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Gegen seinen Willen verliebt sich der Künstler und Freigeist Kristjof in den geheimnisvollen Anwalt Mino. Minos kalte, berechnende Fassade bekommt erste Risse, während Kristjof ihm regelrecht verfällt. Doch auch Kristjofs Einfluss verändert Mino und er wagt es erstmals, sich gegen seinen Vater zu stellen. Doch er hat nicht damit gerechnet, dass er Kristjof damit in Gefahr bringt.
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Seitenzahl: 238
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Sigrid Lenz
© dead soft verlag, Mettingen 2017
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte:
© Volodymyr Tverdokhlib – shutterstock.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-171-0
Gegen seinen Willen verliebt sich der Künstler und Freigeist Kristjof in den geheimnisvollen Anwalt Mino. Minos kalte, berechnende Fassade bekommt erste Risse, während Kristjof ihm regelrecht verfällt. Doch auch Kristjofs Einfluss verändert Mino und er wagt es erstmals, sich gegen seinen Vater zu stellen.
Doch er hat nicht damit gerechnet, dass er Kristjof damit in Gefahr bringt.
Die Kaltmanns ließen niemals Zweifel an ihren Absichten. Mino kam diese Haltung entgegen. Warum leugnen, worauf es doch hinauslief? Vor allem, wenn sie unter sich waren.
Obwohl die Kaltmanns allein ihrer Tätigkeit wegen von nicht geringer Paranoia geplagt wurden, öffneten sie sich ihm gegenüber. Das lag nicht nur an seinem Beruf. Oft genug hatten ihm sein Vater und ebenso dessen Geschäftspartner versichert, dass es in seinem Falle nicht nötig war, am Vertrauen seiner Klienten zu zweifeln. Ein Ruf eilte ihm voraus, die Historie seiner kurzen Laufbahn sprach für sich.
Bestätigung benötigte er nicht und ließ sich nichts anmerken, als der trotz des fehlenden Sonnenscheins mit Sonnenbrille ausgestattete Bodyguard ihn abtastete, bevor er ihm Zutritt gewährte.
Nichtsdestotrotz wirkte Alexander Kaltmann wenig erfreut, ihn alleine vor sich zu sehen.
„Ich kenne Ihre Qualitäten“, bemerkte er mit säuerlichem Gesichtsausdruck. „Allerdings wäre es mir durchaus lieb, wenn sich einer der Senior-Partner ebenfalls bei mir blicken ließe.“
Mino zwang sich zu einem Lächeln. „Seien Sie versichert, dass es sich bei Ihnen um unseren wertvollsten Klienten handelt“, erwiderte er. „Gerade aus diesem Grund sind unsere erfahrensten Köpfe dabei, Ihren Fall so sorgfältig wie nur möglich zu bearbeiten.“
Alexander grinste, schlug ihm überraschend auf die Schulter. Seine Stimme dröhnte. „Ich weiß, mein Junge. So bin ich nun einmal. Geradeheraus. Nichts für ungut. Sie gehören zur Familie, da werde ich nicht so sein. Aber richten Sie Ihrem Vater aus, dass ich für gewöhnlich keinem Handlanger Einlass gewähre, geschweige denn, ihm meine Unterlagen anvertraue.“
Mino nickte höflich, erlaubte seinem Mundwinkel in Erwiderung ein kurzes Zucken, bevor er seine Lider niederschlug.
Er wusste, wie mit dieser Art von Kunden umzugehen war. Nicht zuletzt aus diesem Grund schickte ihn sein Vater zunehmend auf notwendige, diplomatische Missionen, für die ihm selbst das Feingefühl fehlte.
Auch in diesem Fall erkannte Mino Alexanders Schwäche auf den ersten Blick und reagierte mit Zurückhaltung. So nahm er dem eher lauten Mann den Wind umgehend aus den Segeln, bis dieser ihm ohne weitere Diskussionen Zugang zu seinen Dateien gewährte.
„Wir haben das Problem im Griff.“ Mino reichte ihm zum Abschied die Hand, nachdem er seine schwarzen Lederhandschuhe übergestreift hatte. „Sie können sich auf uns verlassen.“
„Dafür bezahle ich auch genug“, merkte Alexander an und verabschiedete ihn mit einem nachlässigen Winken, bevor er sich seiner Hausbar zuwandte.
Mino verließ das Anwesen. Gleichmäßige Schritte und eine gerade Haltung signalisierten Selbstbewusstsein und Ruhe. Das war notwendig, solange er sich noch im Bereich der Außenkameras befand.
