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Fantasy, Romantik, Dunkelheit, Mord und Gewalt - verschiedene kleine Geschichten, gesammelt über Jahre, ohne jeden Anspruch, rein zur Unterhaltung.
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anthologie, geschichten, sammlung
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Es war kalt.
Und beängstigend langweilig.
Temotas hatte nicht erwartet, dass die Ewigkeit derart öde sei. Wie lange er bereits unter der Erde lag, wusste er selbst nicht, jetzt nicht mehr. Hunderte, tausende von Jahren waren vergangen. Vielleicht addierten sich die Zeiträume zu unendlichen Vielfachen, vielleicht stellte sich jeden Augenblick heraus, dass es sich lediglich um Bruchteile von Sekunden handelte. Für ihn spielte weder die eine noch die andere Alternative eine Rolle. Seine Entscheidung war endgültig gewesen. Endgültig und unverrückbar.
Seine Trauer überwältigend genug, seine Flucht eine logische Konsequenz.
Niemals wieder wollte er zurückkehren an die Oberfläche, in eine Welt, die ihm alles versagte. All das, was für ihn Bedeutung hielt.
Dass er nicht immer so empfunden hatte, gehörte zu dem, was er als die Tragödie seines Lebens bezeichnete, besäße er noch den Ehrgeiz, der ihn in seinen jungen Jahren, im Anschluss an seine Erschaffung, angetrieben hatte. Einen Wahn, so nannte er es später. Den Rausch, der ihn dazu trieb, immer wieder weiter zu gehen, als erlaubt, weiter, als die mit der Verwandlung zwangsläufig auf kaum erkennbare Spuren ihrer selbst geschrumpfte Moral, ihm zu seinen Lebzeiten erlaubt hatte.
Und später, als der Rausch verflogen war, stand er starr und stumm vor den Trümmern, die er zurückgelassen, die er aus heilen Welten erschaffen hatte.
Vergessen war die Poesie, an die er sich in seinem Wahn geklammert hatte. Ins Nichts sank der Machtrausch, der nicht enden wollende Ehrgeiz, immer wieder von neuem angestachelt durch die Erkenntnis seiner eigenen Unbesiegbarkeit. Wie besessen hatte er seine Jugend verschwendet, im Überschwang der Kräfte, die sich in ihm entfalteten und die zu beschreiben, ihm auch jetzt noch die Worte fehlten.
Damals stand er am Anfang, so wie die Menschheit sich an ihren Anfängen befand. Weder wusste er, was er war, was ihn trieb, noch war er in der Lage, seine Bedürfnisse zu steuern. Er wusste nur, dass sich keiner der Sonnenwandler mit ihm messen konnte. Durch ihre schäbigen Ansiedlungen fuhr er wie ein Gewitter, nur schneller und verheerender. Seine eigene Stärke, die Geschwindigkeit beglückten ihn und die Zeit verflog in einem Strom aus warmem Blut, köstlichen Düften und schrillen Schreien. Als er zur Ruhe kam, war er sich immer noch seiner Stärke und seiner Macht bewusst. Er begann zu beobachten. Die minderwertigen Lebensformen, die Sonnenwandler, veränderten sich. Während er der Gleiche blieb, unverändert jung und hart, entwickelten sie Form, Gestalt und Manieren. Und als sie nicht mehr dabei verharrten, ängstliche Zeichen in schmutzige Höhlenwände zu kratzen, als sie Schönheit entdeckten und ihren Welten Farbe verliehen, da spürte Temotas seine Macht auf eine gänzlich andere Art und Weise. Sein Leben veränderte sich. Er war gezwungen, Vorsicht walten zu lassen. Worte wurden zu Nachrichten, verbanden die Menschen miteinander und forderten ihn heraus. Er genoss das Spiel mehr als je zuvor. Er genoss es, aus dem Verborgenen heraus zu operieren, genoss es, sie hinters Licht zu führen und zugleich zu beeindrucken. Niemand, dem er je begegnet war, konnte Temotas für den Rest seines Lebens aus seinem Verstand verbannen. Niemand zeigte sich gegenüber seiner Wirkung immun.
Doch er wollte mehr. Seine Gier kannte kein Ende und so suchte er den Ruhm, obwohl er wusste, dass seine Suche nur zu stärkeren Ausbrüchen von Wahnsinn, Ehrgeiz und letztendlich roher Gewalt führte. Vielleicht auch genau aus diesem Grund.
Die Schönheit, die er im Aneinanderreihen von Worten, in der Sprache entdeckte, befriedigte ihn auf lange Sicht ebenso wenig wie die in der Musik enthaltene oder in jeglicher anderen Kunst erreichbare. Und über kurz oder lang fielen den Menschen, die mit den Jahrhunderten auch an Verstand zu gewinnen schienen, die Kleinigkeiten auf, die er sowohl zu verbergen, als auch zu verdrängen suchte. Nie zuvor hatte ihn seine Unfähigkeit, den Tag zu sehen, gestört. Er hegte die Erinnerung an die Sonne aus den Tagen, bevor er erwacht war, wie einen Schatz. Jedoch einen, der unangetastet bleiben sollte.
Er versuchte zu kompensieren, tötete öfter, wütete haltloser in den inzwischen gesichtslosen Mengen seiner Bewunderer. Doch nur, um aufzuwachen und sich wieder auf der Flucht zu befinden.
Die Welt veränderte sich und sie schrumpfte zusehends.
Temotas stellte fest, dass seine Worte leere Hülsen blieben, dass er nichts in sie hineinlegen konnte, bald auch nicht mehr wollte.
Er suchte das, was die Sonnenwandler Gefühle nannten und begann zu glauben, dass ihre Fähigkeiten, die Geheimnisse, die er sich als unfähig erwies zu entschlüsseln, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Sonnenlicht standen.
Und im Laufe der Jahrzehnte, der Jahrhunderte verfestigte sich diese Überzeugung, wuchs sich aus zu einer regelrechten Besessenheit.
Er beobachtete interessiert Entstehung und Verfall immer wieder anderer und doch gleich auftretender Religionen, Philosophien und der vergeblichen Versuche, Sinn und Unsinn der Welt, des Universums zu erklären.
In keiner von ihnen fand sich ein Platz für ihn, in keiner entdeckte er einen Grund, der ausreichte, sein Dasein verlängern zu wollen.
Nun wurde ihm seine Unverwundbarkeit zum Fluch.
