Vertrau deinem Herzen - Susan Wiggs - E-Book

Vertrau deinem Herzen E-Book

Susan Wiggs

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Beschreibung

Als alleinerziehende Mutter trifft es Kate Livingston doppelt hart, dass sie ihren Job als Kolumnistin verloren hat. Gemeinsam mit ihrem Sohn zieht sie sich für den Sommer zurück in das Ferienhaus der Familie am Lake Crescent, um in Ruhe über ihre Zukunft nachzudenken. Doch erst durchkreuzt eine kleine Ausreißerin, die sich in dem Haus eingerichtet hat, ihre Pläne. Und dann zieht nebenan ein Mann ein, der ihr vom ersten Augenblick an schlaflose Nächte bereitet. Da beschließt Kate, etwas für sie ganz Ungewöhnliches zu tun: einfach alle Vorsicht in den Wind zu schießen und das Leben zu genießen - zumindest einen Sommer lang.

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Seitenzahl: 541

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Susan Wiggs

Vertrau deinem Herzen

Roman

Aus dem Amerikanischen von

MIRA® TASCHENBÜCHER

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2011 by MIRA Taschenbuch

in der CORA Verlag GmbH & Co. KG

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Lakeside Cottage

Copyright © 2005 by Susan Wiggs

erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V/S.är.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Stefanie Kruschandl

Titelabbildung: Getty Images, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz /

Crystal Photography

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-085-3 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-084-6

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Für Martha Keenan,

1. TEIL

„... wie Sie sicher schon gehört haben, wird der Präsident einigen unserer tapferen Männer im Walter-Reed-Krankenhaus einen Besuch abstatten. Der Präsident möchte jenen Menschen danken, die sich dafür aufopfern, die Welt sicherer zu machen.“

Das Weiße Haus, Büro des Pressesekretärs

„Alle lieben Helden. Die Menschen stehen Schlange, um sie zu sehen, jubeln ihnen zu, rufen ihre Namen. Und Jahre später erzählen sie noch davon, wie sie stundenlang im kalten Regen gestanden haben, nur um einen Blick auf denjenigen zu erhaschen, der sie gelehrt hat, ein wenig länger durchzuhalten. Ich glaube, in jedem von uns steckt ein Held, der dafür sorgt, dass wir ehrlich bleiben, der uns Kraft gibt und uns Wahrhaftigkeit lehrt.“

1. KAPITEL

Washington, D. C.

Heiligabend

Der Krankenwagen, der rückwärts ins Gebäude 1 setzte, sah aus wie jeder andere. Er schien von einer Routinefahrt zurückzukommen. Vielleicht holte er einen Patienten von der Intensivstation ab oder fuhr ein Traumaopfer zu einer Operation in den Lowery-Flügel. Das Ambulanzfahrzeug hatte alle notwendigen Aufkleber, um die Sicherheitskontrollen des Army Medical Centers zu passieren. Das Team trug die üblichen gestärkten weißen Hosen und Dienstparkas, an denen die Ausweise baumelten. Und auch der Patient sah ganz normal aus. Er war in eine Thermodecke eingewickelt und trug eine Sauerstoffmaske.

Sergeant Jordon Donovan Harris hätte ihn keines zweiten Blickes gewürdigt, wäre er nicht aus lauter Langeweile zum Shaw-Flügel hinübergeschlendert. Dort hatte er aus dem verglasten Zwischengeschoss alles im Blick.

Er konnte die Buchten für die Krankenwagen sehen und dahinter den Rock Creek Park und die Georgia Avenue. Die Bäume standen kahl und starr auf der Schneedecke, wie Tuschezeichnungen auf einem weißen Blatt Papier. Der Verkehr rollte über die Straßen, die zu den glitzernden Türmen der Landeshauptstadt führten. Das Walter Reed Army Medical Center war ein im georgianischen Stil erbauter Gebäudekomplex; die verschiedenen Flügel waren auf einem etwa fünfzig Hektar großen Gelände verteilt. Frischer Puderschnee verlieh der Szenerie einen zeitlosen Anstrich. Nur die Aktivitäten an den Notaufnahmetüren deuteten darauf hin, dass es sich hier um das wichtigste Militärkrankenhaus an der Ostküste handelte.