Die Bücher zu frisieren, sämtliche Spuren illegaler Einkünfte und Transaktionen zu beseitigen, war die leichteste aller Übungen, dafür brauchte sein Vater ihn für gewöhnlich nicht. Doch im Umgang mit der schwierigeren, zahlungskräftigen Klientel, die sich vorwiegend in einer moralischen und rechtlichen Grauzone aufhielt, kam ihm Mino immer öfter gelegen. Ebenso wie sein scharfer Blick und die Fähigkeit, rasch zu kombinieren und zu handeln.
Dennoch, und obwohl er es sich nicht anmerken ließ, blieb ein unangenehmes Gefühl bestehen. Jenes, das ihn jedes Mal wieder beschlich, wenn er es mit der Familie Kaltmann zu tun bekam.
An diesem Tag jedoch gelang es ihm nicht wirklich, das Unwohlsein abzuschütteln. Wie eine dunkle Vorahnung legte es sich über sein Gemüt, beschwerte seine Schritte.
Vielleicht lag es an dem früh hereinbrechenden Abend, der zunehmenden Kälte der Jahreszeit, dass er die trübe Stimmung auch nicht loswurde, nachdem er seine Aufzeichnungen gespeichert und die Kanzlei verlassen hatte.
Als er in seinem schwarzen Wagen durch die Straßen glitt, erlaubte Mino sich für einen Augenblick die Maske fallen zu lassen. Er atmete aus und wusste von der Dunkelheit, die seine Augen beherrschte, von den Falten, die sie umrahmten und die im Licht des Wageninneren stärker hervortraten. Andere, tiefere Falten zogen seine Mundwinkel herab, zerfurchten seine Stirn und den Bereich zwischen seinen Augenbrauen.
Mit nicht einmal dreißig Jahren fühlte er sich wie ein alter Mann, geradewegs als hätte er sich bereits in seiner Jugend weit jenseits seiner Jahre befunden.
Er presste die Lippen zusammen, bog aus einer spontanen Eingebung heraus in eine Einfahrt ab und hielt den Wagen vor einem Etablissement, das am ehesten an eine Bar erinnerte.
Für einen Moment blieb er sitzen. Das war nicht seine Art, er trank selten und verspürte seltener noch das Bedürfnis dazu. Schon gar nicht, wenn er mit dem Auto unterwegs war.
Doch an diesem Tag war etwas anders, rief ihn das Schild mit der Neonschrift, ohne dass er sich erklären konnte warum.
Trotzdem zögerte er, obwohl das eigentlich nicht infrage kam. Ein einmal gefasster Entschluss sollte auch durchgeführt werden. Deshalb verließ Mino den Wagen, überquerte mit gleichmäßigen, ruhigen Schritten den Parkplatz, bis er den Eingang erreichte.
Die Luft schlug ihm warm und stickig entgegen und beinahe drehte er auf dem Absatz wieder um. Seine Welt sah anders aus als dieser Ort, der sich kaum Bar nennen durfte. Es war voll und laut und er blieb stehen, suchte mit dem Blick einen Grund zu bleiben.
Schräg dem Eingang gegenüber hatte sich eine bunte Gruppe niedergelassen. Die Stimmen der Mitglieder übertönten den Lärm. Eine junge Frau kreischte und schlug im Scherz nach einem großen, bärtigen Mann, der sich lachend vor ihrem Angriff duckte. Andere sprangen wahlweise ihm oder ihr bei. Die Gesichter der übrigen Besucher wandten sich dem Spektakel zu.
Nur eine Person blieb still und für einen Moment starrte Mino auf die Mähne braunen Haares. Der Mann saß über den Tisch gebeugt. Sein Haar fiel ihm ins Gesicht, während er emsig auf einer Serviette kritzelte und plötzlich innehielt. Mino konnte den Blick nicht abwenden, beobachtete gebannt, wie der Mann den Kopf hob und ihn mit seinen dunklen Augen durchbohrte. Er sah ihn mit dem Ausdruck vollster Konzentration an, absolut reglos. Ebenso wie er zuvor seiner Serviette zugewandt gewesen war, richtete er nun seine Aufmerksamkeit auf Mino.
Für einen Augenblick war es ihm, als bekäme er keine Luft, als erstickte ihn die Enge der Umgebung, als verbrennte ihn die Hitze, als bedrohte ihn dieser Blick.
