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Es ist Weihnachtszeit, aus dem Sankt-Zeno-Haus des Kinderschutzbundes verschwindet der zehnjährige Adrian. Die Polizei möchte man zunächst nicht einschalten, denn dann müsste Adrian womöglich in eine geschlossene Einrichtung. Die Erzieherinnen wenden sich an den Privatdetektiv Tabor Süden. Dieser macht sich mit Adrians einziger Freundin Fanny quer durch München auf die Suche nach dem Vermissten. Er ahnt die ganze Zeit, dass Fanny mehr über den Aufenthaltsort von Adrian weiß. Doch die will nichts verraten und bringt sich so selbst in Gefahr.
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Seitenzahl: 187
Veröffentlichungsjahr: 2025
Friedrich Ani
Die Schlüsselkinder
Ein Fall für Tabor Süden
Suhrkamp
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Der hier vorliegende Text erschien zunächst 2011 unter dem Titel Süden und die Schlüsselkinder bei Droemer Knaur, München.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5471.
Neuausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025
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Umschlagfoto: Depositphotos
eISBN 978-3-518-78069-5
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Die Schlüsselkinder
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Informationen zum Buch
Die Schlüsselkinder
»Warum wollte er verschwinden?« »Damit jemand nach ihm sucht, glaub ich.«
Der Tag, an dem sein Vater ihn im Zeno-Haus abgab, war heute.
Der Tag war immer heute. Der 18. November war jeden Tag, seit ungefähr einem Monat. Und wenn es schneite, so wie heute, dann erst recht.
Welcher Tag genau heute war, wusste Adrian nicht, interessierte ihn auch nicht. Für ihn fing jede Nacht gegen elf der 18. November an. So war das. Karla, die Erzieherin, meinte, das wäre nicht schlimm, wichtig sei, dass er sich aufgehoben fühle und keine Angst mehr vor der Dunkelheit habe. Das stimmte. Er hatte keine Angst mehr, jedenfalls solange im Flur ein Licht brannte, das er durchs Schlüsselloch sehen konnte. Von seinem Bett aus hatte er die Tür gut im Blick, und wenn er einschlief, war das Licht immer noch da.
Wegen Adrian und der Sache mit der Dunkelheit lag Nepomuk seit einem Monat andersherum im Bett und schaute zum Fenster. Falls er überhaupt wo hinschaute. Nepomuk schlief schneller ein als der Opa Arnulf, von dem Adrian erzählte und den der immer in seiner Schreinerei in der Sedanstraße besucht hatte. Opa Arnulf brauchte sich bloß in seinen alten roten Sessel zu setzen, schon fing er an zu schnarchen. Manchmal saß Adrian dann noch auf seinem Schoß.
Wenn Adrian an seinen Opa und dessen brummige Stimme dachte, wurde er so traurig, dass er glaubte, die Tränen liefen ihm aus den Ohren. Dagegen konnte er nichts tun, außer sich die Ohren zuzuhalten und die Augen zuzukneifen. So wie jetzt.
Dabei hatte er jetzt keine Zeit, an seinen toten Opa zu denken. Er war auf der Flucht und musste aufpassen, dass niemand ihn erwischte. Karla, die Nachtdienst hatte, war in der Küche gewesen, als er mit leisen Schritten verschwand, in seinem roten Anorak, die blaue Mütze tief in die Stirn gezogen. Sein Plan funktionierte.
Das einzig Blöde war, dass er Gängsta, seinen Elch, in der Aufregung vergessen hatte. Das hatte er nicht geplant.
Als die sechsundvierzigjährige Erzieherin Karla Tegel ins Zimmer kam, um die beiden Jungen zu wecken, war Adrian schon unsichtbar für alle.
Heute, dachte er, und den Gedanken hatte er schon die ganzen letzten Tage heimlich gehabt, würde für ihn zum letzten Mal der 18. November sein.
Und weil er Fanny etwas versprochen hatte, zog er das silberne Handy aus der Anoraktasche, tippte ihre Nummer und schrieb: liebe fanny, ich fahr jetz mit der strasenbahn zum opa anulf. serwus.
