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Maja verfasst mit Leidenschaft Gay FanFiction und muss feststellen, dass die Auswüchse ihrer Fantasie beginnen, sie zu verfolgen. Bildet sie sich das nur ein, oder sind plötzlich Geheimdienst, Polizei und der Produzent der Serie, in deren Schatten sie Geschichten veröffentlicht hinter ihr her? Von den überzeugten Fans wird sie ohnehin belagert. Die Slasherin entschließt sich zur Flucht in ein ungewisses Schicksal.
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Seitenzahl: 186
Sigrid Lenz
Maja – Geschichte einer Slasherin
Roman
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-103-0
E-Book-ISBN: 978-3-96752-603-5
Copyright (2022) XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag
unter Verwendung der Bilder: Stockfoto-Nummer: 735174163
von www.shutterstock.com
Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149, 28237 Bremen
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Kapitel 1
Gut, der Titel mag etwas irreführend erscheinen, aber im Detail betrachtet trifft er die Situation explizit.
Die Erlebnisse der letzten Zeit waren tatsächlich nichts anderes als unglaublich. Und wenn ich mich in der schäbigen Zuflucht umsehe, die mir im Augenblick der Aufzeichnung dieser Notizen einen erbärmlichen Schutz bietet, so lässt sich nicht leugnen, dass das Schlimmste wohl noch bevorsteht.
Vorausschicken sollte ich noch, dass die knappen Zeitreserven mich zu Zugeständnissen zwingen, die meinem innersten Wesen durchaus widerstreben. So dürfte Form und Fassung dieser Sätze nicht jedem kritischen Auge standhalten, zumal gewisse seelische Einschränkungen meinerseits den Wechsel zwischen erster und dritter Person der Erzählenden verlangen. Denn obwohl es mich drängt, die Geschehnisse zu schildern, die mich in diese Lage gebracht haben, so gebietet doch der Anstand, mich von der einen oder anderen Eigenschaft oder Handlungsweise der Protagonistin auch formal zu distanzieren.
Sie kennen das sicher auch, als Leser wie als Autor lebt und leidet man mit seinen Charakteren, ist sich allerdings geradezu schmerzlich des Abgrundes bewusst, der die eigene Person von der des Protagonisten oder in diesem Fall der Protagonistin trennt. Doch sollte am Anfang begonnen werden, besser gesagt, am Anfang vom Ende.
Sich versteckt zu halten war nicht ungewohnt für mich. Im Gegenteil. Ich wirkte aus dem Verborgenen. Dieses Verhalten war mir so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass es mir nicht einmal unangenehm auffiel. Selbstverständlich handelte es sich zu diesem Zeitpunkt um eine außergewöhnliche Situation. Und natürlich litt ich unter dem Verlust der Bequemlichkeiten, der Sicherheit, die, wenn auch Illusion, doch ein wesentlicher Teil meiner Selbst geworden war. Auch die Bezeichnung ‚mittelalterlich‘ traf auf mich in doppelter Weise zu. War ich doch nicht nur in der Mitte meines Lebens angelangt. Nein, mein ganzes Wesen war dieser Zeit entrückt, passte einfach nicht in die Moderne, in die Hektik des Alltags.
Ich wusste zwar, dass ich beim schwachen Licht einer niederbrennenden Kerze in einem Kellerloch saß, den Bleistift umklammert, die Worte der letzte Ausdruck meiner Persönlichkeit. Dennoch spürte ich gleichzeitig, wie ich mich bewegte, wie ich rannte und floh, wie ich mir keinen Moment der Ruhe gönnen durfte. Verrückt, absonderlich, und doch nichts Neues.
Jetzt kann ich alles aus dem Blickwinkel einer fremden und doch so vertrauten Person sehen – mit meinen Augen – mit Majas Augen:
Es begann mit diesem Blick aus dem Fenster. Und Maja sah niemals aus dem Fenster. Es interessierte sie nicht, was draußen vorging. Die Menschen auf der Straße behielten keine Bedeutung für sie. Und doch zog sie ausgerechnet an diesem Tag etwas zu der Scheibe, die hinter den dicken Gardinen verborgen war. Mag sein, dass die Unruhe sie gepackt hatte. Sie wartete bereits zu lange auf Xaver; jede Entschuldigung, die seine Verzögerung erklären konnte, war längst aufgebraucht. Sie gab der Sorge also nach und sah auf die Straße, sah ihn. Nein, nicht Xaver stand dort unten. Stattdessen empfing sie ein ungewohnter Anblick an diesem ansonsten so normalen Wochentag.
