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Die dreiundsiebzigjährige Babette Halmar aus München ist spurlos verschwunden. Sie lebte allein, galt als rüstig und lebensfroh. Nachdem die Polizei ein Foto von ihr in den Zeitungen veröffentlicht hat, meldet sich eine Frau, die behauptet, deren Schwester zu sein. Sie hat die Vermisste seit Kriegsende für tot gehalten, während diese offenbar jahrzehntelang unter einem anderen Namen in der Stadt wohnte. Tabor Südens Fahndung bekommt eine völlig neue Richtung: in eine bewegende Vergangenheit.
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Seitenzahl: 236
Veröffentlichungsjahr: 2025
Friedrich Ani
Das grüne Haar des Todes
Ein Fall für Tabor Süden
Suhrkamp
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Der hier vorliegende Text erschien zunächst 2005 unter dem Titel Süden und das grüne Haar des Todes bei Droemer Knaur, München.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5469.
Neuausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025
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Umschlagfoto: Depositphotos
eISBN 978-3-518-78066-4
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Das grüne Haar des Todes
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Informationen zum Buch
Das grüne Haar des Todes
Ich arbeite auf der Vermisstenstelle der Kripo und kann meinen eigenen Vater nicht finden.
Tabor Süden
Manchmal sprachen wir über nichts anderes als über den Tod.
»Hast du Angst?«, fragte Martin Heuer.
»Ja«, sagte ich. »Wenn ich glücklich bin.«
»Glaubst du an Gott?«
»Das weißt du doch«, sagte ich und winkte der Wirtin, die an einem Tisch saß und mit Gästen über ein in der Zeitung ausgebreitetes Verbrechen diskutierte. »Wenn es mir gut geht, glaube ich an Gott.«
»Sonst nicht?«
Martin zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch in Richtung Tür und rutschte auf dem Barhocker herum. Seine Daunenjacke knisterte. Draußen war es ziemlich warm, aber er hatte den Reißverschluss geschlossen und dachte auch in der Kneipe nicht daran, ihn zu öffnen oder womöglich die Jacke abzulegen. In ihm war etwas erkaltet. Und vielleicht sog er deshalb so gierig den Rauch seiner Salemohne ein, weil er sich einbildete, auf diese Weise gelange ein wenig Wärme in seine Arktis.
Darüber sprachen wir nicht. Schon lange nicht mehr.
»Noch zwei?« Die Wirtin wirkte nicht weniger bebiert als wir.
Martin nickte.
»Unbedingt«, sagte ich.
»Hast du das gelesen?«, sagte die Wirtin, die Hanni hieß, wie sie mir einmal bei einer innigen Abschiedsumarmung nach einem endlosen Abend ins Ohr geflüstert hatte. »Jetzt müssen die den Prozess von vorn anfangen, weil der Zeuge das Mädchen in der Türkei gesehen hat. Gibt’s doch nicht. Glaubst du so was? Da stimmt doch was nicht. Die ist doch tot. Der Bursche, der da vor Gericht steht, der wars. Die ist doch nicht in der Türkei! Wie soll die da hingekommen sein?«
Sie stellte die Gläser vor uns auf den Tresen und zog mit einem Kugelschreiber einen weiteren blauen Strich auf meinem Deckel. Es war Freitagabend und Martin mein Gast.
»Die Polizei hat Mist gebaut«, sagte Hanni. »Die brauchen jetzt ein Alibi.«
»Was für ein Alibi?«, sagte ich.
Obwohl ich relativ regelmäßig im »Augustinerstüberl« an der Tegernseer Landstraße mein Bier trank – ab und zu in Begleitung meines besten Freundes und Kollegen Martin Heuer –, kannte kein Gast meinen Beruf. Wenn ich allein am Tresen stand, redete ich selten mit jemandem, allenfalls mit der Wirtin, die eine Vorliebe für Fragen hatte, die sie sich selber beantwortete.
»Das Mädchen ist tot, die liegt irgendwo verbuddelt unter der Erde, und die Polizei findet die Leiche nicht. Wieso haben die den Sohn von dem Wirt verhaftet? Die haben endlich was gebraucht zum Vorzeigen. Die haben komplett versagt. Haben die nicht die ganze Sonderkommission ausgewechselt wegen Erfolglosigkeit? Das ist von München ausgegangen, von oberster Stelle und jetzt…«
»Möge es nützen!«, sagte Martin und hob sein Glas.
Seit er gelesen hatte, dass dies die Übersetzung von prosit sei, hatte er einen Trinkspruch.
»Möge es nützen!«, sagte ich.
