Der Duft der Omega-Wölfe - Sigrid Lenz - E-Book

Der Duft der Omega-Wölfe E-Book

Sigrid Lenz

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Beschreibung

Sie nennen sich "Wölfe", sind aber eine genetisch veränderte Form der menschlichen Spezies, mit eigenen Regeln und Gesetzen. Einer von ihnen ist Vernon, ein geborener Alpha und kommender Anführer seines Klans. Doch er scheint anders als andere Alphas. Als ihm der junge Dariel begegnet, fühlt er sich spontan zu ihm hingezogen. Nur, Dariel ist ein Omega und gehört somit zum Abschaum der Gesellschaft der Wölfe. Omegas werden versklavt, sexuell ausgebeutet und in einigen Klans sogar getötet. Doch Dariel geht Vernon nicht mehr aus dem Kopf ...

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Sigrid Lenz

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2014

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Toni Kuklik

Motive:

© Karl Umbriaco – shutterstock.com

© Miljan Mladenovic – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-944737- 42-3 (print)

ISBN 978-3-944737-43-0 (epub)

Prolog

Seit jeher begleitete der Wahnsinn die Wissenschaften. Das Klischee des gewalttätigen, wirklichkeitsfremden Theoretikers, der besessen und gegen alle Widerstände daran arbeitete, seine Ideen durchzusetzen, bewahrheitete sich öfter, als es der Menschheit zum Segen gereichte.

Mit einem einzigen Experiment hatte es begonnen. Und doch war niemand in der Lage gewesen, die Entwicklung zu stoppen. Im Gegenteil, zu rasch fanden sich Anhänger der ersten, ursprünglichen Theorie: Menschen, die sich verpflichteten, ihre eigene Spezies zu optimieren, Scharten auszubessern, Stärken zu betonen, legten den Grundstein für einen Weg, der letztendlich zur grundlegenden Veränderung der Gesellschaft führte, wenigstens eines Teils derselben.

Seitdem waren beinahe zweihundert Jahre vergangen, 197 seit dem ersten Verbot der Versuche, 196 seit deren Ergebnisse sowie die Folgen an die Öffentlichkeit gelangt waren. Von diesem Augenblick an konnte niemand mehr die Entwicklung eindämmen. Die Verbreitung erfolgte in atemberaubender Geschwindigkeit, erreichte jeden Winkel der Erde, lange bevor an ein Absperren der Flughäfen oder Quarantäne zu denken war.

Nach der ersten Panik stellte sich schnell heraus, dass genetische Voraussetzungen eine nicht unbedeutende Rolle spielten. Sie waren notwendige Bedingung, gewährten dem Erreger Zugang zum Erbgut und lösten die Mutation aus.

Zur Beruhigung der meisten Menschen zählten diese genetischen Voraussetzungen nicht zur Norm. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Veränderung jemanden aus dem Bekanntenkreis oder gar einen selbst traf, wurde von Jahr zu Jahr geringer und bewies, dass Immunität bestand, dass mit der ersten Welle an Mutationen das Schlimmste ausgestanden war.

Die Welt normalisierte sich, fand einen Weg mit der neuen Spezies umzugehen. Denn diese als Menschen zu bezeichnen, fiel lange Zeit schwer. Der Grund lag in der Angst, die mit den ersten Verwandlungen ausgelöst worden war und sich nicht wieder abschütteln ließ, obwohl die Mutationen in Folge gemäßigter abliefen. Während die ersten Wölfe sich als unkontrolliert, gewalttätig und um ein Vielfaches stärker als jeder Mensch erwiesen, passte sich der Erreger schnell genug an, um weit weniger Aufsehen zu erregen. Auch unterschied man in Zukunft die Wölfe innerhalb ihrer Gattung.

Wobei ‚Wölfe‘ nur als vorübergehende und umgangssprachliche Bezeichnung angedacht gewesen war. Es handelte sich bei den Mutierten nicht um Wölfe, keineswegs fanden äußerliche Veränderungen statt, oder glichen die Betroffenen gar einem Tier. Dennoch stimmten einige, wenige Merkmale überein.

Der für das Chaos verantwortliche Professor hatte in seinem Wahn nicht nur die DNA des Wolfs verwendet. Er hatte einen Cocktail entwickelt und mit dem Erreger auf Wanderschaft geschickt. Doch er selbst kam nie in den Genuss der erwünschten Stärke, der verschärften Sinne und des robusten Körpers, welche er angestrebt hatte. Später, nicht kompatibel, verleugnet, verschwiegen und dazu verdammt mit den Schwächen als Mensch weiterzuleben, gerieten er und seine Anhänger in Vergessenheit. Man widmete ihm und den Folgen seines Experimentes wenig offizielle Aufmerksamkeit, setzte vielmehr alles daran, zur Normalität zurückzukehren.

Es funktionierte. Die Aufmerksamkeitsspanne der meisten Menschen reichte nicht weit genug, um sich länger mit Wölfen zu beschäftigen. Vor allem, da diese keine Bedrohung darstellten und schnell ihre Nische gefunden hatten. Waren sie doch vornehmlich auch Menschen und damit anpassungsfähig. Gezwungenermaßen gewannen sie die Erkenntnis, dass es leichter war vorzugeben, jemand zu sein, der sich nicht von der Menge abhob, als auf ungewollter Andersartigkeit zu bestehen.

Während der folgenden Jahre entwickelte sich die Fähigkeit zur Selbstkontrolle aus. Dazu kam, dass die Mutation seltener einsetzte. Zudem blieben die Rudel, die sich ausgebildet hatten, darauf bedacht, ihre Unauffälligkeit zu wahren, und sich mit den Menschen keinesfalls anzulegen, die trotz ihrer körperlichen Schwäche, allein was Waffentechnik anging, weit überlegen waren. Von Anfang an war es nicht schwer, sich auszurechnen, dass Wölfe nur in Hinblick auf und mit dem Ziel der Kooperation überleben konnten. Ihre Eigenheiten abzuschotten schien empfehlenswert; der Wunsch unter sich zu bleiben, eine Mischung aus Selbsterhaltungstrieb und Merkmal der neuen Spezies.

Das war die Welt, in die Dariel hineingeboren wurde. Er kannte nur das Rudel, in dem er aufwuchs, die Regeln und Lehren, die ihm von Kindheit an eingeprägt worden waren.

Vernon dagegen war immer schon vom Schicksal begünstigt gewesen. Kaum jemand, am wenigstens er selbst, hatte daran gezweifelt, dass sich infolge der Pubertät herausstellen würde, dass es sich bei ihm um einen Alpha-Wolf handelte. Aus einer wohlhabenden und in Wolfskreisen einflussreichen Familie stammend, lagen die Chancen beinahe bei null, dass er nicht als Alpha zur Welt käme. Auch wenn die Dynamik der unterschiedlichen Wege, die der Körper eines Wolfs beschreiten konnte, weder vollständig erforscht noch deren Entwicklung abgeschlossen war, hatte sich doch längst herauskristallisiert, dass in den meisten Fällen Alphas Alpha-Nachkommen zeugten, Omegas Omega-Wölfe und Betas Ihresgleichen. Natürlich kam es gelegentlich zu Konstellationen außerhalb der vorgegebenen Richtlinien, doch meistens ergaben sich nur wenige Abweichungen von der Norm. Auch aus diesem Grund blieben innerhalb der Klans Alphas weitgehend unter sich und bestimmten mithilfe unterstützender Betas die Geschicke des Rudels.

