Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als Vernon glaubt, Dariel in einem Omega-Haus entdeckt zu haben, rastet er völlig aus. Er setzt alle Hebel in Bewegung, um den jungen Omega wiederzusehen. Doch es gibt mächtige Instanzen, die genau das verhindern wollen. Ein Wettlauf um Leben und Tod beginnt, aber Vernon bekommt unerwartet Unterstützung. Wird er Dariel finden oder ist es längst zu spät?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 400
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Sigrid Lenz
Band 2
© dead soft verlag, Mettingen 2014
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Toni Kuklik
Bildrechte:
© CURAphotography – shutterstock.com
© karl umbriaco – shutterstock.com
ISBN 978-3-944737-52-5 (print)
978-3-944737-53-9 (epub)
Vernon erwachte, als grelles Licht durch seine geschlossenen Lider drang. Er blinzelte unter Schmerzen und hervorquellenden Tränen. Sein Kopf tat höllisch weh, seine Glieder schmerzten und der Geschmack in seinem Mund erweckte neue Übelkeit. Vage war er sich bewusst, dass er sich übergeben hatte. Die übrigen Ereignisse der Nacht blieben verschwommen. Er tastete sich vorwärts. Seine Finger fühlten sich geschwollen an, sein ganzer Körper war taub – bis auf die Schmerzen.
Er fühlte sich eingezwängt und unbehaglich, seine Umgebung schien ihm fremd. Bis er den Griff der Autotür fand, gegen die er lehnte, und beinahe aus dem Wagen fiel, als er sie öffnete.
Auf unsicheren Beinen gelang ihm der Weg über den Parkplatz. Sein Kopf schmerzte zu sehr, als dass er darüber nachdenken konnte, warum ihn die anderen allein in Marcels Wagen zurückgelassen hatten.
Der Morgen dämmerte grau und trotzdem quälte ihn die Helligkeit. Er hielt den Kopf gesenkt, taumelte vorwärts, versuchte zu schlucken. Seine Zunge war trocken, seine Kehle ausgedörrt. Und in ihm wuchs eine Erkenntnis, die er, hinauszuzögern suchte. Die unklaren, nebelhaften Bilder, die in ihm aufsteigen wollten, drängte er zurück, wusste, ahnte doch, dass sie seine Qualen nur verstärkten. Dennoch blitzten Eindrücke wie Momentaufnahmen in ihm auf, prägten sich in seinen schmerzenden Schädel, bohrten sich in sein Inneres. Dariel, wie er damals, als Kind, am See gewesen war, kämpfte sich in sein Bewusstsein, noch bevor er es verhindern konnte. Doch kaum fühlte er den Schmerz, die Ahnung dessen, was geschehen war, verblasste die schmale Gestalt, wurde zu einer bleichen Maske, dem fahlen Abbild des Wolfes, der Dariel hätte werden sollen.
Nein, es konnte nicht wahr sein, er war ihm nicht begegnet. Nicht Dariel, nicht auf diese Art. Nicht gefangen und benutzt, nicht einem Schicksal ausgeliefert, das sich nur vorzustellen, Vernon körperliche Pein verursachte. Er vermied jeden Gedanken an die vergangene Nacht, blockte die Blitze ab, die in seinem Gehirn aufleuchteten, die ihm gequälte Schreie entlocken wollten. Stattdessen bemühte er sich darum, einen Fuß vor den anderen zu setzen, sich auf jeden Schritt einzeln zu konzentrieren.
Es war zu früh, als dass sich bereits Studenten oder gar Professoren zeigten. Auf der anderen Seite der Eingangshalle des Wohngebäudes schob eine Reinigungskraft ihren Putzwagen über den glatten Boden. Das Quietschen der Räder ließ Vernon stöhnen. Er wollte sich nur auf sein Bett fallen lassen und zusammenrollen, sich hinlegen und schlafen. Am Besten, um nie mehr zu erwachen.
Wie er die Treppe geschafft hatte, wusste er nicht, als er oben ankam. Die letzten Schritte bis zu seiner Tür zogen sich endlos hin. Er stolperte ins Innere des Raumes, steuerte gerade noch rechtzeitig, bevor er stürzen konnte, seinen Schlafplatz an und fiel zur gleichen Zeit auf die Matratze und in Bewusstlosigkeit.
Lange konnte er nicht geschlafen haben, denn sein Kopf schmerzte stärker, als er widerstrebend zu sich kam. Erst langsam erkannte er, dass Dominik es war, der ihn rüttelte, der ihn unaufhörlich stieß und schubste.
„Deine Prüfung“, drang es schließlich in seinen umnebelten Verstand. „Komm zu dir, heute ist der Tag der Tage.“
Vernon drehte sich weg, krümmte sich zusammen.
„Keine Ausrede“, bestimmte Dominik. „Hoch mit dir. Zur Not kalte Dusche.“
Er klang ärgerlich und Vernon presste seinen Kopf in die Decke, hielt sich die Ohren zu. Da war etwas, da gab es etwas, das er nicht wissen wollte.
Doch Dominik blieb unbarmherzig, schüttelte ihn weiter, zerrte ihm den Arm von seinem Ohr und brüllte in qualvoller Lautstärke. Vernon stöhnte und fragte sich, wie der Mensch dazu fähig war, woher er die Stärke nahm, die seine übertraf. Zugleich wunderte er sich darüber, dass er nicht hochfuhr und ihm die Kehle durchbiss. Ein vergrabener Instinkt schaufelte sich an die Oberfläche und ließ die Vorstellung verlockend erscheinen.
„Nur heute“, rief Dominik in sein Ohr. „Ich werde den Teufel tun und dabei zusehen, wie du den Termin verpasst. Wegen irgendwelcher Scheiß-Drogen und dem miesen Marcel. Du wirst da hingehen, und wenn ich dich schleifen muss.“
„Nein“, flüsterte Vernon heiser.
„Na also.“ Erleichterung klang in Dominiks Tonfall mit. „Da bist du ja wieder. Und jetzt hoch mit dir. Du kannst noch so verkatert sein, die paar Punkte kriegst du zusammen.
„Nein“, sagte Vernon lauter und hustete trocken. „Das – das hat keinen Sinn.“
„Ja, erzähl dir das nur weiter“, zischte Dominik. „Du gehst trotzdem.“
„Verdammt!“ Vernon versuchte sich hochzustemmen, wollte den nervigen Menschen von seinem Bett schubsen, aus seiner Nähe katapultieren, doch er fiel wieder in sich zusammen, landete mit einem Stöhnen auf der Matratze. Er blieb steif liegen. Ein Gedanke, ein Bild, wollte sich ihm nähern und er drängte es zurück.
Jemand, der sich hoch kämpfte und versagte.
Nein, er war es, der versagte – der von Anfang an versagt hatte.
Das Blut wich aus seinem Kopf und sein Magen revoltierte. Es gelang ihm, sich zur Seite zu rollen und er würgte über dem Rand des Bettes. Doch nur ein neuer bitterer Geschmack entstand und verstärkte sein Elend.
Er blinzelte. Dominiks Gesicht war verschwommen und dennoch erkannte er die Besorgnis darin.
„Vernon?“, fragte der. „Was haben sie dir gegeben?“
Vernon keuchte, krallte seine Finger ins Laken. „Dariel“, krächzte er.
„Was?“ Dominiks Besorgnis verwandelte sich in Erstaunen. „Was soll das heißen?“
Vernon hustete wieder und Dominik verschwand aus seinem Blickfeld, doch nur um einen Augenblick später mit einem Glas Wasser zurückzukehren und es Vernon an die Lippen zu halten. Der griff es mit zitternden Händen und es gelang ihm, sich weit genug zu erheben, um gierig zu trinken.
„Die Prüfung“, erinnerte ihn Dominik. „Es ist höchste Zeit.“
„Dann geh“, murmelte Vernon.