Wir stießen mit den Gläsern an und tranken und wischten uns den Schaum vom Mund.
»Der Bursche sagt nichts«, sagte die Wirtin und sah Fredi an, der wie immer am Rand des Tresens saß, ein fetter Mann mit einem schwarzen dichten Vollbart, der sein breites Gesicht ausufernd erscheinen ließ. Wann immer ich ihm begegnete, trug er einen Blaumann mit der Aufschrift der Brauerei, für die er arbeitete. Und er trank Rotwein – in einer Kneipe wie dem »Augustinerstüberl« eine waghalsige Art des Durstlöschens. Gern kratzte er sich intensiv und ausführlich an den Unterarmen, was ein Geräusch verursachte, dessen nervzerrende Eindringlichkeit den ständig dudelnden Schlagern aus dem Radio in nichts nachstand.
Fredi nickte. Es sah aus, als würde sein Kopf jedes Mal nach unten plumpsen.
»Der sagt nichts«, wiederholte Hanni. »Und wahrscheinlich weiß er nichts. Er ist ja auch noch behindert. Magst noch einen, Fredi?«
Wortlos schob Fredi das leere Glas an den Rand der Theke.
Aus einer bauchigen Flasche mit einem roten Plastikschraubverschluss schenkte Hanni nach.
»Zmwoi«, sagte Fredi zu niemandem direkt, bevor er trank.
Hanni zündete sich eine Zigarette an und setzte sich wieder an den Tisch.
»Ich glaub an Gott«, sagte Martin. Und ich bemerkte, wie seine Hand mit der Zigarette zitterte. »Aber glaubt er auch an mich?«
»Er hat keine andere Wahl«, sagte ich.
»Wieso?«
»Du bist sein Kind.«
»Spinnst jetzt?« Mit einem Zug leerte Martin sein Glas, inhalierte den Rauch und behielt ihn in der Lunge, hustete und wischte sich über die Stirn. In der trüben Beleuchtung der Kneipe verlor sein bleiches, knochiges Gesicht an Trostlosigkeit, und seine wie zu einem Nest geformten Resthaare schimmerten ein wenig und klebten ihm nicht nur schweißig am Kopf.
Dann schwiegen wir.
Unser Schweigen wurde von Ralph McTell gestört, dessen »London-Song« wir schon in unserer Jugend Ohrkrebs fördernd fanden. Zum Glück landete er danach keinen Hit mehr.
Von draußen hörten wir das Prasseln des Regens, der, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, seit drei Tagen anhielt.
»Glaubst du, die Türkei-Sache bringt was?«, sagte Martin, die Hände um das Glas geklammert, als wolle er sich daran wärmen.
Nach der Einschätzung des Staatsanwalts führten die Beobachtungen des Zeugen zu keiner neuen Spur. Zwar behauptete der Mann, die achtjährige Magdalena auf dem Markt einer türkischen Kleinstadt wiedererkannt zu haben, doch die Begegnung lag zwei Monate zurück. In den Befragungen durch die Kollegen der Sonderkommission machte der Ingenieur anscheinend widersprüchliche und ungenaue Aussagen, die das laufende Gerichtsverfahren nicht ins Wanken brachten. Vor einem Jahr war das Mädchen auf dem Heimweg von der Schule spurlos verschwunden, niemand im Dorf hatte etwas bemerkt, und die Kollegen, die vor Ort fahndeten, gerieten zunehmend unter Druck. Die Presse nahm den Leiter der Soko Magdalena ins Visier, und nach acht Monaten wurde er von unserer obersten Dienststelle, dem Innenministerium, abberufen. Seinem Nachfolger gelang wenig später die Festnahme eines Mannes, der auch vorher schon unter Verdacht geraten war, allerdings ohne ausreichende Beweise. Mit einem Mal legte er ein Geständnis ab. Er erklärte, er habe dem Mädchen aufgelauert und es anschließend in einen Wald entführt und missbraucht. Umgebracht habe er Magdalena jedoch nicht, er wisse nicht, wo sie nach der Vergewaltigung hingelaufen sei. Die Widersprüche in seinen Aussagen häuften sich, und im Wald wurden neue Spuren gefunden, worauf der Staatsanwalt Anklage wegen Vergewaltigung und Mordes erhob. Der geistig zurückgebliebene junge Mann hielt an seiner ursprünglichen Aussage immer noch fest. Ob die Indizien für eine Verurteilung reichen würden, war nach wie vor ungewiss.
»Der Zeuge will das Mädchen eine Minute lang gesehen haben«, sagte ich. »Gleichzeitig hat er erklärt, sie sei an der Hand einer Türkin an ihm vorbeigegangen.«
»Eine Minute lang?«, sagte Martin.
