Nele - Sigrid Lenz - E-Book

Nele E-Book

Sigrid Lenz

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Neles eintöniger Alltag findet jäh ein Ende, als Malik direkt vor ihren Füßen landet. Sie gewährt dem, unter Gedächtnisverlust leidenden, jungen Mann Unterschlupf. Doch schon kurz darauf beginnt ein Albtraum, denn ihre Eltern wollen ein satanisches Ritual an ihm vollziehen. Bevor es dazu kommt, wird er von Vampiren entführt. Gemeinsam mit dem geheimnisvollen Roma Damiel macht sich Nele auf die Suche nach Malik. Langsam wird ihr klar, dass ihre Macht größer und ihr Schicksal bedeutender ist, als sie je erwartet hätte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 475

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nele – Von Engeln und Teufeln
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Sigrid Lenz

Sigrid Lenz

Nele – Von Engeln und Teufeln

Fantasy Roman

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-136-8

E-Book-ISBN: 978-3-96752-636-3

Copyright (2022) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung von Bildern von Creativ Market

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Gott ist ein Konstrukt des Menschen, der Mensch ein Opfer seiner Mythologien. Der Einzelne entscheidet, ob er sich ihnen ausliefert oder ob er sich auf die Suche begibt.

Prolog

Schwarze Flügel rauschen über die Wüste. Es ist kalt und heiß zugleich. Ich bin verloren, die Welt, mein Engel vernichtet. Gott ist tot, Luzifer regiert über sein Heer an Dämonen. Der Vampir an meiner Seite wartet darauf, dass in mir zerbricht, was lange schon zerbrochen ist.

Doch existiert kein Ende. Die Zyklen beginnen und enden in ewigem Kreis.

Kapitel 1

Menschen fallen nicht einfach vom Himmel. Das wusste ich. Davon war ich noch überzeugt, während ich den Fall beobachtete.

Wobei beobachten zu viel gesagt ist. Ich registrierte mehr aus den Augenwinkeln heraus, wie ein dunkler Gegenstand herabstürzte und mit einem dumpfen Knall inmitten des trockenen Feldes landete.

In einem Moment wie diesem schießen verschiedene Gedanken durch den Kopf, reduzieren sich jedoch rasch auf die wahrscheinlichsten Möglichkeiten.

Zuerst dachte ich an einen Flugzeugabsturz. Was sollte es auch sonst sein? Mein Blick fuhr gen Himmel, und ich erwartete, eine Explosion zu sehen, Wrackteile, die direkt auf mich zustürzten und noch Schlimmeres, wie Menschen, die mit Schallgeschwindigkeit zum Erdboden rasten.

Physik war nie mein Fach, und von Flugzeugabstürzen wusste ich so viel wie vom Fliegen, nämlich nichts.

Ich blinzelte noch eine Weile in die Höhe, doch mehr als vereinzelte Wolken, die gemütlich ihre Bahn zogen, konnte ich nicht entdecken.

Ich schluckte trocken und wagte es, meinen Blick wieder auf das Feld zu richten, erwartete halbwegs, die Katastrophe dort vorzufinden.

Doch nicht einmal Sand oder Erde wirbelte auf, geschweige denn, dass ein dampfender Krater vor meinen Augen in die Tiefe ragte.

Stattdessen wurde mein Mut mit einem weitaus seltsameren Anblick belohnt.

Um die Situation zu erklären: ich lief gerne ins Feld hinein. Zu jeder Jahreszeit und egal, was man mir an den Kopf wirft, wenn man mich erwischt. Darin liegt ja auch ein wenig der Reiz. Das bisschen Adrenalin, das mit dem Gedanken, sich unbeliebt zu machen, durch die Adern pumpt, regt den Kreislauf an und sorgt dafür, dass ich mich fast lebendig fühle.

Nur fast, denn es reicht nicht aus, um mich aus der Eintönigkeit meines Daseins zu befreien.

Und eigentlich geht es mir bei meinen Ausflügen doch nur darum. Wenn einem das Leben als Teenager oder junger Erwachsener, wie so gerne behauptet wird, nicht behagt, dann sucht man eben einen Ausweg.

Vielleicht würde ich in einen Wald laufen, wenn es hier in der Nähe einen gäbe. So einen richtigen Rotkäppchen-Wald, mit dunklen Schatten und Geheimnissen. Aber dort, wo ich lebe, in dem tristen, unbedeutenden Vorort, von dem es unendlich viele gibt, da lassen sich allerhöchstens Gehölze entdecken. Und das ist noch zu viel gesagt.

Auf den Wegen, die sich von einem der immer gleich aussehenden Orte zum nächsten erstrecken, spazieren ständig mittelalterliche Exemplare durchschnittlicher Vorortbewohner mit ihren Hunden.

Und ernsthaft – das muss ich nicht haben. Dass mich diese Tölen verbellen, anknurren oder anspringen, während ein gelangweiltes Herrchen oder Frauchen aus der Ferne versichert, dass der bestimmt harmlos sei und nur spielen wolle.

Natürlich springen sie mich an. Ich sehe immer noch ein wenig anders aus als der durchschnittliche Vorstadtbewohner. Und ich bin sicher der einzige Teenager, der sich nicht zwischen Schule, Einkaufen und Partys aufreibt.

Auf jeden Fall befand ich mich an diesem Tag alleine auf weiter Flur. Im Lauf der Zeit war es mir tatsächlich gelungen, die Zeiten abzupassen, während derer Hinz, Kunz und deren Köter Besseres zu tun hatten, als die Landschaft zu verschandeln.

Doch just an diesem Tag hätte ich durchaus Hilfe brauchen können. Denn mit dem Anblick, der sich mir bot, fühlte ich mich dann doch überfordert.

Wer erwartet auch, dass einfach so ein Mensch aus dem Nichts vor einem auftaucht. Wenngleich er ja nicht direkt aus dem Nichts kam, sondern eben gefallen war. Dennoch - für den Sturz und den darauf folgenden Aufprall sah er noch recht heil aus.

Dass es sich um einen ‚Er‘ handelte, war von Anfang an klar. Ich bin ja nicht blind oder blöd. Nackte Männer hatte ich auch schon zu Gesicht bekommen. Wenn mein Stiefbruder aus dem Bad stolzierte und sich, seiner Schönheit bewusst, das Handtuch sparte. Oder wenn mein Vater beim Umziehen die Tür offen ließ. Das waren definitiv Anblicke, auf die ich verzichten konnte.

Aber so war es in diesem Fall nicht. Überhaupt nicht. Was mich nicht nur überraschte, weil ich nach aller Logik mit einer blutigen Masse gerechnet hatte. Sondern auch, weil ich bis dahin dem männlichen Geschlecht nicht viel abgewann.

Nicht, dass ich es nicht versucht hatte, aber Jungs interessierten mich ebenso wenig wie alles andere.

Natürlich existierte hier ein Unterschied. Denn der Junge, der plötzlich auf die Erde gefallen war und sich ein gutes Stück in dieselbe eingegraben hatte, sah tatsächlich ausgesprochen gut aus.

Vielleicht war es sein Äußeres, das mich davon abhielt, sofort die Flucht anzutreten. Ich gebe ja zu, oberflächlich zu sein. Und das nicht nur, weil mich alle so nennen. Neben desinteressiert und antriebslos oder weitaus schlimmeren Begriffen.

Aber, wie oft bekommt man in diesem Leben schon einen Mann zu sehen, der einem nicht nur praktisch in den Schoß fällt, sondern auch noch wirklich niedlich wirkt. Selbst in bewusstlosem und unbekleidetem Zustand.

Ich wagte mich langsam näher, runzelte die Stirn und tat, was getan werden musste: Ich testete mich erst einmal auf einen Traum, indem ich mir fest in den Arm kniff.

Fühlte mich nach dem Nachweis meines eigenen Wachzustandes durchaus versucht, den Jungen zu kneifen, beließ es aber doch bei einem sachten Antippen.

Er wachte nicht auf, fühlte sich sogar erschreckend kühl an, und für einen scheußlichen Augenblick lang befürchtete ich, eine Leiche entdeckt zu haben.

Nicht, dass ich Angst vor Toten verspürte, ich hatte einfach noch nie wirklich darüber nachgedacht. Schon gar nicht darüber, jemanden zu finden, der nur noch aus einer leeren Hülle bestand, kurz davor zu verwesen und in all die ekligen Bestandteile zu zerfallen, zu denen ein Körper früher oder später wird.

Als ich meinen Schreck überwunden hatte, gab ich dem seltsamen Bedürfnis nach, den Jungen ein zweites Mal zu berühren. Nur einen Moment, nur um mich zu vergewissern, dass er wirklich da war, dass die fast zu weiße Haut tatsächlich so rein und heil war, wie sie wirkte. So anders, als sie ausgesehen hätte, wenn er mit dem Luftzug, den ich gespürt hatte, ins Feld geknallt wäre.