Der Vampir suchte nach Seinesgleichen, er jagte nach einem Wesen, das ihn ergänzte, das ihm die Kraft lieferte, gegen die Sinnlosigkeit zu kämpfen, die ihn umgab, die von allen Seiten auf ihn zu kroch, ihn umfing und in sich einschloss.
Allmählich musste er erkennen, dass ihm die Fähigkeit zur Liebe fehlte, zu jenem Maß an gleichzeitiger Selbstaufgabe und Lust am Miteinander, welches die Menschen zu trösten schien, wenn die Jahre, die aus seiner Sicht nur so im Flug vergingen, sich ausdehnten, mit Elend und jenen entsetzlichen Schmerzen füllten, von denen er keine mehr Vorstellung besaß. Und es begann eine Zeit, in der er die Menschen um den Schmerz beneidete, dessen schwacher Nachklang aus seiner Erinnerung verschwunden war. Denn er begann zu glauben, dass Schmerz und Liebe sich ergänzten, und dass er, dem beides fehlte, einen Verlust erlitt, der über die Jahrtausende nur schwerer zu ertragen war.
Dennoch suchte er weiter nach ihr, nach dem Schlüssel, der ihm ein neues Reich eröffnen sollte, das Reich, von dem Mythen und Legenden sprachen, während er durch die Dunkelheit schlich, ausgestoßen und einsam. Aus seinem Zeitalter gefallen und unfähig, in dem neuen zu erkennen, was andere Wesen in ihm sahen.
Mag sein, dass er bereits zu lange existierte, dass jede Verbindung mit dem Rest der Welt, wenn denn je eine existiert hatte, unterbrochen war.
Die Besessenheit wurde zu der Suche nach seiner Liebe als letzten Ausweg. Geprägt von den Geschichten, denen er von Anbeginn der Zeit an, beim Vorübergehen an Lagerfeuern, Festen der Mächtigen und der Ohnmächtigen gelauscht hatte, glaubte er sich verloren ohne einen Konterpart zu seiner eigenen Person. Eine fixe Idee, die der immer wiederkehrenden Romantik, marterte ihn und dennoch erlaubte er sich nicht, die Flamme erlöschen zu lassen, als handele es sich bei ihr um die letzte Faser, die ihn an sein Universum band.
Manches Mal stand er kurz davor zu erkennen, dass die Poesie, der er sich einst verschrieben hatte, dass jegliche Kunst die Wurzel des Übels bedeutete. Dass er seiner Obsession nur nicht entfliehen konnte, weil er an sie glauben wollte.
Daran glauben, dass es mehr gab, als den Durst und diesen zu löschen. Mehr als die Selbsterhaltung, als das instinktive Bedürfnis, die eigene Existenz soweit auszudehnen, wie es nur möglich sein sollte.
Er durchstreifte die Kontinente, vergeblich. Selbst wenn einst Kreaturen existiert hatten, die ihm glichen, so war es keiner von ihnen gelungen, den Wandel der Zeiten zu überstehen.
Die Erkenntnis traf ihn nicht plötzlich. Sie wuchs langsam in ihm, verfestigte sich, je öfter er einer Gestalt hinterher jagte, die mit ihrer Blässe, der hochgewachsenen Figur und der Angewohnheit unauffällig wie ein Schatten durch ihr Leben zu gehen, Hoffnungen in ihm entfachte, die zwangsläufig wieder enttäuscht werden mussten.
Es waren traurige, einsame Seelen, denen er folgte, denen er auflauerte, und von denen er sich ernährte, als sie seine Erwartungen nicht erfüllen konnten. Schwache Sonnenwandler, die sich ihrer eigenen Bestimmung widersetzten und die Nacht suchten, obwohl ihnen so viel mehr offenstand.
Erkannte er ihr Innerstes, so brandete Ärger in ihm auf, erhitzte für einen kurzen Augenblick die Kälte, die ihn umschloss.
Er flüchtete sich in Raubzüge, in Bluttaten und Massenmorde, die Wellen schlugen, vor deren Auswirkungen er sich noch lange in Acht nehmen musste.
Doch nichts mehr konnte ihm die Begeisterung seiner Jugend zurückgeben, die Hoffnung entfachen, die er vergeblich gehegt hatte. Und als ihm klar war, wie verloren, wie allein und wie erbärmlich seine Existenz in den Augen der Welt, aller Welten erscheinen musste, da begann er zu bereuen.
Die Reue überfiel ihn grausam und er floh vor ihr, indem er weiter mordete.
Doch als das Töten seinen Reiz verlor, als er seine eigene Hülle kaum noch ertragen konnte, wie sie vor Blut triefend und mit Schuld beladen durch eine Nacht schlich, die mit ihren neuartigen Lichtern und Geräuschen keinen Platz mehr für ihn hatte, da erkannte er die letzte Wahrheit.
Seinen Ausweg, den einzigen Weg, der sich ihm bot.
Konnte er nicht vernichtet werden, so war er gezwungen, sich selbst zu vernichten. So weit zu vernichten, wie es ihm möglich war. Seinem Gram zu gehorchen und die Strafe anzunehmen, von der er immer gewusst hatte, dass sie auf ihn lauerte.
Er wanderte lange, bis er den richtigen Ort fand, bis er durch die Höhlen schritt, die einsam und leer auf ihn gewartet hatten. Und bis er damit begann, sich sein eigenes Grab zu schaufeln, sich in die Tiefe zu wühlen. Und immer trug er das Gefühl in sich, als beobachte ihn jemand. Eine Macht, größer als er. Doch er konnte nicht herausfinden, ob sie ihm wohlwollend oder verärgert zusah. Und so schloss er sie aus, konzentrierte sich auf die Erde, den Widerstand, der sich nur allzu leicht für ihn durchbrechen ließ. Wie durch Butter glitt er durch die Masse, rutschte tiefer, bis er nicht mehr wusste, wo und wann er begonnen hatte.
Erst in diesem Augenblick schloss er seine Augen und wurde still, still für eine Ewigkeit.
Sein Körper fühlte sich starr und klamm an, tot und erloschen. Im Widerspruch zu der Kälte, die ihn beherrschte, stand nur noch Geist, seine Gedanken, die nicht aufhören konnten zu wandern.
Was hätte er darum gegeben, auch seinen Geist sterben zu sehen, die endlose Folge sich aneinanderreihender Worte, die durch seine Nervenbahnen taumelten zu unterbrechen, ein für allemal zum Schweigen zu bringen?