„Nicht ohne dich.“ Dominik verschränkte die Arme und hob das Kinn. Sturheit gepaart mit Trotz und Vernon wich seinem Blick aus. „Es hat keine Bedeutung“, sagte er leise.
„Und ob es die hat.“ Dominik beugte sich vor. „Gehst du nicht, fällst du durch und die letzten zwei Jahre waren umsonst. Wenn du hingehst, bleibt dir alles offen.“
Vernon schloss die Augen. „Warum?“, fragte er. „Das alles spielt keine Rolle. Nicht wenn ...“ Er verstummte. Das Glas fiel zu Boden und er presste die Hände auf den Bauch, krümmte sich vornüber, als das Bild zurückkehrte, klarer als es gewesen sein konnte. Gestochen scharf sah er den Jungen vor sich. Den Dariel vom See, der auf der Matratze kniete und darauf wartete, missbraucht zu werden.
„Du weinst“, sagte Dominik verblüfft. „Was um Himmels willen ist passiert?“
Vernon sah ihn an, erkannte den Freund, den Verbündeten, den er zur Seite geschoben hatte und neue Tränen verschleierten seinen Blick. Er wischte sich über die Augen, über die Nase. „Ich dachte, glaubte, dass ich Dariel gesehen hätte.“ Er biss sich auf die Unterlippe, rieb sich die Stirn, die Schläfen. „Und selbst wenn er es nicht war, den ich gesehen habe, dann ... dann weiß ich doch, dass es Dariel nicht anders ergeht, nicht anders erging, wenn er nicht tot ist. Und – tot wahrscheinlich besser dran wäre.“ Ein qualvoller Laut steckte in seiner Kehle fest, wurde zu einem Kloß, den er nicht loswurde. „Und das ist meine Schuld.“
„Warte!“ Dominik hob eine Hand, zog die Stirn kraus. „Du hast Dariel gesehen? Gestern? Wo wart ihr denn?“
Vernon verbarg sein Gesicht in den Händen. „Omega-Haus.“
Dominik schwieg einen Augenblick, räusperte sich dann. „Na dann holen wir ihn da raus. Ist das nicht eine Frage des Geldes?“
„Dafür ist es zu spät“, sagte Vernon. „Und ich denke auch nicht, dass er es war. Der Zufall wäre zu groß. Und ich war – die Droge hat mich irregemacht. Wenn ich jetzt daran denke, sehe ich ihn nur, wie er damals war.“ Er würgte wieder. „Wahrscheinlich sah der Omega ihm ähnlich, blond und ...“ Er versuchte Luft zu holen, um den Kloß in seinem Hals herum zu atmen.
„Verstehe.“ Dominik nickte zögernd. „Du hast einen Nervenzusammenbruch.“ Er straffte die Schultern. „Okay, das packen wir. Und zwar nachdem du bei der Prüfung warst.“
„Ich werde nicht -“
„Oh doch, du wirst.“ Dominik zog ihn hoch und wider Erwarten gelang es Vernon, auf den Füßen zu bleiben. Noch erstaunter war er, dass er sich zum Bad führen ließ, wo Dominik seinen Kopf unter kaltes Wasser hielt und danach mit rauen, eiligen Bewegungen sein Haar trocknete.
Vernon erhaschte einen Blick darauf, wie der auf seine Uhr sah.
„Du riechst furchtbar“, meldete Dominik. „Aber es hilft nichts, jetzt gibt es kein Zurück.“
Vernon fühlte sich vorwärts geschubst, aus dem Zimmer gezerrt und den Gang hinunter geschoben. Wasser aus seinem noch nassen Haar tropfte auf seine Schultern und er glaubte nicht, dass der Schwindel wirklich nachgelassen hatte.
Dominik hielt Wort. Er brachte ihn bis zu seinem Prüfungsraum, wartete an der Tür, bis er seinen Platz eingenommen hatte, den Kopf in beide Hände gestützt. Als er aufsah, stand Dominik immer noch da und er verdrehte die Augen, obwohl es schmerzte, und versuchte zu nicken.
Das genügte und Dominik war verschwunden.
Von der Prüfung wusste er nicht mehr viel. In seinem Hemd fand er die Stifte, die Dominik ihm in die Tasche geschoben hatte, und plötzlich stand eine Flasche Wasser vor ihm. Als er den Kopf drehte, sah er Nicholas, mindestens so bleich, wie er sich fühlte, der sich zu einem knappen Lächeln zwang.
Von da an ging es nur noch um das Beantworten der Fragen. Automatisch kreuzte er an, schrieb ungelenk und unfähig sich wirklich auf die Frage zu konzentrieren. Die Stunden vergingen in einem unangenehmen Rausch, und als die Unterlagen abgegeben worden waren, blieb er noch einen Moment sitzen, nicht in der Lage zu begreifen oder gar zu verarbeiten, was er an diesem Ort tat, was er die letzte Minute getan hatte und erst recht nicht, was in der kommenden halben Stunde von ihm erwartet wurde. Die anderen, der Professor, auch Nicholas waren längst gegangen und er starrte auf die leere Plastikflasche, deren Inhalt seinen Durst nicht annähernd gestillt hatte.
Schritte näherten sich, doch er sah nicht auf. Erst als Dominik in sein Gesichtsfeld trat, sich auf der Tischkante aufstützte und ihn ansah, hob er langsam den Kopf.
Dominik kniff die Augen zusammen. „Du siehst übel aus“, bemerkte er. „Wie lief es?“
Vernon schüttelte den Kopf, bereute die abrupte Bewegung sofort.
„Vielleicht solltest du Marcel fragen, ob er in seinem Fundus auch etwas gegen die Folgen seines Giftes hat.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich würde dir ja was geben, aber dein Stoffwechsel bemerkt das vermutlich nicht einmal.“
„Marcel“, sagte Vernon. Seine Lippen waren trocken, spannten.
Dominik musterte ihn erneut, ging dann um den Tisch herum und zog ihn hoch. „Komm erst mal mit. Eine Runde Schlaf ist vermutlich das Sinnigste.“
„Nein!“ Vernon befreite sich rasch, rieb sich die Schläfen. „Ich muss etwas tun, irgendwas.“
„Und was schwebt dir vor?“ Dominik wirkte ausgesprochen interessiert.
„Marcel“, wiederholte Vernon. „Irgendwas wusste der. Irgendwas wollte er.“
Dominik runzelte die Stirn. „Ja, euer Geld. Ich glaube nicht, dass seine Absichten darüber hinaus gehen.“
Dass sie sich vorwärts bewegten, bemerkte Vernon erst, als sie sich der Mensa näherten. Dass es ihm besser ging, als Dominik einen großen Becher Kaffee und gebratene Eier mit Schinken vor ihm abstellte, und er den ersten Bissen getan hatte. Er schlang, als ginge es um sein Leben und zu seiner Erleichterung stabilisierte sich sein Magen rasch.
Dominik biss in seinen Tofu-Burger. „Das lobe ich mir. Gerade noch der lebende Tod und eine Minute später fast der Alte.“
Vernon verdrehte die Augen, leerte den Becher in einem Zug. „Ich muss ihn trotzdem fragen.“
Dominik brauchte offensichtlich einen Moment, um den Faden des Gesprächs wiederzufinden, nickte dann. „Soll ich mitkommen?“
Vernon atmete aus, schüttelte den Kopf. „Lieber nicht.“
„Mach nichts Unüberlegtes“, mahnte Dominik, als Vernon sich bereits zwei Schritte vom Tisch entfernt hatte. Der drehte sich kurz um, ordnete seine Gedanken, lächelte dann traurig.
Marcel lag noch im Bett. Vernon klopfte, wie ihm schien, eine Ewigkeit, bis der öffnete, den Seidenkimono nur halb geschlossen.