Nicht einmal sein Haar sah aus, als ob es jemals mit Schmutz oder Erde in Berührung gekommen sei. Seidig und dunkel lag es ausgebreitet um seinen Kopf, verbarg sein Gesicht zum größten Teil.

Und dann atmete er. Ich zuckte automatisch zurück und sog die Luft ein. Erst jetzt fiel mir auf, wie still es geworden war. Mein Atem verursachte das einzige Geräusch in der Weite, geradeso, als sei die Zeit stehen geblieben.

Kein Vogel sang, kein Windhauch regte sich, nicht einmal eine Grille zirpte.

Er atmete lautlos. Ich sah nur, wie sich seine Schulter leicht hob und wieder niedersank, regelmäßig, ruhig, als sei dieses Feld der bequemste Schlafplatz der Welt.

»Ähm.« Ich wusste nicht, warum ich einen Laut von mir gab und dennoch rutschte er mir heraus. Wenn ich die Möglichkeit gesehen hätte, dann hätte ich ihn wieder zurückgenommen, doch es war zu spät.

Die leichten Bewegungen stoppten, und nur den Bruchteil einer Sekunde später fuhr er hoch, drehte sich zu mir um und starrte mich mit den hellsten Augen an, die ich je gesehen hatte.

Ich erschrak schon wieder, dabei bin ich so schreckhaft nun auch wieder nicht, wich zurück, taumelte, und landete auf dem trockenen Erdboden.

Zu verdutzt, um mir über die Peinlichkeit meiner Lage Gedanken zu machen, starrte ich nur weiterhin in die seltsamen Augen, die sich ihrerseits stumm auf mich richteten.

»Was tun Sie … was tust du hier?«, stammelte ich schließlich. Vermutlich ermutigte mich das Fehlen seiner Kleidung, zum ‚Du‘ zu greifen.

Zum ersten Mal wandte der Junge seinen Blick von mir ab und musterte die Umgebung. Er drehte seinen Kopf langsam. Ich konnte beobachten, wie sein Haar sich in sanften Wellen bewegte und wie das Licht einige der dunklen Strähnen zum Glänzen brachte.

Er schien keineswegs unruhig zu sein, nicht einmal peinlich berührt. Auch nicht sonderlich interessiert an dem, was er zu Gesicht bekam.

Zugegeben, unsere Umgebung war auch alles Andere als interessant. Ein trostloses Feld schloss an das folgende, beängstigend gerade Linien und Rechtecke bestimmten die Gegend. Ich kannte es nicht anders. Selbst die Bäche verliefen schnurgerade zwischen den Feldern. Es war, als habe man jedem einzelnen Bestandteil wilder Natur gewaltsam eine Begradigung aufgezwungen.

In manchen Feldern durchbrachen bereits erste Pflanzen den Erdboden. Doch selbst die handelten organisiert, wuchsen in Reihen in die Höhe.

Vielleicht zog mich auch eine kindische Freude daran, diese Ordnung zu stören, immer wieder in die Felder.

In diesem Moment jedoch war es nicht ich, der das Gefüge störte. Es war der plötzliche Einbruch eines Fremden, der die Einheit durcheinanderbrachte, eine Unordnung schuf, in deren Mitte er sich nun langsam erhob.

Und das immer noch, ohne jede Scham zu zeigen. Das übernahm ich für ihn, indem ich diskret meine Augen abwandte. Allerdings nicht, ohne zuvor noch einen mehr oder weniger ungewollten Blick auf seinen geraden Wuchs und die perfekte Haltung geworfen zu haben. Er erinnerte mich an eine Statue, ein Schönheitsideal der Antike mit seinen perfekten Proportionen und den Muskeln, die nicht zu ausgeprägt waren, aber dennoch Kraft versprachen.

Mein Hals wurde trocken, und ich räusperte mich unwillkürlich, während ich meinen Blick noch gesenkt hielt und fasziniert den Boden neben mir musterte.

»Ich weiß es nicht«, sagte er plötzlich. Seine Stimme klang tief und zugleich sanft. Ich konnte nicht anders, als wieder aufzusehen.

Er sah sich immer noch um, doch als er sein Gesicht wieder mir zuwandte, da bemerkte ich die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen und einen Anflug von Hilflosigkeit in seinem Blick.

»Ähm, du hast nichts an«, bemerkte ich dümmlich, und natürlich sah er sofort an sich herunter.

»Macht das was?«, fragte er und blickte mich genauso verwirrt an, wie ich mich fühlte.

Ich leckte mir nervös die Lippen und vermied es, meinen Blick von seinem Gesicht abzuwenden. Bis mir bewusst wurde, dass ich immer noch auf dem Boden saß.

Unbeholfen kam ich auf meine Füße, hielt den Kopf gesenkt und achtete länger als notwendig darauf, mein Gleichgewicht zu halten.

Doch vielleicht war das auch gut so, denn als ich wieder zu ihm blickte, wurden meine Knie zu Gelee.

Himmel, er sah wirklich gut aus. Zumindest für meinen Geschmack. Sein Haar schimmerte trotz der Schwärze, und seine Lider flatterten. Offenbar stieg seine Unruhe, und ich fragte mich, ob das an mir lag oder an seinem Fall. Er war doch gefallen, oder?

»Wie … wie kommst du hierher?«, fragte ich. Der Junge zuckte mit den Schultern. Er runzelte die Stirn, und selbst während er dies tat, war er noch attraktiv. Fast vergaß ich, was ich gefragt hatte.

»Ich weiß es nicht«, sagte er zögernd. Ich nickte, geradeso als verstünde ich. »Amnesie. Das passiert.«

Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, verlieh seiner Attraktivität einen ernsthaften Charakter.

»Amnesie?«, wiederholte er nachdenklich, und ich nickte erneut. Offenbar lag es an mir, die Initiative zu ergreifen.

»So sieht es aus«, murmelte ich und begann damit, mir die Hosenbeine abzuklopfen. Erde und Staub lösten sich und schenkten mir eine Entschuldigung dafür, mein Gegenüber nicht anzusehen. Bis mir ein zugegeben verspäteter Geistesblitz kam.

Ich räusperte mich, merkte erst jetzt, wie trocken meine Kehle sich anfühlte. Gleichzeitig schlüpfte ich aus meinem Hemd, unter dem ich glücklicherweise noch ein Top trug. Besonders warm war es nicht, aber auch nicht kalt genug, um ärmellos frieren zu müssen.

Ich räusperte mich noch einmal und reichte ihm das Hemd, ohne den Blick zu heben.

Er zögerte offensichtlich, denn erst, als ich meine Hand ungeduldig schwenkte, griff er zu. Fraglos erinnerte er sich relativ rasch daran, wie man ein Hemd anzog, denn als ich wieder aufsah, war er gerade dabei, es zuzuknöpfen.

Ich entließ die Luft aus meinen Lungen, hatte ich doch unbemerkt den Atem angehalten, und schenkte ihm ein Lächeln.

Manchmal war es wohl doch ein Glück, dass ich für ein Mädchen ziemlich groß gewachsen war. Nicht nur, dass ich ordentlich essen konnte, ohne aus den Nähten zu platzen, in diesem Fall erstreckte sich der Vorteil dahin, dass das Hemd dem Jungen ein gutes Stück über die Hüften reichte. Ohne weiteres Schamgefühl zu riskieren, konnte ich nun den Blick heben.

Und mein Atem stockte erneut. Zugegeben, ich interessierte mich nicht für vieles und am allerwenigsten für Mode, aber das Hemd, das ich wie meine anderen Klamotten als praktisch und neutral gewählt hatte, begann regelrecht zu leuchten.

Vielleicht waren es auch seine Augen, die leuchteten, in denen sich das für gewöhnlich unauffällige Hellblau des Kleidungsstücks spiegelte, und die nun einen bläulichen Ton aufwiesen, von dem ich schwören konnte, dass er zuvor noch nicht in ihnen enthalten war.

Das war lächerlich. Ich sah rasch weg, murmelte noch etwas darüber, wie gut es doch sei, sich auf Unisex-Kleidung zu beschränken und schwieg darauf.

Erst als der Junge sich bewegte, konnte ich meine Neugierde nicht mehr zügeln und blickte wieder auf. Er war jedoch nur zur Seite getreten, hielt die Hand über die Stirn, um das Sonnenlicht abzuschirmen und starrte zum Horizont. Genauer gesagt zu der Reihe von Häusern, die sich dort abzeichneten und den Rand des Ortes kennzeichneten, der vom Feld aus zu sehen war. In einer anderen Richtung verliefen die Gleise des Nahverkehrszuges. Wieder ein Stück weiter befand sich eine dieser Wald-Imitationen, inklusive eines kleinen Baggersees, der jedoch fast vollständig von Gebüsch verborgen wurde.

Insgesamt sah es wirklich trostlos aus. Wie musste es erst auf jemanden wirken, der nicht einmal wusste, in welche Richtung er gehen sollte.