Doch es sollte nicht sein. Der einzige Weg, der ihm blieb, lag in einem Rückzug, dem ultimativen Rückzug, dem Selbstbegräbnis. Es sollte den Hunger stillen. Den Hunger nach dem, was er einst Leben genannt hatte. Nach der Sonne, dem Licht, der Leidenschaft. Einen Hunger, den er nur noch stillen konnte, indem er die Letzte aller unverzeihlichen Sünden beging.
Und so lag er nun begraben, klaftertief unter schwerer, dunkler Erde. Stumm und reglos, der lebende Tote, der er war.
Der Albtraum sollte niemals enden. So sah sein Plan aus.
Temotas ahnte nicht, zu keiner Zeit, dass sein so sorgfältig und entschlossen gefasstes Vorhaben auf Widerstände traf, die er nicht voraussehen konnte. So tief er sich auch in den Erdboden gewühlt hatte, tief genug, um von der Wärme des Erdinneren verbrannt zu werden, es reichte nicht aus. So unerträglich auch das Gewicht der zahllosen Gesteins- und Bodenschichten auf seinem Körper lastete, ihn zusammenpresste und verformte, es war nie genug.
Er dachte, er habe sich an die Last gewöhnt, an die Hitze, an den Druck. Doch er wusste nichts von den Veränderungen, die sich um ihn herum, mit ihm in ihrer Mitte, abspielten. Die Erde bewegte sich, sie wanderte. Die Elemente drifteten auseinander und wieder zusammen. Sie zogen ihn mit sich, schoben und zerrten. Doch im endlosen Fluss der Zeit und gefangen in seiner Schuld, spürte er davon nichts. Er vegetierte dahin, besessen nur von dem einen, dem unerfüllbaren Wunsch nach dem Ende.
So fühlte er nicht, dass sein Körper über die Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte in die Höhe trieb. Er spürte nicht, dass er der Oberfläche näher kam. Die neue Kälte, die in seine Glieder kroch, akzeptierte Temotas als willkommene Qual, als weitere Strafe für seine Sünden. Doch die Langeweile wuchs sich zu einem anderen, einem weitaus größeren Problem aus. Die Langeweile und die Geräusche, die von Zeit zu Zeit an seine Ohren drangen. An jene Ohren, die verstopft von Erde und Sand, doch in ihrer übermenschlichen Fähigkeit begannen, Laute wahrzunehmen, auf die er sich, obwohl eingehüllt in den Nebel seines eigenen Leids, keinen Reim machen konnte.
Die Jahre vergingen, und sie wurden schwieriger zu ertragen mit jeder Minute, mit jeder Sekunde. Doch Temotas erkannte die Versuchung, und er widerstand ihr. Wie er es dereinst geschworen hatte.
Er existierte nicht, durfte nicht existieren. Sein Wesen war verloschen und das, was davon übrig war, sollte von niemandes Auge je wieder erblickt werden.
Augen waren es auch nicht, die ihn erblickten. Anderes, seltsames Leben bemerkte ihn dennoch. Sich tief im Inneren der Erde windende Kreaturen von geringem Verstand. Das Hindernis, auf das sie in ihrem Überlebenskampf stießen, hielt sie nicht davon ab, aus ihrer Welt das herauszuholen, was in ihrer Macht stand. Sie gaben nicht auf, ergaben sich nicht, bis sie verendeten und wieder zu dem wurden, woraus sie entstanden waren.
Nur Temotas nahm nicht Teil an diesem Kreislauf. Er überdauerte, lag reglos in seinem Gefängnis, wartete, ohne zu wissen, worauf er wartete.
„Was bist du“, fragte die Stimme. „Rau und heiser erklang sie tief in Temotas Geist. „Was willst du, das ich sei?“, antwortete Temotas stumm und erschrak zugleich. Viel zu lange hatte er auf kein Zeichen mehr reagiert; was war es, das ihn nun bewog, sich zu erkennen zu geben?
Er öffnete seine gelben Augen nur einen Spalt, genug, um sich zu vergewissern, dass er immer noch inmitten der Erde, von Erde umgeben war.
Ein seltsames Tier befand sich vor seinem Gesicht. Weder weiß, noch durchsichtig, in Gestalt und Farbe dazwischen liegend, bewies es doch eine ausgeklügelte Angepasstheit an seinen Lebensraum. Weder Wurm, noch Made und doch die Vorzüge jedes dieser Wesen in sich vereinend, wand es sich um Brocken verschütteten Gesteins.
„Was bist du?“, fragte es erneut.
„Ich bin nicht“, antwortete Temotas.
„Aber ich spüre dich“, sagte das Wesen. „Ich spüre deine Angst.“
„Ich kenne keine Angst“, sagte Temotas.
„Und doch versteckst du dich hier“, erwähnte die Stimme. Temotas schloss seine Augen und verwandelte die Laute in körperloses Rauschen.
Doch so leicht ließ das Wesen sich nicht abweisen. „Und doch versteckst du dich hier“, wiederholte es und Temotas öffnete seinen Augen wieder. Zum ersten Mal seit unendlich langer Zeit spürte er ein Gefühl in sich aufwallen. Funkelnder Ärger kroch an die Oberfläche seines Körpers, setzte sich auf die kalte Haut, sandte elektrische Impulse durch seine Glieder.
„Ich verstecke mich nicht“, brachte er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich bin kein Feigling.“
Das Wesen näherte sich. Es glitt an ihn heran, um ihn herum, befeuchtete seine Ohrmuschel, wisperte in seinen Nacken, bis Temotas erschauerte.
„Warum siehst du dir dann nicht an, was um dich herum vorgeht?“, flüsterte es verlockend.
Temotas versteifte sich. „Weiche von mir.“ Der ausgesandte Strahl seiner Gedanken glich einem Schwert, bereit das Wesen zu zerteilen. Sein Herz, das so lange gefroren in seiner Brust geruht hatte, zitterte vor unterdrückter Wut. „Du hast kein Recht, mich in meiner Ruhe zu stören.“
„Aber du ruhst nicht“, flüsterte das Wesen wieder. „Du bist nicht tot, nicht einmal annähernd.“
„Ich bin nicht tot“, wiederholte Temotas. „Woher willst du das wissen?“
Die Kreatur stieß einen Laut aus, der beinahe einem Lachen ähnelte. „Weil ich den Tod erkenne. Ich weiß, was mit dem geschieht, was verscheidet. Ich sehe, wie es stirbt, verrottet, zerfällt, sich verwandelt. Du unterliegst keinem Wandel.“
Nun spürte Temotas, wie das Wesen über seine knochige Brust kroch. Er fühlte jede Rippe, die unter ihm nachgab, jeden Muskel, jede Sehne, die durch seine Berührung erwachte.