Ich schwieg.
Für eine Vermissung wie die der achtjährigen Magdalena nicht zuständig zu sein, versetzte uns in einen Zustand von beinahe ärgerlicher Rastlosigkeit, weil wir uns einbildeten, aus dem Umfeld des Opfers ganz andere Dinge herausschälen zu können als unsere Kollegen, geheime Dinge, nur uns zugängliche Dinge.
Und dabei scheiterten wir oft genug an unseren eigenen Fällen, aus Blindheit, aus Sturheit. Und wir benötigten meist eine lange Zeit, um die entscheidende Tür zu öffnen oder diese in einem lichtlosen Haus überhaupt erst zu entdecken.
Es war ein lindgrün gestrichenes Haus, an dessen Tür wir am nächsten Tag, an dem wir eigentlich dienstfrei hatten, klingelten. Und es sollte fünf Wochen dauern, bis sich jene Tür vor unseren Augen auftat, hinter der uns die wahre Wirklichkeit in Empfang nahm.
Er ging voraus, knipste das Licht an und hielt plötzlich inne.
»Babett?«, sagte er mit leiser, knarzender Stimme und mit nach vorn gebeugtem Oberkörper. Der Schulterteil seines grauen Anoraks war vom Regen durchnässt.
Im Flur hingen an einer schmiedeeisernen Garderobe zwei dunkle Wintermäntel, eine apricotfarbene Strickjacke, verpackt in Reinigungsfolie mit einem gelben Preisschild, und eine ausgebleichte hellblaue Jeansjacke.
»Bist du da, Babett?«
Konstantin Gabelsberger erhielt keine Antwort.
»Ist nur der Regen«, sagte er enttäuscht.
»Wann waren Sie zum letzten Mal hier?«, fragte Martin.
»Das weiß ich genau«, sagte Gabelsberger. »Vor genau einem Monat. Am ersten Samstag im März.«
»Sie treffen sich immer am ersten Samstag im Monat«, sagte ich.
»Immer.« Er stand im Wohnzimmer und betrachtete die Möbel, den Glasschrank mit den fernöstlich anmutenden Tellern und Tassen, den Sechspersonentisch aus rötlichem Holz, die dunkle Couch, die in hellem Holz gehaltenen Regale voller Bücher, Puppen und Zinnfiguren.
Die Wohnung sah aufgeräumt und sauber aus. Auf den ersten Blick war es unmöglich abzuschätzen, wann sich jemand zum letzten Mal in den niedrigen Räumen aufgehalten hatte. Es lagen keine Zeitungen herum, ein paar Illustrierte stapelten sich auf dem runden Glastisch neben der Couch. Auf dem schmalen Bett im Schlafzimmer lag ordentlich ausgebreitet eine rosafarbene Seidendecke, und über einem Sessel im gleichen Farbton hing ein schwarzes Kleid. Im Bad glänzten die Chromteile, das Regal über dem Waschbecken und ein weiß bemaltes Schränkchen mit fünf Ablageflächen waren voller Cremedöschen, Flakons, Tablettenschachteln, kleinen Spiegeln und Bürsten, Seifenschälchen und Waschutensilien. Es schien nichts zu fehlen, nichts deutete auf eine längere Abwesenheit der Bewohnerin hin.
»Es ist alles so, wie Sie es kennen«, sagte ich.
»Mir fällt nichts auf«, sagte Gabelsberger, der zunehmend fassungsloser wirkte.
Gestern, während Martin und ich einen Ausweg aus dem »Augustinerstüberl« gesucht hatten, benutzte Konstantin Gabelsberger seinen Schlüssel für das Haus Am Englischen Garten 1 im Münchner Vorort Ismaning. Zuvor hatte er mehrmals geklingelt und geklopft und durch die Fenster gespäht, deren grüne Läden nicht geschlossen waren. Als er im Innern niemanden vorfand, begann er, sich zu sorgen. Eine Stunde später verständigte er unsere Kollegen auf dem örtlichen Revier. Wie sich herausstellte, verreiste die dreiundsiebzigjährige Babette Halmar mehrmals im Jahr spontan, entweder an die Nordsee, wo sie stundenlang am Watt spazieren ging, oder nach Thüringen, wo sie immer dieselben Altstädte besuchte, speziell in Erfurt und Weimar. Und meist sagte sie vorher niemandem Bescheid. Nicht einmal ihrem engsten Vertrauten, dem ehemaligen Hausmeister Gabelsberger, der nicht weit von dem grünen Haus entfernt in einem achtstöckigen Mietshaus wohnte, dessen Fassade merkwürdigerweise in einem ähnlichen Rosa gehalten war wie jenes, das wir in den Zimmern der alten Dame vorfanden.