Minos Hände suchten seinen Kragen, vermochten den Mantel nicht zu öffnen. Er spürte die verbrauchte Luft der Menge auf seinen Lippen, doch war unfähig, sie in seine Lunge zu zwingen. In diesem Moment rempelte ihn ein Körper von hinten an, Lachen und Proteste ertönten, als neue Gäste an ihm vorbei in den Raum drängten.
Mino schloss für den Bruchteil einer Sekunde die Augen, drehte dann sich um und floh. Er lief, bis er die kalte Luft auf seinen Wangen spürte, bis es ihm wieder möglich war, diese einzusaugen. Schließlich stolperte er, kam zu sich und blieb stehen. Peinlich berührt atmete er tief durch und wartete, bis sein Herzschlag sich beruhigte.
Das war verrückt, das war nicht er. Vermutlich hatte sich ein Erkältungsvirus in ihm festgesetzt, beeinträchtigte sein ansonsten kontrolliertes Verhalten. Vielleicht kam es ihm gerade aus diesem Grund immer noch so vor, als verfolgten ihn die Augen des Mannes, als haftete dessen Blick in seinem Nacken.
Mino hatte sich dessen Gesicht eingeprägt, wie er sich jedes Gesicht einprägte, wie er es gewohnt war, jeden Ausdruck, jede Bewegung zu deuten. Nur in diesem Fall blieb er ratlos. Denn letztendlich wollte er nichts über den Fremden wissen, wollte nicht über ihn nachdenken, ihn nicht analysieren und konnte es doch nicht verhindern.
Die Haut hatte blass gewirkt, bläulich trotz des warmen Lichtes. Schatten unter den Augen, Schatten, die das schulterlange Haar geworfen hatte. Die Lippen waren schmal und geschwungen gewesen, die Schultern breit, das Hemd aufgeknöpft. Niemand, der sich seines Körpers schämte. Oder seines Verhaltens, seiner Blicke. Ganz gleich, wie unverhohlen oder schamlos diese auch sein mochten.
Mino las täglich in Menschen und er hatte auch hier das Interesse erkannt. Eine rohe, offen demonstrierte Anziehung, simpel und körperlich, das war es, was er gespürt hatte. Unnötig, sich selbst einzugestehen, dass das Interesse auf Gegenseitigkeit beruhte. Der Mann war anders gewesen. Nicht auf die Art anders wie die übrigen Besucher der Bar, die Mino nur am Rande wahrgenommen hatte. Der geheimnisvolle Fremde vibrierte vor zurückgehaltener Energie und wirkte gleichzeitig entspannt in seiner Haut. Das eine wie das andere war Mino fremd und vielleicht übte es auch aus diesem Grund eine solch unweigerliche Faszination auf ihn aus.
Trotzdem zog er es nicht einmal in Erwägung zurückzugehen. Ungewohnt, verrückt genug sogar, dass er sich hatte hinreißen lassen, die Bar zu betreten. Hatte er doch bereits zuvor gewusst, wie fern sie seiner Welt, seiner Lebensart war. Er biss die Zähne zusammen. Alkohol konnte er sich jederzeit liefern lassen, nichts sprach dagegen. Und mit Sicherheit bekäme er es dann mit besserer Qualität zu tun.
Er hob das Kinn, strich seinen Mantel glatt und achtete auf den Gleichtakt seiner Schritte. Die Fassade stand und er begriff nicht wirklich, was sie zum Bröckeln gebracht hatte.
Unbemerkt stand der Mann aus der Bar im Schatten des Einganges und notierte Minos Kennzeichen. Er lächelte und hielt die Serviette hoch über die Menge, als er sich seinen Weg zurück zu seinen Freunden bahnte.
„Ich hab sie“, verkündete er und neigte sich zu dem Bärtigen, der seine Arme nun demonstrativ vor der Brust verschränkte.
„Ich denke gar nicht daran, dir zu helfen, Kristjof“, erklärte er, doch das Zucken um seine Mundwinkel verriet seinen Wankelmut.
„Nun lass dich nicht lange bitten, Xander.“ Er schob die Unterlippe vor und Xander rückte ein Stück zur Seite. Kristjof nahm so nahe neben ihm Platz, dass ihre Beine gegeneinanderdrängten.
„Er ist wunderschön. Hast du seine Augen gesehen? So groß wie Seen, nein wie Ozeane.“
„Hör auf!“ Xander presste seine Hände gegen die Ohren. „Du bist kein Poet, Kristjof, versuch es nicht einmal.“
„Ich höre auf, wenn du mir den Gefallen tust.“ Kristjof legte seine Hand auf Xanders Oberschenkel. „Eine kleine Wanderung in die Welten des Internets, ich weiß, dass du das hinkriegst.“
„Ich nicht“, brummte Xander. „Aber ich kenne jemanden, der jemanden kennt und das weißt du genau.“
Kristjof wedelte mit der Serviette. „Und deshalb habe ich hier die Nummer. Finde ihn für mich und ich lasse dich in Ruhe.