Auch wenn niemand in der Nähe war, wusste Harris, dass er beobachtet wurde. Es gab hier mehr Sicherheitskameras als in einem Kasino in Las Vegas. Ihm war das egal. Er hatte nichts zu verbergen.

Langeweile war ein willkommener Gast im Leben eines Rettungssanitäters. Die Tatsache, dass er hier herumstehen konnte, bedeutete, dass nichts schiefgegangen war, niemandes Welt durch einen Autounfall, einen ungeschickten Sturz, ein bösartiges Fieber, einen außer Kontrolle geratenen Liebhaber mit einer Waffe zerstört worden war. Für einen Rettungssanitäter, dessen Job es war, Menschen zu retten, hieß das: Er hatte nichts zu tun.

Sergeant Harris verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß und zog eine kleine Grimasse. Seine Ausgehschuhe drückten. Heute trugen alle ihre Ausgehuniform; der Präsident war hier, um den Soldaten Mut zu machen und ein wenig weihnachtliche Stimmung zu verbreiten. Natürlich hatten nur einige wenige das Glück, ihn auch wirklich persönlich zu treffen. Seine Besuchsrunde war von den Secret-Service-Agenten und den höchsten Köpfen des Krankenhauses sorgfältig geplant worden, und das offizielle Pressekorps schirmte ihn gegen die normalen Menschen ab.

Also war Sergeant Harris ein wenig erstaunt, als er sah, wie eine Gruppe schwarzer Anzüge und militärischer Orden den direkt unter ihm befindlichen Fahrstuhl verließ. Seltsam. Die normale Route für offizielle Besucher beinhaltete die Station 57, wo die meisten verwundeten Veteranen lagen. Heute schien die Aufnahmestation mit auf dem Programm zu stehen. Sie war erst kürzlich dank einer großzügigen Spende von Grund auf renoviert worden.

Die Besucher eilten den blitzsauberen Flur entlang. Instinktiv richtete Sergeant Harris sich auf und bereitete sich darauf vor, zu salutieren – auch wenn niemand bemerken würde, ob er das tat oder nicht. Aber es war schwer, alte Gewohnheiten wieder loszuwerden.

Er entspannte sich ein bisschen. In seinem gläsernen Aussichtspunkt streckte er den Hals ein wenig, um einen Blick auf den mächtigsten Mann der Welt zu erhaschen. Doch alles, was er sah, waren die begleitenden Journalisten und die Entourage, die von einem Major der Armee angeführt wurde. Einen Augenblick später wurden alle von der Leiterin der Verwaltung mit einem breiten Lächeln begrüßt. Offensichtlich stand ihre Abteilung auch auf dem Besuchsplan.

Die Dame hieß Darnelle Jefferson und arbeitete hier schon seit einem Vierteljahrhundert. Eine Tatsache, die sie gerne jedem erzählte, der nicht rechtzeitig die Flucht ergriff. Wenn man sie jetzt so anschaute, würde man nicht denken, was die meisten Angestellten hier wussten: dass sie wie die meisten Zivilisten hier eine fürchterliche Nervensäge war, die dem Personal den ganzen Tag Scherereien machte und Berge von Papierkram verlangte, nur um ihre Existenz zu rechtfertigen. In ihrem roten Kostüm mit der gelben Schleife am Revers wirkte sie jedoch freundlich und effizient. Ihr Lächeln wurde noch breiter, als das Undenkbare passierte und der Präsident einen Schritt zur Seite trat, um sich mit ihr fotografieren zu lassen.