Unsere Kollegen hatten Gabelsberger erklärt, für eine Vermisstenanzeige sei es zu früh, und er solle am nächsten Morgen erst einmal in aller Ruhe in den Pensionen anrufen, in denen Babette Halmar gewöhnlich übernachtete. Was hätten die Kollegen tun sollen? Es gab keine Anhaltspunkte für eine Straftat oder einen Unglücksfall. Nur die Frage, ob die Frau Suizidabsichten habe, versetzte Gabelsberger, wie mir die Kollegen mitteilten, in Unruhe. Sie hatten den Eindruck, als habe er, vielleicht sogar aufgrund von Andeutungen der Frau, an diese Möglichkeit schon gedacht, das Thema aber verdrängt.
Doch er blieb bei seiner Behauptung, für einen Selbstmord sei Frau Halmar viel zu lebensfroh, zudem besitze sie eine stabile Gesundheit und habe – und das wollten ihm meine Kollegen nicht recht glauben – niemals irgendeine Bemerkung in dieser Richtung fallen lassen.
In derselben Nacht wählte Gabelsberger sämtliche Telefonnummern außerhalb Ismanings, die ihm Babette Halmar je gegeben hatte, und jeder Ansprechpartner versicherte ihm – wie er uns heute Vormittag erklärte –, dass Frau Halmar weder zu Gast sei noch ihr Kommen angekündigt habe.
Am Samstagmorgen um acht Uhr, nach einer schlaflosen Nacht, in der er nochmals zum Haus gegangen war, ohne es allerdings zu betreten, rief er im Dezernat 11 in der Münchner Bayerstraße an und ließ sich mit meiner Dienststelle verbinden, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Da wegen zwei aktueller, aufwändiger Vermissungen, in die mehrere Kinder und ein rumänisches Ehepaar verwickelt waren, sämtliche Kollegen seit sieben Uhr unterwegs waren, rief mich mein Vorgesetzter Volker Thon zu Hause an, und ich informierte daraufhin Martin Heuer. Als wir ins Büro kamen, wartete Konstantin Gabelsberger schon auf uns.
»Und Sie haben sie seit einem Monat nicht gesehen«, sagte ich.
Gabelsberger schüttelte den Kopf, den er nur noch gesenkt hielt.
Wir standen zu dritt in der Küche, in der es nach abgestandener Luft roch. Ich öffnete den Kühlschrank. Darin befanden sich verschiedenfarbige Tupperware-Behälter, Schinken und Wurstaufschnitt, der nicht mehr frisch aussah, zwei Flaschen Mineralwasser, eine noch verkorkte Flasche Sekt und eine ungeöffnete Milchtüte, deren Verfallsdatum abgelaufen war.
»Sie hat nie viel im Haus«, sagte Gabelsberger.
»Frau Halmar hat keine Verwandten«, sagte ich.
»Nein.«
»Und Sie sind ihr bester Freund.«
Er nickte wieder mit gesenktem Kopf.
»Wie alt sind Sie, Herr Gabelsberger?«
»Neunundsechzig.«
»Wo und wann haben Sie Frau Halmar kennengelernt?«
Er hob den Kopf und blinzelte. Er versuchte, seine Tränen zu verstecken. Seine Wangen waren gerötet, er atmete schwer, was vielleicht an seinem Übergewicht lag. Gabelsberger war ein gedrungener Mann mit kleinen blauen Augen und schmalen Brauen. Seine ganze Erscheinung glich seinem Anorak: unauffällig und grau. Wenn man ihm auf der Straße hinterhersah, schien er sich schon nach wenigen Metern in der Farbe des Asphalts aufzulösen.
Ich mochte ihn vom ersten Moment unserer Begegnung an. Er gehörte zu den Menschen, wegen denen ich möglicherweise – allen Rückschlägen, Niederlagen, Todesfällen und sinnlosen Bemühungen zum Trotz – weiterhin Polizist geblieben war, in diversen Abteilungen und schließlich zwölf Jahre in der Vermisstenstelle, wo mich manche Kollegen einen »Schicksalsversteher« nannten. Dabei habe ich bis heute kaum etwas weniger verstanden und nachempfinden können als das Schicksal, in dessen Gehege ich mir manchmal vorkam wie die Hauptfigur in der Fiktion eines drogensüchtigen Tyrannen.