Xander seufzte. „Du lässt nicht locker, oder?“
„Niemals.“ Kristjof nickte ernst, zwinkerte ihm dann zu.
„Manche Menschen wollen nicht gefunden werden“, gab Xander zu bedenken.
„Und manche Menschen kleiden sich gut und fahren elegante Autos. Das spricht für einen Namen, der sich nicht so ohne Weiteres verstecken lässt.“
Kristjof lächelte versonnen und Xander stöhnte. „Gerade solche Menschen wollen nichts mit uns zu tun haben.“
„Du vergisst das Schicksal. Es befindet sich häufig auf meiner Seite.“ Kristjof griff nach einer anderen Serviette, nachdem Xander schließlich doch die mit dem Kennzeichen eingesteckt hatte.
„Das Schicksal“, brummte Xander in sich hinein und wusste doch, dass Kristjof ihm bereits nicht mehr zuhörte.
Anstelle einer Nummer entstand eine Zeichnung auf der neuen Serviette, fügten sich flink gezeichnete Linien zu einer schlanken Gestalt, umwoben von einem schwarzen, eng geschnittenen Mantel.
Auch wenn Mino es vor sich nicht zugab, das Gesicht des Fremden verfolgte ihn noch Tage später und das war ein Novum.
Zwar fand er sich gelegentlich für einen Abend mit einem Glas und einer Flasche Hochprozentigem wieder und verbrachte auch von Zeit zu Zeit mit jemandem die Nacht, aber er dachte nie darüber nach, ob er es tat, weil es von ihm erwartet wurde, oder weil er selbst es von sich erwartete. Keines der Gesichter begleitete ihn über den Morgen hinaus.
Vielleicht war es zu leicht, vielleicht folgten sie ihm zu widerstandslos, als dass er das Interesse behielt. Es reichte, sich selbst und anderen gegenüber den Anschein von Normalität, von Pflichterfüllung zu wahren, auch wenn eine derartige Pflicht nirgendwo wahrhaftig notiert war.
Doch eigentlich wusste er genau, dass Interesse von seiner Seite aus nie wirklich bestanden hatte.
Zumindest nicht auf die Art, auf die sich ihm die Züge des Mannes aus der Bar eingeprägt hatten. Wenn er die Augen schloss, glaubte Mino ihn vor sich zu sehen. Dann juckte es ihm in den Fingern, die blassen Wangen zu berühren und seine Finger durch das Haar gleiten zu lassen.
Er atmete aus, öffnete die Augen, starrte auf die Akten, die seinen Schreibtisch überhäuften. Der Bildschirm flimmerte. Die Kunden waren ungeduldig. Sein Vater ungeduldiger.
Mino biss sich auf die Lippen und begann mit der Arbeit. Seine Finger flogen über die Tastatur. Zwischendurch blätterte er in den Papieren, als sich die Tür zu seinem Büro öffnete. Mino sah nicht auf. „Was gibt es?“, fragte er, den Blick auf den Bildschirm geheftet.
Erst als keine Antwort erklang, hob er den Kopf, seine Finger hielten still und das Klackern der Tastatur verstummte.
Da stand er, im Türrahmen, trat von einem Fuß auf den anderen, während sein Blick über die Einrichtung wanderte. Er sah so aus, wie Mino ihn in Erinnerung hatte. Bleich mit weichem Haar, das ihm unordentlich auf die Schultern fiel. Ein wenig gesünder vielleicht als wenige Tage zuvor. Die Schatten unter den Augen waren weniger geworden. Helle Jeans saßen ihm tief auf den Hüften und die Kapuzensweatjacke schien zu dünn für die ungemütlichen Herbsttemperaturen.
Mino lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Hände in den Schoß. Er würde nicht zugeben, dass er ihn erkannte und damit sich und ihm eingestehen, dass sich seine Züge in seine Erinnerung gebrannt hatten.
„Was kann ich für Sie tun?“ Seine Stimme klang kontrolliert, leise, wie es seine Gewohnheit war. Seine Haltung verriet nichts.