Temotas hörte die Stimme wie ein Krächzen in seinem Kopf. „Seit Jahrhunderten bleibst du unverändert, lässt dich treiben, ignorierst das Werden und Vergehen um dich herum.“
„Alles vergeht, sobald ich es berühre“, entgegnete Temotas. „Es gibt keine Rettung, keinen Ausweg. Das Sterben umgibt mich wie ein Mantel, es strahlt aus, vernichtet jeden Keim, der es wagt, mir unter die Augen zu treten.“
„Das ist nicht wahr“, wisperte die Kreatur. Sie glitt wieder an ihm hoch, benetzte sein Gesicht mit schleimiger Substanz. Angeekelt wich Temotas zurück, wand seinen Kopf. Heißer Schmerz schoss in ihm hoch, brachte ihm jede Faser seines Körpers ins Bewusstsein. Seine Wirbelsäule ächzte und sein Hals fühlte sich an, als wäre er durch die ungewohnte Bewegung gerissen. Und doch fiel ihm jetzt, und erst jetzt auf, dass die Erde, in der er lag, eine andere war.
Zu tief, zu lang hatte er in ihr geruht. Nichts war ihm zu seiner Unterhaltung geblieben, außer die Muster der namenlosen Schichten, die von einer Vergangenheit sprachen, die bereits in die Ewigkeit eingegangen war, noch bevor er geboren wurde. Nichts anderes hatte er gewollt, außer der toten, leeren Erde.
Nur, dass diese nicht mehr tot war. Etwas entstand in ihrer weichen, saftigen Masse. Feine Wurzeln kletterten einer Zukunft entgegen, die Temotas nicht sehen, von der er nichts wissen wollte.
Seine Organe, obgleich ausgedorrt und vertrocknet, revoltierten. Sein Inneres geriet in Bewegung. Ihm wurde schlecht von dem, was er zu sehen glaubte.
„Das kann nicht sein“, keuchte er. „Ich bin zu tief. Ich habe zu weit gegraben. Kein Leben darf mich stören.“
„Denkst du, ich sei kein Leben?“ Schmeichelnd klang die Stimme diesmal, erfüllt von unausgesprochenen Versprechungen.
„Du bist…“ Temotas schwieg. Er wusste nicht, welch eine Kreatur es war, die ihn aus seinem starren Schlaf zu erwecken suchte.
„Kein Leben“, vervollständigte er den Satz. „Du bist etwas anderes.“
„Wie Recht du doch hast“, zischte die Stimme in sein Ohr. „Ich bin etwas anderes, ebenso wie du. Und für uns beide gilt die gleiche Regel, das gleiche Schicksal.“
„Das denke ich nicht.“ Temotas knirschte mit seinen Zähnen, fühlte wie sie sein schmerzendes Zahnfleisch versuchten, zum Bluten zu bringen. Vergeblich, da jeder Tropfen bereits in die dunkle Erde gesackt war, jede Kraft aus ihm gestorben.
„Sieh doch!“, lockte die Kreatur. „Es ist nicht mehr weit. Dein Schlaf ist beendet, dein Traum ausgeträumt.“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, wehrte sich Temotas und schloss wieder die Augen. Doch er konnte nicht verhindern, dass seine Sinne erwachten, dass er spürte, wie sich um ihn herum, jede Zelle teilte. Wie sich das mikroskopisch kleinste aller Wesen an ihn schmiegte, wie Samen aufsprangen, Keime sich in die Höhe reckten, einem Ziel entgegen, das er nicht sehen konnte.
„Wie kann das sein?“, flüsterte er. „Du weißt nicht, was du tust?“
„Ich weiß, was ich tun muss.“ Die Kreatur kroch an ihm herab, hinterließ schmerzende Spuren auf seinem Körper. „Du bist weit genug gekommen. Nun gibt es kein Zurück.“
„Ich habe mich nicht bewegt“, sagte Temotas. „Seit Jahrhunderten nicht mehr.“
„Du nicht“, wisperte das Wesen. „Doch alles um dich herum befindet sich in ständigem Fluss. Und nun bist du in meiner Welt. Hier musst du mir gehorchen.“
„Wer bist du?“, fragte Temotas.
Das Wesen kicherte, diesmal hell und schaurig. „Manche nennen mich Persephone“, hauchte es, bis er jede Silbe in seinen Eingeweiden spürte. „Ich bringe das, was tot erscheint, zurück ins Leben.“
„Ich kann nicht zurück“, krächzte Temotas. „Ich darf nicht.“
„Das ist nicht mehr unsere Entscheidung“, erwiderte Persephone. „Verstorbenes verwandelt sich. Noch bevor die Kälte der Wärme weicht, wissen die Kräfte, die uns bestimmen, von der Aufgabe, die vor ihnen liegt. Und aus dem Starren, Schlafenden wird Bewegung, entwickelt sich ein neues Sein. Jedes Mal anders, jedes Mal neu und doch jedes Mal wild und schön.“
„Doch bin ich kein Teil davon“, sagte Temotas. „Was du erschaffst, töte ich von neuem.“
„Alles stirbt“, sagte Persephone. „Alles muss sterben.“
„Wir nicht“, antwortete Temotas. „Wir gehören nicht dazu.“
„Woher willst du das wissen?“ Persephone schlängelte sich an seinem Körper hoch, presste ihre Weichheit gegen seine Härte.
„Auch wir haben unseren Teil auszuführen. Eine Aufgabe, eine Bestimmung.“
„Du vielleicht“, wisperte Temotas und umschlang sie mit seinen tauben Armen. „Meine Bestimmung ist dieses ewige Grab.“
„Dann hat deine Bestimmung sich verändert“, murmelte Persephone und ihr mundloser Körper küsste seinen Hals.