Das Schicksal eines Omega Wolfs dagegen sah von Anfang an dunkler aus. Omegas galten als nahezu wertlos. Körperlich waren sie kleiner und schwächer. Was für Frauen und Männer gleichermaßen negative Folgen nach sich zog. Omega Eltern, sofern sie die Möglichkeit besaßen, bemühten sich meist, für ihre Töchter einen sicheren Platz zu finden, eine Existenz, in der sie unter dem Schutz eines Alphas oder Betas standen. Es kam vor, dass sich die beste Lösung vor ihrer Nase befand, dass der Alpha, der bereits zuvor für die Familie gesorgt hatte, auch eine Tochter übernahm. Nicht zu seinem Nachteil. Omegas waren fruchtbar, und die mehr oder weniger regelmäßig aufkommende Hitze sorgte dafür, dass alle Bedürfnisse des Alphas oder auch die eines Beta-Wolfes befriedigt wurden.

Schwieriger stellte sich die Lage eines männlichen Omegas dar. Geboren mit einem Makel, denn ebenso wie weibliche Omegas der im Schnitt alle zwei Monate auftretenden Hitze ausgeliefert, waren sie nicht in der Lage, Kinder zu bekommen oder zu zeugen. Man hielt sie für eine Laune der Natur, für eine unnötige Abweichung, die sich mit der Mutation entwickelt hatte und keinen tatsächlichen Sinn verfolgte. Natürlich waren sie nicht zu schwach, um einigermaßen hart zu arbeiten und ihren Lebensunterhalt zu verdienen, doch der hitzebedingte Ausfall und die Wirkung der Pheromone erschien den meisten Arbeitgebern als Verlustgeschäft.

Stellen blieben rar. Manche wählten ein Leben unter Menschen, doch auch dort irritierten sie, fielen auf, blieben fremd und ohne Schutz, ohne Hilfe, wenn es zur Hitze kam, starben allein gelassen und voller Sehnsucht nach ihrem Land und ihrem Klan.

Kapitel 1

Vernon wusste alles über das Rudel, auch dass sich in seinem Omegas befanden. Sein Vater Viktor leitete die Geschicke des Klans, der sich zwischen Meer und Gebirge in den weiten Landstrichen angesiedelt hatte. Vor langer Zeit und aufgrund des Mangels an Bodenschätzen war das Gebiet erschwinglich und sein Urgroßvater einer der ersten Wölfe gewesen, der die Notwendigkeit erkannt hatte, sich um eigenes Land zu kümmern.

Auch das hatte Vernon früh gelernt. Es war seine Pflicht, Bescheid zu wissen, sollte er doch eines Tages Viktors Platz einnehmen. Die Hierarchie war in diesem Punkt eindeutig, Ausnahmen eher Seltenheit. Hatte eine Familie sich den Status des Klan-Alphas erkämpft, gab sie ihn nicht wieder auf. Nicht freiwillig zumindest.

Die Omegas, die Vernon kannte, waren älter. Manche lebten außerhalb oder am Rand des Klan-Gebietes. Manche in einem Haushalt. Offiziell als Hilfe, als Angestellte des Alphas oder Betas, inoffiziell als Besitz desselben. Die Meinung, die über sie herrschte, war nie gut gewesen, verschlechterte sich jedoch zusehends, während Vernon aufwuchs.

Sie nicht zu beachten lag nahe, ihnen keine Aufmerksamkeit zu schenken, war üblich. Ein Junge wie er hatte ausreichend Pflichten, kam nicht auf den Gedanken, sich neuen Aufgabenfeldern zuzuwenden. Dennoch fiel ihm auf, dass in der Zeit, in der seine Pubertät einsetzte, in der seine Mutter ihn umarmte, sein Vater ihm stolz auf die Schulter klopfte und in die Gesellschaft erwachsener Wölfe, seiner Freunde und Kollegen einführte, viele seiner Mitschüler begannen, ihre Köpfe, ob bewusst oder unbewusst, demütig zu senken, wenn er sie anblickte.

Manchmal merkte er es, spürte den Beta in ihnen, ohne es sich erklären zu können. Und dann gab es andere, die an einem Tag noch neben ihm die Schule besucht hatten, und am nächsten wurde ihr Spind ausgeräumt. Keinen von ihnen sah er je wieder und auf seine Fragen wurde meist ausweichend geantwortet.

Der Hausmeister der Schule, ein alter Beta, wurde redselig, nachdem Vernon ihm eine Flasche Schnaps aus der wohlbestückten Bar seines Vaters stibitzt hatte.

„Omega-Kinder“, räsonierte er abfällig, seine Worte schleppend. „Ist doch nichts Neues. Nicht wirklich. Die wissen das doch vorher. Wissen, dass es unvermeidlich ist. Meine Eltern wussten auch, dass ich Beta bin. Man kann sowas bestimmen lassen, weißt du?“ Er grinste Vernon an, zeigte hässliche Zähne. „Aber was soll ich sagen, kostet natürlich, ist nicht hundertprozentig sicher und so. Und die haben nun mal kein Geld, hatten sie nie. Woher auch, können nicht arbeiten. Nicht so wie wir.“ Er nahm einen weiteren Schluck. „Wenn auch nur die Chance bestanden hätte, dass ich Alpha bin, wäre ich weiter auf die Schule gegangen, und dann zur Uni. Gut genug war ich. Aber was soll's? Bringt ja nichts.“ Er schüttelte den Kopf, schnaubte.

Vernon sah ihn interessiert an. Jemanden, einen Beta, in betrunkenem Zustand zu beobachten, herauszufinden, was der für gewöhnlich zu verbergen wusste, stellte sich als faszinierende Beschäftigung heraus.

Der Hausmeister blinzelte ihn von der Seite an, bevor er die Flasche erneut ansetzte.

„Aber was weißt du schon?“, brummte er. „Sowas von durch und durch Alpha, das riecht man schon von Weitem. Ich wette, in deiner Familie achtete man sehr auf Reinblütigkeit. Um eines Tages sowas wie dich zu zeugen. Einen Wolf, der besser ist, als alle anderen.“ Er schnaubte und Vernon hob seine Augenbrauen. „Das habe ich noch nie gehört“, erwiderte er und legte den Kopf schief. „Ich glaube auch nicht, dass es so war.“

„Ach nee.“ Der Hausmeister rülpste, hielt sich gleich darauf die Hand vor den Mund und wich nervös Vernons Blick aus. Dann deutete er auf das Feuer, das munter vor sich hin brannte. „Was denkst du, was ich hier mache?“

Vernon zuckte mit den Schultern. „Genau das würde ich gerne wissen“, gab er zu.

Der Hausmeister lachte, sah sich um, zuckte mit den Schultern, bevor er erneut trank und sich Lippen und Kinn abwischte. „Warum auch nicht“, murmelte er mehr zu sich selbst. „Ist nicht so, als hätte jemand ausdrücklich verboten, darüber zu sprechen.“

Er nahm eines der Hefte von dem Stapel neben der Tonne, blätterte es auf, zeigte sorgfältig mit Füllfederhalter gezeichnete Diagramme und Gleichungen. „Omega“, sagte er abfällig. „Sie bemühen sich vielleicht, aber letztendlich können sie nur kopieren und vortäuschen. Wie schon gesagt, meiner Meinung nach, sollte man sie gar nicht erst auf die Schule lassen. Setzt ihnen nur Flausen in den Kopf und hilft niemandem weiter.“

„Was denn für Flausen?“

Vernon gelang es immer noch nicht, die wenigen Omegas, die er in seinem kurzen Leben zu Gesicht bekommen hatte, in Verbindung mit den beiden Mitschülern zu bringen, die seit ein paar Tagen verschwunden waren.

Der Hausmeister wackelte mit dem Kopf. Ein Laut, ähnlich einem Kichern, entkam seiner Kehle und er erstickte ihn mit einem weiteren Schluck. „Ich weiß nicht wirklich, ob es wahr ist.“ Wieder sah er sich um.