Der Fremde grinste, als er seinen Blick schließlich auf ihn richtete. Während sich ihre Augen erneut begegneten, setzte Minos Herz aus. Nur für einen Augenblick, dann hatte er sich wieder gefangen.
„Wir sind uns einmal begegnet“, antwortete sein Gegenüber und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich dachte mir, dass es dabei nicht bleiben sollte.“
„Tatsächlich.“ Minos Augenbrauen wanderten in die Höhe und er musterte den Mann in seiner Tür. „Mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Kristjof“, erwiderte der Unbekannte selbstbewusst. „Kristjof Olscheg.“
Als Kristjof sich plötzlich aus dem Türrahmen löste und mit raschen Schritten auf ihn zukam, gelang es Mino, nicht zurückzuzucken. Sein Herz pochte und sein Mund war trocken, doch das war nicht das erste Mal und würde nicht das letzte Mal sein, dass er eine Emotion überspielte. Emotionen hatten in seiner Profession, in seiner Familie, in seinem Leben nichts verloren.
Mit einer ausholenden Geste legte Kristjof eine Karte mitten auf einen Stapel der Akten vor ihm, verschränkte danach stolz die Arme vor der Brust. „Meine Adresse“, verkündete er, korrigierte sich gleich darauf. „Besser gesagt: die Adresse des Lokals, in dem Evangeline die Bar bedient. Es gibt keinen besseren Ort, um sich kennenzulernen.“
Mino verzog den Mund ohne aufzusehen. „Wer sagt, dass ich die Absicht habe?“
Als er aufblickte, lachte Kristjof breit und über das ganze Gesicht. Der Ausdruck fesselte, sprach von einer Lebensfreude, die Mino unbekannt war.
„Jeder, der mich sieht, hat die Absicht“, entgegnete Kristjof schließlich, drehte sich dann um und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro.
Mino schüttelte den Kopf, studierte die Uhrzeit, die mit Kugelschreiber auf der schlicht gestalteten Karte notiert war, und listete stumm die Argumente auf, die dagegen sprachen, seine Zeit zu verschwenden. Dennoch wusste er bereits, dass ihn nichts davon abhielt, der Einladung zu folgen.
*
Das Etablissement lag nicht weit von der Bar entfernt, in der Mino Kristjof zum ersten Mal gesehen hatte.
Er parkte seinen Wagen ein Stück entfernt, vielleicht auch nur, um den Moment hinauszuzögern, in dem er sich einer Situation stellte, die er sich selbst so gewiss nicht ausgesucht hätte. Seine Schritte maß er langsam und mit Bedacht, schlug den Kragen des Mantels erst hoch, strich ihn dann wieder zurück und öffnete die obersten Knöpfe, noch bevor ihm die warme Luft aus dem Inneren des Lokales entgegenschlug.
„Da ist er, was habe ich euch gesagt?“ Er hörte die Stimme, ehe er das dazugehörige Gesicht in der Menge entdeckte. Kristjof war aufgesprungen und lachte erfreut. Es war beinahe ansteckend. Er drehte sich zu seinen Freunden um, als erwartete er Applaus, und Mino erkannte die Gruppe wieder. Ebenso gut aufgelegt wie er sie in Erinnerung behalten hatte, belagerten sie einen länglichen Tisch an einer der Wände. Gläser verschiedenen Inhalts bedeckten die Oberfläche, dazwischen befanden sich Schüsseln voller Knabbereien.
Nachos überbacken mit Käse – Mino schauderte innerlich. Doch Kristjofs Lächeln ließ ihn die Umgebung mit all den Kleinigkeiten, die seinem Lebensstil fremd waren, vergessen. Als Kristjof ihm buchstäblich entgegensprang, sein Handgelenk packte und ihn zu seinen Freunden zog, folgte er, dem Enthusiasmus des Mannes wehrlos ausgeliefert.
„Leute, das ist Mino. Mino – das sind meine Leute.“ Kristjof deutete in die Runde gut gelaunter Gesichter.
„Vergiss es, Kris, das bekommst du doch nicht hin“, erklang die Stimme einer jungen Frau, die im Schoß eines dunkelblonden Hünen saß. „Wir freuen uns, dich kennenzulernen, Mino“, fuhr sie dann fort und hob ihr Glas. „Kristjof hat schon von dir erzählt.“
Mino hob die Augenbrauen anstelle einer Erwiderung.