»Da bei den Häusern wohne ich«, stieß ich aus purer Nervosität hervor. Der Junge drehte sich langsam um, leckte über seine Lippen.

»In einem davon?«, erkundigte er sich.

Ich sah ihn verdutzt an. »Sicher.« Bevor mir etwas einfiel. »Du kannst dich doch an Häuser erinnern oder an Zimmer.«

Der Junge presste die Lippen zusammen, runzelte die Stirn, antwortete jedoch nicht.

Ich nahm meinen Mut und meinen Verstand zusammen. »Dann bringe ich dich zur Polizei. Oder ins Krankenhaus.« Ich nickte nachdrücklich. »Ins Krankenhaus. Vielleicht hast du eine Kopfverletzung.«

Er griff sich ins Haar, tastete versuchsweise und schüttelte dann den Kopf.

»Hab ich nicht.«

»Mir war nur …« Ich zögerte. Eigentlich war es dämlich anzunehmen, dass er wirklich gefallen war. Ob aus einem Flugzeug oder einem Hubschrauber, der noch dazu unsichtbar und lautlos wieder verschwunden war.

»Woher du kommst, weißt du nicht.«

Er schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Aber zur Polizei gehe ich nicht.«

»Ist nicht so schlimm. Ich bin auch schon beim Klauen erwischt worden. Die machen einem ein bisschen die Hölle heiß, aber richtig was ausrichten können sie nicht.«

Er schüttelte wieder und diesmal nachdrücklicher den Kopf. »Nicht zu den Bullen.«

Ich überlegte. Ein wenig Restverstand hatte er offenbar behalten. Und um ehrlich zu sein, konnte ich ihn nur zu gut verstehen. Freiwillig ginge ich dort auch nicht hin.

»Dann ins Krankenhaus.«

Ich fühlte mich ausgesprochen verantwortungsbewusst.

»Mir geht es gut.«

»Ja sicher.« Ich erlaubte mir zu lachen. Es klang eher nach einem kläglichen Gekicher, so ganz und gar nicht erwachsen und verantwortungsbewusst.

»Im Ernst, hier gibt es auch nette Ärzte. Ich zeig dir einen. Kannst ja wieder gehen, wenn er dir nicht behagt.«

Der Junge kniff die Augen zusammen. Er legte den Kopf schief und sah mich an. Mir wurde ein wenig wackelig zumute, und ich spürte, wie mein Herz schneller schlug.

»Wohin willst du dann?«

Er biss sich kurz auf die Unterlippe. »Ich habe etwas zu erledigen.«

»Haben wir das nicht alle?« Ich zog die Nase kraus. »Na, ja, dann erledige das eben.«

Er seufzte leise. »Aber ich kann mich nicht erinnern, was es ist.«

»Dämlich.«

Er stimmte mir zu, sah mich wieder an und imitierte dann das Kräuseln der Nase. Wenigstens kam es mir so vor.

»Kannst du mich nicht mitnehmen?« Er nickte zu der Häuserreihe.

»Dorthin?« Ich war ernsthaft verblüfft, erholte mich jedoch relativ rasch und begann nachzudenken.

Meine Eltern waren zwar Kummer von mir gewohnt, aber dass ich ihnen einen Typen in meinem Hemd vorbeibrachte, steckten sie wahrscheinlich weniger gut weg. Unangenehme Fragen wären das Wenigste, womit ich zu rechnen hätte.

»Nun, man würde dich auch sofort zur Polizei bringen«, dachte ich nun laut. Jedoch entging es mir nicht, dass der Junge zusammenzuckte. Es sah aus, als erschrecke ihn der Gedanke an die Polizei doch mehr, als ich gedacht hatte.

»Kannst du mich nicht verstecken?«

Ich sah ihn entgeistert an. Womöglich war er einer Nervenheilanstalt entsprungen. Das erklärte auch den Aufzug oder das Fehlen desselben. Vielleicht hatte er sich in einem Anfall seine Klinikkleidung vom Leib gerissen. Vielleicht war er gefährlich. Ich sollte das keineswegs ausschließen.

Nicht solange mein Verstand noch funktionierte.

Er begann, sich die Schläfen zu reiben. Sein Gesichtsausdruck wirkte schmerzverzerrt. Migräne passte vielleicht auch zu einer Nervenerkrankung. Vermutete ich zumindest, es war ja nicht so, als kannte ich mich aus.

»Du weißt auch nicht, wie du heißt«, fragte ich vorsorglich und in dem Bestreben, die Unterhaltung aufrechtzuerhalten. Besser, ich sorgte dafür, dass er sich nicht aufregte.

»Nein«, murmelte er. »Ich glaube, ich habe keinen Namen.«

»Jeder hat einen Namen.«

In diesem Moment sah er auf, und sein heller Blick bohrte sich in meinen. Ich schluckte.

»Gib mir einen«, verlangte er.

»Was, ich?«

Er zog eine seiner dunklen, in einem geschwungenen Bogen gezeichneten Augenbrauen in die Höhe.

»Sonst ist keiner da.«

Da hatte er einen Punkt. »Also gut, dann heißt du fürs Erste … Malik.«

Er nickte. »Und du?«

»Nele.«

Er strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und klemmte sie hinter sein Ohr. »Du siehst irgendwie nicht aus wie … Nele.«

Ich seufzte. »Das fällt dir auf? Alles vergessen, aber die Hautfarbe bleibt unübersehbar.«

»Versteh ich nicht.« Er runzelte die Stirn.

Ich hob die Arme und ließ sie gleich darauf entnervt wieder fallen. »Ja, ich bin schwarz. Wenigstens eines meiner Elternteile dürfte afrikanischer Herkunft sein. Daher meine Haut, mein Haar und alles andere, was in einer Kleinstadt immer noch auffällt.«

»Eines deiner Elternteile?«

Ich stöhnte. Das war nun wirklich nicht mein Lieblingsthema.

»Ich kenne keinen von ihnen, klar? Man fand mich in einem Müllcontainer, schaffte mich ins Waisenhaus, aus dem ich dann fix adoptiert wurde.«

Es fiel mir nicht ein zuzufügen, was mich ständig, praktisch seit ich denken konnte, beschäftigte. Die ganzen Fragen, die nie gelöst werden würden. Angefangen mit meiner Haut, die weder wirklich schwarz noch weiß war, sondern irgendwo dazwischenlag.

Die kaum eine andere Erklärung zuließ, als dass sich jemand zu sehr für eine ‚unangebrachte‘ Beziehung geschämt hatte, um sein Kind behalten oder nur ansehen zu wollen. Dass man mich weggeworfen und gehofft hatte, ich werde still sterben und das Geheimnis mit in mein winziges Grab nehmen.

Ich kannte nur die Geschichten meiner ‚wirklichen Eltern‘. Die wurden nicht müde zu erzählen, wie sie ihren Urlaub auf dem afrikanischen Kontinent verbracht und nicht im Geringsten daran gedacht hatten, ein zweites Kind nach Hause mitzubringen. Oder es vor dem Elend seiner Heimat zu bewahren.

Sicher meinten sie es gut. Aber so dumm war ich nicht. Ich entdeckte ziemlich früh, dass ich das Ergebnis einer Modeerscheinung war. Einer Zeit, in der es angesagt schien, seine Großherzigkeit vor sich herzutragen. Einem unschuldigen und möglichst exotischen Kind eine Zukunft zu schenken und sich selbst einen guten Namen.

Es war auch eine Zeit der Ehrlichkeit. In der meine Eltern die Ankunft eines zweiten Kindes, das so offensichtlich nicht ihr genetisches Material in sich trug, dazu benutzten, auch meinen Bruder als adoptiert zu outen. Er war damals gerade alt genug, um es zu verstehen. Und sie hatten sich ausreichend beraten lassen, genügend Fachleute aufgesucht, um zu erkennen, dass es keinem von ihnen gut tat, weiterhin geheim zu halten, dass sie keine eigenen Kinder zeugen konnten.

Sie meinten es gut, ganz sicher. Sie meinten es auch gut, als sie Volands Adoption geheim hielten.

Später dann geizten sie jedoch nicht mit Erzählungen, die sich um die zahllosen Steine und Schwierigkeiten drehten, die ihnen in den Weg gelegt worden waren. Und verglichen sie mit der erfrischenden Einfachheit, die meine Adoption dargestellt hatte. Die mehr einem Austausch Geld gegen Ware glich.

Natürlich liebte ich sie. Sie waren meine Eltern. Und natürlich war ich ihnen dankbar.

Aber weder das Eine noch das Andere machten das Leben einfacher für mich.

»Das muss schwierig sein«, riss mich Malik aus meinen Gedanken.

»Was denn?«

Er sah mich aufmerksam an. »In einem Land aufzuwachsen, das einem das Gefühl gibt, nicht dort hineinzugehören.«

»Hm.« Woher wollte er das wissen? Und doch …

»Sicher nicht so schwer, wie überhaupt nicht zu wissen, wohin man gehört.«

Ich versuchte ein Lächeln, das zerfiel, als er es nicht erwiderte und schließlich den Blick abwandte.