Wenn mir in den Jahren, die ich als Hauptkommissar im Dezernat 11 verbracht habe, etwas klar geworden ist, dann, warum manche Menschen einen Schatten werfen und andere von Schatten verfolgt werden.
Während jene einfach ihr Leben führen, ganz gleich, wie störrisch und bösartig es ihnen begegnet, und den Weg gehen, den sie ihren Schritten zumuten, bis zum Ende, nicht ständig im Überschwang, doch immer mit geraden Schultern und vorzeigbarem Gesicht, verharren die anderen seit ihrer frühen Zeit in gebückter Haltung, verwirrt vom Trubel der Geräusche und Stimmen um sie herum und vom Geröll ihrer Gedanken, von dem sie innerlich verschüttet werden. Ihnen bleibt nichts, als sich mitschleifen zu lassen, manche halten durch bis zum Ende, und manche wundern sich nur noch über ihre Erdbeständigkeit.
»Würd es Ihnen was ausmachen, wenn wir rausgehen?«, sagte Konstantin Gabelsberger. »Hier drin ist es so leer, finden Sie nicht?«
»Ja«, sagte ich.
Er schaute mich verwundert an.
Vor dem Haus setzte sich Gabelsberger auf die weiße Bank unter dem Fenster, das zur Straße ging. Ein Palisadenzaun grenzte das Grundstück vom Bürgersteig ab.
Jeder von uns dreien hielt einen aufgespannten Schirm, Martin einen gelben, Gabelsberger einen weißen und ich einen orangefarbenen. Wir bildeten ein narzissenbuntes Trio angesichts des Regengraus.
»Bitte«, sagte Gabelsberger, wischte die Sitzfläche ab und drückte sich an die Seitenlehne der Bank, damit noch Platz für Martin und mich blieb.
Ich sagte: »Ich stehe lieber.«
Martin setzte sich und hielt seinen Schirm schräg. »Wem gehört die Jeansjacke an der Garderobe?«, fragte er.
»Verona. Vermut ich.«
»Wer ist das?«
»Ein junges Mädchen, das manchmal für Babette Besorgungen macht.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«, fragte Martin.
Gabelsberger schüttelte den Kopf und senkte ihn wieder.
Martin stand auf. »Ich geh zu den Nachbarn, mit denen haben Sie ja auch noch nicht gesprochen.«
Das hatte uns Gabelsberger im Dezernat erzählt, bevor wir ihn davon überzeugen konnten, dass wir keine Fahndung einleiteten, ohne vorher Informationen aus dem Bekanntenkreis der Verschwundenen einzuholen. Die Begründung, wieso er sich nicht bei den Nachbarn, die auf demselben Grundstück wohnten, nach Babette Halmar erkundigt hatte, klang fast wörtlich so wie die im Zusammenhang mit Verona.
»Die mag mich nicht, und ich mag sie, ehrlich gesagt, auch nicht besonders.«
»Aber Frau Halmar mag das Mädchen«, sagte ich.
Den Schirmstiel zwischen Schulter und Wange geklemmt, öffnete Martin einen der Fensterläden an einem zweiten grünen Gebäude, das wie ein Schuppen wirkte und ein paar Meter entfernt im rechten Winkel zum Haus stand.
Ich sagte: »Ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Aber erschrecken Sie bitte nicht.«
»Das kann ich nicht versprechen«, sagte Gabelsberger und stützte eine Hand aufs Knie, während er mit der anderen unbeweglich den Schirm festhielt.
»Frau Halmar hat bestimmt ein Testament gemacht«, sagte ich.
Gabelsberger starrte vor sich hin. Ich sah, wie Martin den Fensterladen schloss, sich in meine Richtung drehte und den Kopf schüttelte. Dann ging er zu dem neu gebauten weißen Haus mit den großen Fenstern im hinteren Teil des Grundstücks.
»War das Ihre Frage?« Gabelsberger hob den Kopf und blinzelte wieder, diesmal wegen des Regens, der ihm ins Gesicht wehte.
»Ja«, sagte ich.
Wir schwiegen. Nach einer Weile sagte der graue Mann mit leiser Stimme: »Wenn sie eins gemacht hat, dann hat sie mich darin nicht bedacht, das weiß ich.«
»Woher wissen Sie das, Herr Gabelsberger?«
»Babette war nie verheiratet«, sagte er und kniff die Augen zusammen und öffnete sie erst, als er aufhörte zu sprechen. »Wir kennen uns seit fünfzehn Jahren, und ich hab ihr zweimal einen Antrag gemacht. Sie hat abgelehnt. Ich hab sie gefragt, ob es einen anderen gibt in ihrem Leben. Sie hat nicht Nein gesagt. Auch nicht Ja. Ich weiß aber, dass es da einen Mann gab, der ihr viel bedeutet haben muss. Sie hat ihn mal erwähnt, ich wollt sie ausfragen, aber das klappte nicht. Sie ist die personifizierte Verschwiegenheit. Wenn Sie die verhören, dann beißen Sie auf Titan.«
Er machte eine Pause, ohne sich zu bewegen. Ich stand schräg vor ihm, und er schaute aus den Schlitzen seiner Augen an mir vorbei zur Straße.