Noch überraschender war, dass Mrs Jefferson danach die Leitung der Führung übernahm und die Gruppe den breiten, hell erleuchteten Korridor hinuntergeleitete. Zwei Kameramänner gingen neben ihnen her, die großen Linsen ihrer Kameras fingen jede Bewegung für die abendlichen Nachrichten ein. Die Gruppe hielt an dem ersten Aufnahmezimmer an, in dem ein verwundeter Soldat lag, der von einem anderen Krankenhaus hierher gebracht worden war. Sergeant Harris wusste, dass die offiziellen Bilder den Präsidenten mit dem Soldaten und seiner Familie in vertrauter Runde am Bett stehend zeigen würden. Nicht zu sehen wären hingegen der wachsame Secret Service oder die Fotoapparate und Mikrofone, die außerhalb der Kameralinsen in die Höhe gestreckt wurden.

Das ist das Showbiz, dachte Sergeant Harris. Er verstand nicht, wie man sich mit einem Leben in der Öffentlichkeit abfinden konnte. Ständig jedermanns kritischen Blick auf sich gerichtet zu fühlen war aus seiner Sicht eine ganz besondere Art der Folter.

Die Entourage machte sich wieder auf den Weg in Richtung Talbot Lounge, einen der kürzlich renovierten Wartebereiche, wo eine Nordmanntanne stand, die von einem der führenden Floristen Washingtons dekoriert worden war. Hier legte man für weitere Fotos eine erneute Pause ein. Sergeant Harris sah die Blitzlichter aufleuchten, hatte den Präsidenten aber inzwischen aus den Augen verloren.

An anderer Stelle in dem gleichen Flügel lag der gerade eingelieferte Patient in einem Aufnahmezimmer, das an zwei Seiten mit Draht verstärkte Glaswände hatte. Die Mannschaft, die ihn eingeliefert hatte, war bereits zum Empfangstresen geeilt, um ihren Report auszufüllen, und noch war kein Krankenhausmitarbeiter zu ihm gekommen, um die weiteren Aufnahmeformalitäten abzuwickeln. Den diensthabenden Mitarbeitern ging es sehr wahrscheinlich wie Sergeant Harris: Sie gingen ihrer Arbeit etwas langsamer nach, um einen Blick auf den Präsidenten werfen zu können. Der Patient lag alleine in seinem Zimmer. Keine Familie oder Freunde waren an seiner Seite, um ihm in dieser fremden Welt Trost zu spenden. Einige Menschen hatten einfach niemanden. Sergeant Harris selber wäre ein gutes Beispiel dafür, wenn es nicht Sam gäbe. Sie hatten sich vor Jahren während eines Einsatzes in Kunar kennengelernt, einer Provinz im Nordosten Afghanistans. Seitdem waren Sam Schroeder und er die besten Freunde. Sam und seine Familie bedeuteten Harris alles, und er sagte sich, dass das ausreichend war.

In der Hoffnung, dem Präsidenten wenigstens einmal ins Gesicht schauen zu können, ging er die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Er wusste nicht, wieso ihm das so wichtig war. Vielleicht, dachte er, weil ich es nach einem Jahrzehnt im Dienst und weiteren vier Jahren hier im Krankenhaus verdient habe, meinen obersten Dienstherren einmal aus der Nähe zu sehen. Er hatte auch den Rundbrief bekommen, in dem angekündigt worden war, dass es später einen Empfang für die Mitarbeiter des Krankenhauses geben würde, aber auf das Gedränge dort hatte er wenig Lust.

Zwei Marines in blauer Uniform standen an der Doppeltür zur Station Wache. Sergeant Harris winkte mit seinem Klemmbrett und zeigte seinen Ausweis. Er wurde durchgelassen. Er musste so tun, als wäre er schwer beschäftigt, sonst würde man sehr schnell merken, dass er nur herumlungerte, um einen Blick auf den Präsidenten zu werfen. Etwas, das nicht gerne gesehen wurde.

Vor dem Zimmer mit dem Neuankömmling blieb Sergeant Harris stehen. Er nahm das Krankenblatt aus der Halterung an der Tür, schlug das Deckblatt um und gab vor, den Inhalt zu lesen.