»Da sehe ich keinen großen Unterschied.«

Ich biss mir auf die Lippe. Wie konnte der Kerl es wagen? Er hatte keine Ahnung von mir, war bestenfalls ein entsprungener Geisteskranker.

»Das bin ich nicht.«

»Was?« Ich funkelte ihn an. Er wich einen Schritt zurück.

»Geisteskrank«, sagte er vorsichtig. »Ich habe nur diese Amnesie.«

»Nur ein wahrer Geisteskranker leugnet seinen Wahnsinn«, brummte ich.

»Ein Klischee«, meinte er. »Und nicht einmal von dir.«

Ich schüttelte den Kopf und atmete aus.

»Du bist der, der ohne Hosen herumläuft.«

»Aber ich habe ein Hemd.«

Malik zupfte nachdenklich an dem Stoff, und ich konnte nicht anders. Diesmal klang mein Kichern echt.

»Das ist mein Hemd.«

»Und – nimmst du mich jetzt mit?«

Malik sah mich fragend an. Seine langen Wimpern bebten, als er die Lider senkte. Sein Blick kam mir für einen Augenblick fast silbern vor.

»Das ist doch verrückt«, flüsterte ich. ‚Und regelrecht unverschämt‘, fügte ich in Gedanken hinzu.

Er ging einen Schritt auf mich zu. »Ich brauche deine Hilfe«, erklärte er dann leise.

Es war verrückt, mehr als das. Es war leichtsinnig und dumm. Dennoch tat ich es. Ich nahm ihn mit, führte ihn über das Feld und ein Stück den Weg entlang, den ich ungezählte Male bereits gelaufen und den ich doch nie so bewusst wahrgenommen hatte, wie in diesem Augenblick.

Als Malik mit seinen bloßen Füßen darüber hinweg lief. Sogar seine Füße wirkten perfekt. Seine Nägel glänzten, die Zehen waren feingliedrig und sein Gang federte. Etwas an ihm schien nicht von dieser Welt, das war mir vom ersten Augenblick an klar gewesen.

Bei jedem Anderen hätte es seltsam ausgesehen, aber er schritt mit einer solchen Selbstverständlichkeit über den festgewalzten Boden, als sei es das Normalste, was man sich vorstellen könne. Und das war es auch. Sein Haar bewegte sich mit der leichten Brise, und das Hemd schmeichelte ihm bei jeder Bewegung. Ich musste mich zusammenreißen, um ihn nicht mit offenem Mund anzustarren.

Ein wenig erwachte ich aus meiner Trance, als uns eine Frau mit ihrem Hund entgegenkam. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie sie genau an der Stelle, an der unser Feldweg begann, die Leine löste. Der Hund sprang sofort laut kläffend los, und ich stöhnte innerlich. Daraufhin warf ich einen Seitenblick auf Malik, der sich jedoch weniger Sorgen um seine bloßen Beine zu machen schien als ich um meine bekleideten. Man wusste ja nie, was so einen Hund dazu brachte zuzubeißen. Schon gar nicht einen, der derartig wild auf uns zuraste.

Doch umso erstaunter war ich, als das Tier plötzlich innehielt. Es stellte die Ohren auf, lief ein Stück zur Seite und wieder zurück, doch nur, um daraufhin stehen zu bleiben.

Er stand sehr ruhig und lauschte.

Ich sah zu Malik, und der lächelte. Er lächelte wissend, geradeso als wüsste er etwas, was ich nicht sehen konnte.

»Was … was ist los?«

Malik wandte sich mir zu. »Er hat nur Angst«, bemerkte er. »Das sind die wenigen Augenblicke des Tages, in denen er aus dem Schutz seiner Wohnung entlassen wird. Die Weite, in die man ihn wirft, erschreckt ihn.« Malik zuckte mit den Schultern. »Und so gibt er an. Ich denke, das tun viele.«

»Hm.« Ich verzog die Lippen. »Wenn du meinst. Also mich erschreckt er.«

»Das sollte er nicht.« Ich merkte, dass wir stehen geblieben waren, merkte, dass Malik nach meiner Hand griff. Instinktiv zuckte ich zurück.

Malik verharrte in der Bewegung. »Es gibt Gefährlicheres«, meinte er nur nachdenklich.

Ich versuchte zu lachen. »Woher willst du das wissen? Ich denke, du erinnerst dich nicht.«

Malik strich sich mit den Fingerknöcheln über die Schläfe. »Ist mehr ein Gefühl.«

Ich zupfte an einer Strähne, die sich aus meiner Frisur gelöst hatte. Wie meistens trug ich mein Haar zurückgebunden. Schwer genug zu kämmen war es ohnehin. Wenn sich Haare lösten, blieb mir nicht viel Anderes übrig, als so lange daran zu drehen, bis es nicht mehr allzu sehr nach zerfranster Stahlwolle aussah.

»Verstehe ich das richtig? Gefühle erkennst du?«

Maliks Stirn lag schon wieder in Falten. »Ich glaube doch.« Er sah mich an. »Könnte sogar sein, dass ich deine erkenne.«

»Moment mal!« Ich hob abwehrend die Hand. »Halt dich aus meinen Gefühlen raus.«

Ich setzte mich wieder in Bewegung. Nicht einmal dem Hund schenkte ich Beachtung, der sich inzwischen brav an den Rand des Weges gesetzt hatte.

Schneller als mir lieb war, hatten wir das Haus meiner Eltern erreicht. Von dort an wusste ich nicht mehr weiter. Ich blieb mit Malik im Schatten einer Hecke stehen.

Die Betonwände des Fahrradunterstandes verbargen das Haus vor unseren Blicken. Ich brauchte Zeit zum Überlegen. Dabei wusste ich sehr gut, dass das Haus leer war. Die Markise war eingerollt, die Terrasse unbelebt. Ich wusste ebenso, dass ich mich bei den Nachbarn bereits unbeliebt genug gemacht hatte, um kein größeres Interesse zu wecken. Selbst wenn sie auf die Idee kämen, mit meinen Eltern zu sprechen, dann war noch die Frage, wer wohl wem glaubte.

Das Problem lag darin, dass meine Eltern jederzeit auftauchen konnten. Und Malik auf ihrem Sofa nicht unbedingt begrüßen würden.

Ich war gezwungen, möglichst geschickt vorzugehen. Was mir umso schwieriger erschien, da ich immer noch nicht wusste, was ich eigentlich wollte.

Malik stand still. Er rührte sich nicht. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er atmete.

Und da wurde es mir klar. Keinesfalls konnte ich ihn hier stehen lassen. Die Entscheidung war bereits gefallen, noch bevor ich das erste Wort mit ihm gewechselt hatte. Als er hilflos auf der Erde lag, darauf angewiesen, dass sich jemand um ihn kümmerte.

Ich seufzte, nickte dann entschlossen.

»Komm mit.«

Wir liefen rasch zum Hauseingang. Ich suchte meinen Schlüssel hervor, griff im Vorbeigehen die Werbeblätter aus dem Briefkasten und winkte Malik ins Haus, nachdem ich die Tür geöffnet hatte.

Erst nachdem sie wieder zugefallen war, wagte ich es, Luft zu holen.

»Wir haben vermutlich nicht viel Zeit«, bemerkte ich und lief voraus. Erst die Treppe hoch und dann weiter auf den Dachboden.

Hatte ich es doch gewusst. Ein paar gut verstaute Winterklamotten entsprachen vielleicht nicht mehr der Jahreszeit, erfüllten jedoch ihren Zweck.

Stumm suchte ich Malik Hose und Pullover hervor, hoffte im Stillen, dass Voland sich nicht an seine Sachen erinnerte, und griff zu einem Paar ausgelatschter Turnschuhe. Ich war mir sicher, dass mein Bruder die hatte wegwerfen wollen.

»Soll ich hier bleiben?«

Malik nahm mir tatsächlich den Gedanken aus dem Munde. Dennoch schüttelte ich den Kopf.

»Eher nicht. Jeder Schritt hier oben dröhnt durch das Haus.«

Malik sah mich an. »Ich kann sehr leise sein.«

Ich räusperte mich unbehaglich. »Du hast doch nicht vor, uns auszurauben? Ich weiß nämlich nicht, ob sie mir das verzeihen würden.«

Malik lächelte. Das Licht, das durch das einzige, vollkommen verschmutzte Glas des Dachfensters drang, erhellte seine Züge. In dem Staub, der aufwirbelte, inmitten der tausend winzigen, glitzernden Flusen war sein Lächeln pure Magie. Mein Herz flatterte, und nun sah ich, was es war, das mich an seine Augen fesselte.

Nicht nur, dass sie hell strahlten wie zwei Sterne, sie standen auch leicht schräg. Und als er mich ansah, bemerkte ich seinen Silberblick. Nur einen Hauch, ein fast unmerkliches Schielen, das dennoch gerade genug irritierte, um meine Aufmerksamkeit zu binden und nicht mehr loszulassen.