Lange, schwarz glänzende Haare flossen das stolze Haupt hinab. Gekleidet war der Mann in dunklen, erdigen Tönen. Er sah Maja direkt an, direkt zu ihr hinauf in den ersten Stock des Hauses. Maja sog die Luft erschrocken ein und ließ den Vorhang zurückfallen. Hasste sie es doch, sich beobachtet zu fühlen.
Paranoia gehörte nicht zu der Sammlung von Neurosen, die sie für gewöhnlich quälten.
Sie fühlte, wie das Blut in ihren Schläfen pochte. Sie zögerte. Unwohlsein breitete sich aus. Doch schließlich konnte sie nicht anders, als den Vorhang noch einmal zurückzuziehen. Ein kleines Stückchen nur. Sie beugte sich vor, doch die Gestalt war verschwunden, vom Erdboden verschluckt.
Maja versuchte aufzuatmen, war es doch nicht das erste Mal, dass eine Halluzination sie genarrt hatte.
Doch dann erstarrte sie. Nicht der Mann, der ihr in die Augen gesehen hatte, sondern mehrere, gleich gekleidete Männer von bedrohlichem Äußeren schritten um die Ecke zur angrenzenden Straße. Und nicht nur dort waren sie zu sehen. Sie kamen aus Hauseingängen, lehnten aus Fensterrahmen.
Maja presste ihre Augenlider zusammen. Sie atmete tief aus, bevor sie ihre Augen wieder öffnete.
Aber immer noch waren die Männer da, immer noch glänzten ihre Sonnenbrillen, obwohl das Sonnenlicht nur dumpf unter der grauen Wolkendecke hervor drang. Maja zuckte zurück. Das war einfach nur noch dämlich. Verfolger, die aussahen wie Bodyguards und die nichts Besseres zu tun hatten, als ausgerechnet ihr hinterher zu spionieren. Abrupt wandte sie sich vom Fenster ab. Und wieder war ihr, als müsste sie losstürmen, als wäre es an der Zeit zu flüchten.
»Dabei hab ich doch gar nichts getan«, flüsterte sie. »Nichts außer…«
Ihr Blick fiel auf den Computer und sie schüttelte den Kopf. Es konnte einfach keinen Zusammenhang geben. Was sie tat war wichtig, entscheidend, eine Befreiung für sich und für andere.
Immerhin schrieb man das Jahr 2008. Die Jahrtausendwende war längst Vergangenheit. Freilich, nicht im Hinblick auf die Zeitrechnung in Beziehung zum ewigen Fluss. Was waren Tausend Jahre? Nichts, und acht Jahre bedeuteten noch viel weniger. Ein drittes Jahrtausend sollte der Menschheit, sollte ihr die notwendigen Rechte garantieren.
Maja schluckte.
Ja, es war wichtig. Die Meinungsfreiheit gab ihr das Recht zu sagen, zu schreiben, was sie geschrieben hatte, was sie schreiben wollte. Ihre Leser vertrauten ihr, warteten auf die Geschenke, die sie ihnen darbot, so abartig und seltsam diese einigen konservativen Mitbürgern vielleicht auch erscheinen mochten. Und sie fütterte diese Wünsche. Und was gab es daran auszusetzen? Sie wollte doch niemanden beleidigen? Nichts läge ihr jemals ferner.
Eine Haustür knallte.
Sie atmete auf und ihr Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln, als Xaver die Treppe herauf polterte.
»Mama, das war verrückt«, platzte er hinaus.
»Hier aber auch.« Sie sah ihn verstört an.
Xaver legte den Kopf schief und kratzte sich am Kinn, das jedoch trotz seiner Bemühungen frei von jeglichem Bartwuchs war.