„Aber ich habe gehört, dass es Omegas geben soll, die sich dagegen wehren, geprägt zu werden.“ Er lachte auf. „Natürlich nur, wenn sie nicht gerade läufig sind. Wir alle wissen, dass sie da alles machen. Deshalb sind sie Omegas.“

„Hm.“ Vernon verzog die Lippen. „Aber das ist doch gut, markiert zu werden, meine ich. Sie sind beschützt und jeder weiß, zu wem sie gehören.“

„Meine Rede“, stimmte ihm der Hausmeister zu. „Darauf, Scherereien zu veranstalten, kommen sie nur, wenn man sie mit Wissen füttert, das sie weder brauchen noch begreifen können.“

„Und deshalb werden ihre Sachen verbrannt?“ Vernon runzelte die Stirn.

Der Hausmeister schnaubte. „Ist vielleicht nicht unbedingt nötig, aber sicher ist sicher.“

„Verstehe ich nicht.“ Vernon schüttelte den Kopf.

„Na, die Pheromone.“ Der Mann rollte mit den Augen. „Sobald die Pubertät ihre Wandlung auslöst, beginnt der Körper Pheromone auszusenden, musst du doch in Biologie gehört haben. Und davon abhängig, wie empfindlich ihr Kinder seid – oder die Professoren – lenkt das tierisch ab.“ Er verzog die Lippen. „Ist nicht schön, wenn einer wie du das Gebäude nach seinem Omega durchsucht. Vielleicht auch noch einer, der weniger Glück hat, dessen Vater die Hausbar nicht offen lässt. Ich wette, wenn du die Kontrolle verlierst und einen von denen markierst, findet deine Familie einen Weg, um den loszuwerden. Ist nicht so, als klebte der dir dann dein Leben lang an der Backe.“

„Was?“ Vernon hörte sich selbst sprechen und er klang so verdutzt, wie er sich fühlte.

Der Hausmeister stöhnte. „Deshalb verbrenne ich das Zeug“, murmelte er. „Ihr Kinder kapiert das nicht. Erst wenn ihr mit euch selbst zurechtkommt, erzählt man euch von der Intensität der Versuchung. Zum Glück hat man die im Griff. Wegsperren, sage ich nur.“

Er neigte sich zu Vernon. Der verzog die Nase, als stinkender Atem ihn erreichte. „Die sind hier viel zu weich. Wo ich herkomme, geht man anders mit den Abnormalen um. Richtige Wölfe sollten nichts mit denen zu tun haben, das sag ich.“ Er nickte. „Und das werde ich immer sagen.“

Vernon räusperte sich. „Woher kommen Sie denn?“

Der Mann nahm einen weiteren Schluck, bevor er Vernon zuzwinkerte. „Aus einem anderen Rudel, ziemlich weit von hier. Aber ich habe sogar von Klans gehört, die das Omega-Problem sofort und endgültig lösen. Mit der ersten Wolke an Pheromonen – Sense!“

Vernon zuckte zusammen, als der Mann lachte. Während er weglief, hörte er ihn rufen. „Aber sag’s nicht weiter, jedenfalls nicht, dass du’s von mir hast.“

Vernon lief schneller, konnte sich das unangenehme Gefühl in seinem Inneren nicht erklären, schob es beiseite. Auch so hatte er genug zu tun, Aufgaben zu erfüllen, ein Leben zu leben, in dem es kaum Omegas gab und in dem vor allem nicht von ihnen gesprochen wurde. Bald vergaß er die verschwundenen Mitschüler, stieg in höhere Klassen auf und ignorierte es, wenn ihm schien, als verschwänden andere, jüngere wie auch ältere Schüler und Schülerinnen auf die gleiche, unerklärte Weise.

Er lernte, Alpha zu sein, lernte zu leiten, zu führen, die Stärken anderer Alphas zu nutzen und Betas so einzusetzen, dass sie perfekten Nutzen erbrachten. Er lernte, dass Letztere dafür geschaffen waren, ihre Alphas zu unterstützen, ihnen in jedem Fall den Rücken zu decken, ihre Anordnungen auszuführen. Er lernte von den Vorteilen, die eine Alpha/Beta Partnerschaft besaß und von denen, die aus zwei Alphas bestanden. Und zwei Jahre später behandelten sie in Soziologie-Physiologie das Rätsel der Omegas.

„Früher oder später werden sie aussterben“, erklärte der Professor. „Alleine sind sie nicht lebensfähig. Ihre Kinder besitzen eine geringe Chance, sich zu Alphas oder Betas zu entwickeln. Und selbst wenn sie das Glück haben sollten, so tragen sie das Risiko in sich, dass der eigene Nachwuchs sich als minderwertig herausstellt. Es gibt Rudel, in denen man glaubt, sie von ihrem Leiden erlösen zu müssen. Andere leugnen ihre Existenz, wenigstens offiziell, und niemand weiß, was mit den Omegas dort geschieht. Die Tatsache, dass sie sich selbst und andere willentlich zu einem Opfer ihrer Triebe machen, bestimmt ihren Untergang.“

„Was ist mit der Frau am Stadtrand?“, fragte Vernon am Abend. Sein Vater zog die Augenbrauen zusammen.

„Warum ist sie lebensfähig?“, fuhr Vernon fort.

Viktor nickte. „Nehmt ihr dieses Thema gerade durch?“

Er seufzte, als Vernon nickte. „Sie ist markiert. Gehört Eduard, du kennst ihn doch.“

Vernon runzelte die Stirn. „Eduard ist verheiratet. Er hat Alpha und Beta Kinder.“

Viktor lächelte kurz. „Er hat auch Omegas, oder hatte. Ich weiß nicht, was er mit ihnen gemacht hat.“

„Aber sie arbeitet“, überlegte Vernon.

„Sicher“, meinte Viktor. „Ich lege Wert darauf, dass unser Rudel liberal geführt wird. Dass sie nicht mehr schwanger werden kann, muss nicht heißen, dass sie wertlos ist. Im Gegenteil, dass sie dieses Alter erreicht hat, spricht für ihre Stärke. Und Eduard hat sie nie verleugnet. Ist nicht stolz darauf, aber wenn die Zufälle kumulieren, passiert so etwas. Dann ist der Omega in Hitze, ungeschützt, und der Alpha ihm ausgeliefert. Ich denke, dass er trotzdem die Verantwortung übernehmen sollte, doch die meisten stimmen bis jetzt noch dagegen.“

„Hast du jemals?“, fragte Vernon und Viktor lachte. „Um Himmels willen, nein. Lass dir eins sagen: So sehr ich auch dafür eintrete, dass Omegas Rechte erhalten, es ist doch besser, man hält sich fern von ihnen. Da besteht eine Unberechenbarkeit, die Probleme schaffen kann, wenn man nicht aufpasst. Gerade in einer Position wie wir sie innehaben.“

„Ich verstehe“, sagte Vernon und glaubte tatsächlich zu verstehen.

*

Als er älter wurde, näherte sich die Zeit für eine Bildungsreise. Auch wenn Viktor stets darauf geachtet hatte, dass Vernon sich in menschlicher Gesellschaft zurechtfand, ohne zu sehr aufzufallen, ohne seine angeborene Autorität einzubüßen, hielt er es für wichtig, den Sohn anderen Klan-Alphas vorzustellen, die Unterschiede in der Leitung und die Strukturen fremder Gesellschaften kennenzulernen.

Aus Vernons Sicht handelte es sich um eine unerträglich langweilige und zeitraubende Unternehmung. Er schüttelte zahllose Hände, empfing und verteilte höfliche und nichtssagende Floskeln, während er von Klan zu Klan, von Anwesen zu Anwesen geführt wurde. Sie alle sahen gleich aus, Unterschiede waren minimal. Selbst die Verhandlungen über seine weitere Zukunft, über das Internat, in das er geschickt werden sollte, in dem Menschen neben Wölfen ausgebildet wurden, interessierten ihn wenig. Er war sechzehn Jahre alt. Seine Interessen lagen in der Gegenwart. Musik, Filme, Partys. Um Verantwortung zu übernehmen, war es bei Weitem zu früh.