Blut stieg mir ins Gesicht. Rasch drehte ich mich um. »Zieh dich jetzt um«, murmelte ich unsicher.

Das war einfach bescheuert. Höchste Zeit, dass ich Hilfe bekam. Höchste Zeit, dass mir jemand den Kopf zurechtrückte und mir erklärte, wie irrsinnig das Ganze war.

Eigentlich kein Wunder. Ich hatte nie viele Freunde, eigentlich mied ich Kontakte, wo es ging. War das nicht die perfekte Einladung für einen Typ mit Hintergedanken?

Andererseits, warum sollte der sich in ein Feld legen und auf mich warten.

Ich seufzte leise, erschrak, als Malik mir seine Hand auf die Schulter legte. Mein Herz schlug schnell genug, dass mir warm war. Erst seine kühlen Finger erinnerten mich daran, dass ich nur mein Top trug.

Hastig drehte ich mich um.

»Danke«, sagte er und ich nickte automatisch. Meine Stimme klang belegt, als ich zur Treppe wies und dann voranging. Ich hielt nur kurz an meinem Zimmer, um mir eine Jacke und eine Taschenlampe zu holen, und führte Malik dann eine weitere Treppe hinunter in den Keller.

Unser Haus war groß und meine Familie nicht dafür bekannt, sonderlich sorgfältig mit ihm umzugehen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob Malik nicht tatsächlich tagelang auf dem Dachboden hausen könnte, ohne dass sie es registrierten. Andererseits schloss ich auch nicht aus, dass mein Vater mit einem Kamineisen auf ihn losginge, wenn er mitten in der Nacht Schritte hörte.

Nein, der Keller schien mir die sichere Alternative.

Er war riesig. Früher hatte neben unserem noch ein weiteres Haus existiert. Die Keller waren zusammengelegt und zum Teil gemeinsam genutzt worden, bis in das Nachbarhaus während eines Orkans eine marode Tanne gekracht war und dieses soweit zerstört hatte, dass man sich gezwungen sah, es abzureißen. So erzählte man es sich wenigstens.

Bis auf Waschküche, Heizungs- und Vorratskeller und gelegentlich einen Hobbyraum mit Tischtennisplatte, nutzte keiner von uns dieses Stockwerk, nicht einmal als Lagerraum. Es verstaubte ebenso wie die Räume unter dem Dach.

Unten angekommen nahm ich den Schlüssel vom Haken und öffnete die Tür zum zweiten Keller.

»War dabei, als meine Eltern das hier gekauft haben«, erklärte ich.

Malik folgte mir lautlos. Seine Schritte wurden einfach verschluckt, und ich fragte mich, was für einen Gefallen ich ihm wohl mit den Turnschuhen geleistet hatte.

Als wir in einem großen Raum stehen blieben, drehte ich mich zu ihm. Meine Taschenlampe erleuchtete sein Gesicht, vertiefte lange Schatten darin. Doch das Silber in seinem Blick trat deutlicher hervor.

Deutlich genug, dass es mir für einen Moment die Sprache verschlug.

»Hier fließt leider kein Strom«, sagte ich bedauernd. Wenigstens hatte ich mich richtig erinnert, was die alte Matratze anging, die gegen eine Wand lehnte.

Ich rieb mir die Nase. »Eigentlich kann ich dir das hier kaum anbieten. Aber mir fällt auch nichts Besseres ein. Nicht im Moment zumindest.«

Ich erklärte nicht, warum es mir auf einmal so wichtig erschien, Malik zu helfen, warum ich mir Sorgen um seine Bequemlichkeit machte. Und warum ich so radikal die Möglichkeit, einen Arzt oder Polizisten hinzuzuziehen, aus meinen Gedanken strich.

Malik zwinkerte, er zwinkerte mir tatsächlich zu. Vielleicht handelte es sich auch nur um ein Blinzeln, aber es reichte aus, um mich noch mehr zu verwirren.

»Das ist perfekt«, sagte er. »Ich bin dir sehr dankbar.«

Nun war ich dankbar für die schwache Beleuchtung, denn mit Sicherheit lief ich erneut rot an.

Zu meinem Glück wandte er sich sofort ab, stieß die Matratze um und ließ sich gleich darauf fallen.

»Sei mir nicht böse«, gähnte er. »Mir ist, als hätte ich eine jahrelange Reise hinter mir.«

Nun war ich es, die blinzelte. »Ist schon gut. Ich … ich bringe dir vielleicht noch eine Decke. Und den Schlüssel lass ich verschwinden und die Tür offen. Das merkt keiner. Du kannst jederzeit abhauen. Aber lass dich nur nicht sehen.«

Malik schloss die Augen. Ich stellte die Taschenlampe auf den Boden, als ich ein Geräusch hörte.

»Ach verflixt.«

Maliks Augen öffneten sich nur einen Spalt. »Was ist?«

Ich lauschte. »Mein Bruder«, seufzte ich. »Stiefbruder«, fügte ich hinzu, ohne mir darüber klar zu sein, warum ich es für notwendig hielt, mich zu erklären. »Wir sind eine recht bunte Familie.«

»Das ist die Menschheit auch«, murmelte er. Sein Atem flachte ab, und ich war mir sicher, Zeuge zu sein, wie er in tiefen Schlaf fiel.

Oben rumpelte es. Die Gefahr, dass Voland herunterkam, bestand praktisch nicht. Dennoch machten die Laute mich nervös.

Ich ging auf Zehenspitzen durch die Tür, verschloss dieselbe ebenso leise hinter mir.

Als ich den ersten Stock erreichte, hörte ich Voland immer noch in der Küche rumoren. Kein Wunder, er interessierte sich für wenig, mit Ausnahme seines Appetits. Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen.

»He«, sagte ich. Voland drehte sich nicht um.

»Hi Schwesterchen.«

»Wann kommen unsere Eltern?«

Voland zuckte mit den Schultern, bevor er sich aus dem Kühlschrank zurückzog und eine Handvoll Dosen und Flaschen zutage förderte. Er stellte seine Beute auf dem Küchentisch ab und begann damit, sich eine Mahlzeit zuzubereiten. Wenigstens nannte er es so. Ich verzog eher angewidert mein Gesicht.

»Ich hab keinen Schimmer«, sagte er und drückte einen Strang Mayonnaise aus der Tube. »War beim Fußball.«

»Was auch sonst.« Ich verdrehte meine Augen. Doch bevor ich verschwinden konnte, fuhr er herum.

Eine breite Schramme zierte seine Stirn.

»Du hast gut reden«, sagte er bissig. »Ich wüsste nicht, dass du irgendetwas machst. Von der Schule ganz zu schweigen.«

Ich bemühte mich um einen trotzigen Gesichtsausdruck. Es war nicht so, als könne er mich verletzen, als gäbe es überhaupt viel, was mich verletzen konnte.

Noch dazu hatte er durchaus einen Punkt. Ich tat wirklich nichts. Mir fehlte einfach jedes Interesse. Ob es nun darum ging, einem Ball hinterherzulaufen, ein Bild zu malen oder das Zimmer aufzuräumen. Nichts davon war der Mühe wert. Das hatte ich schon vor geraumer Zeit herausgefunden.

Die Sinnfrage stellte ich mir schon lange nicht mehr. Dass unsere Handlungen keinen Grund, keine Ursache und erst recht keine Bedeutung besaßen, verstand sich von selbst. Warum seine Zeit einer Tätigkeit widmen, die nichts veränderte oder bewirkte? Den Fehler beging ich nicht. Das Problem war, dass ich mir das zwar einredete, aber letztendlich wusste, dass es schlimmer war als pure Faulheit.

Ich hatte wirklich zu gar nichts Lust. Mir ging jeder Drang ab. Nicht einmal shoppen zu gehen, lockte mich. Weder Kino noch Bücher noch das Abhängen mit Leuten machte mir Spaß.

»Was ist passiert?«

Ich nickte in Richtung seiner Stirnwunde.

»Ach das.« Voland beruhigte sich augenblicklich. »Dieser Vollidiot knallt mir den Ball an die Birne. Mit purer Absicht, da würde ich wetten.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. Na klar, im Sport waren immer die anderen schuld. Wie sonst auch.

»Ich hol noch was …«, murmelte ich. Voland schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seiner Mahlzeit zu.

Ich beeilte mich, lief die Treppen wieder hoch und suchte so rasch ich konnte, ein paar Decken, Kerzen, Streichhölzer und Batterien für die Taschenlampe heraus. In die Küche konnte ich noch nicht, aber aus meinem Schrank zog ich eine Packung Schokoriegel hervor, packte sie auch noch auf den Stapel.

Wenigstens hinderte mich die überstürzte Aktivität daran, mir gesteigerte Gedanken darüber zu machen, was ich hier eigentlich abzog.