Das Geräusch von Schritten und Stimmen wurde lauter, als die Gruppe mit dem Präsidenten sich näherte.

„... neue Herz-Lungen-Station ist mit den neuesten Überwachungssystemen ausgerüstet“, erklärte Mrs Jefferson gerade mit ernster Stimme. „Wir haben jetzt das führende Zentrum für klinische Versorgung, Forschung und Entwicklung des Landes ...“ Sie redete weiter, als würde sie von einem Blatt ablesen, und Sergeant Harris blendete sie einfach aus.

Die Besucher kamen näher. Endlich konnte Sergeant Harris einen Blick auf seinen Oberbefehlshaber werfen. Sein Gesicht trug den vertrauten, mitfühlenden Ausdruck, der ihm nun schon zum zweiten Mal die Stimmen des Volkes gesichert hatte. Der Präsident und die Krankenhausverwalterin trennten sich von der Gruppe. Darnelle Jefferson führte den mächtigsten Mann der Welt in den Raum, in dem der Neuankömmling lag.

Verdammt, dachte Sergeant Harris, Zeit zu verschwinden. Schnell – aber nicht zu schnell – schlüpfte er in einen Raum, der durch grüne Schwingtüren mit der Abteilung verbunden war. Durch die runden Fenster in der Tür konnte er durch die gläsernen Trennscheiben von zwei Zimmern hindurchschauen. Er konzentrierte sich auf den neuen Patienten und erwartete, ihn ganz alleine und ruhig in seinem Bett liegen zu sehen. Bestimmt war er zu Tode verängstigt und sich der Anwesenheit des Präsidenten nur wenige Meter entfernt gar nicht bewusst.

Nur: Der Patient war nicht ruhig. Für einen Herzpatienten schien er sogar ausgesprochen aktiv zu sein. Jetzt setzte er sich in seinem Bett auf und riss sich die Sauerstoffmaske vom Gesicht.

Sergeant Harris studierte noch einmal die Patientenakte, die er sich von der Tür geschnappt hatte. Terence Lee Muldoon. Ein Kriegsveteran, der vom Militärkrankenhaus in Landstuhl in Deutschland hierher überführt worden war. Die Akte wies ihn als fünfundzwanzig Jahre alt aus. Verdammt jung für Herzprobleme.

In seiner Zeit hier hatte Sergeant Harris Tausende von Herzpatienten gesehen. Die Krankheit wurde immer von einer gräulichen Haut und einem offensichtlichen Ausdruck von Müdigkeit im Gesicht begleitet.

Nicht so bei diesem Patienten. Sogar aus der Entfernung und durch zwei Glasscheiben hindurch konnte Sergeant Harris sehen, dass sein Gesicht eine gesunde rosafarbene Tönung hatte und seine Bewegungen effizient und sicher waren.

In dem Moment hielt die Entourage im Flur an, und der Präsident und Mrs Jefferson betraten Muldoons Zimmer. Der Glaskubus war zu klein, um mehr Besucher zu erlauben, und so blieben die Bodyguards vor der Tür stehen und reckten die Köpfe, ließen ihre Blick hin und her schweifen und murmelte in ihre Mikrofone. Ein paar Fotografen drückten ihre Kameras gegen das Glas. Der Präsident schüttelte Muldoon zur Begrüßung die Hand, dann trat er für das obligatorische Foto ans Kopfteil des Bettes.

Es gab keinen bestimmten Augenblick, in dem Sergeant Harris entschied, dass irgendetwas nicht stimmte. Er sah kein manisches Glitzern in den Augen des Angreifers, hörte kein hämisches Lachen wie im Film. Das wirklich Böse verhielt sich nicht so. Es war alles irgendwie ... gewöhnlich.