Kein Wunder, dass er jede Gelegenheit nutzte, um sich davonzuschleichen. Es war Sommer, er hatte Ferien und es war heiß.

Sein Geruchssinn entwickelte sich seit geraumer Zeit in einem rasanten Tempo. Er schnupperte, unterschied Pflanzen, Tiere, nahm die Fährten anderer Wölfe und die vereinzelter Menschen auf. Doch vor allem schmeckte er den See auf der Zunge, nur einen knappen Kilometer entfernt. Seine Badehose zu greifen und sich aus der Hintertür des Gästehauses zu schleichen, war eine Sache von Sekunden. Er rannte barfuß über die Wiese, fühlte das warme, zu trockene Gras unter seinen Fußsohlen und stoppte erst, als sich die grünliche Wasserfläche vor ihm ausbreitete. Das Gewässer einen See zu nennen, war fast übertrieben, aber für seine Bedürfnisse reichte es aus.

Vernon merkte, wie ein breites Lächeln seine Lippen verzog, und registrierte den Geruch von Algen und Sand. Anders als zu Hause, ohne die Bäume und Schatten. Er sah sich um, erstaunt, nur eine einzige Person am Ufer zu entdecken.

Einen Wolf, das roch er sofort. Als er näherkam, wurde ihm klar, dass der jünger war als er, und dass sein Duft schwer in der Luft hing. Unbekannt, nicht wie er ihn gewohnt war, mit einer süßlichen Note, die leichten Schwindel in ihm hervorrief.

„Hey“, rief er und räusperte sich, um seine Stimme von Heiserkeit zu befreien.

„Hey“, sagte der Junge und klappte sein Buch zu, sah ihn neugierig an.

Vernon deutete auf den See. „Ist der in Ordnung? Ich meine, warum schwimmt hier keiner?“

Der Junge überlegte, bevor er mit den Schultern zuckte. „Da ist ein Schwimmbad in der Stadt. Gefällt den meisten besser. Keine Algen, keine Steine.“

Vernon schüttelte den Kopf. „Na und? Ich wusste nicht, dass Wölfe empfindlich sind.“

Der Junge lachte. „Empfindlich vielleicht nicht, aber bequem.“

„So?“ Vernon ließ sich mit gekreuzten Beinen nieder. „Selbst wenn hier Seeschlangen drin wären, hätten die keine Chance.“ Er erwiderte das Lächeln, ließ sich auf die Ellbogen zurücksinken und streckte die Beine aus.

Der Junge sah ihn immer noch an. „Alpha, nicht wahr?“

Vernon nickte. „Du?“

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Weiß noch nicht. Bin offensichtlich ein Spätzünder.“

„Und wie stehen die Chancen?“ Vernon betrachtete seine Zehen. Zeit, die Nägel zu schneiden, so viel war sicher. „Ich bin übrigens Vernon, vom Baju-Klan, auf Besuch.“

„Hab ich gehört“, bemerkte der Junge. „Dariel. Ich bin von hier. Und vielleicht, mit viel Glück, bin ich bald Beta. Meine Mutter hört nicht auf, davon zu reden. Sie meint, unter ihren Vorfahren sei einer gewesen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und da man nie wissen kann, was passiert …“ Er ließ den Rest des Satzes ungesagt.

„Ah.“ Vernon überlegte. „Dann ist deine Mutter?“

„Omega“, antwortete Dariel. „Sie sagt, ich bin ihre Chance.“

„Hm.“ Vernon würde nicht behaupten zu verstehen. „Dein Vater?“

Dariel zuckte mit den Schultern. „Das ist es ja, Alpha oder Beta. Sie ist sich nicht sicher, war in Hitze. Aber er muss wohl irgendwie bedeutend gewesen sein.“ Dariels Finger fuhren über den Buchumschlag. „Dann könnte ich weiter auf die Schule gehen.“ Er lächelte, sah Vernon an. „Ich lerne gerne und ich mag Sport. Als Alpha oder Beta käme ich in eine Mannschaft.“

„Hm“, wiederholte Vernon und biss sich auf die Zunge, um die Bemerkung zurückzuhalten, die sich ihm aufdrängte. Dass der Junge zum Beta wurde, lag vielleicht im Bereich des Möglichen, aber ein Alpha auf gar keinen Fall. Ganz davon abgesehen, dass er zu klein und schmal war, um auch nur eine der beiden Möglichkeiten nahezulegen. Und nicht nur das. Der süßliche Geruch, den Vernon nun aus der Nähe noch stärker wahrnahm, betäubte seine Sinne. Er war sich nicht sicher, was der zu bedeuten hatte, dennoch stieg eine längst vergessene Erinnerung in ihm hoch, an damals, vor seiner Pubertät, aus der Schule, seinem Klassenzimmer. Er schnupperte wieder.

„Was?“, fragte Dariel.

Vernon zuckte mit der Schulter, lächelte. „Nichts“, sagte er nur. „Ich wünsch dir Glück. Mich schicken sie aufs Internat und ich wollte, sie täten es nicht.“

Dariel kicherte. „Aber das ist doch cool. Du kommst weg von Zuhause und bist auf dich allein gestellt. Ich wünschte, das wäre für mich auch möglich.“

„Ich weiß nicht recht.“ Vernon zog ein Bein an, zeichnete mit der Zehe einen Kreis in den Sand. Dass er Zweifel hatte, war nichts, worüber er sprach. Nicht für gewöhnlich. Doch das hier war anders. Und er hatte Ferien. Mehr noch, er sähe Dariel nie wieder. Zudem, was sollte der schon ausrichten? Ihn verpetzen?

Vernon schüttelte den Kopf. Sicher nicht. Das spürte er.

Vernon sah Dariel von der Seite an. Mit einem Schlag wurde ihm klar, dass der Junge hübsch war. Ein Kind, zu schmal, zu klein, und doch besaß er die Anlagen, zu einem schönen Mann zu werden. Vernon betrachtete die blasse Haut, die für einen Jungen geradezu lächerlich langen Wimpern, ein wenig dunkler als Haar und Brauen. Er suchte nach einem Wort, die Farbe zu beschreiben, doch wollte ihm keines in den Sinn kommen. Der Ton lag irgendwo zwischen blond und braun. Manche Strähnen glänzten hell in der Sonne, erinnerten an Gold, während andere ein dunkleres, kühles Grau aufwiesen und den Kontrast zur bleichen Haut hervorhoben. Definitiv ein hübscher Junge, ungewöhnlich, anders. Erneut drängte sich eine vage Erinnerung in ihm auf, der schwache Abglanz eines verdrängten Bildes aus seiner Kindheit.

Vernon räusperte sich, gestikulierte in die Richtung des Gewässers. „Willst du schwimmen?“

Dariel wandte den Kopf. „Schwimmen?“ Er klang überrascht.

„Klar.“ Vernon lächelte und sprang auf. „Deshalb bin ich hier. Hab das Wasser gerochen. Und es ist verdammt heiß.“

„Hm.“ Dariel biss sich auf die Unterlippe, schüttelte langsam den Kopf. „Weiß nicht recht. Ich ... schwimme nicht.“

„Du machst was nicht?“ Vernon lachte. „Aber jeder schwimmt.“

Dariel wirkte verlegen, lenkte augenscheinlich ab. „Du kannst Wasser riechen? Von weiter weg?“

Vernon schlüpfte aus seiner Jeans, zog sich das T-Shirt über den Kopf, ließ es achtlos auf die Erde fallen.

„Klar“, meinte er dann, selbst verwirrt. „Du nicht?“

Dariel senkte den Kopf. „Ich kann’s nicht. Also nicht so viel, von so weit. Wenn ich hier bin, dann natürlich schon, aber nicht aus der Entfernung. Ich dachte, das käme erst mit der Pubertät.“ Er schluckte.