„Nur keine Panik!“ Er erinnerte sich an den Bärtigen mit dunklen Locken, dessen Stimme nun durch den Raum dröhnte, bis das Mädchen ihm einen Klaps verpasste. „Kristjof erzählt viel. Das Wenigste kann man für bare Münze nehmen. Das spielt sich alles in seinem verrückten Schädel ab.“
„Da hat Xander allerdings recht“, meinte das Mädchen und gab den anderen gestikulierend zu verstehen, dass sie zusammenrutschen sollten.
Der Bärtige – Xander – stand schließlich auf, organisierte zwei Stühle von Nebentischen und stellte einen auffordernd neben die junge Frau. „Es wäre alles viel einfacher, wenn du nur für einen Moment von deinem Freund herunterklettern könntest “, kommandierte er. „Der gute Julian bekommt nicht einmal einen Drink ab, solange du im Weg bist.“
„Sei nicht so uncharmant!“ Melanie schüttelte den Kopf, stand aber dennoch auf, worauf Julian übertrieben die Arme nach ihr ausstreckte.
Ein Junge mit hellroten Locken und ähnlich rötlicher Gesichtsfarbe, schlüpfte ebenfalls von der Bank, rückte ihr den Stuhl zurecht und glitt wie selbstverständlich auf den anderen. „Von Melanie lässt sich jeder gerne ablenken“, murmelte er dann. Wenn er nicht aufpasste, ließ er einen leichten britischen Akzent hören. „Unser Ewan ist eben ein echter Kavalier.“ Melanie drückte dem Jungen lächelnd einen Kuss auf die Wange und dessen Gesichtsfarbe vertiefte sich. Ehe Mino sich versah, zog Kristjof ihn auf die Bank, schob sich selbst neben ihn, sodass sie dicht gepresst nebeneinandersaßen.
Mino schwirrte der Kopf, während das Geplänkel sich fortsetzte. Xander gab, wie es aussah, vornehmlich den Ton an. „Zieh den Mantel aus, viel zu heiß hier drin“, hörte Mino Kristjof neben sich und schon zerrte dieser an seinem Ärmel. Mino entschied sich, auf den Vorschlag einzugehen, schlüpfte aus dem Mantel, den Kristjof an Xander weiterreichte. Mino beobachtete Xanders breites Grinsen, als eine schlanke Frau mit einem Tablett an ihrem Tisch haltmachte. „Wie bestellt, die Spezialität des Hauses“, verkündete sie und servierte mehrere Schnapsgläser und eine Flasche ohne Etikett mit klarer Flüssigkeit.
„Na endlich, wird auch Zeit“, trompetete Xander und begann einzuschenken. Im Nullkommanichts hatten sie alle ein Glas vor sich.
Kristjof strahlte ihn an und kippte seines auf ex, noch bevor die anderen überhaupt angesetzt hatten. Mino holte tief Luft und folgte dem Beispiel, bemühte sich, nicht das Gesicht zu verziehen. Es war nicht der beste Brand, sicher auch nicht der schlechteste. Als die anderen jubelten und sich nachschenkten, bedeckte er sein Glas mit der Hand.
Kristjof lehnte sich an ihn. „Dann bist du kein Trinker vor dem Herrn? Wie vernünftig.“
Mino zuckte mit den Schultern. „Nicht immer.“ Er versuchte ein Lächeln, doch das wollte ihm nicht recht gelingen. Es war zu warm und er spürte Kristjofs Körper, dessen Hitze, seine Aufmerksamkeit.
Kristjof trank. Sein Schenkel presste sich an Minos. Vielleicht lag es am Alkohol, der noch in seinem Hals brannte und seinen Magen wärmte, aber Mino wich nicht aus. Im Gegenteil, er erwiderte den Druck, suchte die Nähe. Spürte den Wunsch Kristjofs auch ohne in dessen Augen zu sehen. Bis der sich zu ihm drehte und seine Augen alles verrieten. Kristjofs Hand wanderte zu Minos, sein kleiner Finger legte sich darauf. Er lächelte und der schön geschwungene Mund bannte Minos Aufmerksamkeit. Was es war, das ihn anzog, hatte er noch nicht herausgefunden und im Augenblick spielte es auch keine Rolle. Er akzeptierte den Lärm, die Hitze, den Tumult, um Kristjof nahe zu sein. Das alleine dürfte jeden Zweifel an seinem Interesse beseitigen.
Kristjof war auffallend ruhig, als wäre er in einen Zustand zurückgefallen, den lediglich die überschwängliche Begrüßung unterbrochen hatte. Er begegnete Minos Blick und seine Augen glitzerten. Mino sog den Anblick in sich auf, lehnte sich dann näher. „Was hast du genommen?“, flüsterte er und Kristjofs Lächeln wurde breiter.
