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Nach 31 Jahren Dienst am Schalter ist ein Postbeamter plötzlich verschwunden: Weder seine Kollegen noch seine völlig verwirrte Frau können sich vorstellen, wo er steckt. Für Kommissar Tabor Süden wird der Fall immer merkwürdiger. Ein Gemälde von Spitzweg bringt ihn schließlich auf eine Spur, die so unglaublich erscheint, dass er nicht einmal seinen engsten Freunden und Kollegen davon zu erzählen wagt.
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2025
Friedrich Ani
Der glückliche Winkel
Ein Fall für Tabor Süden
Suhrkamp
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Der hier vorliegende Text erschien zunächst 2003 unter dem Titel Süden und der glückliche Winkel bei Droemer Knaur, München.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5468.
Neuausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025
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Umschlagfoto: Steven Zucker, Smarthistory
eISBN 978-3-518-78067-1
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Der glückliche Winkel
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Informationen zum Buch
Der glückliche Winkel
Ich arbeite auf der Vermisstenstelle der Kripo und kann meinen eigenen Vater nicht finden.
Tabor Süden
Diese Geschichte ist wirklich passiert, und ich habe sie bis heute niemandem erzählt, nicht einmal meinem besten Freund und Kollegen Martin Heuer, und auch nicht meiner Kollegin Sonja Feyerabend, mit der ich eine große Nähe teilte. Oft, wenn wir zu dritt zusammen waren – nach einem Kinobesuch, in einem Biergarten, an einem bestimmten Ort in der Stadt –, war ich kurz davor zu sprechen. Und ich erinnere mich, dass Sonja mich einmal in einem solchen Moment lange ansah und dann fragte, ob ich gerade eine Erscheinung gehabt hätte. Ich sagte nichts darauf, und später, nachts – es war Sommer und ihr Schlafzimmer, erfüllt von schwerer Luft, Gehege einer gierigen Mücke –, beugte sie sich über mich und sah mich an wie nachmittags auf dem Viktualienmarkt, wo wir im Biergarten die kurzbehoste, sockenlose Welt an uns vorüberziehen ließen. Und obwohl sie schwieg, wusste ich, was sie hören wollte. Doch auch ich schwieg und bedeutete ihr damit, dass es unmöglich sei, etwas zu erwidern, wenn sie sich nackt über mich beugte, und nach ungefähr einer Minute hatten meine Hände ihren Blick verändert, und wir begannen von vorn, uns zu lieben, nass von Schweiß und Speichel, kaum weniger ekstatisch als die vor Eifersucht und Ratlosigkeit tobende Mücke.
Am wenigsten bereit, davon zu erzählen, war ich, unmittelbar nachdem die Geschichte sich ereignet, nachdem ich den Vermisstenwiderruf ans Landeskriminalamt weitergeleitet und die Daten in unserem Computer gelöscht hatte und mein Vorgesetzter Volker Thon nicht aufhörte, mich zu fragen, wo ich in den vergangenen eineinhalb Tagen gesteckt und wieso ich mich nicht gemeldet und wo genau ich diesen seit fast vier Wochen verschwundenen Postbeamten plötzlich aufgespürt hätte.
Über die Umstände der Auffindung des Mannes, über die letzten Schritte meiner Ermittlungen, über manche Gespräche, die ich in einem früheren Stadium der Fahndung geführt hatte, enthielt mein Abschlussbericht eine Reihe von Ungenauigkeiten, die nichts anderes als gut kaschierte Lügen waren. Niemand hat sie bis heute als solche entlarvt. Für Volker Thon stellte die Vermissung des Cölestin Korbinian das übliche Ausbüxen eines gelangweilten Ehemanns dar, einen von rund eintausendfünfhundert Fällen, die wir auf der Vermisstenstelle im Dezernat 11 jedes Jahr zu bearbeiten hatten, eine Routinesache, bei der wir anfangs weder einen möglichen Suizid, einen Unglücksfall oder eine Straftat ausschlossen, allerdings nicht aufgrund von Hinweisen oder einer Ahnung, sondern aus Routine, und weil wir sonst, hätten wir eine konkrete Gefahr für »Leben oder körperliche Unversehrtheit« ausgeschlossen, den Fall nicht hätten weiterverfolgen können. Das bloße Verlassen des gewohnten Lebenskreises zog ausschließlich bei Kindern und Jugendlichen Sofortmaßnahmen nach sich.