»Von welchem Handy hat er das geschrieben?«, fragte Karla Tegel die elfjährige Fanny.
»Weiß nicht.«
»Und wann hast du die Nachricht bekommen?«
»Vorher.«
»Wann vorher?« Karla dachte hundert Dinge gleichzeitig, während sie mit dem Mädchen die Treppe ins Erdgeschoss hinunterging, wo an einer Tafel die wichtigen Telefonnummern hingen.
»Vor einer halben Stunde, ungefähr.«
»Und warum sagst du mir erst jetzt Bescheid?«
»War auf dem Klo. Hab doch das Handy bloß eingeschaltet, damit vielleicht die Mama anruft.«
»Zeig mal her.« Die Erzieherin nahm Fanny das Gerät aus der Hand und las die Detailangaben: Empfangen: 7:13:43, Heute. Darüber stand der Name des Handybesitzers: Karla Tegel.
Sofort tippte sie ihre Nummer, aber es sprang nur die Mailbox an. Zehn Minuten später versuchte sie es erneut, wieder ohne Erfolg. Diesmal hinterließ sie eine Nachricht. Er möge sich melden, alle im Haus würden sich große Sorgen machen. Noch während sie redete, wusste sie, er würde nicht zurückrufen.
Sie saßen im Gute-Wünsche-Raum im Halbkreis, die Hände im Schoß gefaltet, eine Weile schweigend und ohne einander anzusehen.
Für die Leiterin des Sankt-Zeno-Hauses, die einundfünfzigjährige Familientherapeutin Ines Hermann, zählte das Verschwinden eines Kindes zunächst nicht zu den schlimmsten Zwischenfällen, die sie sich vorstellen konnte oder bereits erlebt hatte. Väter oder Mütter, die ins Haus einzudringen und ihr Kind zu entführen versuchten, oder Kinder, die in die Küche stürzten und mit gezückten Messern wieder herauskamen, gehörten zu jenen Erfahrungen, die keine der Mitarbeiterinnen ein zweites Mal machen wollte. Dass ein Kind aus lauter Heimweh weglief, war in den siebzehn Jahren, seit das Haus existierte, schon ein paarmal vorgekommen, und immer endete der Ausbruch mit einem halbwegs versöhnlichen Ende. Das bedeutete, das Kind kehrte in die Gruppe zurück und akzeptierte die – vorübergehende – Trennung von den Eltern, wenn auch mit einer Narbe im Herzen.
Das Verschwinden des zehnjährigen Adrian verwirrte die erfahrene Therapeutin. Zum einen hatte sie dem eher phlegmatischen, in sich gekehrten Jungen einen solchen Schritt nicht zugetraut. Zum anderen hatte er in den vergangenen Tagen von nichts anderem gesprochen als von seiner Vorfreude auf Weihnachten und davon, wie schön es für ihn sei, dass auch seine besten Freunde Nepomuk und Bastian nicht nach Hause gehen mussten, sondern im Zeno-Haus bleiben durften.
Adrian nannte es »nach Hause gehen MÜSSEN«, weil für ihn der Heilige Abend, wie Ines Hermann mühsam herausgefunden hatte, so etwas wie eine Strafe war. Nepomuk und Bastian dagegen würden sofort aufspringen und losrennen, wären ihre Eltern in der Lage, auch nur einen Schritt auf sie zuzugehen und ihre rabiaten Egoismen und gegenseitigen Verachtungsmechanismen wenigstens für zwei Tage zu überwinden.
Ines Hermann hätte dem Tänzeln der Schneeflocken vor dem Fenster weiter zugesehen, wenn Fanny die Stille nicht unterbrochen hätte.
»Der Adrian kommt vielleicht schon wieder.«
Fanny, dachte die Erzieherin Karla oft, lebte in einer Welt, in der nichts sicher war, vieles schien möglich zu sein – zum Beispiel, dass ihre Mutter anrief –, aber dann auch wieder nicht. Deswegen tauchte in jedem zweiten Satz von ihr ein »vielleicht« auf, für Fanny wahrscheinlich das logischste Wort der Welt.