„Genug“, erwiderte er ebenso leise und hob eine Hand, bewegte sie in einer eleganten Acht, folgte mit seinen Augen der Bewegung. „Siehst du? Ich kann mich konzentrieren. Ich wollte mich konzentrieren können. Für den Fall, dass du vorbeikommst.“
Mino nickte, dachte an emsige Finger, die über Papier wanderten, an hastiges Kritzeln auf Servietten, nickte wieder. „Ich denke nicht, dass du das brauchst“, murmelte er dann.
Kristjof lachte. „Nett. Aber ich glaube nicht, dass das alles ist, was du denkst.“
Mino legte den Kopf schief. In seinen Fingerspitzen kribbelte es. In Wahrheit dachte er daran, Kristjofs Haut unter ihnen zu spüren.
Dort, wo ihre Schenkel sich berührten, glühte er. Sein Atem ging schneller und er befeuchtete seine Lippen, fühlte Kristjofs Blick, bevor er ihn erwiderte. Dessen Augen waren aus der Nähe besehen von einem samtenen Braun, mit einem Hauch ins Grünliche. Warm und lebendig. Alles das, was Mino nicht war.
Kristjofs Hand lag nun wie selbstverständlich auf seiner. Eine Geste, die längst untergegangen war im Trubel, der sie umgab und den sie nicht beachteten.
Ihre Schultern berührten sich, ebenso ihre Arme.
„Nehmt euch ein Zimmer“, grölte Xander, begleitet von Melanies hellem Lachen. Mino sah dennoch nicht auf. Er war unfähig, seinen Blick von Kristjof zu wenden. Selbst als er die Intensität letztendlich nicht mehr ertrug, selbst als er das Band absichtlich brach, so blieb Kristjof doch in seinem Augenwinkel, zeichneten sich dessen Linien deutlich ab. Alles an ihm schien weich und geschwungen. Sein Haar und seine Lippen wirkten warm und einladend und ließen Mino nervös schlucken. Er kannte sich selbst nicht mehr. Seine übliche Reserviertheit, seine Zurückhaltung konnte er nur noch schwer beibehalten. Das, was er an sich für gegeben hielt, die eiserne Kontrolle, die er über sich selbst und sein Verhalten ausübte, geriet ins Wanken, als könnte er sich selbst nicht mehr vertrauen. Und vielleicht wollte er dies auch nicht. Vielleicht war etwas geschehen, das seine Welt auf den Kopf stellte. Sein Blick hing an Kristjofs Lippen und dieser lächelte, verströmte eine Freundlichkeit, die unbekannt schien, die im Rahmen von Minos Erfahrungsbereich, innerhalb seines Lebens fremd war. Dennoch übte sie eine Faszination auf ihn aus, der er sich nicht entziehen konnte.
Und wie es aussah, ging es Kristjof ähnlich.
Keiner von ihnen reagierte auf Xanders Bemerkung, keiner von ihnen hörte, was andere daraufhin erwiderten. Keiner von ihnen achtete darauf, was sich außerhalb des Ballons, in dem sie sich verloren, geschah.
Bis Kristjof die Blase platzen ließ, indem er sich noch näher an Mino schmiegte. Der roch den Alkohol in dessen Atem. Außerdem Rauch, Cannabis und Schweiß. Nichts davon stieß ihn ab. Im Gegenteil, er wollte den Geruch verschlingen und in sich aufnehmen, wollte diese Lippen küssen, diesen Körper an sich ziehen und festhalten.
„Lass uns gehen“, wisperte Kristjof und Mino wusste nicht wie, aber plötzlich stand er aufrecht und Kristjof so nahe bei ihm, dass dessen Hitze ihn zu verbrennen drohte.
Kristjof sah ihn an, schob ihn rückwärts und Mino folgte seiner Führung, sah sich nicht um, bis er in einer Garderobe landete.
„Dein Mantel.“ Kristjofs Lippen waren nah bei seinen und Mino vollkommen gebannt von ihnen. Automatisch griff er rückwärts, fand seinen Mantel mit Leichtigkeit unter den Anoraks und billigen Plastikjacken.
„Ich habe dir gesagt, dass das hier praktisch meine Adresse ist.“ Kristjof lachte und nahm ihn einen kurzen Moment am Arm, bis er ihm die Richtung gewiesen hatte. Vorbei an den Toiletten, hinaus zum Hinterausgang. Nur ein, vielleicht zwei Gebäude weiter, möglicherweise handelte es sich auch nur um weitere Eingänge desselben Hauses.