Doch als ich die Treppe wieder hinunterlief, trat mir Voland entgegen. Was hätte ich auch anderes erwarten können, bei meinem Glück?

»Was machst du da?« Er kaute noch. Ketchup klebte in seinem Mundwinkel.

»Geht dich nichts an«, konterte ich. »Futter erst mal fertig.«

Voland erwiderte meinen ärgerlichen Blick erstaunt, schob die Unterlippe vor und verschwand im Wohnzimmer. Ich hörte nur noch, wie er den Fernseher anschaltete, dann war ich auch schon im Keller verschwunden.

Es war schwierig, die Tür mit meiner Last in den Armen zu öffnen, aber ich bekam es hin.

Die Taschenlampe brannte, beleuchtete Malik, der reglos auf der Matratze lag. Für einen Augenblick erschrak ich, setzte Decken und die mitgebrachten Gegenstände ab und beugte mich über ihn.

Erst sah ich es nicht, doch dann registrierte ich die leichte Bewegung seines Brustkorbs.

Erleichtert atmete ich auf, faltete vorsichtig eine der Decken auseinander und breitete sie noch vorsichtiger über ihn aus.

Es fühlte sich merkwürdig an. Ich war sonst alles andere als der fürsorgliche Typ. Aber eigentlich hatte ich mich auch für zu vernünftig gehalten, um einem Wildfremden sein Lager in unserem Keller aufzuschlagen.

Und jetzt fand ich mich dabei wieder, ihm die Kerzen gewissenhaft und in Sichtweite anzuordnen, die Schokoriegel danebenzusetzen und mich zu fragen, ob ich nicht noch das Wichtigste vergessen hatte.

Fast widerstrebend zog ich mich schließlich zurück. Jetzt lag es in Maliks Händen. Wenn er ein wahnsinniger Mörder war, dann hatte ich soeben meine Familie einer Laune und meiner Langeweile geopfert.

Wenn nicht, dann verhielt ich mich einfach nur kindisch. Und weitaus vertrauensseliger, als ich mich eingeschätzt hätte.

Mit langsamen Schritten bewegte ich mich die Treppe hinauf. Auf einmal wusste ich nicht mehr, was ich als Nächstes tun sollte.

Aus dem Wohnzimmer dröhnte der Fernseher, auf mein Zimmer hatte ich keine Lust. Aber ich konnte auch nicht unten warten, bis Malik aufwachte. Wofür würde er mich halten? Für eine Verrückte, die seinen Schlaf bewachte?

Ich schüttelte den Kopf. Und seit wann machte ich mir über so etwas Gedanken. Als ob das nicht das Geringste meiner Probleme wäre.

Und überhaupt, warum sollte es mich kümmern, was so ein dahergelaufener, wenn nicht gar heruntergefallener Junge von mir hielt. Sonst war es mir doch auch egal. Jedenfalls arbeitete ich daran, mir das überzeugend einzureden.

Es ging nicht anders. Wenn man in diesem Leben zurechtkommen wollte, dann musste man sich ein dickes Fell anschaffen. Gerade wer, wie ich, nicht so unbedingt der Norm entsprach. Jeder, der, ohne es zu wollen, ständig Fragen aufwirft, weiß, wovon ich rede.

Woher kommst du? Wie lange bist du hier? Warum bist du so dunkel? Was hast du für Haare?

Kinder sind direkt, das lernte ich schon sehr früh. Und nicht viel später auch, diese Fragen von mir abzublocken. Konnte ich doch selbst auf keine von ihnen eine Antwort geben, die mir eingeleuchtet hätte.

Ich ging in die Küche und füllte ein Glas mit Leitungswasser, als mir einfiel, was ich vergessen hatte. Malik lief natürlich am ehesten Gefahr zu verdursten. Ich musste schleunigst Abhilfe schaffen und hatte somit auch die perfekte Ausrede gefunden, um in den Keller zurückzukehren.

Ich schnappte mir eine Flasche Mineralwasser, nutzte die Tatsache, dass mein Bruder beschäftigt war und packte noch ein paar andere Kleinigkeiten ein, bevor ich die Kellertreppe wieder hinunterstieg.

Obwohl ich keinen Laut hörte, klopfte mein Herz schneller, je näher ich Malik kam. Ob aus vernunftbegründeter Angst oder einer irrsinnigen Vorfreude konnte ich nicht beurteilen. Mein Verhalten entbehrte ohnehin jeglicher Vernunft.

Andererseits kam es mir fast vor, als ob mich der anhaltende Ausstoß von Adrenalin aus einem langweiligen Traum weckte. Meine Langeweile war wie weggeblasen. Und an die hatte ich mich bereits derart gewöhnt, dass ich mich ohne sie gar nicht mehr wiedererkannte.

Anstatt gemächlich einherzuschlendern und mit jedem Schritt über mein Schicksal zu seufzen, bewegte ich mich mit einem mir vollkommen fremden Elan.

Es war seltsam, aber auch erstaunlich interessant. Mir war nicht wirklich klar gewesen, dass auf dieser Welt tatsächlich Dinge existierten, die mich in ihren Bann schlagen konnten. Oder besser gesagt, Menschen. Oder noch genauer, Jungen, junge Männer, einen Mann mit dunklem Haar.

Ich beschleunigte meinen Schritt, schob die Tür auf und schlich mich in den Raum mit der Matratze.

Er wirkte wirklich trostlos, trotz der Taschenlampe. Was hatte ich mir nur gedacht, Malik dieses Loch anzubieten? Und doch hatte er sich nicht beschwert.

Ich sah genauer hin. Er war nicht da.

Ungläubig starrte ich auf die leere Matratze. Die Decke lang zerknüllt auf dem Boden, geradeso, als habe er sie in einem Anfall von Panik von sich geworfen.

Ich setzte die Wasserflasche und die anderen Gegenstände ab. Erst dann sah ich mich um. Mein Blick wanderte die Wände entlang. Doch nirgends konnte ich Malik entdecken.

War er gegangen? Und das ohne ein Wort?

Ich spürte einen Kloß im Hals. Es war kaum vorstellbar. Aber der Gedanke, ihn nicht mehr wiederzusehen, legte sich als ein unangenehmer Druck auf meine Brust.

Wie dumm, schalt ich mich. Ich sollte froh sein, war das nicht die beste Lösung? Auf einen Schlag wäre ich von allen Zweifeln befreit.

Und doch fühlte ich keine Befreiung, nur Taubheit, die sich über mich senkte, die Rückkehr in meine Langeweile ankündigte. Vielleicht war ich dafür geschaffen, als Phlegmatiker mein Leben zu verschlafen.

Ein Schatten huschte an mir vorbei, und ich zuckte zusammen, sah auf, merkte in diesem Augenblick, dass meine Augenränder brannten. Ich blinzelte erneut.

Und da stand Malik, im Türrahmen, der zu dem Gang führte, der einst die Verbindung zum zweiten Haus gewesen war. Der jetzt zugeschüttet keinen Ausweg mehr bot.

Er sah mich an. Seine Haut leuchtete weiß in der Dunkelheit.

Ich schluckte.

»Was ist passiert?«, fragte ich und kam mir erneut unendlich dumm vor.

Malik senkte seine Lider. Er hatte wirklich ungewöhnlich lange Wimpern. Auffallend geschwungen zitterten sie. Oder ich war es, die zitterte.

Ich schluckte wieder. Fast fühlte ich mich versucht, selbst aus der mitgebrachten Flasche zu trinken. Wenn auch nur aus Nervosität.

Stattdessen räusperte ich mich. »Ich hab was zu trinken. Vielleicht hast du Durst.«

Malik schüttelte den Kopf.

»Aber wenn du …«, ich bremste mich rechtzeitig, bevor ich beginnen konnte, zu stammeln.

Malik lächelte und der Druck verschwand von meiner Brust.

»Du dachtest, dass ich gehe.«

Ich nickte stumm.

Malik legte den Kopf schief. »Würde ich nicht, ohne dir Bescheid zu geben.«

»Wirklich?« Es klang kläglich, und ich reckte mich augenblicklich ein wenig, um nicht ganz so erbärmlich zu erscheinen.

Sein Lächeln verbreiterte sich, überstrahlte sein Gesicht und drang in mein Herz, das gerade erst anfing, sich wieder zu beruhigen.

Ich konnte nicht anders, ich lächelte zurück. Auf einmal wusste ich, dass ich unglaublich froh war, ihn bei mir zu haben.

Unglaublich, noch vor wenigen Stunden wusste ich nichts von seiner Existenz, und streng genommen wusste ich immer noch nicht viel mehr, aber dennoch war mir, als brächte er Farbe in mein Leben.

Die Welt, die mir zuvor grau und trostlos erschienen war, bekam plötzlich Farbe. Was sich wirklich dumm anhört, angesichts der Tatsache, dass wir uns in einem wahrhaft trostlosen Keller gegenüberstanden. Dümmer noch, da ich beim besten Willen keinen Grund erkennen konnte, warum gerade dieser Junge meine Laune verbessern sollte.