„Vernon“, sagte er verächtlich, doch bevor er die Tür wieder schließen konnte, stellte Vernon seinen Fuß zwischen diese und den Rahmen.
„Lass den Quatsch!“, knurrte Marcel.
Auf seine Worte ging Vernon nicht ein. „Was sollte das?“
„Was sollte was?“ Marcel runzelte die Stirn. „Redest du davon, wie du mich unmöglich gemacht hast? Meinen Wagen ruiniert? Wie du vollkommen ausgetickt bist?“
„Du hättest dir denken können, dass ich freiwillig kein Omega-Haus besuche!“
„Wie bitte?“, rief Marcel. „Woher sollte ich denn so was wissen? Jeder versucht es irgendwann. Das gehört dazu. Oder haben sich die anderen vielleicht gesträubt? Ganz und gar nicht. Die waren froh und dankbar für die Gelegenheit. Und ich hatte allen Ernstes geglaubt, dass du inzwischen normal geworden bist.“
„Wusstest du davon? War das Dariel oder – oder nur jemand, der ihm ähnlich sah?“ Vernon hörte, wie seine Stimme zitterte.
„Was?“ Marcel versuchte erneut vergeblich, die Tür zu schließen.
„Keinen Schimmer“, platzte er heraus, als Vernon unbewegt blieb. „Ich weiß nicht, wie dieser Dariel aussieht oder in welchem Hurenhaus der seine Zeit absitzt. Ich hatte anderes und weitaus Besseres zu tun.“
„Was ist los?“
Timon tauchte auf, blickte von einem zum anderen, verschränkte die Arme vor der Brust. „Gibt es Ärger?“, fragte er Marcel.
Der deutete mit dem Finger auf Vernon, in seinem Blick regierte Verachtung. „Nicht mehr als gestern.“
„Genau.“ Timon drehte sich nun zu Vernon. „Was ist überhaupt los mit dir? Drehst völlig durch und verdirbst uns den Spaß.“
Vernon bemerkte verspätet, dass ihre Stimmen laut genug erklangen, um Zuhörer anzulocken. Nicholas drängte sich durch ein paar Erstsemester. „Das war eine Reaktion auf die Droge“, warf er ein. „Beruhigt euch.“
„Beruhigen?“, spuckte Marcel aus. „Ganz sicher nicht. Vernon schuldet mir was und damit meine ich nicht nur die Wagenreinigung.“
„Wenn jemand etwas schuldig ist, dann du“, erwiderte Vernon und klammerte sich an dem Gedanken fest. „Was sollte das überhaupt, dass ich allein in dem Wagen aufgewacht bin?“
„Du weißt es wirklich nicht mehr, oder?“ Nicholas sah ihn an und Vernon schüttelte nur den Kopf. „Was soll ich wissen?“
„Dass du völlig ausgetickt bist“, rief Timon. „Schon bevor wir hier ankamen. Das musst du doch wissen. Um dich geschlagen hast du, geschrien und gebrüllt, dass wir umdrehen sollen.“
„Davon weiß ich nichts mehr.“ Vernon biss sich auf die Unterlippe.
„Ja, davon wüsste ich selbst auch gerne nichts.“ Timon sah Marcel bedeutungsvoll an. „Du solltest mal deinen Kopf untersuchen lassen. Und den Rest auch. Da läuft einiges schief.“
„Ich verstehe nicht“, murmelte Vernon.
„Aber ich verstehe“, sagte Marcel und grinste. „Ohne Ende hast du nach deinem Omega geschrien.“ Er versuchte Vernon nachzuäffen, kreischte in hoher Stimme. „Dariel, Dariel, wir müssen zurück, ihn holen. Dariel ...“
Wut durchfuhr Vernon wie ein Blitz und er schlug zu, traf Marcel, der die plötzliche Aktion nicht erwartet hatte, ins Gesicht. Dessen Kreischen wurde zu einem Stöhnen und Vernon, kaum noch Herr seiner Sinne, schlug erneut zu. Bis er zurückgerissen wurde – und bevor er den Schwächeren abschütteln konnte, eine Stimme in sein Bewusstsein drang. Vielleicht eine der wenigen Stimmen, die ihn zu erreichen vermochten.
Erst jetzt spürte er, dass neben Nicholas, der ihn gepackt hielt, auch Dominik stand, der ebenfalls versuchte ihn zurückzuhalten.
„Na klar“, feixte Timon. „Dein Schoßhund eilt zur Rettung. Jetzt fürchten wir uns aber.“
Marcel grinste, während er sich das Blut von der Oberlippe wischte.
„Jetzt hab ich dich“, triumphierte er. „Ich bring dich vors Klan-Gericht. Du fliegst von der Schule und verbringst den Rest deines Lebens mit miesen Beta-Jobs.“
„Ach ja?“ Bevor Vernon ihn zurückhalten konnte, trat Dominik vor ihn. Die anderen Wölfe hatten dem kleinen Kreis längst Platz gemacht, lauschten dennoch interessiert.
„Lass mich das mal ausführen“, begann Dominik, und obwohl er nur Mensch war, erklang seine Stimme klar und deutlich über dem Gemurmel der Wölfe. „Das Wort eines Drogendealers, Kriminellen und Versagers gegen das eines künftigen Klan-Alphas. Wenn ich mich nicht täusche – und das passiert mir selten – dann riskierst du es nicht, öffentlich fertiggemacht zu werden.“
„Bringt jemand den Schoßhund zum Schweigen“, knurrte Marcel. Doch als Dominiks Stimme leiser wurde, schwiegen auch die Umstehenden. „Meiner Ansicht nach denkst du eher gewinnorientiert.“ Dominik räusperte sich. „Und es sollte mich wundern, wenn du dir den möglichen Gewinn nicht längst errechnet hast.“
„Dominik – was?“ Vernons Schwierigkeiten, den Worten anderer zu folgen, hatten in den letzten Minuten nicht unbedingt nachgelassen und Dominik wandte sich nun gleichermaßen an ihn wie an Marcel.
„Es ist doch ganz einfach. Du willst Gewissheit. Marcel das, was er immer will. Ich schlage vor, er gibt dir die Koordinaten der Lokalisation und du gibst ihm einen entsprechenden Anteil des Geldes, das dir Viktor zur Prüfung und Praktikumssuche zuschießt.“
„Lokali… was? Du hast sie wohl nicht alle“, brachte Marcel hervor.
„Ich gebe dir Geld und du sagst mir, wo genau wir gestern waren.“ Vernon spürte, wie er immer noch vor Zorn bebte, bemühte sich dennoch, seinen Körper im Zaum zu halten, die Spannung zu beherrschen. Dominik hatte recht – wie immer und unter dem Einfluss dieser Erkenntnis gelang es Vernon, seine Emotionen abzukühlen. Mit Gewalt kam er nicht weiter, nicht wenn er so schnell wie möglich eine Lösung finden wollte.
„Da würde ich an deiner Stelle nicht mehr hingehen.“ Timon lachte. „Du hast denen die Bude vollgekotzt. Ich denke nicht, dass die dich rein lassen.“
„Kommt auf einen Versuch an“, knurrte Vernon und sah zu Dominik, formte das Wort ‚Danke‘ mit seinen Lippen.
„Wofür?“, fragte Dominik leise. Vernon atmete aus. „Dafür, dass du mich daran erinnerst, worauf es ankommt.“
„Ist das nicht rührend?“, zischte Marcel. „Von wie viel Geld sprechen wir?“
„Von genug“, warf Dominik ein. „Ich habe die Auszüge gesehen. Vertrau mir.“
„Den Teufel werd’ ich.“ Marcel grinste.
„Du kennst mich und meinen Klan, wir sind nicht reich, aber zuverlässig“, sagte Vernon.