Vernon beobachtete den Adamsapfel, der sich in dem langen Hals bewegte, betrachtete den Kragen des olivfarbenen Shirts, der sich perfekt an die Haut schmiegte.

„Es ist komisch“, sagte Dariel nachdenklich. „Wenn ich mir eines Geruchs sicher bin, dann nur, wenn es um Alphas und Betas geht. Bei dir wusste ich sofort, dass du ein Alpha bist.“ Seine Finger zupften an dem Buchcover, lösten das Deckblatt an den Kanten ab.

„Hm, aber das ist doch schon was“, murmelte Vernon. „Vielleicht der Anfang.“ Er versuchte, sich zu erinnern. Doch beim besten Willen kam er nicht darauf, wann oder wie er zum ersten Mal seinen ausgeprägten Geruchssinn wahrgenommen hatte. Es kam ihm vor, als habe der ihn bereits sein gesamtes Leben begleitet. Aber was wusste er schon? Interessiert hatte es ihn nie, erst recht nicht, wie die Entwicklung bei anderen verlief.

Er räusperte sich wieder. „Bist du wirklich nicht zum Schwimmen hier?“, erkundigte er sich schließlich und kratzte sich am Nacken.

Dariel schüttelte den Kopf, tippte auf sein Buch. „Zum Lesen“, sagte er. „Hier hab ich Ruhe. Zuhause herrscht Chaos mit den Kleinen. Und Mamas Alpha brüllt regelmäßig, da verziehe ich mich lieber.“

„Ach so“, Vernon nickte. „Wie auch immer, ich gehe schwimmen.“ Ihm kam ein Gedanke. „Kannst du es vielleicht nicht? Schwimmen?“

„Doch, klar“, wehrte sich Dariel, wich jedoch Vernons Blick aus, konzentrierte sich auf seine Finger und stoppte die Bewegung. „Nicht sehr gut“, gab er schließlich zu und sah entschuldigend auf. „Solange die Möglichkeit besteht, dass ich Omega bin, darf ich nicht ins Schwimmbad.“ Er zuckte beiläufig mit den Schultern, als mache ihm das nichts aus.

„Das wusste ich nicht“, gab Vernon zu. „Wirklich?“

Dariel nickte. „Aber ich könnte natürlich hier“, sagte er leiser.

Vernon spürte, wie ein Instinkt ihn überrollte, der merkwürdig fremdartige Wunsch, den Jüngeren zu beschützen. Vielleicht lag es daran, dass er keine Geschwister hatte, dass er nie erfahren hatte, wie es sich anfühlte, einen anderen anzuleiten. Jemanden, der Hilfe brauchte und Unterstützung.

„Ich helfe dir“, sagte er und lächelte. Dariel blinzelte unsicher. „Ich kann das“, behauptete er. „Ich kenne das Prinzip. Und ich war hier auch schon im Wasser. Es ist nur ... ich mach es nicht so gerne.“

„Aber das ist klasse“, meinte Vernon, legte Überzeugung in seine Stimme. „Ganz ehrlich, was ist denn ein Sommer, wenn man nicht schwimmen geht? So richtig öde.“

Dariel lachte. Es klang ungewohnt und befreit, als kenne er den Laut selbst nicht. Gleichzeitig schüttelte er den Kopf. „Kann ich nicht finden. Ist doch viel zu kalt. Und überhaupt.“

„Du hast also Angst, dich zu erkälten?“, neckte Vernon. „Dann bleib ruhig hier in der Gluthitze. Aber wenn dein Gehirn schmilzt, wird es auch mit dem Lesen schwierig.“

„Gar nicht.“ Dariel sprang auf, fast zu Vernons Überraschung.

Er lachte nun auch und tappte auf das Wasser zu, tauchte einen Fuß hinein, schüttelte sich. „Brr ... Eiswasser“, sagte er, obwohl ihm die Temperatur eher lauwarm erschien, fast zu warm, um erfrischend zu sein.

Tatsächlich blieb Dariel stehen und wirkte skeptisch, kratzte sich am Kopf. „Ich erkälte mich tatsächlich leicht“, gab er zu trat von einem Fuß auf den anderen. „Meine Mutter wird sauer, wenn ich schon wieder Taschentücher und Hustensaft brauche.“

Vernon runzelte die Stirn. „Nee“, sagte er dann. „War nur Spaß. Ist total warm, probier es aus.“

Einen Moment fragte er sich, ob er einen Fehler beging. War es wirklich richtig, den Jungen zum Schwimmen zu überreden, wenn der sich so offensichtlich sträubte? Gesetzt den Fall, der zählte wirklich zu den Omegas, dann hatte er nicht das geringste Recht, Einfluss auf ihn auszuüben. Vor allem da er nicht ahnte, wie gerade dieser Klan mit Omegas umging. Das war kein Thema, über das man sich unterhielt, zumindest nicht in seiner Anwesenheit.

Auch erschien ihm der Junge seltsam genug. Er sollte damit rechnen, dass der ihm alle möglichen Bären aufband. Alles nur Erdenkliche konnte der ihm erzählen. Besaßen Omegas nicht ausnehmend viel Fantasie und kein Verhältnis zur Wahrheit?

Vernon durchforstete vergeblich seine Erinnerung. Vielleicht hatte ihn längst ein Alpha beansprucht, einer von denen, die keinerlei Verständnis dafür besaßen, wenn man sich an ihrem Eigentum zu schaffen machte. Oder Dariel erkältete sich und seine Mutter warf es ihm schließlich vor.

Als Alpha hatte Vernon keine Ahnung davon, wie es sich anfühlte, krank zu werden. Sein Immunsystem war stark genug, um unbedeutende Krankheitserreger spielerisch abzuwehren. Wie musste es sein, sich tagaus, tagein darum zu sorgen, ob man verletzt, oder mit plötzlichem Fieber aufs Krankenbett geworfen wurde?

Er schüttelte die Überlegungen ab. Das waren nicht seine Probleme. Er war hier zu Besuch, hatte Ferien. Und der Junge würde doch selbst wissen, was er sich zumuten konnte und was nicht.

Tatsächlich stand der auf, betrachtete ihn einen Augenblick und inspizierte dann die Wasseroberfläche. Er presste die Lippen zusammen, reckte das Kinn und Vernon spürte ein Lächeln um seinen Mund zucken. Aufmunternd nickte er ihm zu und Dariel schlüpfte rascher als nötig, als sei ihm dies unangenehm, aus dem T-Shirt. Als er seine Hose auszog, drehte er sich zur Seite und Vernon dachte bei sich, dass diese Scheu auf ihre Weise anziehend sei. Unwiderstehlich – das Wort formte sich in seinem Verstand und er biss sich irritiert auf die Zunge.

Dariel benahm sich so ganz anders als seine Freunde, die darin wetteiferten, ihre Muskeln spielen zu lassen, und die ihren Körper mit Stolz präsentierten. Beim besten Willen konnte er sich nicht mehr daran erinnern, ob er selbst vor ein paar Jahren ähnlich scheu gewesen war. Gestand sich jedoch ein, dass die Wahrscheinlichkeit eher niedrig war. Und selbst wenn, das war kein Verhalten für einen Alpha, Viktor hätte ihm das schnell ausgetrieben.

Er kniff die Augen zusammen und nickte aufmunternd, als Dariel offensichtlich unter Aufbietung eines erheblichen Anteils von Selbstüberwindung einen Fuß vor den anderen setzte.

Sein Körper war wirklich blass. Arme und Gesicht schienen ihm Gegensatz zum Rest der Haut beinahe golden im Sonnenlicht. Seine Augen funkelten grünlich und er war so dünn, als habe er gerade einen Wachstumsschub hinter sich. ‚Zerbrechlich‘, dachte Vernon. Und ‚Omega‘. Er drängte den Gedanken zurück. Woher sollte er das auch wissen? Niemand konnte das, und ganz sicher würde er Dariel nicht die Hoffnungen rauben.