»Was hat er dir erzählt?«, fragte Ines Hermann, die links neben dem Mädchen saß. Fanny sah sie nicht an, sie spielte mit ihrem rosafarbenen Handy und drückte es an sich wie ein Baby. »Wieso hast du ihn nicht daran gehindert wegzulaufen?«
»Adrian ist nicht weggelaufen, er ist gegangen …«
»Zu seinem Opa.« Karla Tegel saß dem Mädchen schräg gegenüber, links neben ihr der neunjährige Nepomuk und neben ihm die Erzieherin Yasmin Ebert.
»Ja, schon.«
»Und?«
»Sein Opa ist doch schon tot, hast du das vergessen, oder was?«
»Ich habe es nicht vergessen«, sagte Karla Tegel mit ruhiger Stimme. Sie warf einen Blick zur gelben Couch unter dem Fenster, auf der der achtjährige Bastian und die neunjährige Clarissa saßen, regungslos, mit zusammengepressten Lippen und blassen Gesichtern. Bastian umklammerte seinen grauen Stoffelefanten, Clarissa zupfte ununterbrochen am Dirndl ihrer blond gelockten Puppe.
»Ich wiederhole noch einmal«, sagte Ines Hermann zu Fanny. »Du hast nicht mit eigenen Augen gesehen, wie Adrian das Haus verlassen hat. Und du, Nepomuk, hast auch nichts bemerkt.«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Du hast halt einen Mordsschlaf«, sagte Yasmin Ebert.
Nepomuk schüttelte weiter den Kopf, hielt inne und nickte mehrere Male. Yasmin anzuschauen, traute er sich nicht. Die großen kohleschwarzen Augen der Achtunddreißigjährigen strahlten eine Eindringlichkeit aus, die manchen Kindern Furcht einflößte, zumindest bei den ersten Begegnungen. Zudem war Yasmin Ebert eine für ihren Beruf ungewöhnlich wortkarge Frau, was Nepomuk manchmal derart verstörte, dass er zu stottern anfing. Er dachte, er müsse augenblicklich so viel wie möglich erzählen und Dinge zugeben, die er nicht getan hatte.
Über die Erzieherin hatte er schon öfter mit Adrian gesprochen, abends im Zimmer, wenn niemand mehr hereinkam. Wie Verschwörer kauerten sie dann vor Adrians Bett auf dem bunten Teppich, zogen die Bettdecke über die Köpfe und tuschelten und rätselten über Yasmins garantiert finstere Vergangenheit. Wenn sie schließlich ins Bett krochen und jeder seine eigene Bettdecke über den Kopf zog, erschien ihnen Yasmin noch unheimlicher als zuvor.
Erst gestern Abend hatten sie wieder flüsternd nebeneinandergehockt und keine Erklärung gefunden, wieso Yasmin an diesem Tag so wenig geredet und so brutal viel geschaut hatte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir glauben kann.« Das Gesicht von Ines Hermann zeigte eine Strenge, die jeder im Raum kannte und die Kinder schlagartig verstummen ließ. Auf diese Wirkung war die Therapeutin jedes Mal ein wenig stolz.
Sie sah Fanny so lange an, bis das Mädchen den Kopf hob. »Was hat Adrian dir anvertraut?«
»Er hat gesagt, er geht weg.« Fanny bemerkte, dass Nepomuk sie anstarrte, aber sie ließ sich nichts anmerken. Dass sie offensichtlich mehr wusste, als sie zugeben wollte, blieb den Erzieherinnen nicht verborgen, andererseits hofften sie gerade deshalb darauf, dass Adrian nicht einfach ausgerissen war, sondern ein bestimmtes Ziel verfolgte und danach wohlbehalten zurückkehren würde.