Ich war doch nicht so dämlich, dass ich mich von einem ungelösten Geheimnis faszinieren ließ, das nach aller Wahrscheinlichkeit auch keines war. Es gab für alles eine logische Erklärung. Und die logischste war immer noch, dass er von irgendwo weggelaufen war, sich vielleicht verletzt und sein Gedächtnis verloren hatte. Oder Letzteres nur vorgab, um nicht dorthin zurückkehren zu müssen, wo es ihm schlecht ergangen war.

Ich versuchte trotz der Dunkelheit, ihn genauer anzusehen. Blass und eher schmal, wirkte er nicht, als ginge er allzu oft in die Sonne. Wenn ich an Voland dachte, der häufig aus allen Nähten platzte, dann war Malik sicher auch kein Sportler.

Ich schüttelte den Kopf und damit die Spekulationen ab. Malik war mit Sicherheit nicht einmal sein Name. Alles andere reine Fantasie und somit Zeitverschwendung.

»Es ist … interessant«, sagte er plötzlich.

»Was denn?«, fragte ich automatisch.

Malik deutete auf die düstere Umgebung. »All das hier. Ich kenne so etwas nicht.«

»Du hast ja auch dein Gedächtnis verloren.« Schon wieder konnte ich meine Klappe nicht halten. Unsicher sah ich ihn an. Sicher ging Malik meine Besserwisserei auf die Nerven. Ganz zu schweigen von den unnötigen Kommentaren.

Aber er nickte nur nachdenklich. »Ich bin nur nicht sicher, ob … ob das hier nicht noch fremder ist.«

Er stockte, sah mich fragend an. »Klingt das sehr seltsam?«

Ich schüttelte den Kopf. »Gar nicht. Das ist ein Keller. Keine Umgebung, in der man sich für gewöhnlich länger aufhält.«

Ich schluckte. »Nach wie vor wärst du sicher überall sonst besser dran. Ist ja nicht so, dass ich dich einsperre.«

Inzwischen war ich wirklich nervös. »Ich meine, in einem Krankenhaus …«

»Nein«, unterbrach er mich sofort. »Das ist keine Option.« Er presste die Lippen zusammen und runzelte die Stirn, bevor er weitersprach.

»Versteh mich nicht falsch. Auch wenn ich mich nicht erinnere, habe ich doch das Gefühl, als ob es nicht sicher für mich sei, mich zu weit hervorzuwagen.«

»Weiter vor als mitten in ein Feld geht wohl kaum«, gab ich zu bedenken.

»Er lächelte leicht. »Ich meinte, dass ich eher anonym bleiben sollte.«

»Als ob du auf der Flucht wärst«, sagte ich und biss mir gleich darauf auf die Zunge. Doch er sah mich nur forschend an. »So kommt es mir vor.«

»Aber vor wem?« Seine Offenheit verwirrte mich.

Malik zuckte mit den Schultern.

Ich fühlte mich unbehaglich und wandte mich ab, um das Mitgebrachte zu sortieren.

»Du kannst hier bleiben, solange du willst«, überlegte ich. »Aber für den Fall, dass dich jemand bemerkt, sollten wir uns schnell eine Geschichte überlegen.«

»Wir?«

Mein Gesicht wurde heiß. »Na, ja, also wenn du willst.«

Ich blinzelte kurz auf. Malik lächelte. Das Licht der Taschenlampe reichte kaum aus, um ihn annähernd erkennen zu können, und doch hatten seine Züge sich mir bereits deutlich genug eingeprägt, dass ich jede Veränderung in seiner Mimik wahrnahm. Ich senkte rasch den Blick, spürte der merkwürdigen Wärme nach, die in mir hochstieg.

Es war nicht die gewohnte Verlegenheit, die mich erröten ließ, auch keine Beschleunigung des Herzschlags aufgrund von Nervosität oder Aufregung, sondern letztendlich eine angenehme Wärme. Ein wenig kam es mir vor, als ob diese mich trösten wolle, als ob sie mich mit Vertrauen umgeben und darin zu schaukeln versuchte.

Und das nur wegen eines Jungen.

Ich räusperte mich. Nur keine Schwäche zeigen. Ich war alles andere als eines dieser dummen Teenager-Mädchen, die albern kicherten und sich über diverse Vertreter des anderen Geschlechts austauschten. Und das pausenlos.

So war ich nie gewesen, und so hatte ich nicht vor zu werden. Einen kühlen Kopf sollte ich bewahren, darauf kam es an, auf nichts anderes.

»Es sah aus … als ich dich … als wir uns getroffen haben, als ob du einen Unfall gehabt hattest«, überlegte ich laut. »Könnte das sein?«

Malik nickte, schüttelte gleich darauf den Kopf. »Ich bin nicht verletzt«, gab er zu bedenken und hob als Beweis seine Arme. »Ich hab keinen Kratzer.«

Ich biss mir auf die Unterlippe. »Dann bist du weggelaufen«, durchbrach ich das Schweigen. »Das kann viele Gründe haben. Vielleicht wirst du verfolgt und willst dich deshalb verstecken?«

»Vielleicht«, nickte er. »Erscheint einleuchtend.«

»Oder du kommst aus einem anderen Land.« Meine Fantasie begann nun, sich selbstständig zu machen. »Es könnte doch sein, dass du über die Grenze gekommen bist … also illegal.«

Malik sah auf. Ich glaubte, ein winziges Aufflackern in seinen ohnehin irritierend hellen Augen zu entdecken.

»Und deshalb erscheint mir alles so fremd«, überlegte er. »Das könnte sein.«

»Dass du Asyl gesucht und nicht bekommen hast?«

Ich legte den Kopf schief und betrachtete ihn erneut. Tatsächlich schien mir diese Theorie einen Sinn zu ergeben. Wenn ich es mir genau überlegte, dann ließ sich sogar ein kleiner Akzent aus seinen Worten heraushören. Wenngleich der keinem glich, den ich identifizieren konnte.

Wenngleich er selbst mich an keine Nationalität erinnerte, die mir bekannt war. Aber was wusste ich schon? War ich doch kaum aus meinem Städtchen herausgekommen. Schon gar nicht durch die Welt gereist.

»Das funktioniert jedenfalls als Erklärung«, sagte ich. »Dass du Verwandte hier suchst, aber keine Erlaubnis dabei hast. Etwas in der Richtung.«

»Gesetzt den Fall, dass sich die Frage überhaupt stellt«, erwiderte er nachdenklich.

Ich atmete aus. »Meine Eltern kommen sicher nicht hier herunter. Aber selbst wenn … sie sind in Ordnung. Wenn du ihnen etwas in der Richtung erzählst, dann dürften sie zufrieden sein.«

Malik lächelte wieder. »Mach dir nicht so viele Gedanken.«

»Ich?« Für einen Augenblick war ich verblüfft, bevor mir richtig heiß wurde. Ich dankte dem Schicksal dafür, dass ich nicht wie eine Tomate rot anlaufen konnte.

»Ist ja sonst keiner da«, meinte ich ausweichend.

»Das meine ich«, sagte Malik. »Nicht jeder wäre so nett. Und ganz bestimmt hätte mich nicht jeder einfach so mitgenommen. Ich könnte ja gefährlich sein.«

Er sah mich aufmerksam an.

»Ach was«, wehrte ich ab, verschwieg jedoch, dass ich exakt diese Befürchtung bereits gehegt hatte.

Auf den Moment genau knallte über uns eine Tür und ich fuhr zusammen. Zur gleichen Zeit wurden Stimmen laut. »Das sind meine Eltern«, murmelte ich und sah hastig um mich.

»Danke für das Wasser«, lächelte Malik. Er lächelte immer noch, als ich bereits aus der Tür war und mich ein letztes Mal nach ihm umwandte.

Das komische warme Gefühl, das er in mir auslöste, nahm ich mit nach oben.

»Nele – auch schon da?«, begrüßte mich Konrad.

»Natürlich ist sie da«, erwiderte Astrid. »Du hast doch morgen Unterricht, womöglich sogar eine Prüfung?«

»Hm.« Ich hatte keine Lust zu antworten. Und schon gar nicht darauf, über die Schule nachzudenken.

»Du solltest etwas dafür tun«, fuhr Astrid unermüdlich fort. »So, wie wir eben unseren Körper trainiert haben, so erfordert auch der Geist regelmäßiges Training.«

Ich bemühte mich, nicht allzu auffällig mit den Augen zu rollen.

»Das hab ich im Griff.«

Meine Eltern wechselten Blicke. »Ich denke, das haben wir schon ein paar Mal zu oft gehört«, murmelte Konrad. Astrid nahm seinen Arm. »Lass doch«, sagte sie leise. »Nicht heute. Wir haben uns gerade noch so wohl gefühlt. Lass uns das nicht verderben.«

Ich nickte. »Meine ich auch, Konrad. Lasst euch das nicht verderben.«

Mein Vater sah mich nachdenklich an, seufzte übertrieben und kratzte sich den Bart. »Das ist nicht das letzte Wort«, meinte er. »Wir alle wissen, dass du dir keine Ausrutscher mehr leisten kannst.«

»Mir geht es gut. Kümmert euch doch um Voland.« Ich konnte nicht anders, als patzig zu werden.