Der erreichte nun das Wasser, tauchte einen Zeh hinein, sah zu Vernon auf.

„Sag ich doch, ist nicht kalt“, behauptete der und lief mit zwei großen Schritten vorwärts. Der Grund gab nach und Vernon konnte gerade noch das Gleichgewicht halten, bevor er wieder sicher stand, sich jedoch bis zu den Hüften im Wasser befand. Er hielt die Luft an, lachte dann befreit auf, drehte sich zurück zum Ufer und ließ sich rückwärts ins Wasser gleiten. Zwei Schwimmzüge und er atmete aus, stieß einen Jubelschrei aus. „Ist das herrlich. Danach hab ich mich schon den ganzen Tag gesehnt.“

Er schwamm einen Kreis, und als er sich wieder zurück zum Ufer bewegte, hatte Dariel sich bis ins knietiefe Wasser vorgewagt. Vernon lachte wieder. „Worauf wartest du?“ Er spritzte den anderen an. Der schauderte, quietschte und lachte dann auch. Ermutigt spritzte Vernon erneut, überrascht, als der andere sich bückte und die Chance nutzte, dass Vernon näher herangekommen war. Eine Ladung Wasser landete in seinem Gesicht, bevor er es registrierte und ausspuckte. „Na warte“, drohte er. „Das gibt noch Ärger.“

Doch was ihn überraschte, war Dariel, der plötzlich ins Wasser glitt und einen Moment später verschwunden war.

„Was?“ Vernon drehte sich um, suchte vergeblich Halt am Boden. Der Grund, der Dariel eben noch gestützt hatte, war zwei Schritte weiter nicht mehr existent. Vernon drehte sich erneut, setzte zum Kraulen an, als ihn kalte Finger am Knöchel packten, spielerisch an ihm zogen. Nicht stark genug, um ihn unter Wasser zu befördern, und doch resolut genug, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass es sich nicht um eine Alge handelte.

Das Geräusch, das ihm entfuhr, glich zu verdächtig dem Quietschen, das Dariel eben noch von sich gegeben hatte, und Vernon verschluckte ein weiteres, lachte, während er sich losriss.

Dariel tauchte vor ihm auf. Das Haar klebte an seinem Kopf, lange Strähnen hingen in seinem Gesicht und er strahlte. „Hab doch gesagt, dass ich es kann.“

„Schwimmen hab ich gesagt.“ Vernon bemühte sich um einen strengen Blick. „Vom Tauchen war nie die Rede.“

„Tatsächlich?“ Dariel sah ihn unschuldig an und war einen Augenblick später wieder verschwunden. Vernon zögerte nicht, holte Luft und tauchte ebenfalls ab.

Das Wasser umgab ihn grün und trübe, erfüllt von Schatten. Der Grund war zu sehen, allerdings undeutlich, dunkel und moorig. Düstere, schlangenähnliche Gebilde wiegten sich langsam, beinahe bedrohlich mit den Bewegungen, die er verursachte. Doch da, vor ihm, erkannte er ein Stück weiße Haut und er grinste in sich hinein, bevor er Dariel einholte.

Der war schnell, doch nicht schnell genug. Mit Leichtigkeit umschloss Vernon Knöchel und Handgelenk, zog Dariel mit sich. Prustend kamen sie beide hoch und Vernon löste den Griff, lachte wieder. Dariel schüttelte den Kopf, dass die Haare flogen. Wasser spritzte nach allen Seiten und Vernon duckte sich, bevor er es war, der nun als Erster abtauchte. Wieder suchte er nach Dariels Knöchel, doch entglitt ihm die kühle, weiße Haut. Ein weiterer Schwimmzug und er fasste ihn, zog ihn trotz des wilden Gezappels nach unten.

Nur kurz, nur ein Spiel. Vergessen waren der Druck, die Erwartungen, die auf ihm lasteten, die Zukunft, der er mit Ungewissheit und Misstrauen entgegen sah. Er fühlte sich zurückversetzt in eine Kindheit, die er vergessen geglaubt hatte. Und gleichzeitig nahe einer Welt, die sich nicht bedrohlich, sondern verlockend vor ihm erstreckte. Die Geheimnisse enthielt, die zu entschlüsseln weniger Pflicht denn Vergnügen war.

Für einen Augenblick leuchtete ein Weg vor ihm auf, der neu und unerwartet eine Alternative zu dem fest geplanten Gerüst bot, in dem er gewohnt war, sich gefangen zu fühlen.

Er tauchte auf und sein Blick fand den Dariels. In den langen Wimpern glitzerten Wassertropfen. Dariels Mund war geöffnet und er lachte, laut und hell. Seine Augen schienen zu funkeln, zu leuchten mit einer Empfindung zwischen Staunen und Bewunderung, gekrönt von hellem Lachen, das den schmalen Körper schüttelte.

Dariel warf die Arme zurück und Wasser spritzte hoch, regnete auf sie beide nieder. Vernon schlang seinen Arm um ihn und tauchte sie beide. Sah zu, wie Dariel zappelte, und nun seinerseits versuchte, ihn in die Tiefe zu ziehen. Vernon wich ihm aus, behielt jedoch seine Hand um Dariels Handgelenk geschlossen, zog ihn näher heran.

Es war dunkel und kühl unter der Oberfläche. Umgeben von einem fremden Universum, einem Element, in das sie nicht gehörten, in dem sie nur zu Besuch waren, fand er Dariels Blick erneut, für eine Sekunde nur von merkwürdigem Ernst durchzogen. Die grünen, schlangenähnlichen Gebilde woben ein Netz, als wollten sie die beiden Jungen schützen. Gleichermaßen magisch und bedrückend, Vorboten einer Bestimmung, auf die keiner von ihnen Einfluss ausübte, näherten sie sich, zogen den Kreis enger, und Vernons Herz schlug schneller.

Er ließ los und kam nach oben, durchbrach den Wasserspiegel, um seine Lungen mit Luft zu füllen. Neben sich hörte er Dariel, der es ihm gleichtat. Er hustete, fuhr sich mit der kalten Hand durch das Gesicht, strich nasses Haar zurück, bevor er sich zu Dariel umdrehte.

Dessen Lippen hatten einen bläulichen Schimmer angenommen, doch er lächelte immer noch. „Ich wette, ich kann die Luft länger anhalten als du“, behauptete er frech. Um Vernons Mundwinkel zuckte es. „Davon träumst du, Winzling.“ Er streckte die Hand aus, verschränkte seine Finger mit Dariels, spürte deren Kälte in die eigenen eindringen. Die fremde Welle von Besorgnis und dem Bedürfnis, den Jüngeren zu beschützen, überrollte ihn erneut.

„Ist doch kälter, als ich dachte“, sagte er und zog Dariel Richtung Ufer. Der sah für einen Augenblick aus, als wollte er schmollen, folgte dann jedoch, ohne zu widersprechen.

Erst als sie aus dem Wasser traten, ließ Vernon ihn los, beobachtete dennoch, wie Dariel trotz der Wärme zu zittern begann, der dünne Körper verhalten bebte.

„Warte!“ Vernon sprintete vorwärts, schnappte sein eigenes, achtlos zu Boden geworfenes T-Shirt.

„Halt still“, kommandierte er weiter, der Alpha in ihm übernahm die Kontrolle. Dariel sah verwirrt zu ihm auf und Vernon räusperte sich. „Ich meine es so, halt still“, bekräftigte er und begann damit, die blasse Haut trocken zu reiben.

„Das ist dein Shirt“, bemerkte Dariel mit blauen Lippen, die Arme um seinen Körper geschlungen.

Vernon nickte. „Aber mir ist schon wieder warm“, behauptete er und hob die Augenbrauen, als sei sein Gedankengang selbstverständlich. „Vermutlich muss ich das Teil sowieso noch einmal durch das Wasser ziehen, bevor ich zurückgehe. Sonst verglühe ich auf dem Weg.“ Er grinste und rubbelte mit dem Shirt durch Dariels Haar.