Es gab auch keinen besonderen Moment, in dem Sergeant Harris sich entschied zu handeln. Eine Entscheidung zu treffen beinhaltet einen Gedankenprozess, der einfach nicht passierte. Sergeant Harris – und der überraschte Präsident – hatte dafür einfach keine Zeit. Mit einem Druck auf den Knopf des stummen Alarms auf seinem Funkgerät schlüpfte er in den angrenzenden Raum. Er war jetzt nur noch ein Zimmer vom Präsidenten entfernt. Jede seiner Bewegungen wurde von Kameras aufgenommen, das wusste er. Doch weder der Präsident noch der Patient hatten ihn bisher bemerkt.

Sergeant Harris schrie nicht und machte auch keine schnellen Bewegungen. Der Patient war sich seiner Anwesenheit noch nicht bewusst, und er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Trotzdem musste er schnell sein, denn für die Überwachungskameras würde sein Verhalten sehr suspekt aussehen. Diejenigen, die ihn beobachteten, würden denken, er wäre ein Irrer – oder schlimmer noch, ein Attentäter.

Der Lauf der Ereignisse entfaltete sich mit seltsamer Unausweichlichkeit. Später – viel, viel später – würde Sergeant Harris sich die Videos der Überwachungskameras und der Presseleute ansehen und sich an nichts davon erinnern.

Nur Sekunden bevor die Mitarbeiter im Flur auf seinen stummen Alarm reagierten, riss der Patient die Thermodecke von sich und zerrte das Krankenhausnachthemd beiseite. Da runter waren mehrere Stangen Dynamit mit Tape an eine eng anliegende Weste geklebt.

„Wenn mich jemand angreift“, schrie er, „gehe ich hoch wie ein Feuerwerk. Und dabei nehme ich das gesamte Gebäude mit.“ Er sprang auf den Boden und starrte die entsetzte Menge auf der anderen Seite der Scheibe an. Seine Finger schlössen sich um den Zünder, bereit, den Sprengstoff explodieren zu lassen.

Der Präsident stand stocksteif da. Darnelle Jefferson stieß einen markerschütternden Schrei aus. Sergeant Harris erstarrte; er war zu erfahren, um sich von Angst beeinflussen zu lassen. Er erkannte die Tätowierung auf Muldoons Oberarm. Der eiserne Falke mit Schwert, das Abzeichen einer Spezialeinheit.

Also hatten sie es mit dem Abtrünnigen einer Sondereinheit zu tun, der genauso gut ausgebildet war wie Sergeant Harris. Ein professioneller Killer, der durchgedreht war. Der Attentäter hatte ihn immer noch nicht entdeckt. Er stolzierte vor der Glaswand auf und ab, während ein Dutzend Waffen auf ihn gerichtet waren.

Sergeant Harris unterzog die selbst gemachte Weste einer genaueren Betrachtung und fragte sich, wie zum Teufel sie der Besatzung des Krankenwagens entgangen sein konnte. Es schien sich um Plastiksprengstoff zu handeln. Der Zünder wurde per Druckknopf ausgelöst, der mit noch mehr Tape festgeklebt war. Wenn es nicht noch einen zweiten Zünder gab, den er von hier aus nicht sehen konnte, würde Muldoon die Sprengladung manuell auslösen müssen.

Außerhalb des Glaskastens verfielen Bodyguards und Marines in hektische Betriebsamkeit. In unzähligen Übungen war ihnen das richtige Vorgehen in solchen Situation eingeimpft worden. Erst das Schließen aller Ausgänge, dann Alarm in den Stationen sowie per Sirene auf dem gesamten Gelände. Sehr wahrscheinlich war die Sicherheitsstaffel in diesem Moment gerade dabei, das Gebäude zu umzingeln.

Mrs Jefferson gab einen erstaunlich kleinen Laut für eine so große Frau von sich, dann fiel sie in Ohnmacht und riss den Monitor für die Herzüberwachung mit sich. Er knallte auf den Boden und erschreckte Muldoon. Sergeant Harris war sich sicher, dass er jetzt panisch werden und auf den Zünder drücken würde. Doch seine linke Hand, die den Auslöser umklammert gehalten hatte, löste sich kurz, während er sich wieder sammelte.