»Gekocht hast du wohl nicht.«
»Konnte nicht«, antwortete sie schlagfertig. »War zu viel los.«
Das war noch nicht einmal vollständig gelogen. Schließlich sah sie sonst nie aus dem Fenster oder beobachtete geheimnisvolle Gestalten, die sich in verdächtiger Nähe ihrer Person herumtrieben.
Xaver, Kummer gewohnt, schließlich hatte sie ihm auch diesen Namen aufgezwungen, wandte sich den Schränken zu, suchte mit geübter Hand Brot und Aufstrich heraus und bereitete sich eine Nuss-Nougat Creme Schnitte. Als Maja sich nicht rührte, sah er sie verdutzt an.
»Was ist? Du schreibst gar nicht dein Schundzeugs?«
»Bin abgelenkt worden«, erwiderte sie und seufzte. »Wo warst du so lang.«
Xaver rückte sich den Stuhl zurecht, ließ sich darauf fallen und biss herzhaft in sein Brot. Er blinzelte mich schelmisch an.
»Hab meine Verfolger abgehängt.«
Ein kalter Schauer rann Maja den Rücken hinunter.
»Welche Verfolger?«, murmelte sie.
Xaver zuckte mit den Achseln.
»Das war komisch«, sagte er mit vollem Mund. »Die hatten alle lange Haare und sahen aus wie… wie amerikanische Ureinwohner?«
Maja schluckte wieder.
»Mehrere?«
Er nickte.
»Ja, ein paar. Sie warteten vor der Schule. Ehrlich gesagt, warteten sie schon vor dem Fenster des Chemiesaals. Haben die ganze Zeit hinein gelinst und mich ganz kirre gemacht.«
»Aha.«
Maja wartete, doch das Unwohlsein kroch ihr den Rücken hinauf.
»Na ja«, fuhr er fort. »Ich bin dann hinten raus.« Er zuckte wieder. »Konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass sie es auf mich abgesehen hatten.«
Maja räusperte mich.
»Und… und was meinst du, würden sie von dir wollen?«
Er brauchte nicht zu antworten, konnte es nicht wissen. Aber Maja wusste es. Es war ihr so klar, wie es nur sein konnte. Sie wollten sie. Es konnte nur einen Grund geben, warum diese Menschen hier waren. Sie hatte sie beleidigt, zutiefst in ihrer Ehre gekränkt und nun waren sie hier, um Rache zu üben.
»Ähm… hat dich sonst noch jemand…«
Maja zögerte das Wort auszusprechen.
Xaver half ihr auf die Sprünge.
»Verfolgt? Meinst du das?« Er schüttelte den Kopf und verputzte den letzten Rest seiner Schnitte, nur um aufzuspringen und sich eine neue zuzubereiten. »Nein, niemand. Die sollen bloß kommen.« Er warf sich in die Brust. »Ich bin eigentlich schon gewappnet.« Er sah sie von der Seite an. »Ich meine, es musste doch irgendwann so kommen, oder?«
»Was meinst du?«
Er wedelte mit den Händen.
»Na, diese Lakota-Geschichte.«
Maja lief rot an.
»Du hast sie doch nicht etwa gelesen?«
»Gott bewahre!« Xaver verdrehte die Augen. »Bin ich verrückt? Nur den Anfang, als ich noch dachte, es könnte etwas mit Cowboys und Kanonen herauskommen. Aber dann kamst du gleich wieder mit diesem Agentenschrott.« Er schloss ergeben die Augen. »Außerdem ist es ja auch nicht gerade so, als würdest du deinen Kram verstecken. Ich meine, du postest den Quatsch überall, wo er nicht gleich wieder herausfliegt.«
»Ich hab Verpflichtungen. Meine Leser warten auf die Fortsetzungen.«
Xaver verdrehte die Augen.
»Ich weiß. Sie kommentieren und du kommentierst zurück und schreibst und schreibst und hast deshalb keine Zeit für etwas anderes… wie staubsaugen.«
Maja verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist wichtig für mich, vielleicht das Wichtigste überhaupt.«
Xaver stöhnte.
»Ich weiß. Zurück zum Thema. Wenn ich das richtig sehe, hast du wieder mit deinem blonden Agenten angefangen, der unsterblichen Liebe, den ekelhaften Beschreibungen…«
Maja stemmte die Arme in die Seiten.