„Das ist nicht möglich“, dachte Temotas. „Das will ich nicht, ich kann nicht.“
„Doch, du kannst“, antwortete Persephone. „Du bist stark. Du bist wieder jung, du wirst die Welt mit neuen Augen sehen.“
„Meine Augen sind der Welt müde“, erwiderte Temotas. „Es existiert nichts auf Erden, das sie nicht schon zu oft gesehen, zu oft vernichtet haben.“
„Du erinnerst dich nicht an den Zauber der Nacht“, schmeichelte Persephone. „Du erinnerst dich nicht an die betäubenden Düfte der ersten Blüten des Jahres. Weißt du nicht mehr, wie das junge Grün deine Sinne erfüllt, wie der Regen zarter Apfelblüten dein Herz zum Schlagen brachte? Kurz nur, so kurz. Ein widernatürliches Ergebnis überschäumender Emotion. Weißt du nicht mehr, wie das milchige Mondlicht die zarten Opfer erster Frühlingsnächte umfließt? Wie ein funkelnder Stern, wie die Hoffnung, der Trieb die Menschen aus ihrem Schutz lockt? Weißt du nicht mehr, wie herrlich es ist, zur Jagd zu erwachen?“
Temotas Brust hob sich. Seine Lungen rasselten. Beinahe schmeckte er die Süße dieser ersten Tage, in denen die Kälte vergeblich um ihre Vorherrschaft kämpfte, doch dann weichen musste, der Kraft einer lebenerschaffenden Sonne. Einer Sonne, die er nie sehen würde.“
„Ja“, sagte er. „Ich weiß noch, wie es war. Wird es wieder so sein?“
„Besser“, versprach ihm Persephone. „Viel besser.“
Und mit ihr in seinen Armen grub er sich der Nacht entgegen. In seinen Ohren rauschten der Hunger, die Sehnsucht, das Wissen um den Tod, den seine Rückkehr brachte.
Und als der Vampir unter der Kuppel des dunklen Himmels verharrte und seine gelben Augen zu den Gestirnen wandern ließ, da roch er stärker noch, als jede Ahnung frühlingshaften Erwachens, das pulsierende Blut der Menschen, die ihm zur willigen Nahrung werden sollten. Er ließ Persephone los, die mit einem heiseren Stöhnen an ihm herabglitt.
„Du hattest Recht“, sagte der Vampir zu ihr. „Wir alle müssen sterben.“ Und seine Zähne blitzten auf, bevor er sie in ihr versenkte.
Der kräftige Duft der Brühe stieg hoch und Henriette wich zurück, bevor der kräuselnde Dampf ihr allzu streng in die Nase steigen konnte.
Feiertage bedeuteten Henriette viel, um nicht zu sagen alles. Sie gaben dem Leben Struktur, verliehen dem Jahr seine Höhepunkte und ihr die Möglichkeit auf ein Ziel hinzuarbeiten, ihre Gedanken und Pläne auf ein Ereignis zu konzentrieren, das es wert war, als solches beachtet zu werden.
Und selbstverständlich gehörte auch ihr Hochzeitstag zu einem dieser Feiertage, denen es galt, besondere Beachtung zu schenken. Nicht dass Egon es wirklich wert war, dass sie sich so um ihn bemühte. Dennoch, er war nun einmal ihr Mann und sie hatte geschworen, ihn zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod sie schied. So abgedroschen dies auch klingen mochte.
Ihr Zusammenleben, die vielen Jahre, die sie miteinander durch Dick und Dünn gegangen waren bedeuteten Henriette viel. Deshalb hatte sie sich entschlossen, diesem Hochzeitstag mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als ihre spärliche, übrig gebliebene Verwandtschaft für akzeptabel hielte.
Natürlich lag der größte Teil ihrer Familie schon längst im Grab, ein Umstand, an dem man sich in ihrem Alter gewöhnt und mit dem man sich wohl oder übel abgefunden hatte. Selbst wenn Henriettes selige Mutter nicht müde geworden war, Egon zu wünschen und zu prophezeien, dass er das Zeitliche lange vor ihr selbst segnen sollte. Selbst auf dem Totenbett drückte sie noch ihren Unmut darüber aus, dass Egon trotz seines Übergewichts, seiner Trinkerei und den übelriechenden Zigarren, nach denen er ständig roch, kein Anzeichen einer Erkrankung oder Schwäche zeigte.
Das war eine schwere Zeit für Henriette gewesen, hin und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, ihren Ehemann zu verteidigen und dem Wunsch ihrer Mutter das Verständnis entgegenzubringen, das sie am Ende ihres Lebens verdient hatte.
Letztendlich spielte all das auch keine Rolle. Egon und sie hatten ihre Mutter ebenso begraben wie ihren Vater und Bruder, ihre Tanten und Onkel. Lediglich zwei Cousinen besuchte sie noch ab und an, von denen eine nicht fit genug war, um die Bedeutung des Tages zu begreifen und die andere sich schlichtweg weigerte, mit Egon eine Mahlzeit zu teilen.
Aber an all das wollte Henriette an diesem besonderen Tag auch nicht denken. Stattdessen verbrachte sie bereits die Zeit seit den frühen Morgenstunden mit der sorgfältigen Vorbereitung eines Abendessens, das Egon ihrer Liebe und Treue versichern und den heiligen Bund ihrer Ehe erneuern sollte.
Zwar war Henriette es gewohnt, sich nach dem Geschmack ihres Mannes zu richten, zumindest wenn es um das tägliche Kochen ging, doch an den Ehrentagen nahm sie sich heraus, ein gewisses Maß an Kreativität, wenn nicht gar Experimentierfreudigkeit an den Tag zu legen.
Daher hatte sie sich auch entschlossen, mehrere Gänge zu servieren und mit jedem einzelnen ihre Liebe und Hingabe erneut unter Beweis zu stellen.
Der Kühlschrank war gefüllt mit den Speisen und Beilagen, die kalt serviert wurden, die Gefriertruhe beinhaltete Egons Lieblingseissorte und im Ofen brutzelte ein raffiniert gewürzter Braten.
Henriette hatte sich die Freiheit genommen anstelle der Salzstangen auf dem Esstisch zur Feier des Tages eine ausladende Platte mit Frischkäse bestrichener Cracker anzurichten und das Naserümpfen ihres Mannes geflissentlich ignoriert.
Dass er die einzelne Rose, die sie mitsamt der Lieblingsvase ihrer Mutter neben der Platte in die Mitte des Tisches gestellt hatte, beachtete Egon nicht, aber Henriette hatte das auch nicht erwartet. Auch die Kerzen am Fenstersims oder die Biskuitrolle, die das trockene Mürbegebäck zum Kaffee ersetzt hatte, entlockten ihrem Mann kein Augenzwinkern. Und dass sie selbst ihren Tag in der Küche verbrachte, anstatt mit der Wäsche, dem Putzen des Bades oder dem Staubwischen, um nur wenige ihrer bevorzugten Beschäftigungen zu nennen, war Egon natürlich ebenfalls nicht aufgefallen.
