der Geruch nach JP4-Treibstoff drohte ihn zu ersticken. Er streckte eine Hand aus und packte Rangers Schulter, froh, dass der andere Pilot noch lebte.
Nemo kämpfte mit seinem Gurt, der ihn während der Manöver im Hubschrauber sicherte. Die Gurte hatten sich verheddert, und er hing an einem Hebel fest, der an der aufgerissenen Verkleidung festgemacht war. Ranger kroch zu ihm, um ihm zu helfen. Gemeinsam zogen sie dann den verwundeten Soldaten auf der Trage fort, die zum Glück noch rechtzeitig vor dem Absturz ins Innere des Hubschraubers gezogen worden war.
„Kennedy!“ Ross ließ sich neben ihr auf die Knie fallen. Sie lag seltsam still auf der Seite. „Hey, Kennedy“, sagte er. „Bewegen Sie Ihren Arsch. Bewegen Sie Ihren verfluchten Arsch! Wir müssen hier raus!“
Sei nicht tot, dachte er. Bitte, nicht tot sein! Verdammt, er hasste das! Zu viele Male hatte er einen Soldaten umgedreht, um festzustellen, dass er oder sie nicht mehr zu retten war.
„Ken…“
„Fuck!“ Die FNG schob seine Hand von sich und rappelte sich auf, wobei sie eine ganze Serie an Flüchen ausstieß. Dann konzentrierte sie sich für eine Sekunde auf Ross. Der Ausdruck der Neuen war bereits von ihrem Gesicht verschwunden und durch ein entschlossenes Funkeln in den Augen ersetzt worden. „Hören Sie auf, Zeit zu vergeuden, Chief“, sagte sie. „Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen.“
Alle vier krochen geduckt an der Außenwand des zerstörten Helikopters entlang. Einschusslöcher hatten das aufgemalte rote Kreuz und den Heckflügel durchsiebt. Der Boden war übersät von AK-47-Patronen.
Die Apache-Kampfhubschrauber waren in den Jagdmodus übergegangen. Sie suchten den Feind am Boden und erwiderten mit unbarmherziger Härte das Feuer. Damit sorgten sie für eine lang ersehnte Ruhepause für das Rettungsteam. Der andere Hubschrauber hatte entkommen können und setzte derzeit zweifelsohne Notrufe an die Zentrale ab. Überall erhoben sich Säulen aus schwarzem Rauch vom Mörserfeuer.
Ohne Aussicht auf schnelle Evakuierung musste die Crew Deckung suchen, wo sie nur konnte. Mit gesenkten Köpfen trugen sie die Trage im Laufschritt durch den Trümmerhagel zu einem nahe stehenden Haus. Durch eine Wolke aus Rauch und Staub erblickte Ross einen feindlichen Soldaten. In geduckter Haltung und mit einer AK-47 bewaffnet näherte er sich aus der anderen Richtung dem gleichen Haus.
„Ich hab ihn“, bedeutete Ross Nemo und stieß ihn an.
Er wusste, dass er unbewaffnet nur eine Chance gegen einen bewaffneten Gegner hatte: Er musste das Überraschungsmoment nutzen. Das war der Augenblick, wo seine Ausbildung einsetzte. Er näherte sich dem Feind von hinten, ging tief in die Hocke, packte den Kerl an beiden Fußgelenken und zog ihn daran zurück, sodass der Bewaffnete flach aufs Gesicht fiel. Bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte Ross seine Handgelenke mit Kabelbindern zusammengebunden, die Waffe konfisziert, und zog ihn mit ins Haus.
Dort fand er eine Gruppe angeschlagener US- und afghanischer Soldaten vor. „Dustoff 91“, stellte Ranger sich vor. „Und leider müsst ihr auf einen anderen Transport warten.“
Der gefangene Soldat stöhnte und wand sich auf dem Fußboden.
„Jesus Christus, wo hast du denn diesen Zug gelernt?“, wollte einer der US-Soldaten wissen.