Darnelle hatte Sergeant Harris ein sekundenlanges Fenster zum Handeln geöffnet. Es reichte ihm, zu wissen, dass er eine Chance hatte. Auch wenn es die einzige Chance war. Wenn er es vermasselte, würden sie alle geröstet werden. Oder korrekt gesagt: zu Konfetti zerfetzt.

Er brach durch die Schwingtür, voll auf die Hand des Attentäters konzentriert, die den Auslöser hielt. Mit seinem kompletten Körpergewicht warf er sich in einer einzigen fließenden Bewegung, die er oft trainiert, aber noch nie angewendet hatte, auf den Angreifer.

Mit einem Schrei fiel Muldoon, als Sergeant Harris dem Mann sein linkes Handgelenk brach, um ihn handlungsunfähig zu machen. Gemeinsam stürzten sie zu Boden. Durch den Schmerz seines gebrochenen Gelenks stand Muldoon unter Schock. Das war gut.

Sergeant Harris hörte etwas, das wie ein Schuss klang. Dann hatte er das Gefühl, von einer Kanonenkugel getroffen worden zu sein. Verdammt, hatte der Hurensohn etwa doch die Explosion auslösen können?

Nein, aber den Zünder, wurde Sergeant Harris bewusst. Der Aufprall hatte ihn ausgelöst, aber er hatte fehlgezündet. Das waren gute Neuigkeiten. Die schlechten Neuigkeiten waren, dass die verpatzte Explosion ihn umbringen würde. Seine Gliedmaßen wurden sofort eiskalt, als wenn alles Leben aus ihm herausgesaugt worden wäre. Er war sich hektischer Aktivitäten um sich herum bewusst: der Präsident, der in Deckung ging, der Rausch, mit dem die hoch spezialisierten Jungs vom Secret Service sich an die Arbeit machten. Alarmsirenen schrillten, und irgendjemand schrie. Ein betäubendes Klingeln dröhnte in seinen Ohren. Der ätzende Geruch von Chemikalien drang in seine Lunge.

Die Welt löste sich in Doppelbilder auf, als Sergeant Harris’ Bewusstsein so langsam wegsickerte wie das Blut auf dem Boden. Geräusche zogen ein seltsames Echo hinter sich her, als wenn sie in einen Brunnen gerufen würden. „Stehen bleiben ...ehen bleiben ...ehen bleiben ...“ Der gebrüllte Befehl hallte in Sergeant Harris’ Kopf nach. „Niemand bewegt sich! ...egt sich ...egt sich ...“

Sein Puls ging schwach. In einer sich immer weiter ausbreitenden Blutlache liegend, stellte er sich vor, wie seine Systeme langsam herunterfuhren, eines nach dem anderen, wie das Licht in einem Theater, das nach dem letzten Vorhang erlischt. Er fühlte, dass er zitterte, oder vielleicht war es auch der Attentäter, der versuchte, sich unter ihm zu befreien. So zu sterben, dachte er, zu den Füßen des Präsidenten, das ist doch Scheiße! Das beleidigte seinen Sinn für Anstand. Sicher, es sollte ihm egal sein, wenn er erst einmal tot war. Es sollte ihm überhaupt egal sein. War es aber irgendwie nicht.

Sergeant Harris konnte sein Spiegelbild in der Linse der 360-Grad-Überwachungskamera sehen, die an der Decke angebracht war. Blut hatte sich wie ein Teppich unter ihm ausgebreitet. Es sieht immer schlimmer aus, als es ist, sagte er sich. Das sagte er seinen Patienten auch immer.

Der Schwärm stieß herab, ein wildes Durcheinander aus schwarzen Anzügen und Uniformen, als der Secret Service sich daranmachte, den Verrückten abzuführen und den Präsidenten in Sicherheit zu bringen.

Sergeant Harris war kalt, und er war auf dem Weg in die Dunkelheit. Er konnte fühlen, wie er sich selbst entglitt und in ein dunkles Loch fiel.