Nun, Henriette erwartete das auch nicht, keineswegs. Er war ihr Mann und er gehörte zu ihr. Das musste genügen. Vor Jahrzehnten hatten sie sich einander versprochen. Sie liebte ihn und er liebte sie. Und das Mindeste war, dass sie diese Liebe mit einem Festessen unter Beweis stellte.
Trotzdem fühlte ihr Herz sich schwer an, wollte sich die Festtagsstimmung, auf die sie gewartet hatte, nicht einstellen.
Henriette rieb sorgfältig die Suppenschüssel mit einer Knoblauchzehe aus. Sicher, Egon konnte Knoblauch nicht ausstehen, aber in jeder Frauenzeitschrift stand doch, dass diese Knolle besonders gut für das Herz und den Blutdruck sei. Zwei Schwachpunkte, die Egons Arzt von Zeit zu Zeit zu bemängeln pflegte. Nicht dass es Egon etwas ausmachte, oder er auf die Idee käme, seine Lebensweise zu überdenken, geschweige denn dass er auf den Rat des Mannes hörte, doch Henriette hatte nicht vor mit der Gesundheit ihres Mannes Poker zu spielen. Wo es ging, mogelte sie ihm ein wenig Grünzeug unter. Ein paar Vitamine hier und da, ein Hauch von Ballaststoffen konnten doch nicht schaden.
Und was Egon nicht wusste, das konnte ihn auch nicht stören. Soweit war Henriette sich sicher, dass ein schwaches Knoblaucharoma den Geschmacksknospen ihres Mannes nicht auffiele.
Ein unanständiges Schimpfwort entkam ihren Lippen, als sie mit Schwung die Suppe in die feine Porzellanschüssel füllte, die ihre Mutter ihr bei der Heirat als besonders exquisiten Bestandteil des Sonntagsgeschirrs präsentiert hatte. Wie immer stellte sie sich zu ungeschickte an und trotz all ihrer zuvor ausgefeilten Kunstgriffe, landete ein geraumer Teil der Flüssigkeit auf dem Küchentisch neben dem Herd.
Henriette stellte den Topf zurück und fragte sich einen Moment, ob sie die Grießklöße vor dem obligatorischen Umfüllen aus der Schüssel hätte fischen sollen. Doch dann verdrehte sie ihre Augen und beschloss keinen Gedanken mehr an die weichen, weißen Knödel zu verschwenden, die sie mit soviel Mühe aus der klebrigen Masse geformt hatte, und die trotz allem jetzt wie unförmige Beulen in der klaren Brühe schwammen.
Henriette hatte noch nie verstanden, warum Egon diese besondere Vorliebe für Grießnockerlsuppe hegte. Sie selbst konnte Suppen eher etwas abgewinnen, wenn sie mit einer auffallend cremigen Konsistenz ihrem Gaumen schmeichelten. Etwas Sahne, ein Stich Butter und vielleicht ein wenig geschmolzener Käse waren die Bestandteile, mit der sich eine Suppe genießen ließ. Aber auch da schieden sich ihr Geist und der ihres Mannes. Egon liebte die klare Brühe und Henriette musste, wenn auch widerstrebend zugeben, dass in diesem Fall und im Hinblick auf die Tatsache, dass es sich mit der Suppe nur um den ersten warmen Gang der Mahlzeit handelte, es sinnvoller war, mit etwas Leichtem zu beginnen.
Und warum auch nicht ihren Hochzeitstag und Egon damit erfreuen, dass sie sich mit der Suppe ganz besondere Mühe gab, ja, sich sogar an die Hinweise hielt, die Egon im Laufe der Jahre fallen gelassen hatte. In all den langen Jahren, in denen er von seiner Mutter gesprochen hatte und von ihrem ganz besonderen und von Henriette definitiv unerreichtem Können in der Küche.
Mit schiefem Blick auf die in Würfeln gepresste Brühe, die Henriette nachlässig in heißes Wasser warf, erwähnte er beiläufig, wie es in ihrer Familie Tradition gewesen war, nach klassischer Art Knochen auszukochen, die wertvollen Inhaltstoffe des Marks und den unerreichten Geschmack, den nur die Mühe dieser Arbeit erzielen konnte, sich mühselig und über Stunden hinweg zu erarbeiten.
Also hatte Henriette sich ein Herz gefasst, umgehört und es war ihr tatsächlich gelungen, die richtigen Suppenknochen aufzutreiben. Mit weit geöffnetem Fenster und einer Wäscheklammer auf der Nase hatte sie diese ausgekocht, den Sud erkalten lassen und für diesen speziellen Tag aufgehoben, an dem sie ihn mit der abgewogenen, gewaschenen und geputzten Menge an Suppengrün neu aufsetzte. An dieser Brühe sollte es nichts auszusetzen geben, das hatte sie sich geschworen. Sie bildete den Auftakt zu einem Festmahl, nach dem sich ihr Mann noch nach Jahren alle Finger lecken sollte.
Das Abseihen war nicht leicht gewesen, aber auch das war ihr gelungen, wusste Henriette doch wie sehr Egon es hasste, wenn er in seiner Brühe Bestandteile entdecken musste, die auch nur ein wenig an Gemüse erinnerten. Nicht einmal die winzigen Kräuter und Gewürze, die beim Aufgießen einer einfachen gekörnten Brühe in der Flüssigkeit schwammen, vermochte er zu tolerieren. Und Henriette war es nach den vielen Jahren gewohnt, ihm seine kleinen Vorlieben und Schwächen nachzusehen. Auch das machte Liebe aus. Auch das bedeutete eine lebenslange Partnerschaft.
Und natürlich beruhte dieses Einvernehmen auf Gegenseitigkeit. So hatte Henriette ihrem Egon im Laufe der Zeit abgetrotzt, dass sie die mühsam auf dem Balkon gezogene Petersilie benutzen und nach ihrem Belieben über die Speisen verteilen durfte.
Mit dem eigens zu diesem Zweck erworbenen Wiegemesser machte Henriette sich nun daran und zerkleinerte die liebevoll aus dem Topf herausgesuchten, schönsten und grünsten Petersilienblätter, indem sie wieder und wieder mit dem scharfen Messer über sie hinweg ging. Jede Seite des Wiegemessers in einer Hand und in einem stetigen Rhythmus wiegte sie mit der Klinge über das Brett, sah zu, wie die Blätter in ihre Einzelteile zertrennt wurden, kleiner und filigraner gehobelt, bis sie nur noch wie feiner, grüner Staub, so leicht, dass ein Windhauch sie anhoben konnte, in einem kleinen Haufen auf dem Brett lagen.