„Schon gut. Und du zahlst auch, wenn sie dir den Zugang verwehren?“
Vernon nickte. „Auch wenn ich kein Ergebnis erhalte.“ Er sah Dominik an. „Je rascher ich dorthin finde, desto besser stehen meine Chancen auf Erfolg.“
Marcel fuhr sich durch das Haar, rülpste. „Also gut. Timon schreibt es dir auf.“
„Nicht im Ernst“, wehrte der sich und Marcel verzog die Lippen. „Du darfst die neue Lieferung gratis testen.“ Er wandte sich an Vernon. „Du auch“, schlug er süßlich vor, „natürlich erst nach Abschluss des Geschäfts.“
Vernon schüttelte den Kopf, fühlte den Kloß in seinem Hals, als er den Zettel entgegennahm. „Ich weiß, wo du wohnst“, erklärte Marcel und grinste. „Das Erste, was du machst, ist, mir mein Geld zu beschaffen.“
Vernon sah auf den Zettel, zeigte ihn Dominik. Und als der nickte, nahm er von Nicholas, der ihn inzwischen wie die anderen losgelassen hatte, einen Stift entgegen und kritzelte zwei Nummern auf die Rückseite. „Konto und Passwort“, sagte er kurz, bevor er sich wortlos umdrehte und loslief.
Dominik folgte ihm, holte ihn keuchend ein, als er an ihrem Zimmer ankam, den Schrank öffnete und eine Brieftasche zwischen den Socken hervorsuchte.
„Der wird dir dein Konto leerräumen“, sagte er. Vernon zuckte mit den Schultern. „Kann er ruhig“, sagte der und lachte bitter. „Ist nur eins und nicht das ergiebigste.“
„Beneidenswert“, sagte Dominik und folgte ihm aus der Tür.
„Wo willst du hin?“ Vernon drehte sich um.
„Wohin schon?“, erwiderte Dominik. „Ich komme mit.“
Vernon stöhnte. „Hatten wir das nicht schon?“
Dominik nickte. „Weshalb du wissen solltest, dass es keine Ausrede gibt. Ich bekomme immer meinen Willen.“
Vernon stöhnte. „In der Luft zerreißen werden die dich.“ Dominik schob die Unterlippe vor. „Dann warte ich in gebührendem Abstand. Setz mich irgendwo ab. Dein Vorteil – wenn ich nichts mehr von dir höre, rufe ich Viktor an. Das kannst du als Druckmittel verwenden. Wenn du erfolgreich bist, helfe ich dir mit Dariel, wenn nicht, kann ich den Wagen fahren.“
Mit einem resignierten Seufzen gab Vernon auf. „Ich hätte wissen sollen, dass ich die Argumentation von Anfang an verloren habe.“
„Ja, das hättest du.“
Vernon fühlte sich in der Zeit zurückversetzt. Wieder war er mit Dominik unterwegs. Wieder mit demselben Ziel. Mit dem Unterschied, dass er dieses Mal die Hoffnung von Anfang an klein hielt.
Er steuerte das Auto, den Blick auf die Fahrbahn gerichtet, während Dominik die Karte las und ihn auf Abkürzungen hinwies und ihn von Zeit zu Zeit von der Seite musterte.
„Es geht nur darum, Gewissheit zu erhalten“, sagte er nach einigen Minuten des Schweigens.
„Ich weiß“, antwortete Vernon. „Und ich weiß, dass mich jeder blonde Omega an Dariel erinnert hätte, dass es an der Droge lag und vermutlich eine Art Weckruf darstellt.“ Er lachte bitter.
„Ein Weckruf. Interessante Interpretation“, murmelte Dominik.
Vernon nickte langsam. „Es tut mir Leid, dass ich so ein Arschloch war“, sagte er leiser. „Und ich bin dir dankbar, dass du mich in die Prüfung gezwungen hast.“ Sein Blick wanderte zu der Brieftasche und er lachte freudlos. „Viktors Unterstützung werde ich wohl noch eine Weile brauchen. Schon allein, um in das Haus reinzukommen.“
Dominik legte ihm seine Hand auf den Arm. „Weißt du was? Ich wette, die sind das gewohnt. Vielleicht nicht von Alphas, aber mit ihren – wenn man so will – Angestellten und den Betakunden auf jeden Fall. Keiner von denen wird sich anstellen, wie Marcel und seine Idioten.“
„Nicholas hat sich anständig verhalten“, dachte Vernon laut.
„Weiß nicht recht“, wandte Dominik ein. „Er hat doch mitgemacht, oder?“
Vernon zog die Stirn kraus, presste für einen Moment die Lippen zusammen. „So wie jeder mitgemacht hätte. Außer mir.“ Er schüttelte den Kopf. „Wenn das nicht traurig ist?“
„Was?“, fragte Dominik. „Dass du als einziger Charakter beweist?“
Vernon seufzte. „Dass ich als Einziger kein richtiger Alpha bin. Mit mir stimmt etwas nicht. Wenigstens kann ich das jetzt nicht mehr leugnen.“
„Also bitte“, wehrte Dominik ab. „So ist das nicht. Ich gehe jede Wette ein, dass kommende Studien so einiges an Nebenwirkungen der verschiedenen Wolfsdrogen aufzeigen werden.“
Vernon zuckte mit den Schultern. „Wenn es nur das wäre.“ Er verstummte und zu seiner Erleichterung behielt auch Dominik sein Schweigen bei. So stur und verbohrt der manchmal sein konnte, in diesem Moment schien er zu begreifen, dass Rücksicht angebracht war.
Vernon schmeckte Blut auf seiner Lippe, als sie sich ihrem Ziel soweit näherten, dass Dominik nach einem Ort Ausschau hielt, an dem er abgesetzt werden konnte.
Sie fanden ein Motel an der Straße. Als Dominik ausstieg, beugte er sich zu dem heruntergekurbelten Fenster auf Vernons Seite. „Ist doch praktisch. Haben wir es eilig, reicht einmal hupen und ich springe aus dem Fenster.“
Vernon lächelte gezwungen, bevor er wieder Gas gab.
Das Omega-Haus spürte er bereits, lange bevor er sah. Die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken stellte eine Herausforderung dar, die sich vergrößerte, je weiter er sich dem Gebäude näherte.
Bei Tag, im wachen und drogenfreien Zustand, wirkte die Gegend trostlos. Grau und heruntergekommen die wenigen Gebäude, die Straßen schlecht instand und selbst die umliegenden Felder lagen brach.
Der Parkplatz, unverhältnismäßig riesig, war bis auf wenige Ausnahmen leer. Aus der Nähe betrachtet wies das Gebäude unzählige Risse auf. Der Anstrich blätterte, die Fenster waren schmutzig und die Gitter vor ihnen wirkten bedrohlich.
Es stank nach Erbrochenem und Alkohol, nach dem Blut von Betas, die sich geprügelt hatten. Müll verteilte sich auf der Fläche. Am anderen Ende des Platzes erkannte Vernon einen Beta im Overall, der mit einem Stecken und einer Schubkarre den Abfall aufsammelte.
Erst als er vor dem Haus stand, verstärkte sich der Geruch nach Omegas, übertünchte den Gestank, der den Parkplatz auszeichnete.
Vernon zögerte nicht. Das Eingangstor war verschlossen, doch er betätigte Klingel und Türklopfer gleichzeitig. Trotz des Lärms, den er verursachte, dauerte es, bis sich jemand meldete.
„Wir öffnen erst heute Abend“, brummte eine unfreundliche Stimme, noch bevor sich das Sichtfenster öffnete.
„Ich bin kein Kunde“, sagte Vernon und versuchte an dem Beta-Wolf vorbeizusehen.
„Dann verschwinden Sie.“ Der Pförtner gähnte.