Fanny zögerte einen Moment, dann stand sie auf, stemmte die Hände in die Hüften und blickte wie eine mahnende Lehrerin in die Runde. »Ihr sollt ihn in Ruhe lassen. Das hat er zu mir gesagt, genau das. Und sonst gar nichts. Und jetzt geh ich zu den anderen, die verstehen, was ich mein.«
»Du bleibst bitte hier«, sagte Ines Hermann. »Setz dich wieder. Wenn du uns nicht die Wahrheit sagst, müssen wir die Polizei einschalten. Dann muss jeder von euch mit einem Polizisten sprechen, und wenn die Polizei den Adrian gefunden hat, kommt er in ein Heim, aus dem er nicht weglaufen kann. Willst du das, Fanny? Willst du das, Nepomuk?«
Wie vorhin schüttelte der Junge heftig den Kopf. Aus furchtvollen Augen sah er erst die Leiterin an, dann Karla, und als sein Blick zu Yasmin weiterhuschte, hielt er vor Schreck die Luft an. Karla biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen, während ihre Kollegin nicht die geringste Regung zeigte, was Nepomuk noch mehr einschüchterte.
»Der kommt schon wieder, Mann«, sagte Fanny und ließ sich widerwillig auf den roten Stuhl fallen.
Nepomuk hörte auf, den Kopf zu schütteln, und riss den Mund auf, weil er keine Luft mehr bekam.
»Willst du uns etwas mitteilen?«, sagte Yasmin.
»Ich weiß nichts.« Nepomuks Stimme war dünn und zittrig.
Gerade, als Ines Hermann näher an Fanny heranrücken wollte, gab deren Handy einen Ton von sich. Sofort sah das Mädchen aufs Display.
»Eine SMS von Adrian?«, sagte Karla.
»In der Straßenbahn stinkt’s«, las Fanny vor. »Was machst du grad?«
»Darf ich’s lesen?« Karla beugte sich vor und streckte die Hand aus. Fanny dachte daran, was sie wusste und niemals sagen würde, und hielt der Erzieherin das Handy hin. Karla las: in der strasenbahn stingts. was machs du grad. Wieder kam die Nachricht von ihrem eigenen Handy, das der Junge ihr offensichtlich nachts, als sie schlief, geklaut hatte. »Das Handy behalte ich vorläufig«, sagte Karla. »Du bekommst es zurück, sobald Adrian wieder im Haus ist.«
»Von mir aus.« Fanny verschränkte die Arme, stellte die Füße, an denen sie grüne dicke Wollsocken trug, übereinander und sah mit ihrem meisterhaft eingeübten, im ganzen Haus bekannten Langeweileblick zur Tür.
Eine Weile herrschte Schweigen.
Bastian, der Junge auf der gelben Couch, hatte angefangen, mit den Beinen zu wippen. Clarissa, das Mädchen neben ihm, hielt ihrer Puppe die Hand vors Gesicht, warum auch immer.
Karla dachte an Adrians Vater, der, wenn er von dem Verschwinden seines Sohnes erfuhr, zum Zeno-Haus eilen und einen vor Beleidigungen strotzenden Aufstand veranstalten würde, bevor er im schlimmsten Fall die Polizei alarmierte und die verantwortliche Erzieherin wegen Verletzung der Aufsichtspflicht anzeigte.
Für die Entscheidung des Jugendamtes, seinen Sohn zeitweise im Zeno-Haus unterzubringen, bis eine Lösung des innerfamiliären chaotischen Zustands in Sicht wäre, hatte Ludwig Richter nur Verachtung übrig. Obwohl er den Aufnahme-Vertrag gemeinsam mit Adrians Mutter unterschrieben hatte, drohte er, alles daranzusetzen, um seinen Sohn »so schnell wie möglich aus den Klauen des staatlichen Vormunds« zu befreien.
Abgesehen davon, dass das Zeno-Haus eine städtische Einrichtung war, gehörten solche Reaktionen zum Alltag der Mitarbeiterinnen. Allerdings neigte Richter zu Gewalttätigkeit, vor allem, wenn er getrunken hatte. Das war auch der Grund gewesen, warum Hannah Richter die gemeinsame Wohnung verlassen und in die Pension einer Freundin in Bahnhofsnähe gezogen war, in eine »Nuttenabsteige«, wie Richter erklärt hatte.
Nach wiederholten Beschimpfungen am Telefon hatte Ines Hermann ihm untersagt, noch einmal anzurufen, und als er es trotzdem tat, ihm die Polizei ins Haus geschickt.