Mit einem zufriedenen Seufzer legte Henriette das Messer weg. Es war gut und richtig, darauf zu achten, dass Egon wenigstens ein Mindestmaß an Vitaminen genoss, auch wenn er sich innerlich dagegen sträubte. Wollte sie ihn doch noch so lange behalten, wie es irgend möglich war.
Mit einem weichen Küchentuch wischte sie über den Rand der Porzellanschüssel, entfernte die letzten Tropfen, die ihrer misslungenen Umfüllaktion entsprungen waren und streute dann liebevoll die feingehackte Petersilie über die in der Suppe schwimmenden Grießklöße. Deren flockiges Weiß erhielt so hübsche grüne Sprenkel und Henriette trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zufrieden zu betrachten.
Sie schloss die Schüssel mit dem geschwungenen Deckel, stellte sie auf das Tablett, neben die dazu passenden Suppentassen und blank geputzten Löffel, bevor sie ihre Schürze abnahm und sich ihr Haar aus dem Gesicht strich.
Sicher, sie war nicht jünger geworden. Aber letztendlich war das keiner von ihnen. Und dieser Tag sollte ein Festtag werden. Die Suppe war nur der Beginn.
Henriette ging leichten Schrittes, so leicht es ihr mit der Suppenschüssel, die auf dem Tablett balancierte, möglich war, auf die Küchentür zu, drückte mit über die Jahre hinweg perfektioniertem Geschick mit Hilfe des Ellbogens den Griff herunter und betrat das Wohnzimmer in dem ihr Mann wartete.
Obwohl, dass er wartete, war eigentlich zu viel gesagt. Egon lümmelte, wie es seine Art war, auf dem Sofa. Er hatte sich zurückgelehnt, in der einen Hand die Bierflasche, während er sich mit der anderen seinen Bauch kratzte.
Aber Henriette wollte sich nicht ärgern. Nicht an diesem Tag.
Er sah nicht auf, als sie eintrat. Sein Blick blieb, wie gewohnt, auf den Bildschirm gerichtet, auf dem fast ähnliche Erscheinungen, wie er eine bot, ebenfalls auf Sofas lümmelten und sich dabei allerdings auch noch wüst beschimpften.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Henriette, dass die Platte mit den verzierten Crackern leer war und schmunzelte zufrieden in sich hinein. Sie stellte vorsichtig das Tablett auf den Sofatisch und räumte die leere Platte zur Seite. Eine leere Tasse fand ihren Platz direkt vor Egon und die andere daneben, gerade dort, wo sie selbst sich zu setzen gedachte. Jedoch nicht, bevor sie für ein passenderes Getränk gesorgt hatte, als das, welches Egon für sein ein und alles erklärt hatte, solange sie sich kannten.
Henriette brachte Tablett und Platte zurück in die Küche und ergriff dann die Flasche Rotwein, die sie sorgfältig temperiert und auch nicht vergessen hatte, die gewünschte Zeit atmen zu lassen. Es sollte nichts schief gehen, alles musste passen.
Henriette schüttelte ihr Haar zurück, versuchte sich einen Moment darauf zu konzentrieren, wie es einmal ausgesehen hatte, und trug dann die Flasche ins Wohnzimmer. Sie nahm zwei langstielige Gläser aus dem Schrank und setzte diese neben den Suppentassen ab.
Egon reagierte immer noch nicht. Also hob Henriette den Deckel von der Suppenschüssel und wartete, bis der Duft nach Brühe das Zimmer erfüllte. Mit der Suppenkelle tauchte sie in die Flüssigkeit und sagte dann schmeichelnd: „Sieh doch, Liebling, was ich dir gemacht habe.“
Egon brummte etwas Unverständliches. Also nahm Henriette seine Suppentasse und ließ einen guten Löffel der Brühe hinein gleiten. Obenauf schwammen zwei weiche Grießklößchen und Henriette bewunderte für einen Augenblick deren Lockerheit, die ihr trotz der vielleicht ungewohnt erscheinenden Form, doch bemerkenswert gut gelungen war.
Egon rümpfte die Nase. „Was ist das denn?“, bequemte er sich dann ungehalten von sich zu geben, ohne sich jedoch aufzurichten.
„Ich habe dir deine Lieblingssuppe gemacht“, zwang Henriette sich, so charmant es ihr möglich war, zu antworten. „Wie du sie gerne hast. Wie deine Mutter sie gemacht hat.“
Egon blinzelte und sah endlich zu ihr auf, schüttelte dann entschieden den Kopf. „Nein“, murrte er dann.
„Das riecht komisch. So kenn ich die Suppe nicht.“
Henriette schloss die Augen und atmete tief durch. „Ich habe mir viel Mühe damit gegeben“, sagte sie dann gepresst und deutete in Richtung Küche. „Es ist auch nur die Suppe. Danach kommen noch mehrere Gänge.“ Sie öffnete ihre Augen wieder und sah ihren Gatten an. „Es ist ein besonderer Tag heute“, sagte sie leise. „Schnupper doch mal, wie gut es duftet. Seit heute Vormittag stehe ich in der Küche und schufte. Warte erst, bis du den Braten siehst.“
Egon verzog das Gesicht. „Ich will nicht einmal diese Suppe hier sehen“, murrte er und richtete sich dann ächzend auf, um einen Blick in die Schüssel zu werfen. „Was soll das denn sein?“, brachte er dann verächtlich vor. „Kannst du denn gar nichts richtig machen? Bei Mutti sah ein Nockerl aus wie das andere. Gleichmäßig und perfekt geformt. So schwer kann das doch wohl nicht sein.“
Henriette presste ihre Lippen zusammen und schluckte, bevor sie weitersprach. „Probier doch erst einmal“, sagte sie leise. „Sie sind sehr leicht und locker.“
„Blödsinn.“ Egon ließ sich mit einem Stöhnen wieder auf das Sofa zurücksinken und griff nach der Fernbedienung. „Das blöde Grünzeug hast du auch wieder reingematscht. Du weißt doch, wie ich das hasse.“
„Vitamine tun dir gut“, versuchte Henriette zu erklären.