„Sie verstehen nicht“, bemerkte Vernon. „Ich war gestern hier und muss noch einmal rein.“
Der Beta sah auf seine Uhr. „Zwei Stunden, das halten Sie wohl durch.“ Er grinste bösartig. „Gönnen sie den Welpen doch eine Pause.“
Vernon biss die Zähne zusammen und holte seine Brieftasche hervor. „Wie viel?“
„Privatbesuche nur nach Anmeldung“, sagte der Beta, blickte dennoch unverwandt auf die Scheine, die Vernon nun heraussuchte. Einen presste er gegen die Glasscheibe und der Pförtner leckte sich die Lippen. „Gut, ich frage nach“, entschied er schließlich und kehrte einen Augenblick später mit einem Alpha-Wächter zurück, der Vernon kritisch begutachtete, bevor er die Tür öffnete, jedoch den Weg vertrat. „Sie waren gestern hier?“
Vernon nickte und steckte dem Beta den gezeigten Schein zu, der damit verschwand.
„Was genau wollen Sie, das keine Zeit bis heute Abend hat?“, fragte der Alpha.
Vernon zog zwei weitere Scheine hervor und hielt sie ihm entgegen. „Es ging mir nicht besonders gestern“, erklärte er. „Ich dachte, dass ich jemanden gesehen hätte, der mir bekannt vorkam. Nun würde ich gerne sichergehen. Die Gewissheit lasse ich mich auch etwas kosten.“
Der Wächter kniff die Augen zusammen. „Nur ansehen?“
Vernon nickte. „Wenn er es ist, würde ich ...“ Er zögerte, stolperte über die Worte, „würde ich ihn kaufen.“
Der Alpha betrachtete ihn von oben bis unten, trat dann zur Seite. „Sklavenhandel gibt es hier nicht“, sagte er laut und senkte die Stimme. „Nimm’s mir nicht übel“, fuhr er fort, den gespielten Respekt vergessend. „Aber das kannst du dir nicht leisten. Wir haben hier nur erstklassige Ware.“
„Da bin ich sicher.“ Vernon konnte seine Stimme selbst kaum hören, so heiser klang sie auf einmal.
Der Omega Geruch war stark, doch das Innere des Gebäudes wirkte ebenso heruntergekommen wie das Äußere. Auf den einst prunkvoll angelegten Säulen und Stuck-Verzierungen lag Staub. Spinnweben hingen in den Ecken. Teppiche und Vorhänge waren alt und verschlissen. Doch Vernon sah auch die geschickt angebrachten Lampen, die Elektronik, die in der Nacht Mängel kaschierte, wenn nicht gar überspielte.
Er reichte dem Alpha einen weiteren Schein, bevor er seine Brieftasche verstaute. „Ich kann mir einiges leisten“, bemerkte er. „Mehr als Sie sich vorstellen können. Ich bin Alpha im Baju-Klan und Viktors Sohn.“
„Aha.“ Der Alpha wirkte unbeeindruckt. „Student?“
Vernon nickte und der Wächter grinste. „Von eurer Sorte kommen immer wieder welche vorbei.“
„Was sucht der denn hier?“
Ein zweiter Wächter mit rotem Gesicht kam die durchgebogenen Stufen herunter. „Wer hat ihn rein gelassen?“
Vernon kniff die Augen zusammen, glaubte sich verschwommen an die buschigen Augenbrauen und das hängende Doppelkinn zu erinnern.
„Der will nur gucken. Beruhig dich, Horst“, erwiderte der Wächter und neigte den Kopf zur Seite.
Horst schnaubte. „Das sagen sie alle, solltest du inzwischen wissen.“
Er schüttelte den Kopf und zeigte auf Vernon. „Der hat gestern eine Schweinerei veranstaltet. Dann ist er durchgedreht. So was kann ich gar nicht leiden.“
Vernon räusperte sich. „Ich bin auch hier, um mich zu entschuldigen.“ Er zog erneut seine Brieftasche hervor. „Der Ärger tut mir leid.“ Er legte einen reuevollen Ton in seine Stimme und vermied es, zur Treppe zu sehen, fürchtete, sich nicht zurückhalten zu können. Dort oben war er gewesen, mit einem Mal erinnerte er sich mit geradezu schmerzhafter Deutlichkeit.
Horst presste für einen Moment die Lippen zusammen, starrte ihn intensiv an. „Gib Rafael Bescheid“, kommandierte er, ohne den anderen Wächter anzusehen.
Vernon erwiderte den Blick, spürte die Ablehnung, die unsichtbare Grenze, die Horst zwischen ihm und dem oberen Stockwerk zog. Er konnte nicht mehr anders, sah doch an ihm vorbei, musterte die Löcher im Teppich, die Flecken auf dem Treppengeländer, das dunstige, künstliche Licht, dem es dennoch nicht gelang, die obere Etage vollständig zu erhellen. Es fehlten der sanfte Farbton, die schmeichelnden Laute der vergangenen Nacht. Der Omega-Duft war unverändert stark, doch von Zeit zu Zeit überlagerten ihn scharfe Gerüche. Essig und Reinigungsmittel kämpften mit Pheromonen und nun registrierte Vernon auch den leicht salzigen Unterton, der den typischen Geruch der Omegas untermalte. So vieles stimmte hier nicht, so vieles war kaputt, heruntergekommen, krank. In Vernon kämpfte das Bedürfnis, nach oben zu laufen, die Tür aufzubrechen und sich zu vergewissern, wer sich dahinter befand, gegen den Wunsch, so schnell wie möglich aus diesem Gefängnis zu entkommen.
Horst erahnte seine Gedanken. „Vergiss es.“ Er grinste. „Ohne Erlaubnis kommt da keiner hoch. Wir werden sehen, was Rafael sagt.“
Wie auf sein Stichwort erschien ein Alpha in zerknittertem Seidenanzug und mit glänzender, grauer Frisur. Für einen Augenblick fragte Vernon sich, warum sich in diesem Gebäude fast nur Alphas befanden, kaum Betas, bis auf den Pförtner und das Reinigungspersonal. Sein Weltbild schwankte kurz, der Respekt vor Alphas, mit denen er aufgewachsen war, schrumpfte wie so oft zuvor. Aber dann schob er die Frage zu all den anderen Irritationen, über die er unablässig stolperte, seitdem er zum ersten Mal sein Klan-Gebiet verlassen hatte.
„Rafael“, stellte der Mann sich vor und zeigte ein blitzendes Lächeln, eine lange Reihe weißer Zähne. Er streckte Vernon die Hand entgegen und der nahm sie, ohne zu überlegen.
„Es kommt wirklich selten vor“, Rafael nickte, „dass jemand so beeindruckt von unserem Service ist, dass er sogar am Tage vorbeikommt.“
„Ähm.“ Vernon stockte und Rafaels Lächeln verbreiterte sich. „Keine Sorge, Junge. Ich weiß, was du willst.“ Er nickte Horst und dem anderen Wächter zu, woraufhin beide ein Stück zurückwichen. „Und ich weiß, wer du bist. Viktors Sohn, es ist mir ein Vergnügen. Auch wenn ich mit Viktor persönlich nicht bekannt bin und vermute, dass alle Beteiligten hier vorziehen, dass es so bleibt, eilt sein Ruf doch über die Klan-Grenzen weit hinaus.“ Sein Lachen enthielt einen bösartigen Unterton und Vernon bemühte sich, am Ort stehen zu bleiben und keine Schwäche, schon gar keinen Abscheu zu zeigen.
„Nichtsdestotrotz verhält sich die neue Generation, wie es aussieht, weitaus aufgeschlossener“, fuhr Rafael immer noch amüsiert fort. „Und ich sehe echte Chancen in unserer beider Zukunft.“
Vernon räusperte sich. „Ich suche ...“
Doch Rafael unterbrach ihn. „Ich weiß, wen du suchst, Junge.“ Sein Gesicht verzog sich in eine bekümmerte Grimasse. „Aber leider, leider, kann ich dir da nicht weiterhelfen. Manche Ereignisse entwickeln sich unvorhersehbar und weitere Geschicke liegen nicht immer in unserer Hand.“
„Was soll das heißen?“ Vernons Stimme war belegt, er brachte die Worte kaum hervor.