Seither war Ruhe. Mit Adrians Mutter zu sprechen war zwar möglich, führte aber bisher zu keinerlei Verbesserungen zwischen den Eheleuten.
»Bitte geht jetzt in eure Zimmer«, sagte Ines Hermann. »Und vorher schickt jeder von uns noch einen guten Wunsch für Adrian durchs Fenster.«
Fanny und Yasmin schoben ihre Stühle herum, die anderen wandten nur den Kopf zum Fenster. Bastian und Clarissa sprangen von der Couch und drehten sich um. »Ich wünsche dir, dass du schnell wieder da bist, damit der Gängsta sich nicht fürchtet«, sagte Nepomuk und faltete die Hände.
»Ich wünsche dir, dass dein Opa sich freut, wenn du kommst«, sagte Bastian, »und der Toto auch.«
»Der ist doch tot«, sagte Clarissa und tippte sich mit dem Zeigefinger der Hand, in der sie die Puppe hielt, an die Stirn.
»Ist nicht tot, der Toto!« Bastian streichelte seinem Stoffelefanten den Kopf und zog am Rüssel.
»Der Toto doch nicht, du Dödelsepp«, sagte Clarissa. »Der Opa vom Adrian ist tot.«
»Ach so, ja.«
»Was wünschst du dem Adrian?«, fragte Karla das Mädchen vor der Couch.
Clarissa sagte: »Ich wünsch ihm, dass es aufhört zu stinken in der Straßenbahn.«
»Und ich wünsch ihm, dass er wieder gut zu uns nach Hause kommt«, sagte Karla.
»Das wünsche ich ihm auch«, sagte Yasmin.
Ines Hermann wandte sich an Fanny. »Jetzt bist du dran.«
Fanny schien nachzudenken, aber in Wahrheit wusste sie längst, was sie sagen wollte. »Ich wünsch ihm, dass er seine Mama trifft und dass sie ihn nicht wegschickt.«
Nachdem auch Ines Hermann dem Jungen eine gute und schnelle Heimkehr gewünscht hatte, verließen die Kinder den Raum. In der Küche warteten bereits zwei Zwölf- und zwei Dreizehnjährige auf sie. Die Jugendlichen hatten im zweiten Stock ihre Zimmer und praktisch keinen Kontakt mit Adrian und auch kaum mit den anderen, kleineren Kindern. Unter den Jugendlichen in der Küche waren zwei Geschwister, ein Mädchen und ein Junge, die nur miteinander redeten, eng aneinandergeschmiegt, jeder auf seinem Stuhl.
Oben, im Gute-Wünsche-Raum, öffnete Karla Tegel das Fenster. Schneeflocken wehten herein. Die beiden anderen Frauen standen gleichzeitig auf.
»Ich bleib hier«, sagte Ines Hermann, »und ihr macht euch auf den Weg.«
In Karlas weißem Smart fuhren die beiden Erzieherinnen zunächst vom St.-Zeno-Weg in Giesing in den benachbarten Stadtteil Haidhausen und klingelten bei der Familie Richter. Eine Nachbarin aus der Pariser Straße sagte, sie hätte Herrn Richter vor ungefähr einer Stunde auf dem Weihnachtsmarkt am Orleansplatz gesehen, »nüchtern war der nicht mehr, glaub ich«.
Den Glauben der Frau konnten Karla und Yasmin im Gewühl zwischen den Holzbuden nicht verifizieren. Auf dem Foto, das sie aus Adrians Zimmer mitgenommen hatten und das den Jungen mit seinen Eltern im Biergarten zeigte, trug Ludwig Richter einen Strohhut, der einen Schatten auf sein Gesicht warf. Dennoch waren der dunkle Bart und die große Nase deutlich zu erkennen. Karla hatte bisher zweimal mit ihm gesprochen, Yasmin noch nie.
Im Duft nach Glühwein, Bratwürsten und Gebäck drängten sich die beiden Frauen zwischen den Marktbesuchern hindurch. Sie blieben an jedem Ausschank stehen und betrachteten die Leute mit ihren dampfenden Tassen. Von Richter keine Spur.