»Da ist nichts Ekelhaftes an der Liebe.«
»Du musst es ja wissen.« Xaver grinste. Er liebte es, sie auf die Palme zu bringen. Sie merkte natürlich sofort, was Sache war, und wehrte gekonnt ab.
»Also gut, ich hab etwas geschrieben über einen Agenten und… und einen Lakota.«
»Und?«
»Na ja.« Sie zögerte. »Hab erst später gelesen… und du weißt, ich hasse es zu recherchieren.« Sie blickte entschuldigend zu ihm hoch. »Und dass mein Englisch nicht so toll ist.«
»Ja, weiß ich.«
Xaver nickte ihr ermunternd zu und sie holte tief Luft.
»Also, ich hab diese Liebesgeschichte geschrieben und erst später gehört, dass… dass amerikanische Ureinwohner nicht so offen… also, dass man das einfach nicht macht.«
Xaver stöhnte.
»Brillant. Also hast du ihre empfindlichen Gefühle verletzt.«
»Ich weiß nicht.« Sie sah verstohlen Richtung Fenster. »Also, ich sah einen vorhin. Er… er hat mich angeguckt.«
Xaver verzog spöttisch den Mund.
»Das ist natürlich wirklich verdächtig.«
Maja nickte eifrig.
»Genau, hier sieht nie jemand hoch. Warum sollte er auch. Die Vorhänge sind immer geschlossen.«
Xaver fuhr sich durch sein Haar.
»Ich weiß, weil Sonnenlicht Gift und Galle für dich bedeutet.«
Maja räusperte mich unbehaglich.
»Du weißt genau, dass ich mich konzentrieren muss.«
»Okay.« Xaver seufzte. »Wenn du damit Geld verdienen würdest, hätte es ja vielleicht einen Sinn.«
Sie verdrängte rasch jedes Gefühl von Unbehagen, das sich ob dieses Wortwechsels im Begriff war, einzustellen.
Xaver kam umgehend zum Thema zurück.
»Also, ein Volk wurde beleidigt, und jetzt sucht es den Übeltäter und stellt ihn an den Marterpfahl.«
»Sei nicht kindisch«, schnaubte Maja, auch wenn sich das Magendrücken verschlimmerte. »Es… es ist vielleicht doch etwas ganz anderes. Vor allem hab ich noch andere Typen hier herumlungern sehen. Sowas wie Bodyguards, oder Agenten.«
»Agenten?« Xaver verschluckte sich fast an dem Glas Milch, das er sich gerade aus dem Kühlschrank geholt hatte. »Agenten? Bist du sicher? So wie in ‚Agents on Fire‘?«
»Ganz genau.« Sie nickte heftig. »Genau daran dachte ich auch.«
Xaver lachte los.
»In der Hölle der Geheimdienste?«
Maja blickte verächtlich auf ihn hinunter.
»Du weißt genau, dass dieser Titel sich nie durchsetzen konnte.«
»Ja klar«, nickte er. »Die Übersetzung bringt es nie.«
Maja fühlte regelrecht, wie ihr Gesicht einen verträumten Ausdruck annahm.
»‘Agents on Fire‘ klingt einfach viel eleganter. Und vermittelt perfekt das Dilemma in dem sich die Hauptdarsteller befinden.«
»Bitte nicht«, stöhnte Xaver. »Diese blöden Agenten nerven mich endlos.«
Diese Beleidigung ihrer Lieblings-TV-Serie konnte sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen und holte bereits Luft zum Gegenschlag, als sich Xavers Stirn auf einmal in Falten verzog. Sein Gesicht nahm den Ausdruck an, den sie nur aus Momenten kannte, in denen er über seinen Textaufgaben brütete.
»Also«, sagte er langsam und betont. »Du hast nicht nur Menschen aus fremden Ländern gesehen, sondern auch noch geheimnisvolle Sicherheitskräfte. Und du fürchtest, sie könnten etwas mit dir zu tun haben.«
»Es tut mir leid«, murmelte Maja kleinlaut.