„D... danke.“ Der zitterte immer noch und Vernon drehte sich zum Ufer, rechnete sich aus, dass Dariel es vorzog, die nassen Shorts unbeobachtet auszuziehen, bevor er in sein trockenes Shirt und die khakifarbenen kurzen Hosen stieg.

Tatsächlich fühlte Vernon sich bereits von Neuem erhitzt, nicht derart unangenehm wie zuvor, doch warm genug, um nicht einmal annähernd zu frieren. Vielleicht lag es auch an dem Blut, das ihm ins Gesicht stieg, ohne dass er sich erklären konnte, woran es lag. Kleine Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn und er wischte sie ab, bevor er seinen vorigen Worten Folge leistete und das T-Shirt ins Wasser tauchte, bevor er es überzog. Es klebte unangenehm an seiner Haut, kühlte jedoch die Hitze, die mit jeder Sekunde anstieg.

„Musst du schon gehen?“

Er drehte sich herum, sah in Dariels Blick Enttäuschung und wunderte sich zugleich, wie einfach es ihm erschien, in dem Jungen zu lesen. Er war nicht gewohnt, sich die Mühe zu machen, Motivation oder Beweggründe für das Verhalten anderer zu ergründen, geschweige denn, dieses zu deuten. Darin bestand nicht die Aufgabe eines Alphas. Und doch erschien ihm Dariel wie ein offenes Buch.

Er wich den grünlichen Augen aus, um den Stand der Sonne zu erkunden, zuckte mit den Schultern. Ein Anflug von Traurigkeit überfiel ihn und er dachte, dass es wohl damit zu tun hatte, wieder zurück zu müssen in seine Welt, in die Langeweile und Eintönigkeit. Zu den Aufgaben, bei denen er kein Bedürfnis verspürte, sie zu erfüllen.

Zögernd nickte er, blinzelte erneut in die Höhe. „Hilft nichts“, murmelte er mehr zu sich. „Ärger krieg ich ohnehin.“

„Ärger?“ Dariel wirkte alarmiert. Vernon drehte sich zu ihm um, lachte über die Falte zwischen Dariels Augenbrauen. Der Junge sah aus, als stünde er kurz vor einer Panikattacke.

„Keine Sorge“, bemühte sich Vernon, ihn zu beruhigen und lächelte, ließ seine Zähne blitzen. „Viktor ist gut handzuhaben. Er wirkt streng, das muss er auch, aber ein guter Teil ist Show. Wenigstens was mich betrifft. Immerhin hat er einen Ruf zu verlieren.“

„Und Viktor ist –“ Dariel brach ab und wich Vernons Blick aus, sah zur Seite, als habe er sich dabei ertappt, eine unangemessene Frage zu stellen.

„Mein Vater“, erwiderte Vernon, gab seinen Worten den Anschein von Beiläufigkeit, während er dennoch den gewohnten Stolz in sich aufsteigen fühlte, der mit der Erwähnung des Namens einherging. Ob der ihm nun anerzogen oder eine Folge seiner genetischen Prädisposition war, lief auf dasselbe Ergebnis hinaus. Dass es nicht notwendig war, mehr zu erwähnen, dass die Autorität und die leitende Stellung des Vaters ihre Wirkung nie verfehlten. Und dass er selbst nicht nur die mit dessen Position zusammenhängende Pflicht, sondern auch den Respekt unverdient erhielt.

Dariel sah ihn immer noch nicht an. „Alpha deines Klans?“, fragte er und Vernon spürte, wie der Junge innerlich einen Schritt zurückwich, sich fraglos gerade den Kopf darüber zerbrach, welche Grenzen er unbewusst überschritten hatte und welche Folgen das für ihn nach sich ziehen konnte. Wieder fragte Vernon sich, wo genau die Unterschiede zwischen ihren Klans liegen mochten und was genau es war, das seinen Vater zu dieser Reise bewogen hatte.

Er nickte, lächelte, wie er hoffte, entwaffnend, winkte ab. „Bedeutet nur doppelten Stress für mich.“ Er rollte mit den Augen. „Nicht nur, dass ich in der Schule unter den Besten sein muss, er bildet sich auch ein, mich zum Nachfolger erziehen zu müssen.“

„Oh.“ Dariels Blick sank zu Boden.

„Nicht, dass ich das wollte“, murmelte Vernon. „Ganz im Gegenteil. Von mir aus kann sich der Rest der Welt um den Alpha-Posten schlagen, den muss ich wirklich nicht haben.“

Zu seiner Überraschung sah Dariel auf, in seinen Augen spiegelte sich Vernons Erstaunen. „Wirklich nicht?“, fragte er leise und Vernon rieb sich verlegen das Kinn. „Bestimmt nicht“, bestätigte er. „Das ist nicht so toll, wie es sich anhört. Eher ein Rund-um-die-Uhr-Job, gespickt mit unendlich vielen unlösbaren Fragen und immer neuen Entscheidungen, von denen niemand einem sagen kann, wie sie richtig getroffen werden.“

Dariel nickte und schlug die Augen erneut nieder, als fiele ihm gerade wieder ein, wie unpassend ein direkter Blick war. Vernon zog die Nase kraus, bereute, dass Dariel nur auf eine unbedachte Bemerkung, die Erwähnung von Vernons Herkunft hin, seine Freimütigkeit verloren hatte.

Doch wie er es auch drehte und wendete, es war tatsächlich allerhöchste Zeit für ihn aufzubrechen, und er fragte sich, wie er das Unbeschwerte in Dariels Blick zurücklocken konnte. Den noch einmal lachen zu hören, das Licht in seinen grünen Augen zu sehen, schien ihm auf einmal überaus wichtig.

„Ja dann“, murmelte er und sah an sich herunter. Das Shirt klebte an ihm, seine kurzen Hosen wirkten verknittert und sandig. Alles in allem keineswegs, wie sich ein Alpha aus einem Nachbar-Klan präsentieren sollte, um Eindruck zu hinterlassen.

Gedankenverloren zupfte er an dem Lederband, das er bereits so lange um sein Handgelenk trug, dass er es nicht mehr bewusst registrierte, als ihm eine Idee kam.

„Warte“, sagte er hastig und begann mit der rechten Hand an dem Knoten zu nesteln. Was sich als schwieriger herausstellte als gedacht, war der doch klatschnass und seit Monaten nicht mehr geöffnet worden. Seitdem er sich entschieden hatte, das Band als Glücksbringer zu benutzen. Welches ihm nicht viel Glück gebracht hatte, erkannte er, während er die vergangenen Wochen Revue passieren ließ. Gleich in zwei Tests war er durchgefallen und das Mädchen, auf das er ein Auge geworfen hatte, zeigte ihm nach wie vor die kalte Schulter. Was vielleicht ganz gut war, fürchtete er doch insgeheim, dass er sich nur für sie interessierte, weil seine Mutter mehr oder weniger offen darüber klagte, dass er nie ein Mädchen mit nach Hause brachte, und dass in seinem Alter durchaus die ersten Bande geknüpft werden konnten. Immerhin hatte sie es sofort gewusst, noch vor seinem Vater, dass sie für ihn bestimmt gewesen war. Und sie war jünger gewesen als er im Augenblick.

Wie auch immer, dass das Armband ihm kein Glück brachte, musste nicht bedeuten, dass es Dariel ebenso ging.

„Gib mir deine Hand“, sagte er, als der Knoten sich endlich löste. Für einen Moment betrachtete er die schmale Lederschnur, die bereits ihren Glanz verloren hatte, den einzelnen, silbernen Anhänger in Form eines stilisierten Wolfzahnes, und dann band er dasselbe um das ausgestreckte Handgelenk Dariels.