Anschließend rief Yasmin Ebert zum zweiten Mal, seit sie unterwegs waren, Karlas Nummer an. Wieder erreichte sie nur die Mailbox.
Adrian hatte keine neue SMS geschrieben.
Auf dem Ostfriedhof, der die Stadtteile Giesing und Au trennte, verbrachten sie fast eine Stunde. Sie hatten keine Ahnung, wo sich das Grab von Arnulf Richter, Adrians Großvater, befand, und streiften auf gut Glück durch die verschneiten Gräberreihen. Krähen hockten auf den schweren Ästen der Nadelbäume, einige hüpften über die Wege, auf der Suche nach Nahrung.
Von den älteren Frauen, denen Karla das Foto der Familie Richter zeigte, hatte keine den Jungen gesehen. Auf vielen Gräbern brannten rote Lichter. Hinter der Nordmauer brauste ein Fernzug in Richtung Österreich, vom Gleisbett an der Ostseite drang das Quietschen der S-Bahnen herüber.
Während Karla Tegel sommers wie winters stundenlange Spaziergänge auf städtischen Friedhöfen unternahm – besonders in den parkähnlichen Anlagen wie dem Ost- oder Waldfriedhof –, besuchte Yasmin Ebert die Gräber ihrer Angehörigen höchstens ein Mal im Jahr. Friedhöfe versetzten sie in eine miese Stimmung.
Als sie beschlossen, die Suche zu beenden, beschleunigte Yasmin ihre Schritte und wartete danach fast eine Viertelstunde auf Karla, die ihr Auto vor einem Blumenladen in der Franziskanerstraße abgestellt hatte. Bevor sie einstiegen, wählte Yasmin zum dritten Mal die Nummer von Adrians Mutter.
Endlich meldete sich Hannah Richter. »Was ist?«
»Yasmin Ebert aus dem Zeno-Haus.«
»Was ist?«
»Wie geht es Ihnen, Frau Richter?«
»Was ist?«
»Sind Sie betrunken?«
»Nein.«
»Können Sie mir etwas über Ihren verstorbenen Schwiegervater erzählen?«
»Jetzt?«
»Ja.« Yasmin setzte sich auf den Beifahrersitz, ließ die Tür halb geöffnet. Karla hörte hinter dem Lenkrad zu.
»Fragen Sie meinen Sohn, der hat den gut gekannt.«
»Sie haben ihn auch gekannt. Wir würden gern wissen, was er für ein Mensch war.«
»Tüchtiger Schreiner. Ich mocht ihn nicht, er hatte eine verschlagene Art, er wollte was von mir. Der eigene Schwiegervater. Gesagt hat er nie was, nur gegafft. Das kennt man. Wie geht’s meinem Jungen?«
»Es geht ihm gut. Er hat gesagt, er will seinen Opa besuchen. Wir verstehen das nicht, was meint er damit? Das Grab auf dem Ostfriedhof?«
»Weiß ich nicht.«
»Hatten die beiden einen speziellen Treffpunkt? Einen Ort, wo sie nur zu zweit hingingen?«
Yasmin hörte, wie Hannah Richter sich eine Zigarette anzündete und tief inhalierte. »Er hat ihn ständig in der Schreinerei besucht, sonst nirgends. Arnulf ist seit drei Jahren tot. Was wollen Sie eigentlich von mir?«
»Hatten Sie in den letzten Tagen Kontakt mit Ihrem Sohn?«
»Das würden Sie doch wohl wissen.« Hannah rauchte. Plötzlich war Straßenlärm zu hören, Autos hupten.
»Wo sind Sie, Frau Richter? Immer noch in der Pension?«
»Ist noch was?«
»Wir würden es sehr schön finden und auch wichtig für Ihr Verhältnis zu Adrian, wenn er an Weihnachten zumindest ein paar Stunden mit Ihnen verbringen könnte.«
»Das kann ich nicht. Wiedersehen.« Sie kappte die Verbindung.
Im ersten Moment glaubte Yasmin an einen technischen Defekt.
»Wir brauchen dringend Unterstützung«, sagte Karla und startete den Motor.