„Unbewaffneter Kampf – eine Spezialität der Rettungssanitäter“, sagte Nemo, während er Ross zur Hand ging.
Eine wütende Mischung aus Paschtu und Englisch erhob sich. „Wir sind geliefert“, murmelte ein benommener und erschöpfter Soldat. Wie seine Kameraden sah auch er aus, als hätte er seit Wochen nicht gebadet, und um seine Leibesmitte trug er ein Flohhalsband von einem Hund. Das Leben hier an den Außenposten war die reinste Hölle. Der Junge – immer noch mit den runden Wangen der Jugend, aber schrecklich leeren Augen – erzählte mit tonloser Stimme, was geschehen war. Ein Teil von ihm war schon gar nicht mehr hier. Wenn Ross einen Soldaten in diesem Zustand vorfand, fragte er sich oft, ob der fehlende Teil jemals wiederhergestellt werden würde.
„Werfen wir mal einen Blick auf die Verletzten“, schlug Kennedy vor. Sie schien begierig darauf, etwas zu tun, egal was. Ein Soldat brachte sie zu einer Reihe auf dem Boden liegender Menschen. Ein afghanischer Teenager hielt ein iPhone in der Hand und hatte etwas angestimmt, das wie eine Totenklage klang. Ein Mann stöhnte und hielt sich sein verletztes Bein. Einige waren bewusstlos. Kennedy überprüfte ihre Vitalfunktionen und schaute sich verloren um. „Ich brauch etwas, worauf ich schreiben kann.“
Ross nahm einen Stift aus seiner Tasche. „Hier“, sagte er und zeigte auf die nackte Brust des Teenagers.
Sie zögerte, dann fing sie an, auf die Haut des Jungen zu schreiben. Weiteres Gewehrfeuer schlug draußen auf dem Boden ein. Nach einer Zeit, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, obwohl vermutlich nur zwanzig Minuten vergangen waren, traf eine weitere Dustoff-Einheit ein, ließ einen Sanitäter über die Winde hinunter und flog dann weiter, um einen sicheren Landeplatz zu suchen. In der Hütte ging die Sichtung der Verletzten weiter, wobei alle den Sanitätern halfen, so gut sie konnten.
Ross ging an ein paar Soldaten vorbei, die offensichtlich tot waren. Er empfand nichts. Er ließ es einfach nicht zu. Die Albträume würden später kommen.
„Seht zu, ob ihr die Blutung da gestoppt kriegt“, sagte die neue Sanitäterin und zeigte auf ein weiteres Opfer. „Haltet einfach irgendwas darauf.“
Ross riss einen Ärmel seines Hemdes ab, um eine blutende Wunde zu stillen. Erst als er den Stoff auf den Arm drückte, sah er, dass dieser zu einem alten Mann gehörte, der in den Armen eines Jungen lag, der ihm leise etwas vorsang. Es schien den Verwundeten zu beruhigen, wie Ross bemerkte.
Er musste den Teil von sich finden, der noch etwas fühlen konnte. Er brauchte das, was er in der Art sah, wie die Hand des Jungen die Wange des alten Mannes streichelte. Familie. Sie gab dem Leben einen Sinn. Familie war das Einzige, was zählte, das Einzige, was einen die Bodenhaftung nicht verlieren ließ. Doch außer seinem Großvater hatte Ross auf diesem Gebiet nichts vorzuweisen. Er hasste es, sich so leer und taub zu fühlen.
Das Feuer der Aufständischen klang ab. Zwei weitere Hubschraubercrews trafen mit Tragen ein und liefen über das offene Feld, um zu den anderen zu gelangen. Alle machten sich an die Arbeit und nutzten die kurze Feuerpause, um so viele Verwundete wie möglich zu retten. Sie wurden auf die Tragen geschnallt, auf Ponchos über den Boden gezogen oder in müden Armen getragen. Die, die noch selber gehen konnten, machten sich selber auf den Weg und verursachten Chaos. Der erste Vogel hob schwer beladen ab und taumelte einen Moment wie ein Jahrmarktkarussell in der Luft.