Rafael bemühte sich nun um ein mitleidiges Lächeln, blickte zu Horst, bevor er sich wieder Vernon zuwandte.
„Ich verstehe dich, Junge. Besser als du denkst, besser als alle, die über dich ihre Witze machen, sich vorstellen.“ Er nickte gönnerhaft. „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht erklären können. Niemand kann wirklich wissen, wozu du bestimmt sein wirst, und wozu du eine ganz bestimmte Sorte Omegas benötigst.“ Er lehnte sich vertraulich näher. „Wir sind doch alle nicht mehr und nicht weniger als die Weiterentwicklung einer Mutation. Nur will das keiner wahrhaben. Aber ich habe in meinem Haus schon immer Wert darauf gelegt, dass wir die Talente einzelner Angestellter fördern und die Bedürfnisse der zahlenden Kundschaft befriedigen.“ Er verzog kurz die Lippen. Seine Lider flatterten, er sah reuevoll zu Boden auf seine glänzenden Schuhe.
„Nur muss ich leider zugeben, dass wir in diesem Fall nicht die richtige Adresse sind.“ Er seufzte betont. „Die Omegas, die infrage kommen, zeigen keine Abnormität, keine besondere Kunstfertigkeit und keine verborgene Begabung. Ich fürchte somit, dass es sich bei keinem von meinen um den Gesuchten handelt.“
Vernon schüttelte den Kopf, antwortete gepresst. „Das spielt keine Rolle. Ich will ihn nur sehen, um sicherzugehen.“
„Verstehe, verstehe, natürlich“, nickte Rafael. „Wir befolgen allerdings strenge Vorschriften. Bei Tag ist keine Kundschaft in den oberen Stockwerken und in den Zimmern erlaubt.“
„Ich zahle.“ Vernon griff an seine Brieftasche. „Jeden Preis.“
„Und das weiß ich sehr zu schätzen.“ In Rafaels Augen funkelte es begehrlich.
Er nannte eine Summe und ohne zu zögern zählte Vernon die Scheine in Horsts Hand.
Den Schwindel fühlte er zurückkehren, als er über den verschlissenen Teppich die Stufen hinaufstieg, die Türen wiedererkannte, den an den Ecken abgerissenen Samt. Hier oben war der Omega-Duft stärker und doch immer noch unterlegt mit einer salzigen Note, die Vernon zunehmend irritierte.
Horst öffnete die erste Tür und Vernon starrte in ein dunkles Zimmer. Kaum Schatten waren auszumachen, lediglich ein Stöhnen ertönte von innen.
„Keine Aufregung, mein Hübscher“, flötete Rafael in den Raum hinein. „Du hast noch reichlich Zeit. Wir unternehmen nur einen kleinen, informellen Rundgang.“
„Es war nicht hier“, bemerkte Vernon und versuchte durch den Mund zu atmen. Der Omega-Duft hatte die gewohnte Wirkung. Er verströmte das intensive Aroma der Hitze, aber erreichte nicht die Wirkung, die Vernon von einer solchen erwartete. Er war erregt, doch sich zu beherrschen war leichter als erwartet.
„Ich dachte, du wolltest dich ein wenig umsehen“, sagte Rafael unschuldig. „Für dein Geld eine kleine Show und vielleicht siehst du etwas, das dir gefällt, das dich ablenkt.“
„Nein.“ Vernon schritt an ihm vorbei, passierte die nächsten Türen, blieb vor der stehen, die er immer wieder vor sich gesehen hatte. Er schloss die Augen, roch trotz des Salzes, trotz all der anderen verfälschenden Düfte, die ihn umgaben, eine reine Süße, die seinen Puls beschleunigte. Er schluckte, öffnete die Augen und nickte. „Die hier war es“, sagte er leise. Oder es kam ihm leise vor, so laut rauschte sein Blut in den Ohren. Er ballte die Hände zu Fäusten, bohrte die Fingernägel in die Handflächen.
„Ach hier?“, rief Rafael in fraglos gespielter Überraschung und als Vernon herumfuhr, lachte der ihn an. „Der kleine Blonde. Aber Vernon, mein Junge. Doch nicht der.“ Er schüttelte den Kopf.
„Was, was ist mit ihm?“
Rafael schnalzte mit der Zunge. „Der ist längst nicht mehr hier. Schon vor Wochen wurde er verkauft und gestern Nacht abtransportiert. Und vertrau mir, den willst du nicht, der ist krank und abgenutzt, keinesfalls ein Omega, mit dem sich noch etwas anfangen lässt.“
Das Rauschen in Vernons Ohren verwandelte sich in einen Schrei. Die unterdrückte Wut, der angestaute Hass überwältigte ihn und er sprang Rafael an. Ob es sich um Glück handelte, oder ob sein Angriff die Wächter, die nun aus allen Ecken auftauchten, überrascht hatte, es gelang ihm, Rafael umzureißen. Zwei gezielte Schläge landete er, bevor ihn vornehmlich Horst, doch gefolgt und unterstützt von anderen bulligen Alphas, von Rafael wegzerrte und auf Vernon einzuschlagen begann. Er lag am Boden, spürte Tritte, die seine Rippen trafen, sein Gesicht, fühlte, wie seine Nase brach, schmeckte Blut auf seinen Lippen. Doch nichts von allem reichte an den Schmerz heran, der sein Herz durchbohrte.
„Das reicht“, hörte er Rafaels Stimme. „Lasst ihn.“ Und Vernon, trotz der Wut, die immer noch in seinem Körper tobte, musste sich eingestehen, dass der Alpha ihn durchschaute. Auch wenn er selbst es nicht erkannt hätte, Rafael sah ihm an, dass er sich kaum noch rühren, geschweige denn kämpfen konnte. Die Wächter verstanden ihr Handwerk, hatten ihn rasch und effizient außer Gefecht gesetzt. Auf eine Weise, zu der Betas nicht fähig wären.
„Das war ein Fehler“, drohte Rafael und Vernon hörte dessen Stimme nahe an seinem Ohr. „Du denkst wohl, du könntest dir alles erlauben. Da habe ich Neuigkeiten für dich.“
Vernon blinzelte durch den roten Schleier hindurch, sah zu, wie Rafael sich Lippe und Nase abtupfte, seine Jacke begutachtete.
„Fangen wir damit an, dass du mir Entschädigung zahlst“, sagte er schließlich. „Diesen Anzug habe ich geliebt.“ Er strich sein Haar zurück, ließ sich von Horst aufhelfen.
„Ich überlege ernsthaft, die Polizei einzuschalten“, sagte er. „Du wirst einsehen, dass ich so ein Benehmen in meinem Geschäft nicht dulden kann.“
„Es war gelogen“, brachte Vernon schließlich hervor. „Dariel ist hier, er muss hier sein.“
Rafael schüttelte den Kopf. „Traurig, das mit anzusehen“, murmelte er, schlüpfte aus der blutbefleckten Jacke und ließ sich eine neue reichen. „Ich habe von dir gehört, natürlich habe ich das. Der verrückte Alpha-Junge, der Besessene. Auch wenn ich nicht wusste, wovon du besessen bist. Ich dachte eher, es sei eine seltene Art von Fetisch.“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Man sollte Irrsinn nicht bestrafen. Sich eher fragen, warum die Alpha-Gene hier nicht greifen.“
Vernon gelang es, auf die Knie zu kommen. Seine Wut versickerte, während Verzweiflung wuchs. Das durfte nicht wahr sein, nicht wieder. Nicht noch einmal. Die Überreste seines zerrissenen Herzens zogen sich zusammen, pressten gegen- und ineinander, bis er einen Klumpen in seinem Inneren trug. Er hatte nicht gehofft, nicht wirklich, versuchte er sich zu sagen. Die Enttäuschung war vorherbestimmt gewesen. Sie konnte nicht schmerzen, durfte nicht.