Yasmin schnallte sich an. »Polizei?«
»Erinnerst du dich an Tabor Süden?«
»Ich erinnere mich gut an Sie«, sagte Ines Hermann zur Begrüßung. »Haben Sie sich inzwischen wieder eingelebt in der Stadt?«
Süden klopfte seine schneebedeckten Schuhe auf dem Fußabstreifer ab und dachte: Ich habe mich nie ausgelebt.
»Unbedingt«, sagte er, nahm seine graue Wollmütze ab, zog den Reißverschluss seiner Daunenjacke auf, sog den Duft nach frischem Kaffee ein.
Vor mehr als einem Jahr war er schon einmal im Zeno-Haus gewesen. Seine neue Chefin, Edith Liebergesell, hatte ihn gebeten, bei der Suche nach einem verschwundenen Mädchen zu helfen, nachdem seine ehemaligen Kollegen von der Vermisstenstelle der Kripo nach zwei Tagen noch immer keine Spur gefunden hatten. Für Süden stand bald fest, dass eine Freundin der elfjährigen Sandra Bescheid wusste, aber natürlich totales Schweigen geschworen hatte.
In der Nacht stellte er sich an die Tür ihres Zimmers und wartete ab. Fünf Drohungen später, sie würde das Jugendamt, die Polizei und ihren Vater einschalten, weil sie sich von dem »fetten Kerl in meinem Privatbereich« bedroht fühlte, brach sie in einen Weinkrampf aus, dem Süden eine Weile zuhörte, bevor er sie an der Schulter packte, hochhob, in der Luft zappeln ließ, bis sie vor Schreck aufhörte zu heulen, und sie wieder aufs Bett setzte, ohne sie loszulassen.
Er sah sie an, ihr tränennasses Gesicht, ihre rotzverschmierte Nase, ihre geschürzten Lippen, und fragte sie, wo Sandra sich aufhalte. Unter einem mächtigen Schluckauf stammelte sie den Namen eines Jungen.
Eine halbe Stunde später holte Süden gemeinsam mit Ines Hermann und Karla Tegel die Elfjährige aus dem Zimmer eines Vierzehnjährigen in der Reichenhaller Straße, in unmittelbarer Nähe des Zeno-Hauses. Sandra erklärte, sie habe sich dort aufgehalten, weil sie in den Jungen verliebt sei. Dieser jedoch, so stellte Süden in der ersten Vernehmung fest, hatte bloß seinen Spaß daran, ein polizeilich gesuchtes Mädchen bei sich zu verstecken. Allem Anschein nach ließ er sie in seinem Bett schlafen, ohne sie anzurühren, was Sandra bestätigte.
Die Vermissung der Schülerin war einer der ersten Aufträge in seiner neuen Funktion als Mitarbeiter der Detektei Liebergesell gewesen.
Nach zwölf Jahren als Hauptkommissar auf der Vermisstenstelle der Kripo in München und sieben Jahren am Kölner Eigelstein, wo er – nach seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Staatsdienst – privaten Trinkern Tag für Tag und Nacht um Nacht ihren schmerzlich vermissten Nachschub servierte, war er, relativ eurolos, in seine Heimatstadt zurückgekehrt.
Hier erfuhr er vom Tod seines Vaters, den er seit seinem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte.
Schließlich tauchte er in Edith Liebergesells Büro am Sendlinger-Tor-Platz auf, was ihn selbst am meisten irritierte, weil er in Wahrheit keinerlei Vorstellungen von seiner Zukunft hatte. Eine Woche später unterschrieb er den Vertrag, eröffnete ein Konto und bezog auf Vermittlung seiner Chefin eine kleine Wohnung in seinem Hausviertel Giesing.
Die architektonischen Veränderungen und Neubauten in der Stadt beeindruckten ihn teilweise, während er die allgemeine Alltagsunhöflichkeit in Geschäften und Gasthäusern wie das vertraute Brummen einer in seinem Ohr beheimateten Hummel empfand.
An den üblichen, im Stehen stolpernden Selbstdarstellern der Stadt weidete er, wenn die Sonne schien oder er friedvoll bebiert war, seine Blicke.