»Ich glaub, er hat ihr nach dem Krieg geholfen. Ja, das weiß ich, so viel hat sie zugegeben. In der schlimmen Zeit. Hab ich Ihnen erzählt, wie wir uns kennengelernt haben?«
»Ja«, sagte ich. »Im Dezernat.«
»Entschuldigung.«
Er schwieg. Der Regen prasselte auf unsere Schirme. Trotzdem war es nicht kalt, fast mild.
»Im Krankenhaus hab ich ihr übrigens zum ersten Mal vorgelesen«, sagte Gabelsberger. »So fings an. Jetzt fällts mir wieder ein. Noch am selben Abend. Ich bin ja nicht weggegangen, ich hab gewartet. Hätt ja ein Herzinfarkt sein können. Hinterher hat der Arzt zu mir gesagt, das sei gut gewesen, dass ich nicht lang gezögert, sondern sie sofort in meinen Kombi verfrachtet und in die Klinik gebracht hab. Jetzt fällts mir wieder ein: Das Buch hat mir eine Schwester geliehen. Weil die Babette doch was vorgelesen bekommen wollt. Kaum war sie wieder einigermaßen wach, wollt sie, dass ihr jemand was vorliest. Sie liest so gern. Ich weiß nicht mehr, worum’s ging in dem Buch von der Schwester. Sie ist dann bald eingeschlafen, die Babett.«
Für einige Sekunden schloss er die Augen. Dann öffnete er sie und sah zu mir hoch.
»Wollen Sie nach dem Testament suchen?«
»Nein«, sagte ich. »Vielleicht kommt Frau Halmar noch heute zurück.«
Gabelsberger nickte lange und ließ sich vom gleichgültigen Regen ins Gesicht schlagen.
»Besitzen Sie ein Foto von Babette Halmar?«, sagte ich.
Und als habe er bereits auf die Frage gewartet, griff er hastig in die Innentasche seines Anoraks.
»Das ist das einzige«, sagte er und hielt die Hand schräg über das Foto, das kaum größer als ein Passfoto war. »Sie lässt sich nicht knipsen, immer schon. Das hier ist mindestens zwanzig Jahre alt, schwarzweiß, sie wollt es wegschmeißen, das war, kurz nachdem ich sie kennengelernt hab. Ich konnt’s ihr abluchsen. Eigentlich hat sie sich wenig verändert seither.«
Ich sah ein unscheinbares Gesicht, große dunkle Augen, eine etwas flache Nase, helle, halblange Haare, ein eigenartiges, wie verstecktes Lächeln um die geschlossenen Lippen. Die Aufnahme wirkte verwaschen und verwackelt, das Papier hatte Risse.
Ich sagte: »Ist das ein Grübchen oder eine Narbe am Kinn?«
Ohne hinzusehen, sagte Gabelsberger: »Sie haben gute Augen. Das ist eine Narbe. Woher sie die hat, weiß ich nicht. Ich hab sie gefragt, sie hat gesagt, sie hätt’s vergessen. Verlieren Sie mein Andenken bitte nicht.«
Nachdem wir Konstantin Gabelsberger zum Mietshaus an der Lindenstraße gebracht hatten, wo er wohnte und früher als Hausmeister tätig gewesen war, kehrten Martin Heuer und ich in einem Café ein, um zumindest unsere Jacken vorübergehend zu trocknen. Es war ein neues, in roten und braunen Tönen gehaltenes Café mit Kerzen auf den Tischen. Wir setzten uns an einen mit grünen Kacheln gefliesten runden Tisch im orientalisch anmutenden Nebenraum, der eher wie ein Laden für Kunden mit speziellen Einrichtungswünschen wirkte als wie ein Lokal. Und tatsächlich mussten wir unsere Getränke an der Theke selbst holen, da, wie uns die Bedienung erklärte, die Schanklizenz nur für den Eingangsbereich galt. Zum Kaffee bestellte ich ein Tramezzino mit Rucola und Martin zum Bier ein Panino mit Schinken. Unser gleichgültiger Blick auf die Teller in der Vitrine hatte sich sekundenschnell in einen Befehl an unsere Mägen verwandelt, die sofort, fast synchron, ein Geräusch von sich gaben.