»Das sollte es auch.« Sein strafender Blick traf sie erbarmungslos. »Entweder dreht deine Phantasie völlig mit dir durch und du siehst Gespenster…« Er stockte. »Mehr Gespenster als gewöhnlich.« Eine seiner Augenbrauen wanderte in die Höhe. »Oder finstere Mächte suchen dich heim, um Rache zu nehmen für deine Internet-Untaten.«
Maja schluckte, doch wehrte sie sich.
»Das sind keine Untaten. Das ist Befreiung und… und Befreiung eben…«
»Wehe, wenn sie losgelassen…«, stöhnte Xaver wieder. »Ehrlich. Ich hab keine Ahnung, was du meinst, aber offensichtlich musst du schleunigst damit aufhören.« Hoffnung flackerte in seinem Blick. »Und etwas Vernünftiges tun. Etwas Sinnvolles. Etwas, das ich auch in der Schule erzählen kann.«
Er schob die Unterlippe vor, und ein hysterisches Kichern brach aus Maja heraus.
»Es tut mir leid«, wiederholte sie und knuffte ihn in die Seite. »Ich reiß mich zusammen.« Sie überlegte. »Das bedeutet, ich werde erst einmal darüber schreiben.«
Erleichtert atmete sie auf, froh eine momentane Lösung entdeckt zu haben.
»Na doll«, grummelte der Junge in sich hinein und wühlte in seiner Schultasche. Doch kaum hatte er seinen Gameboy in den Fingern, ließ ihn ein Aufschrei von Maja, seiner Mutter, zusammenzucken.
»Verdammt, verdammt…« Der Bildschirm flackerte, doch das war nicht die Ursache ihres Unmutes. Obwohl ihr Sorgenkind, der Computer, sich wie üblich mühsam und lautstark aus seinem Schönheitsschlaf aufrappelte, sich stotternd einige Momente weigerte und zierte, so ließ er sich doch eigentlich rasch und problemlos hochfahren und ermöglichte ihr den Zugang zu der Welt, die ihr ein und alles war. Doch ihr Fluchen hatte einen Grund und der lag nicht nur in der überquellenden Mailbox.
Ein schlechtes Zeichen, fürwahr. Ließ sie doch die zahlreichen Kommentare zu ihren Werken nicht mehr direkt in ihren Briefkasten senden, sondern bemühte sich, die Korrespondenzen auf ein Mindestmaß zu beschränken. Ein Zugeständnis, das dem kreativen Genius erlaubt werden sollte. Ein Zugeständnis, das vielleicht ihr Ego weniger streichelte, da sie weniger Feedback, weniger Lob und Ermunterung seitens abhängiger Leser erhielt. Aber das Opfer war eine Notwendigkeit, hemmte doch jede Zeitverschwendung den Fluss ihres Schaffens.
Ergo war es kein Wunder, dass sie beim ungewohnten Anblick der Anzahl von Nachrichten erschrak.
Noch weniger verwunderlich war es, dass sie in regelrechte Panik geriet, als sich ihr die Absender jener Nachrichten offenbarten. Das Unheil ließ sich zwar nicht auf eine Person zurückführen, jedoch auf die Bewegung, deren Wort- und Rädelsführer diese Person war.
Wie um alles in der Welt war sie an ihre E-Mail Adresse geraten?
Womit in aller Welt hatte sie das verdient.
Schon seit geraumer Zeit machte sie ihr das Leben schwer, verwässerte mit ihren penibel ausgedrückten, vernichtend konservativen Kommentare ihren Lesern den Kunstgenuss. Schon seit geraumer Zeit kämpften ihre Online Anhänger auf virtuellem Grunde gegen die giftigen Säuren, die sich den Weg durch ihren Netzanschluss in die unschuldige Gemeinschaft der Freunde romantischer Literatur bahnten.
Natürlich war es eben diese Romantik, die dieser Dame ein Dorn im Auge war. Diese Romantik, die ihrem verknöcherten Gemüt den Brechreiz entlockte, dem sie verbalen Ausdruck verlieh.