„Für mich?“, fragte der ungläubig und tatsächlich sah er auf, schenkte Vernon einen geweiteten Blick.

„Klar.“ Vernon nickte und zwinkerte ihm zu. „Immerhin bin ich zu Besuch in eurem Gebiet. Da muss man doch ein Gastgeschenk zurücklassen?“

„Wirklich?“ Dariel sah verwirrt aus, zweifelte seine Worte offensichtlich und nicht ohne Grund an. Vernon unterdrückte ein Lachen, das ihm ohnehin in der Kehle stecken blieb, als Dariel zum zweiten Mal seinen Blick von dem Armband hob und die grünen Augen aufstrahlten. Vielleicht war es auch nur die Sonne, die mit einem letzten Aufbäumen ihrer nachlassenden Kraft, der blassen Haut des Jungen Farbe verlieh und dem Grün der eigentümlichen Iris die unwirkliche Intensität von Smaragden.

„Danke“, entschlüpfte es Dariels Lippen und Vernon sah zu, wie die sich bewegten, wie sie sich zu dem Lächeln formten, auf das er gewartet hatte, und das er nur allzu gerne erwiderte.

„Kein Problem“, nickte er. „Machs gut.“

„D... du auch“, antwortete Dariel leise.

Vernon spürte dessen Augen in seinem Rücken, als er lief, besorgt zur Sonne aufblickte, deren blendende Helligkeit nun nachgelassen hatte, und die schneller, als er es eigentlich für möglich hielt, in Richtung des Horizontes absank.

Kapitel 2

„Bist du verrückt?“ Viktor wartete bereits auf ihn, die Arme vor der Brust verschränkt, die Stirn in Falten. „Wir sind Gäste hier. Was fällt dir ein, zu verschwinden, ohne dich zu entschuldigen? Du bist hier, um das Land zu sehen, die Struktur zu erkennen, die Entwicklung zu beobachten. Um zu lernen und zu vergleichen.“ Er schnupperte. „Nicht, um mit irgendeinem Kind im Wasser zu toben.“

„Es ist Sommer“, wehrte sich Vernon. „Mein Sommer.“

Viktor schüttelte den Kopf. „Es gibt keinen Sommer für jemanden in deiner Position. Ich wünsche, dass du dich bei unseren Gastgebern entschuldigst.“ Er schnupperte erneut. „Und wasch dich davor. Du riechst nach Omega.“

Vernon senkte den Kopf, gewährte dem Vater verspätet den Respekt, den der verdiente. Doch in seinem Inneren wälzte er dessen Worte in seinem Kopf herum.

Behielt der recht, lag der Duft eines Omegas in der Luft, dann sah es für Dariel nicht gut aus. Vernon fragte sich, was ihn an dieser Tatsache aufwühlte. Ihn dergestalt verwirrte, dass er es nicht für wert hielt, sich zu streiten, sich stärker gegen Viktor zur Wehr zu setzen, seinen Teenager-Hormonen freien Lauf zu lassen. Es war nicht so, als habe er sich nie zuvor aufsässig verhalten und seinem Vater kontra gegeben. Doch all das schien auf einmal müßig und sinnlos, unbedeutend im Angesicht eines Schicksals, das so fremd seinem eigenen war.

Vernon entschuldigte sich tatsächlich, erfüllte die gesellschaftlichen Konventionen und gewann den Eindruck, als interessierten diese ihre Gastgeber weitaus weniger als Viktor. Unterm Strich war er nur der Sohn eines Klan-Alphas, seine Zukunft keineswegs gesichert, seine Bedeutung für einen anderen Klan fraglich.

An dem abendlichen Empfang teilzunehmen lief in erster Linie darauf hinaus, seine Anwesenheit und sein Benehmen zu demonstrieren. Ansonsten blieb er dazu verdammt, sich im Hintergrund zu halten und den Gesprächen zu lauschen, die ihn nicht interessieren konnten. Um Handelsbeziehungen ging es, um den Umgang und die Vorsicht, mit der man den Menschen begegnen wollte. Um Bildung und schließlich um entwicklungspolitische Fragen, andere Rudel betreffend, um den Ausbau weiterer Kontakte. Zum Gähnen langweilig. Mit der ersten Gelegenheit, die Vernon fand, und die sein Vater, nachdem er ihm den schuldigen, fragenden Blick zugeworfen hatte, großzügig abnickte, zog Vernon sich so schnell wie möglich zurück.

Sein Magen knurrte, war er doch größere Portionen gewohnt. Und nicht nur das, normalerweise schlang er sein Essen herunter, ohne Rücksicht auf jede Etikette und ohne Rücksicht auf die Mahnungen seiner Mutter. Sich zusammenzureißen und auf den Eindruck zu achten, den er hinterließ, kostete Zeit und Mühe, ließ ihn noch nach dem Essen hungrig zurück.

Nachdem er eine Weile im Gästezimmer auf und ab gegangen war, beschloss er es zu riskieren. Schlimmstenfalls träfe er einen der leitenden Alphas, die durchgehend anödend und alt wirkten. Wenn sich irgendwo ein Nachwuchs befände, dann war es dem gelungen, dieser Veranstaltung zu entgehen, und Vernon beneidete ihn heiß und innig. Eine wie auch immer geartete Begegnung liefe demnach höchstens auf ein paar pflichtschuldige Fragen zur Schule und seiner Zukunft hinaus. Nicht, dass er die ersehnte, aber es gab Schlimmeres.

Nichtsdestotrotz umging er den belebten Gebäudeflügel, fand schließlich die bemerkenswert ausladende Küche.

Dunkel war die, bis er den Lichtschalter fand. Blitzsauber und mit zwei großen Tischen für einen mitternächtlichen Imbiss geradezu perfekt.

Vernon fand im Kühlschrank Milch, Saft und die Reste der Vorspeisen, die vor wenigen Stunden gereicht worden waren, sorgfältig mit Folie verpackt.

Er goss sich ein großes Glas ein und nahm eine der Platten aus dem Kühlschrank. Nicht lange danach leckte er sich die letzten Krümel von den Fingern und griff nach dem Glas. Doch rutschte ihm dieses beinahe aus den Händen, als sich schnelle Schritte näherten. Vernon lief rot an, als eine dunkelhaarige Frau im Morgenmantel die Küche betrat und ihn prüfend ansah.

„Einer der Gäste?“, fragte sie.

Vernon nickte und wischte sich schnell über den Mund.

„Ich hatte Hunger, tut mir leid“, sagte er schnell und verwünschte die Röte in seinem Gesicht. Zu seiner Überraschung und Erleichterung lächelte die Frau ihn an. „Natürlich hattest du Hunger“, bestätigte sie ihn. „Als meine Söhne sich in deinem Alter befanden, war jede Vorratshaltung vergeblich.“ Um ihre Mundwinkel zuckte es. „Wenn ich es mir recht überlege, sind sie immer noch nicht besser.“

Vernon grinste verlegen, und rutschte an das Ende der Bank, um aufzustehen.

„Lass nur“, sagte die Frau und ihr Lächeln enthielt einen mütterlichen Zug, wärmer als er es von seiner eigenen Mutter kannte. ‚Beta‘, dachte er und: ‚Daran wird es wohl liegen.‘ Auch wenn ihm unklar war, warum er diesen Gedanken hatte.

„Warte einen Moment.“ Die Frau öffnete einen zweiten Kühlschrank und Vernon hätte es nicht gewundert, wenn sich in diesem Raum noch mehr von der Sorte befanden. Sie hantierte einen Augenblick darin herum und tauchte dann wieder mit einem Teller voller Kuchenstücke auf. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen und er vergaß seine Verlegenheit zusammen mit seinem Benehmen, als er nach dem Teller griff.

Die Frau lachte, hob dennoch den mahnenden Zeigefinger. „Augenblick. Ich hole dir noch ein Teller. Schließlich sind wir hier nicht bei Omegas.“