Mino achtete nicht auf den Weg, nur auf Kristjofs Schritte, auf dessen Worte, die nun ungebremst aus seinem Mund sprudelten. Als hätte die kalte Luft oder die Bewegung ihn aufgeweckt, so beschleunigte Kristjof seinen Gang, zog Mino eine Treppe hinauf.
„Die anderen amüsieren sich noch eine Weile“, erklärte Kristjof und angelte in seinen Jeans nach einem altmodischen Schlüssel, der im Schloss knarzte. „Was hervorragend sein sollte, so können wir genug Lärm veranstalten.“
Nur am Rande registrierte Mino den Sinn der Aussage, erwog die Möglichkeit, dass Kristjof nicht alleine lebte, und ordnete die Information als belanglos ein. Kristjof zog ihn in das Innere des Altbaus und nur einen Moment später fand er sich von einem warmen Körper gegen die Tür gepresst. Dass sein Mantel ihm aus den Händen glitt, registrierte er kaum. Was zählte, waren lediglich die Hände, die hastig über seinen Körper strichen, geradewegs als suchten sie Zugang. Dann drängten sich warme Lippen gegen seine und Mino schloss die Augen, erwiderte automatisch den Kuss. Wie von selbst umschlangen seine Arme den anderen, zogen ihn näher an sich und aus Kristjofs Kehle löste sich ein zustimmender Laut.
Mino spürte Kristjofs deutlich wahrnehmbare Erektion an seinem Schenkel und er erlaubte seinen Hüften eine rhythmische Bewegung, die Kristjof ein Stöhnen entlockte. Es verwandelte sich in den Ansatz eines Lachens, als er den Kuss löste. Doch ließ Mino ihm nicht viel Zeit, erneut die Initiative zu ergreifen. Stattdessen drehte er den Spieß um und mit einer raschen Bewegung hatte er die Positionen vertauscht, presste nun seinerseits Kristjof gegen die Tür. Das war besser. Er senkte den Kopf, küsste Kristjofs Mundwinkel, ließ seine Lippen dann tiefer wandern, über das stoppelige Kinn bis zum Hals. Kristjof drehte den Kopf zur Seite, als versuchte er ihm mehr Raum zu geben, schlang gleichzeitig beide Arme um Minos Schultern. Die Umklammerung war beinahe zu eng, jedoch konnte sie nichts gegen seine wachsende Erregung ausrichten.
Sie waren ungefähr gleich groß und von ähnlicher Statur, wenngleich Mino vermutete, dass er Kristjof kräftemäßig überlegen war. Allerdings schloss er nicht aus, dass der es vorzog nachzugeben. Wenigstens der Art nach zu urteilen, wie er mit geschlossenen Augen lächelte, den Kopf gegen die Tür gelehnt und die Hüften gegen Minos gepresst. All das nahm Mino im Bruchteil einer Sekunde mit dem Teil seines Verstandes wahr, der noch rational agierte. Der Teil, der immer ruhig blieb und vorsichtig. Der beobachtete und analysierte, die Falle suchte, den Fehler im Bild. Wenn auch nur aus Gewohnheit, als Folge eines Trainings, mit dem er groß geworden war. Doch dieser Teil wurde zurückgedrängt, als Kristjof wieder in Bewegung geriet und er an Minos Pullover zerrte und sein Hemd aus der Hose zu ziehen versuchte.
Mino bewegte seine Lippen zu Kristjofs Ohrläppchen, biss sanft hinein, wurde belohnt, als Kristjofs Becken ihm entgegenzuckte und ihm die Dringlichkeit der Angelegenheit verdeutlichte.
„Wo“, wisperte er und Kristjof öffnete die Augen. Sein Blick wirkte desorientiert, seine Pupillen glasig. Er blinzelte, leckte sich die Lippen, starrte dann auf Minos Mund, schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. „Zwei Türen weiter“, antwortete er heiser, streckte sich unerwartet und schubste Mino mit beiden Händen rückwärts. Der wich zurück, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, vergaß auch nicht, Kristjof mit sich zu ziehen. Dessen Kenntnis des Interieurs machte sich bemerkbar, als er Mino mit schlafwandlerischer Sicherheit an einigen Hindernissen vorbeibugsierte. Die ganze Wohnung wirkte wie ein einziges Chaos aus mit diversen Kleidungsstücken und Papieren bedeckten Möbeln und Teppichen und das war noch nichts im Vergleich zu dem Raum, den sie nun betraten.