»Frisch und lecker«, sagte lächelnd die junge Bedienung.
»Unbedingt«, sagte ich.
Eine Weile hörten wir in unseren Korbsesseln dem Getrommel des Regens auf dem Parkplatz zu und aßen. Ich sog den Duft des starken Kaffees ein, während Martin sein Glas leer trank und sich ein zweites holte. Ich sprach ihn nicht darauf an. Es war kurz vor zwölf Uhr mittags, und wir waren im Dienst. Ich sprach ihn schon länger nicht mehr darauf an. Was unsere Kollegin Sonja Feyerabend, die meine Freundin war, unverantwortlich und feige fand.
Aber die Beziehung zwischen Martin und mir ließ sich so wenig durch Ratschläge von außen beeinflussen, wie mein Freund, mit dem ich meine Kindheit und Jugend geteilt und der mich zur Polizei gebracht hatte, auf meine Bitten und Beschwörungen reagierte. Solange er seine Arbeit bewältigte, hielt ich mich mit Vorwürfen zurück. Und wenn wegen seines Trinkens oder seiner nächtlichen Aushäusigkeit Probleme entstanden, versuchte ich sie an seiner Stelle zu beseitigen. Darüber redeten wir nicht.
Ich verschwieg ihm meine Angst, die sein Anblick manchmal in mir auslöste, sein aschiges, erloschenes Gesicht, seine zersplitterte Stimme, sein ausgezehrter Körper, die Aura unerreichbarer Abwesenheit, die ihn umgab und die ihm bewusst und egal war. Statt ihn anzuschreien, schrie ich allein in meinem Zimmer. Statt ihn in den Arm zu nehmen, trommelte ich auf meinen Bongos. Und ich wusste, alles andere hätte ihn nur noch weiter fortgetrieben.
Ich weiß es bis heute. Und im gleichen Maß bilde ich mir bis heute ein, ich hätte seinen Tod verhindern können, zumindest die Art seines Todes, wenigstens das.
»Ich war gestern noch bei Lilo«, sagte Martin und schüttelte die Hand mit dem brennenden Streichholz. »Die Geschäfte laufen nicht gut zurzeit.« Er inhalierte den Rauch vollständig und zupfte Tabakkrümel von der Unterlippe.
Ich sagte: »Warum eine Reisetasche und nicht wie üblich den Koffer?«
Von den Nachbarn im Neubau auf dem Grundstück hatte Martin erfahren, dass Babette Halmar bei ihren Reisen einen beigen handlichen Koffer mit ausziehbarem Griff und zwei kleinen Rädern benutze und nur bei größeren Einkäufen ihre grüne Reisetasche. Nach mehrmaligem Nachfragen gelang Martin die ungefähre Festlegung des Zeitpunkts, an dem die alte Frau – offensichtlich, um zu verreisen – ihre Wohnung verlassen hatte.
»Seit etwa drei Wochen haben sie sie nicht mehr gesehen«, sagte ich.
»Sie behaupten, sie wären fest davon ausgegangen, dass sie an diesem Wochenende zurückkommt«, sagte Martin und schlug eine Seite seines Notizblocks um.
»Warum?«
»Angeblich bleibt sie nie länger als drei Wochen weg.«
»Sie ist aber nicht verreist«, sagte ich. »Nichts in ihrer Wohnung deutete darauf hin. Sogar ihr Knirps hängt an der Garderobe.«
»Sie kann ihn vergessen haben«, sagte Martin.
»Nein.«
Nach einiger Zeit, während der ein junges Paar hereinkam und sich auf die lange Holzbank in der Mitte des Raumes setzte, sagte Martin: »Ja. Und sie hätte ihre Lebensmittel aufgegessen oder mitgenommen und die alte Milch weggeschüttet.«
Davon war auch ich überzeugt. Genauso wie davon, dass eine Zeitspanne von drei Wochen im Fall einer abgängigen dreiundsiebzigjährigen Frau etwas nicht bedeutete: Anlass zur Beruhigung.