„Bitte.“ Seine Stimme war heiser und er senkte den Blick. „Kann ich – kann ich das Zimmer sehen? Vielleicht erinnere ich mich dann. Vielleicht reicht das aus.“
Horst schnaubte und Vernon zuckte automatisch zusammen, als er den Luftzug spürte.
„Nicht, er hat genug“, wandte Rafael ein, seine Stimme durchschnitt den Raum, als seine Worte sich an Vernon richteten. „Du hast wirklich Nerven.“
Vernon sah auf und ein merkwürdiges Lächeln umspielte Rafaels verletzte Lippe.
„Sieh dir das Zimmer an“, sagte er schließlich. „Unter zwei Bedingungen.“
Vernon nickte hastig, bevor er den Kopf wieder senkte, seine Finger in den Teppich krallte.
„Ich will kein Wort mehr von dir hören“, fuhr Rafael fort. „Keinen Ton. Ich will dich nie wieder sehen. Du verlässt mein Haus und siehst dich nicht um. Dafür behalte ich deine Brieftasche und deine Kontonummer. Damit kommst du großzügig weg, das wirst du zugeben.“
Wieder nickte Vernon, sah nicht auf. Er zwang seinen Körper, schlaff in dem Griff der Wächter zu hängen, die ihn hoch zerrten, ließ es zu, dass sie seine Brieftasche an sich nahmen. Erst als sie ihn vorwärts rissen, bewegte er sich, erlaubte dem Drängen, das ihm befehlen wollte, sich gegen die Tür zu werfen, alle Türen aufzureißen, um selbst zu sehen, was sich dahinter befand, nachzugeben.
Sofort, als sie den Raum erreichten, fiel der Zweifel von ihm und er wusste, dass der Omega der vergangenen Nacht sich darin befunden hatte. Ein Wächter öffnete die Tür und der Geruch umwehte ihn mit bekannter Intensität. Eine Mischung aus Erinnerung, einem längst vergangenen Sommertag, einer Familie auf fernem Land im Saring-Klan und verbliebener Omega-Wärme, unverkennbar trotz der salzigen Note, hüllte ihn ein. Die Wächter ließen ihn los und Vernon wankte voran, erlaubte dem Duft, ihn zu umfangen, zu halten, sich in jede seiner Zellen einzuprägen. Ein Schalter klickte und eine schwach leuchtende Stehlampe erhellte die Dunkelheit, offenbarte ein ungemachtes Bett, schmutzige Laken, Kissen, auf denen eingetrocknete Flecken, Blut und Sperma klebten. Vernons Verstand blendete aus, was nicht Dariel bedeutete: Sein eigenes Erbrochenes, das nur oberflächlich entfernt worden war, die Überreste unzähliger Alphas, die in diesem Raum ihre Spuren hinterlassen hatten, den salzigen Geschmack, der sich auf seine Zunge legen wollte.
„Wo ist er“, krächzte er mühsam und bevor er imstande war, sich zu bremsen, fiel er erneut auf seine Knie, als ihn ein Tritt in den Rücken an Rafaels Mahnung erinnerte. Er neigte den Kopf, behielt dennoch den Blick auf das Bett gerichtet, widerstand der Versuchung sich ihm zu nähern, sein Gesicht trotz des Schmutzes in den Laken zu vergraben und nach dem zu suchen, was Dariel ausmachte. Verspätet hörte er die Stimmen der Wächter, deren Gelächter.
„War das der Raum, Junge?“
„Sieht so aus. Wir führen dir aber gerne auch die Übrigen vor. Alles für die Kundschaft, alles für die durchgeknallten Omega-Fanatiker.“
Vernon fühlte sich hochgerissen und weitergezogen. Eine andere Tür öffnete sich, er wurde in einen dunklen Raum gestoßen, blickte in die teilnahmslosen Augen eines erwachenden Omegas.
„Den kannst du haben“, grunzte ein Wächter hinter ihm, bevor er zurückgezogen wurde. „Ist das der, den du suchst? Den will nämlich keiner.“
Wieder erklang Lachen, wieder wurde er vorwärtsgeschoben. Beim Umdrehen suchte er vergeblich nach Rafael. Wie Horst war der verschwunden, ermöglichte ihm offenkundig einen Geschmack dessen zu testen, was seine ‚Angestellten‘ durchlebten.
Als sie das Ende des Ganges erreicht hatten, tobten in seinem Verstand und in seinem Körper widerstreitende Gerüche, warfen ihn in einen Strudel aus Erregung und Widerwillen, aus Ekel und unfreiwilligem Begehren.
Er würgte, doch gelang es ihm den Kopf zu heben, seine Stimme zu senken, und doch die Autorität heraufzubeschwören und in seine Stimme zu legen, die seiner Alpha-Natur entsprach.
„Wo ist er?“, fragte er erneut. „Wo ist Dariel?“
Die Wächter sahen sich an und dann ihn. Er hielt deren Blick und sie lachten. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir uns Namen merken“, säuselte einer. „Oder dass wir uns darum scheren, an wen sie verkauft werden.“
Vernon schloss die Augen. „Ich habe Geld“, flüsterte er. „Nicht mehr bei mir, aber ich bezahle. Für jede Information.“
Er hörte Lachen, doch es klang unecht, gezwungen.
„Selbst wenn wir etwas wüssten, könnten wir es dir nicht sagen“, erwiderte einer von ihnen, doch nur, um von dem neben ihm Stehenden einen Seitenhieb zu erhalten. „Vergiss den Unsinn“, fuhr der dennoch fort. „Die werden verkauft, um zu sterben. Oder schlimmer. Keine Spuren, keine Hinweise, keine Überreste.“
Vernon sah in braune Augen, glaubte einen Anflug von Sympathie, wenn nicht gar Mitgefühl zu erhaschen, bevor ihm ein Schlag in die Nieren den Atem raubte und ihn zu Boden zwang. Er hörte Schritte, Rafaels Stimme, doch er verstand die Worte nicht, während wie auf ein Kommando von Neuem unbarmherzige Schläge und Tritte auf ihn regneten, bis er mit widerstrebender Dankbarkeit das Bewusstsein verlor.
Er wachte auf, als er die Treppen heruntergestoßen wurde, jeder Teil seines Körpers, den er bislang nicht gespürt hatte, nun ebenfalls schmerzte.
Sie zerrten ihn aus dem Gebäude. Er presste die Lider geschlossen gegen das Licht, das ihm grell in die Augen stach, sobald er sich im Freien befand. Als sie ihn losließen, blieb er liegen, lange Zeit unfähig sich zu rühren.
Das Licht verlor bereits an Intensität, als es ihm gelang, sich hoch zu kämpfen. Seine tastenden Hände fanden die Stoßstange des Wagens, in dem er gekommen war. Obwohl eines seiner Augen sich zugeschwollen anfühlte, erkannte er ihn. Die Tür war angelehnt, der Schlüssel steckte und Vernon sollte wohl Dankbarkeit empfinden, doch er fühlte nichts als Verlust, Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Er hatte Dariel gesehen. Es war Dariel gewesen in diesem Raum und Vernon ihm für einen Augenblick nahe. Der Zweifel wich dem Entsetzen über seine eigene Unfähigkeit, sein eigenes Versagen. Die Wut, die er nun suchte, verflog je näher er ihr kam, bis sie nur noch Erschöpfung zurückließ. Vernon zog sich in den Fahrersitz, startete den Motor und lenkte das Gefährt unsicher zurück auf die Fahrbahn. Er konzentrierte sich darauf, bei Bewusstsein zu bleiben, den Schmerz zu ignorieren, die Verzweiflung zu überwinden.