Ross ging im zweiten Heli als Letzter an Bord. Er griff nach einer Klampe, um sich festzuhalten. Das Feuer setzte wieder ein, und die Patronen prallten von den Kufen ab. Der Flug verging in einem Nebel aus Lärm und Staub und Rauch, aber endlich – Gott sei Dank – sah er, wie die Lippen des Piloten die Worte bildeten, auf die sie alle gehofft, für die sie gebetet hatten: Dustoff ist bereit zur Landung.
Sie erreichten den Stützpunkt mit dem letzten Tropfen Treibstoff. Hier übernahm das Bodenpersonal. Ross fand jemanden, der ihm ein wenig Betaisodona und einige Binden gab. Dann ging er hinaus auf das Gelände. Die Sonne brannte ihm auf den nackten Arm, wo er den Ärmel abgerissen hatte. Er war ganz benommen von dem Wissen, einen Ausflug zur Hölle und zurück hinter sich zu haben.
Und es war noch nicht mal Mittag.
Seine Dustoff-Einheit war bekannt für ihre Schnelligkeit und Effizienz, und sie hatten schon viele Leben gerettet. Fünfundzwanzig Minuten vom Schlachtfeld ins Traumazentrum waren der Schnitt. Das war etwas, worauf er mit Stolz zurückschaute, aber jetzt war es an der Zeit, weiterzuziehen. Und er war mehr als bereit dafür.
Die Jungs hatten sich in der Messe versammelt. Zwei weitere Lufteinheiten bereiteten sich darauf vor, wieder auszufliegen.
„Hey, Leroy, Weihnachten kommt für dich dieses Jahr ein bisschen früher!“ Nemo schlang ein zusammengeklapptes Stück Pizza hinunter. „Ich höre, deine Entlassungspapiere sind gekommen.“
Ross nickte. Eine Welle der … nicht wirklich Erleichterung … durchlief ihn. Es passierte wirklich. Er würde endlich nach Hause fliegen.
„Was wirst du mit dir anfangen, wenn du zurück in den Staaten bist?“, fragte Nemo.
Neu anfangen, dachte Ross. Es dieses Mal richtig machen. „Ich habe große Pläne“, sagte er.
„Natürlich.“ Nemo lachte und machte sich auf in Richtung Duschen. „Haben wir die nicht alle?“
Wenn man sich in der Mitte von so etwas wie dem hier befindet, dachte Ross, plant man gar nichts, außer in den nächsten paar Minuten nicht zu sterben. Es war ein unfassbares Gefühl, zu wissen, dass er jetzt weiter denken durfte.
Er erblickte Florence Kennedy im Schatten sitzend. Sie trank aus einer Feldflasche und weinte leise vor sich hin.
„Hey, tut mir leid, wie ich Sie da draußen angeschrien habe“, sagte er.
Sie schaute ihn aus roten Augen an, in denen Tränen schwammen. „Sie haben mir heute den Arsch gerettet.“
„Das ist ja auch ein recht hübscher Arsch.“
„Vorsichtig, wie Sie mit mir reden, Chief! Ihr Mundwerk könnte Sie noch ganz schön in Schwierigkeiten bringen.“ Sie grinste unter ihren Tränen. „Ich bin Ihnen was schuldig.“
„Ich tue nur meinen Job, Ma’am.“
„Klingt so, als dürften Sie nach Hause.“
„Jupp.“
Sie wühlte in ihrer Tasche, zog eine Visitenkarte heraus und kritzelte eine E-Mail-Adresse darauf. „Vielleicht bleiben wir in Verbindung.“
„Vielleicht.“ So funktionierte es nicht, aber sie war noch zu neu, um das zu wissen.