„Machen Sie Platz!“, rief eine laute Stimme. Die Worte hallten nach, dann verschwanden sie. „Dieser Mann braucht Hilfe!“

2. TEIL

„Der beste Weg, ein Problem aus der Welt zu schaffen, ist, es zu lösen.“

Alan Saporta, amerikanischer Musiker

2. KAPITEL

Port Angeles, Washington

Sommer

Die ganze Welt weiß doch, dass jede alleinerziehende Mutter auf der dringenden Suche nach einem Ehemann ist.“ Mable Ciaire Newman blinzelte durch ihre Katzenaugenbrille aus den Fünfzigerjahren.

„Sehr lustig“, erwiderte Kate Livingston, die ihr gegenübersaß. „Das sagst du jedes Jahr.“

„Weil du jeden Sommer herkommst und immer noch Single bist.“

„Vielleicht gefällt es mir, Single zu sein“, antwortete Kate.

Aus dem Fenster der Hausverwaltung schaute Mable Ciaire dem halbwüchsigen Jungen und seinem ausgewachsenen Beagle zu, die in Kates Jeep ein wildes Zerrspiel mit einer Socke veranstalteten. „Gehst du im Moment wenigstens mit jemandem aus?“

„Das erste Date bekomme ich hin. Das Problem liegt eher darin, die Männer zu einem zweiten Treffen zu überreden.“ Kate schenkte ihrer mütterlichen Freundin ein selbstironisches Lächeln, beinahe übermütig und gerade breit genug, um sich dahinter zu verstecken. Kate hatte Aaron mit zwanzig bekommen und schon immer sehr viel jünger ausgesehen, als sie wirklich war. Viele Männer waren überrascht, dass sie Mutter war. Aber wenn sie dann mitbekamen, wie anstrengend ihr Junge war, neigten sie dazu, sich gleich wieder auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden.

„Dann sind sie verrückt! Du hast einfach noch nicht den Richtigen getroffen.“ Mable Ciaire blinzelte ihr zu. „Im Haus von den Schroeders wohnt ein Mann, den du dir mal genauer ansehen solltest.“

Kate schüttelte sich übertrieben. „Ich glaube nicht.“

„Warte nur, bis du ihn siehst! Das wird deine Meinung ändern.“ Sie öffnete einen Schrank, in dem diverse Schlüssel hingen, und fand den mit Kates Namen darauf. „Ich hatte dich eigentlich erst morgen erwartet.“

„Wir haben uns entschieden, schon einen Tag früher herzukommen“, sagte Kate und hoffte, dass es keine weiteren Fragen geben würde. Auch wenn Mable Ciaire sie seit dem ersten Sommer ihres Lebens kannte, war sie noch nicht bereit, über das zu reden, was passiert war. „Ich hoffe, dass das in Ordnung ist?“

„Was sollte falsch daran sein, den Sommer einen Tag früher zu beginnen? Das Reinigungsteam und die Gärtner sind bereits bei euch gewesen. Ist die Schule denn schon zu Ende?“ Sie neigte leicht den Kopf, um einen besseren Blick auf Kates Jungen werfen zu können. „Ich dachte, die Kinder hätten noch eine Woche.“

„Nein, die letzte Glocke des Schuljahres klingelte gestern um Viertel nach drei, und heute ist die dritte Klasse für Aaron schon nicht mehr als eine schlechte Erinnerung.“ Kate suchte nach ihrem Schlüsselbund. In ihrer Tasche flogen tausend kleine Notizzettel umher, die sie brauchte, weil sie ihrem eigenen Gedächtnis nicht traute. Außerdem hatte sie so das Gefühl, organisiert zu sein und alles unter Kontrolle zu haben – auch wenn es die meiste Zeit über nicht stimmte. Für den Sommer hatte sie sich eine Fülle von Projekten vorgenommen. Sie musste das untere Badezimmer im Sommerhaus neu verfugen, die Fensterrahmen streichen, ganz zu schweigen davon, dass sie die Beziehung zu ihrem Sohn vertiefen, sich einen anderen Beruf überlegen und zu sich selbst finden musste.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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