Von den rund eintausendfünfhundert Vermissungen, die wir durchschnittlich jedes Jahr zu bearbeiten hatten, entfiel bei den Erwachsenen die Mehrzahl auf Fälle von Selbstmord oder Klinikentweichungen. Da wir bei Babette Halmar bisher keine Hinweise auf verwirrtes Verhalten oder sonstige Auffälligkeiten hatten, mussten wir aller Erfahrung nach von einer Straftat oder einem tödlichen Unfall ausgehen. Glückliche Wendungen wie jene in der Akte des zweiundsiebzigjährigen Gabriel Sebald gehörten zu den absoluten Ausnahmen: Der Rentner war an einem Wochenende im März von seiner Frau als vermisst gemeldet worden, weil er mehrere Stunden nicht nach Hause gekommen war und sie ihn an all den Orten, die er trotz seiner schweren Magen- und Herzkrankheit aufsuchen konnte, nicht angetroffen hatte. Ihren Vermutungen zufolge, die von den Aussagen des Hausarztes, den Sonja und ich befragten, eher untermauert als entkräftet wurden, lag der Mann nach einem Herz- oder Schlaganfall irgendwo hilflos im Freien. Obwohl Maria Sebald die Lieblingsplätze ihres Mannes – an der Isar nahe der Museumsbrücke, rund um den St.-Anna-Platz – bereits abgeklappert hatte, verbrachten wir in der Nacht zum Sonntag mehrere Stunden dort und klingelten an Häusern. Niemand hatte den gebückt gehenden weißhaarigen Mann mit dem Krückstock gesehen. Am nächsten Morgen wollten wir gemeinsam mit fünf Kollegen dieselben Strecken noch einmal kontrollieren, als Maria Sebald im Dezernat anrief und mitteilte, ihr Mann sei soeben aufgetaucht. Allem Anschein nach gehe es ihm nicht schlechter als vorher, die Nacht habe er auf einem Sofa in einer Garage verbracht. Warum er das getan habe, könne er nicht sagen. In meiner Gegenwart schlief er dann ein, und ich fand, er machte einen völlig erschöpften und zugleich eigenartig gelösten Eindruck. Wir schickten einen Widerruf ans Landeskriminalamt, wo mein Kollege Wieland Korn die Daten sämtlicher Vermisster in Bayern koordinierte, und schlossen die Akte. Noch bevor unsere Recherchen in Ismaning begannen, hatte ich sie vergessen.
Anscheinend motivierte sie unser Besuch dazu, ihre Fingerfertigkeit zu vervollkommnen. Während Martin ihr gegenüber saß und Fragen stellte, tippte sie mit ungeheurer Geschwindigkeit weiter und hielt den Blick immer nur für Sekunden gesenkt, als wolle sie auf keinen Fall unhöflich erscheinen. Um den Kopf hatte sie ein blaues Frotteehandtuch gewickelt, mit gekreuzten Beinen hockte sie auf dem weißen Sofa, und wenn sie nachdachte, schürzte sie die Lippen wie ein kleines Kind. Verona Nickel war fünfzehn und schlank, eigentlich dünn. Sie trug hellblaue Röhrenjeans und darüber ein pinkfarbenes T-Shirt, auf dem in schwarzen Buchstaben »PINK« stand. Sie war barfuß und hatte ihre Zehennägel im selben Hellrot lackiert wie ihre Fingernägel, die auf den Tasten ihres Handys ein unaufhörliches Klacken veranstalteten, das in meinen Ohren dem gleichmäßigen Prasseln des Regens wie ein Echo hinterherhinkte.
Ich stand beim Fenster, die Hände hinter dem Rücken, bemüht, meine Ungeduld zu zügeln. Was Verona auf die Fragen von Martin Heuer antwortete, empfand ich teilweise als belanglos, teilweise als kindische Spielerei, die sie vermutlich nicht einmal bemerkte.
»Ich hab nur eingekauft für sie«, sagte das Mädchen. »Hintergründe kenn ich nicht.« Sie tippte in ihr Handy, sah kurz auf, als lese sie von Martins Lippen ab und übermittele die Botschaft sofort an ihre Freundin. Einen männlichen Empfänger schloss ich aus.
»Hintergründe kennst du nicht«, wiederholte Martin. Er saß auf einem blau lackierten Holzstuhl, den er vom Tisch weggerückt hatte, und hielt einen DIN-A4-Block auf den Knien.
»Sie ist öfter mal untergetaucht«, sagte Verona und unterbrach ihre sphärische Korrespondenz, bis Martin wieder das Wort ergriff.
»Davon wissen wir nichts. Was bedeutet: untergetaucht? Musste sie in den Untergrund gehen?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Verona allen Ernstes und warf mir einen schnellen Blick zu, bevor sie Martins Frage fingerflink weiterleitete.
»Wurde sie verfolgt?« Martin verzog keine Miene, sein Blick ruhte wie die Tatze eines schlafenden Grizzlys auf der Schülerin.
»Das kann ich nicht sagen.«
»Du hältst es aber für möglich.«