Er drehte die Karte um und betrachtete die gedruckte Seite. „Tyrone Kennedy. Büro des Staatsanwalts von New Jersey“, las er. „Heißt das, ich stecke in Schwierigkeiten?“
„Nein. Aber sollten Sie jemals in New Jersey in Schwierigkeiten stecken, rufen Sie meinen Dad an. Er hat gute Verbindungen.“
„Und doch sind Sie hier.“ Er deutete auf das staubige Gelände. Vielleicht war sie, wie er gewesen war – ziellos, getrieben von dem Wunsch, etwas Bedeutungsvolles zu tun.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich mein ja nur, Sir. Wann immer und wo immer Sie was von mir brauchen, Sie kriegen es.“ Sie schraubte die Feldflasche zu, erhob sich und ging in Richtung Messe. Eine ganz andere Person als die Neue, die er noch vor wenigen Stunden kennengelernt hatte.
Überrascht bemerkte er, dass seine Hände zitterten, als er die Visitenkarte in die Hemdtasche steckte. Außer ein paar Kratzern und blauen Flecken war er nicht verletzt, doch ihm tat alles weh. Seine Nerven lagen blank. Nach dreiundzwanzig Monaten, in denen er sich gegen alle Arten von Schmerzen taub gestellt hatte, fing er jetzt an, wieder alles zu spüren.
Ulster County, New York
G eorge Bellamy kam Claire für einen sterbenden Mann ziemlich fröhlich vor. Im Radio lief gerade die dümmste Sendung, die sie je gehört hatte, eine Plauderstunde namens Hootenanny, und George fand es zum Schreien. Er hatte ein markantes, ansteckendes Lachen, das tief in seinem Inneren zu entstehen schien und sich in alle Richtungen ausdehnte. Es fing als sanfte Vibration an und steigerte sich dann zu einem Ausbruch purer Heiterkeit. Und nicht nur bei der Radiosendung. George hatte vor Kurzem die Nachricht erhalten, dass sein Enkel aus dem Kriegseinsatz in Afghanistan zurückkehren würde, und das steigerte seine Fröhlichkeit noch mehr. Jeden Tag konnte es so weit sein.
Claire hoffte für beide Seiten, dass es nicht mehr lange dauerte.
„Ich kann es kaum erwarten, Ross wiederzusehen!“, sagte George. „Er ist mein Enkel. Er ist gerade aus der Army entlassen worden und soll schon auf dem Rückweg sein.“
„Ich bin sicher, dass er sofort zu Ihnen kommt“, versicherte sie ihm und tat so, als hätten sie das gleiche Gespräch nicht schon vor einer Stunde geführt.
Das Frühlingslaub der Bäume zog in einem verschwommenen Farbrausch an ihr vorbei – das zarte Grün der gerade sprießenden Blätter, die gelben Blüten der Osterglocken, das verschwenderische Lila und Pink der Wildblumen am Straßenrand.
Sie fragte sich, ob er darüber nachdachte, dass das sein letzter Frühling war. Manchmal war die Traurigkeit ihrer Patienten über solche Sachen, die Endlichkeit von allem, unerträglich. Doch im Moment zeigte George keinerlei Anzeichen von Schmerz oder Stress. Auch wenn sie sich gerade erst kennengelernt hatten, spürte sie, dass er einer ihrer angenehmeren Patienten werden würde.
In seinen stilvollen, gebügelten Hosen und dem Golfshirt sah er aus wie jeder gut situierte Gentleman, der ein paar Wochen der Hektik der Großstadt entflieht. Jetzt, wo er alle Behandlungen abgebrochen hatte, wuchs sein Haar glänzend und schneeweiß nach. Er hatte im Moment auch eine sehr gesunde Gesichtsfarbe.
Claire war Privatschwester, die sich auf die palliative Pflege unheilbar Kranker spezialisiert hatte. Durch diesen Beruf lernte sie alle möglichen Menschen kennen – und deren Familien. Auch wenn sie sich hauptsächlich auf den Patienten konzentrierte, kam sie doch nicht umhin, sich auch mit der meist umfangreichen Verwandtschaft zu beschäftigen. Von Georges Familie hatte sie bisher noch niemanden kennengelernt. Seine Söhne lebten mit ihren Familien weit weg. Im Moment gab es also nur sie und George.
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