Als er das Motel erreichte, blieb er einen Augenblick im Wagen sitzen und lehnte die Stirn gegen das Lenkrad. Die Schritte bis zur Tür zogen sich. Er hörte nicht, dass die sich öffnete, sah Dominik kaum, der sich mit beiden Händen an den Rahmen klammerte, bevor er aus dem Raum eilte, seinen Arm vorsichtig um ihn legte und ihn stützte, während Vernon blind vor Blut und Tränen in das Zimmer stolperte.
Dominik sagte kein Wort, drückte ihn nur auf eines der beiden Betten und verschwand, um einen Augenblick später zurückzukehren. Vernon saß still, reglos, die Augen geschlossen, seine Gedanken ein Chaos ohne Ausweg, ohne Ziel, ohne Sinn. Er spürte kaum, dass Dominik seine Stirn und sein Gesicht erst abtupfte, dann reinigte. Das Brennen des Desinfektionsmittels bedeutete nichts im Vergleich zu dem Schmerz in seiner Seele. Nicht einmal Dominik darauf hinzuweisen, wie unnötig seine Bemühungen waren, fiel ihm ein. Auch nicht, als der ihm sein Hemd auszog, die Prellungen kühlte, die Wunden verband und ihn wortlos in den Stand zog, um seine Hose zu entfernen. Es war ihm nicht einmal peinlich, in Unterwäsche vor dem Menschen zu stehen, und wieder zu sitzen, die Augen vorsichtig zu öffnen, als der ihm die Socken von den Füßen rollte. Seine Knöchel wirkten geschwollen und Vernon versuchte sich zu erinnern, ob die Wächter Anstalten unternommen hatten, sie zu brechen oder zu quetschen. Doch gab er den Versuch auf, als Dominik mit einem kalten Waschlappen die Schwellung eindämmte.
„Es geht schon“, sagte er, unterbrach als Erster das Schweigen. „Das heilt von selbst.“
Dominik sah zu ihm hoch und lächelte. „Ist schon in Ordnung“, antwortete er, stand auf und setzte sich neben ihn.
Vernon vermisste auf einmal und unerwartet die Fürsorge, die Hände auf seiner Haut und auf seinem Körper. Die Wärme des anderen und die Kälte der lindernden Maßnahmen, die ihn heilten und trösteten. Das Gefühl kam unerwartet und plötzlich, überraschte ihn in seiner Intensität.
Dass Dominik den Arm um seine Schultern legte und ihn zögernd an sich zog, erstaunte ihn. Mehr noch überraschte ihn jedoch seine eigene Reaktion. Intuitiv, ohne Absicht, ohne die Bewegung wirklich wahrzunehmen, sank er gegen Dominik, bis sein Kopf an dessen Schulter lag. Wie von selbst schlangen seine Arme sich um Dominiks Körper und lediglich die Tatsache, dass dessen Hemd sich nach einer Weile feucht anfühlte, wies darauf hin, dass er es mit seinen Tränen durchtränkte. Das Schluchzen kam lautlos und so natürlich, dass es ihn nicht einmal entgeisterte.
Für einen Augenblick fühlte er sich sicher, seltsam, fälschlich und doch gänzlich geborgen. Und das in den Armen eines Menschen, eines Wesens, das ihn nicht schützen konnte, das nicht einmal annähernd seine Stärke besaß. Und das doch die Kraft hatte, ihm den notwendigen Trost zu schenken.
Vernon schob die Einwände von sich, die Vorstellung dessen, was andere Wölfe zu ihm sagen, von ihm denken würden. Sein Körper schmerzte, obwohl er bereits heilte, doch die Schwäche in ihm würde niemals vergehen. Sein Alpha war ein Witz, eine Fassade, mühsam aufrechterhalten und doch eine Lüge, hinter der sich nichts verbarg. Nichts als Leere und Unvermögen. Versagen, Enttäuschung und das Wissen, zu der Hülle des Wolfes geworden zu sein, der er hätte werden sollen.
Seine Tränen versiegten, sein Schluchzen verging und er blieb nur noch der Kern, die Essenz seiner selbst, ohne Lügen oder Vorgaben. Ohne sich dagegen zu wehren, Trost bei Dominik zu suchen und zu finden.
Es schien ihm eine Ewigkeit vergangen zu sein, als er die Umarmung löste, zögernd und langsam. Dunkelheit war längst eingebrochen. Keiner von ihnen hatte sich genug bewegt, um das Licht einzuschalten.
Dominik sprach immer noch nicht und Vernon war dankbar über dessen stumme Akzeptanz, das stillschweigende Verständnis. Er legte die Hände ineinander und betrachtete sie, nun imstande, an nichts zu denken als an die Bewegung seiner Finger, den Schmerz abzublocken, die Trauer zu überwinden.
Erst als Dominik sich zur Seite lehnte, um das Nachtlicht anzuschalten, wurde ihm bewusst, dass der weniger sehen konnte, weniger riechen als er. Er sah ihn an – Dominik wich seinem Blick aus und hob stattdessen eine Ecke des Verbandes an Vernons Seite an. Seine Rippe schmerzte nicht mehr und ohne hinzusehen, wusste Vernon, dass die rote Färbung verblasst war. Trotzdem bewegten sich Dominiks Finger vorsichtig und langsam über seine Haut, ähnlich einer Liebkosung.
Vernon fühlte sein Herz in der Brust. Es trommelte und dann lag Dominiks Hand auf seiner Brust, genau darüber, fühlte die Schläge. Erst jetzt begegnete Dominik, wenn auch zögernd, Vernons Blick.
„Geht es dir besser?“, fragte er, seine Stimme leiser, unsicherer als gewöhnlich und Vernon nickte nur.
„Was, was tust du?“, fragte er anstelle einer Antwort und spürte die Bewegung seines Kehlkopfes, als er trocken schluckte.
Um Dominiks Lippen zuckte es, doch ein Lächeln bildete sich nicht. Er zuckte mit den Schultern. „Ich wollte nur, dass es dir besser geht“, sagte er schließlich und ließ seine Hand zwischen sie beide auf die Matratze sinken.
Ohne nachzudenken bedeckte Vernon die mit seiner eigenen. Er atmete aus und nickte.
„Ich habe ihn verloren, wieder.“
Dominik sah ihn an und Vernon fuhr fort, lauschte auf die Worte, die in seiner Kehle vibrierten. „Wenn er es war, wenn ich nicht vollkommen durchdrehe.“ Er lachte freudlos. „Die Anzeichen sprechen dafür.“
Dominik wich seinem Blick aus, seufzte. „Die haben dich ganz schön zugerichtet.“
„Eine Warnung.“ Vernon atmete aus. „Wieder.“
„Hat es funktioniert?“ Der Blick, der Vernon nun traf, war neugierig, spiegelte ein wenig den Dominik wieder, den er kannte.
Er dachte nach, griff nach dem Wasser, das er bislang nicht angerührt hatte, leerte den Zahnputzbecher in einem Zug. „Vielleicht“, gab er zu. „Ich bin der Sache müde. Ich – bin fast geneigt zu glauben, dass sie alle recht haben. Zudem …“ Er zögerte, räusperte sich. Seine Stimme klang belegt. „Zudem bin ich nicht sicher, was schlimmer wäre. Dass ich Dariel wirklich dort gesehen hätte, in diesem …“ Er verstummte, schloss die Augen, schob das schmutzige Bett, das undeutliche Bild des knienden Omegas darauf zur Seite.
„Und damit zugelassen habe, dass ihm all das zustößt.“ Er räusperte sich wieder. „Oder dass er bereits seit Langem tot und verscharrt in seinem Grab liegt.“