„Ach was“, schimpfte Egon nun. „Die kannst du in der Pfeife rauchen. Ich brauch etwas Richtiges zwischen die Kiemen. Nicht deinen vornehmen Edelfraß. Was hast du überhaupt mit den Crackern angestellt. Und ich wette, du servierst mir als nächstes ein Gemüse und behauptest, dass ich davon satt werde.“
Henriette nahm die Flasche und sein Glas, schenkte ihm mit zitternden Händen ein. „Liebling“, sagte sie dann. „Ich bitte dich. Es ist ein besonderer Tag für mich.“
Sie setzte das Glas vor ihm ab und ergriff ihr eigenes. „Ich weiß nicht, ob man Rotwein zu Suppe trinken kann“, fuhr sie nervös fort, „aber es kann doch auch nicht schaden, sich einmal etwas Besonderes zu gönnen.“
„Etwas Besonderes?“, lachte Egon. Und mit einem hässlichen Lachen, beugte er sich vor, ergriff sein Glas mit genügend Schwung, dass die Hälfte seines Inhaltes heraus schwappte, auf der Tischdecke, dem Teppich und sogar in ein paar Spritzern auf den Gardinen landete, hielt es einen Moment hoch, als wolle er Henriette zuprosten, bevor er damit ausholte und durch das Wohnzimmer warf in Richtung der Küchentür. Doch noch vor dieser fiel es auf den Boden und zerschellte. Der Rest des Weins hinterließ einen nassen Fleck, der sich farblich jedoch kaum von dem Ton des Teppichs abhob, wie Henriette mit Erleichterung feststellte.
Überhaupt fühlte sie sich ruhiger, als sie in einer Situation wie dieser erwartet hätte. Ihr Atem ging langsam und gleichmäßig und in ihrem Kopf war es klarer, als zu jedem anderen Zeitpunkt des Tages. Die Aufregung war wie weggepustet, nun, da sie wusste, dass die Entscheidung gefallen war.
Egon interessierte sich nicht die Bohnen für ihren gemeinsamen Tag. Er achtete weder ihre Mühe, noch kümmerten ihn Henriettes Gefühle.
Sie seufzte leise. Es war ja auch nicht direkt eine Überraschung. Sie sah langsam an ihm herab, an seinem schmutzigen Unterhemd, das er nun schon mehrere Tage trug, der ausgebeulten Jogging Hose, dem unrasierten Kinn und den blutunterlaufenen, geradezu verquollenen Augen. Das wenige schüttere Haar, das ihm geblieben war, klebte fettig an seinem Hinterkopf und das pausbäckige Gesicht zeigte das selbstzufriedene Lächeln, das er sich mit dem Beginn der Rentenzeit und der stetig entwickelnden Vorliebe für Reality-Soaps angewöhnt hatte.
Nein, sie hatte ihm jede Chance gegeben, alles getan, was in ihrer Macht stand.
Henriette schenkte sich ein, nahm ihr Glas, lehnte sich im Sofa zurück und nippte versonnen daran. Ihr Blick fiel auf die einzelne Rose und sie dachte daran, welche Wünsche und Träume sie als junges Mädchen vor ihrer Heirat gehegt und Jahr für Jahr mehr vergessen hatte.
Sie hörte, wie Egon den Fernseher lauter stellte und dachte vage daran, dass sie bald aufstehen und nach dem Braten sehen sollte. Aber noch war es nicht soweit.
Henriette hörte wie das Sofa quietschte, wie Egon sich mit einem Stöhnen vorwärts beugte und einen Blick in die Schüssel warf.
Schwer ließ er sich wieder zurückfallen und warf ihr einen gnädigen Blick zu.
„Also gut“, sagte er dann. „Will ich mal nicht so sein. Gib mir was davon.“
Henriette nickte lächelnd. Oh ja, sie kannte ihren Mann, kannte ihn besser, als er sich selbst. Sie stellte ihr Glas ab, fühlte dass er sie beobachtete, als sie sich ihrerseits vorbeugte und ihm ohne zu kleckern eine weitere Kelle Suppe mit Knödeln in die Tasse gleiten ließ.
Egon rutschte mühsam an den Rand des Sofas, nahm den Löffel ohne seinen Blick vom Fernseher zu wenden, und begann damit hastig und mit vernehmlichem Schlürfen die Suppe zu essen. Mit seiner anderen Hand streckte er Henriette die Bierflasche entgegen. „Hol mir noch eins“, befahl er zwischen zwei Löffeln und während zwei der Figuren auf dem Bildschirm mit Fäusten aufeinander losgingen.
„Aber natürlich“, antwortete Henriette gehorsam, nahm die leere Flasche und begab sich zum Kühlschrank, um eine neue herauszuholen.
Selbst wenn Egon trotz Arterienverkalkung und leicht erhöhtem Blutdruck im Grunde gesund wie ein Fisch im Wasser war, so konnte sie sich doch darauf verlassen, dass seine Geschmacksknospen durch Alkohol, Nikotin und zu scharf gewürztes Essen ausreichend gelitten hatten, um den Geschmack zu verdecken, der nicht wirklich in eine Suppe passte. Auch nicht, wenn man die Freiheiten bedachte, die Henriette gewohnt war, sich seiner Gesundheit zuliebe und gegen seinen Willen zu erlauben.
Sie lächelte, als sie sich vorstellte, wie er wohl sehr bald feststellen musste, dass dieser Hochzeitstag in ihrem Sinn ablief. Nicht mehr lange, und sogar Egon fiele auf, dass ihre Suppe Inhaltsstoffe enthielt, auf die seine Mutter wohl kaum gekommen war.
Allerdings bezweifelte Henriette, dass er diese in Verbindung brächte mit den dekorativen Blumen, die sie neben der Petersilie, dem Thymian und dem Rosmarin auf ihrem Balkon züchtete. Vielleicht, wenn er sich einmal vom Fernseher und seinem Sofa getrennt und etwas frische Luft geschnappt hätte, so wie sie ihn so oft gebeten hatte, vielleicht hätte er dann die Herbstzeitlose oder die verschiedenen Nachtschattengewächse erkannt, denen sie ihre Liebe und Aufmerksamkeit schenkte, damit sie wuchsen und gediehen, bis sie eine von ihnen brauchte.
Doch Henriette bezweifelte das. Egon dachte nicht so viel nach. Sonst hätte er vielleicht gespürt, dass die letzte Chance, die sie ihm gegeben hatte, eigentlich keine mehr war.