»Voland gibt sich Mühe«, warf Astrid ein.

»Er sitzt vor dem Fernseher.«

Konrad schüttelte den Kopf. »Es ist ja auch Sonntag.«

»Aber mein Sonntag ist es doch auch.«

Nun hatte ich genug.

Konrad nickte langsam, doch ich sah ihm an, dass sein Blutdruck bereits stieg. »Voland hat meines Wissens bis jetzt auch noch nie das Klassenziel verfehlt. Voland schafft auch nicht mit Ach und Krach die Hauptschule und findet dann keine Lehrstelle.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Nein, Voland sitzt vor dem Fernseher herum.«

»Oder er übt Latein.«

»Jetzt ist aber gut.«

Astrid mischte sich ein und streichelte beruhigend Konrads Wange. »Nele tut, was sie kann. Und es ist wirklich Sonntag. Verschieben wir die Diskussion auf ein andermal.«

Konrad zog die buschigen Augenbrauen zusammen, brummte missmutig und nickte dann versöhnlich.

Er meinte es gut. Das versuchte ich mir immer wieder zu sagen. Dennoch gingen mir die Versuche, aus mir doch noch etwas zu machen, gehörig auf die Nerven. Dass der Zug für mich längst abgefahren war, daran zweifelte mit Sicherheit keiner. Und dass es mir weitgehend egal war, daran ebenso wenig.

Im Grunde wäre ich auch längst wieder verschwunden und hätte meine Familie sich selbst und ihrer heilen Welt überlassen, wenn ich Maliks Anwesenheit im Keller nicht fast körperlich zu spüren glaubte.

Oder war es die Nervosität? Der Gedanke, ein Risiko einzugehen, der meine Aufregung steigerte und mich zugleich an den Ort band. Für einen winzigen Moment erwog ich tatsächlich, wenigstens so zu tun, als ob ich lernte. Zumindest enthöbe mich das allen weiteren Fragen und Diskussionen.

Ich sah Astrid an, und sie schenkte mir einen liebevollen Blick. Mein Herz schmolz sofort. Ich konnte ihnen nicht böse sein. Nicht, wenn sie ohnehin recht hatten. Wenn es mein Fehler war, meine Begriffsstutzigkeit, die mir ständig Hürden in den Weg legte. Oft genug, dass ich jede Lust verloren hatte, weitere Anstrengungen auch nur zu versuchen.

Dennoch setzte ich meinen Schmollmund auf und ging zur Treppe. »Ich verzieh mich«, stieß ich hervor und sah über die Schulter zurück.

Astrid nickte mir zu und Konrad hob einen Finger, als wolle er mich ermahnen, ließ ihn jedoch sofort wieder sinken. Das war auch besser so. Er sollte auch sehen, dass bei mir Hopfen und Malz verloren war.

In meinem Zimmer angekommen, schloss ich die Tür und setzte die Kopfhörer auf. Ich wollte nicht an die Schule denken, nicht daran, dass die meisten meiner Klassenkameraden bereits eine Lehrstelle hatten, dass sie das Berufsgrundschuljahr nur als Vorbereitung mit dem sicheren Kalkül gewählt hatten, eine längst geplante Karriere zu starten.

Sicher, auch ich hatte behauptet, dass mein Interesse auf diesem Gebiet liege. Andererseits hatte ich viel behauptet, nur damit man mich in Ruhe ließ. Nicht zuletzt, dass ich mir jede erdenkliche Mühe gäbe, um das Jahr so gut wie möglich zu absolvieren.

Aber was sagte man nicht alles, um seine Ruhe zu haben. Selbst, wenn man genau wusste, dass diese Ruhe trügerisch war. Dazu noch von kurzer Dauer.

Ich schloss die Augen und bewegte mich leicht im Takt der Musik. Viel fehlte nicht, und ich hätte mitgesungen. Aber so gerne ich auch sang, so ungern ließ ich mir dabei zuhören. Und seitdem Voland in mein Zimmer geplatzt und sich lautstark über meinen Gesang lustig gemacht hatte, war ich sehr vorsichtig damit geworden, dieses Risiko einzugehen.

Nicht, dass ich glaubte, besonders empfindlich zu sein oder gar nachtragend. Ich war einfach vernünftig und hatte keine Lust, mir dumme Bemerkungen anzuhören.

Meine Eltern versuchten manchmal, mich zum Singen zu bewegen. Irgendeine Musiklehrerin wollte mich in den Schulchor überreden, aber es lag mir fern, mich vor aller Augen zum Affen zu machen. Geschweige denn, die Mühe auf mich zu nehmen, ein Instrument zu lernen oder gar das Noten-Lesen zu üben.

Manchmal, wie auch in diesem Augenblick, summte ich ein wenig die Melodie mit, lauschte auf die Worte, deren Sinn sich mir nur zum Teil entschlüsselte. Mein Englisch war ebenso mangelhaft wie meine sonstigen schulischen Leistungen, doch mich störte es nicht. Mit einem Musterschüler wie Voland konnte ich ohnehin niemals mithalten.

Langsam beruhigte ich mich, vergaß sogar fast den Gast im Keller. Wenn auch nur fast. Ganz konnte ich ihn nicht aus meinem Gedächtnis verbannen. Nicht einmal, während ich zum Fenster tänzelte und unter meinen Lidern hervor blinzelte.

Mein Zimmer ging Richtung Osten, und ich erhielt einen guten Blick über das Feld, wenn ich ein Gebäude und den danebenstehenden Baum ignorierte, der vielleicht ein Drittel des Gesichtsfeldes einnahm.

Der Himmel bezog sich. Es sah aus, als kämen graue Wolken auf, getrieben von einem kalten Nordwind. So frühlingshaft, wie ich es mir erhofft hatte, sah die Welt doch noch nicht aus.

Ich lehnte mich mit der Stirn gegen das Fenster und stützte die Hände auf das Fensterbrett. Beides fühlte sich angenehm kühl an. Die Musik wurde ruhiger, ging in eine Ballade über, deren sanfte Klänge meine Seele streichelten. Da huschte ein Schatten vorbei.

Wenigstens glaubte ich das. Auch wenn ich nicht beschwören konnte, wirklich etwas gesehen zu haben, fuhr mir ein Schreck in die Glieder, der meine Knie weich werden ließ. Unwillkürlich taumelte ich zurück. Mein Herzschlag setzte aus, nur um einen Augenblick später mit erhöhter Geschwindigkeit zurückzukehren.

Der Schatten war verschwunden, als ich wieder zu mir kam. Ich stürzte vorwärts und suchte das Bild ab, das sich vor mir ausbreitete, das sich in keinerlei Weise von den Hunderten, Tausenden von Bildern unterschied, die sich mir sonst offenbarten. Wie oft hatte ich durch dieses Fenster gesehen. Und immer wieder auf dieselbe Kulisse gestarrt, verändert nur durch Wetterlage oder Jahreszeit.

Ich hatte mich nie für schreckhaft gehalten. So leicht ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen. Schon gar nicht von einem Vogel, der vorbeiflatterte, dessen überraschendes Auftauchen mich kalt erwischte und meine angespannten Nerven zum Vibrieren brachte.

Ein Vogel, ein Wind, der Schatten eines Flugzeuges, Erklärungen gab es viele. Weniger für meine ungewohnte Nervosität.

Meine Finger trommelten auf der Fensterbank, noch bevor ich es merkte und ich legte rasch die andere Hand darauf, um sie zu stoppen.

Das sah mir nicht ähnlich. Woher diese unangebrachte Furchtsamkeit. Dazu noch vor Nichts. Vor Nichts, was sich fassen ließe, zumindest.

Sonst fürchtete ich mich auch nicht übermäßig. Eigentlich war ich vernünftig, war nie der Typ gewesen, Risiken einzugehen und schon gar keine unnötigen. Warum sollte ich mich also fürchten?

Doch genau das hatte sich geändert. Nicht über Nacht, sondern von einer Stunde zur anderen. Oder, genauer in dem Moment, in dem ich Malik ins Haus gebracht hatte. Vielleicht sogar in dem Moment, in dem ich ihm begegnet war und schon allein dadurch, dass ich geblieben war, vollkommen gegen meine Natur gehandelt hatte.

Ich konnte nicht erfassen, was es war, das mich veränderte, aber etwas ging in mir vor, das erkannte ich plötzlich.

Ich hatte tatsächlich Angst, hatte tatsächlich das Gefühl, als lauere dort draußen eine undefinierte Gefahr. Nicht greifbarer als ein Schatten, den ich mehr erahnt als gesehen hatte.