Doris van Karnten, extremistisches Fangirl der Jahrtausendserie ‚Agents on Fire‘. Sie leitete nicht nur einen Fanclub, sondern gleich mehrere. Sie organisierte Foren, Conventions, Petitionen und Aktionen verschiedenster Färbungen und Ziele. Sie betrieb einen Fanshop, produzierte Briefpapier, Ansichtskarten, Wallpaper und Banner mit den Helden des kleinen Bildschirms.
Mit dem Helden, dem blonden Star der Serie: Finn Cackleford.
Maja wollte nicht behaupten, dass sie ihn mehr liebte, als diese Doris es tat. Sie wollte auch nicht behaupten, dass sie das einzig wahre Recht auf die Auffassung des Charakters besaß, den er so gekonnt und genial verkörperte.
Sie behauptete allerdings, dass ihr das Recht zustand, ihre Auffassung der Dinge zu veröffentlichen, gleichgesinnten Seelen so die Möglichkeit zu verschaffen, ein Forum für ihre einsamen Fantasien zu entdecken, sich nicht alleine zu fühlen mit dem, was sich im tiefsten Inneren ihrer Seele, in den verbotenen, verschlossenen Kerkern versteckte.
War es denn falsch zu träumen? War es falsch von Romantik zu träumen in einer Welt, die so vollkommen frei von Romantik ist? Und diese Welt war frei von Romantik. Es war die harte Welt der Geheimdienste. Eine knallharte Welt, dominiert von Gewalt und Hass. War es nicht umso entzückender, ausgerechnet in dieser Welt die zarte Pflanze der Liebe erblühen zu lassen, zwei Seelen zu vereinen, die so verschieden, so weit voneinander entfernt und doch so nah waren.
Natürlich, sie waren beide Kollegen, Majas Agenten. Ein Job, eine Berufung, ein Ideal. Und sie beide waren Männer. Zwei Männer, die sich liebten.
Natürlich nicht in der Serie. Nicht auszudenken in einer amerikanischen Mainstream Produktion. Nicht auszudenken, eine Idee wie diese der texanischen Landbevölkerung zuzumuten.
Aber hier, im freien Europa, in einem freien Land, in der freien Phantasiewelt einer Frau?
Nein, nicht einer Frau alleine. Tausende teilten Majas Vision. Tausende sahen in dem wöchentlichen Geplänkel, den Macho-artigen Streitereien unter tapferen Kriegern gegen das Böse, nur ein Vorspiel für etwas Größeres, etwas Wahrhaftiges, für die echte Liebe, wie sie es nur zwischen zwei gleichgestellten Kerlen geben kann. Kämpfend um Dominanz, kämpfend um die Macht, kämpfend für ein abstraktes Ziel, das sensible Gemüter kaum interessierte. Der Kampf dagegen, erschwert durch persönliche Schicksalsschläge, Dramen und Seelenqualen – er konnte nur zu einer Lösung, zu einem Höhepunkt führen. Zu der absoluten Hingabe an den einzigen Menschen, der Halt und Stütze gewährleisten konnte.
Und in Finn Cacklefords Welt, besser gesagt, in der seines Charakters, konnte es das Ersehnte nur in einem Menschen geben. In dem großen, dunkel gelockten Angelo Multobene, seinem Partner, seinem Mitstreiter, seiner Deckung.
Und in den Gefilden der Slash-Literatur, seines Geliebten.
Heimlich lasen die Fans es; heimliche Leidenschaften flammten auf bei der Vorstellung der beiden ach so männlichen Figuren, im immerwährenden Clinch. Ungebrochen seelisch und körperlich verstrickt in immerwährender Umschlingung der heißen Leiber, vereint in dem ewigen Tanz, suchend nach Ekstase, verlangend nach Erfüllung, wissend um die Unmöglichkeit ihres Begehrens.
Slash macht frei. Der Slash verschönert den grauen Alltag, Slash hält Existenzen wie die Majas am Leben. Slash vertreibt die Langeweile und die Enttäuschung. Er öffnet Pforten, enthüllt Geheimnisse, erlaubt Entdeckungen. Der Slash ist die Krone der Fanliteratur.
Doch dann gab es sie. Menschen, anonyme Gesichter, die es nicht ertragen konnten, wenn ihre Helden anders handelten, anders liebten, als es in ihrer verklemmten Gemütswelt möglich sein durfte. Selbst wenn es nur in der Phantasie einer einzelnen Person geschah.
Und all diese gesichtslosen Menschen kumulierten in einer Figur, Doris van Karnten. Doris, weizenblond gefärbt, hager von Gestalt, besessen von der Reinheit des heldenhaften Agenten. Besessen von der selbstgewählten Aufgabe, die Beschmutzer jener Reinheit bloßzustellen, sich an ihnen zu rächen, sie zu vernichten.
Und vor allen anderen, die die Welt anders sahen als sie selbst, hatte sie Maja auf ihrem Kieker. Vielleicht, weil Maja deutsch schrieb und sie daher wohl eher zufällig auf ihre beleidigenden Geschichten gestoßen war. Vielleicht, weil Maja die Einzige war, die es wagte, auch in unserer so kalten, harten Muttersprache die Charaktere der Serie auszuleihen, um sie unmenschlichen Torturen zu unterziehen. Vielleicht auch nur, weil Maja es war, weil sie für diese Doris van Kampen erreichbar war, weil sie Maja gefunden hatte. Weil sie sie jetzt gefunden hatte.
Es musste etwas zu tun haben mit dieser ID, IP Nummer, die hin und wieder und vollkommen unverständlich für technisch und logisch unbegabte Geister wie Maja erwähnt wird.
Maja wusste, dass sie mehr Vorsicht hätte walten lassen sollen, dass eine erfundene Identität, ein abgedrehter Künstlername einfach nicht ausreichte.
Grob fahrlässig, so hatte sie gehandelt, anders ließ es sich nicht erklären.
Maja starrte auf die Absender. Sie war es. Unverkennbar ihre Mailadresse. Unverkennbar der Account ihrer Fangemeinschaft. Es war… all diese Hasstiraden trugen ihre Handschrift. Es reichte aus, die Betreffzeilen zu lesen, um sich dessen klar zu werden. Es reichte, sich ein wenig in den Gebieten, in den Räumen der Fangemeinschaften herumgetrieben zu haben. Und ihre Anhänger hatten es ihr gleichgetan.
Kapitel 2
Majas Briefkasten quoll über. Ihr Geheimnis war gelüftet. Trotz des Pseudonyms, unter dem sie schrieb, trotz der Vorsichtsmaßnahmen, die sie so gewissenhaft getroffen hatte, war ihre Anschrift durchgesickert.
Ein beängstigender Verdacht breitete sich in ihr aus. Ihr Kopf fuhr herum, und sie starrte Xaver erschrocken an. Er blickte zurück, mindestens ebenso verwirrt, doch glücklicherweise noch ohne den Ernst der Lage zu erkennen. Glückliches Kind.
Maja stürmte an ihm vorbei. Sie riss die Tür auf. Zu spät kam ihr die Unvorsichtigkeit dieser Handlung zu Bewusstsein. Doch noch spielte diese keine Rolle. Niemand bedrohte sie. Noch nicht. Niemand mit Ausnahme der Papiere, der Massen von Papieren, die aus dem Briefkasten neben der Tür quollen. Niemand außer den zahllosen Briefen, die verziert mit Totenköpfen und gestempelt mit Galgenmännchen und abstrakten Zeichnungen von tödlichen Waffen, eine eindeutige Botschaft des Inhalts lieferten, den anzusehen, sie nicht mehr den Nerv hatte.
Automatisch, als könnte sie sich nicht zurückhalten, als wollte sie sich selbst quälen, griff sie mit beiden Händen in die weiße Flut, packte, wessen sie habhaft werden konnte, und zog sich mit dem letzten Aufflackern der einstigen Selbstkontrolle wieder zurück in den Schutz der Wohnung.
Xaver starrte Maja mit großen Augen an, und diese konnte es ihm nicht verdenken.
»Was… was ist denn los?«, stammelte er, auf einmal nicht mehr der junge Mann, der er so gerne wäre, sondern das unsichere Kind, das dem in mir verborgenen so ähnlich war.
Erst jetzt merkte Maja, dass sie zitterte.
»N… nichts…«, stotterte sie und versteckte die Briefe hinter ihrem Rücken.