Hätte ich nach dem Ende der Vermissung des Cölestin Korbinian die Wahrheit geschrieben, wäre ich nicht nur von den meisten meiner Kollegen ausgelacht worden, sie hätten mich zudem zur Rede gestellt, wie es möglich gewesen sei, dass mich dieser Mann und eventuell auch seine Frau derart an der Nase herumführen konnten und ich dies trotz meiner zwölfjährigen Erfahrung auf der Vermisstenstelle nicht bemerkt hatte.
Darauf hätte ich keine Antwort gewusst. Ich hätte nur mit einer Lüge antworten können.
Nicht nur, dass zu keiner Zeit eine Gefahr für Leib und Leben des Gesuchten bestand – Anzeichen von Suizidabsichten hatte es bei Korbinian nie gegeben, was wir sowohl durch Aussagen der Ehefrau und von Arbeitskollegen als auch seines Hausarztes eindeutig feststellten, und konkrete Spuren eines Verbrechens oder Unglücks tauchten während der gesamten Ermittlung nicht auf –, im Grunde hatte er nicht einmal seinen gewohnten Lebenskreis verlassen. Eingedenk aller Umstände, die die Existenz Korbinians und die seiner Frau in jenem Juli schlagartig zu verändern schienen, muss ich vom heutigen Standpunkt aus erklären: Dieser Mann war nie verschwunden.
Er war nicht mehr da, aber er war nicht verschwunden.
Er kam einen Monat lang – vom dritten Juli bis zum zweiten August – nicht nach Hause, aber er war nicht verschwunden.
Niemand in der Stadt sah ihn mehr, aber er war nicht verschwunden.
Und ich fand ihn, obwohl er nicht verschwunden war.
Dafür war ich eineinhalb Tage lang unauffindbar, ohne dass ich es bemerkte. Zumindest dachte ich nicht darüber nach.
Was von alldem hätte ich in einem polizeilichen Bericht schreiben sollen?
»Aufgegriffen am frühen Morgen des zweiten August auf dem Viktualienmarkt, der Gesuchte trank an einem der Stände, die gerade öffneten, Kaffee und aß eine Butterbreze dazu. Er machte einen gesunden Eindruck. Auf die Frage, wo er sich in den vergangenen vier Wochen aufgehalten habe, sagte er, er habe sich herumgetrieben, dem Sommer zu Ehren. Warum er sich nicht bei seiner Frau gemeldet habe? Er sei, sagte er, nicht dazu gekommen. Ob er nicht damit gerechnet habe, dass seine Frau ihn als vermisst meldet und von der Polizei suchen lässt? Nein, sagte er, damit habe er nicht gerechnet, es tue ihm leid, wenn Kosten entstanden seien. Ob er die Absicht habe, nach Hause zurückzukehren? Durchaus, sagte er, wo solle er sonst hin?«
Was ich so früh am Morgen auf dem Viktualienmarkt zu suchen gehabt hätte, fragte mich Volker Thon. Wie so oft, sagte ich, hätte ich nicht schlafen können und sei von Giesing aus den Nockherberg hinunter über die Isarbrücke und durch die Reichenbachstraße zum Markt gegangen, um den Händlern beim Sortieren der Lebensmittel zuzusehen und die würzige Luft zu genießen.
Ich hätte auch etwas anderes in der Art sagen können – nichts davon wäre der Wahrheit auch nur nahe gekommen. Also beendete ich diesen Fall mit der gleichen Routine, wie ich ihn begonnen hatte, überhörte hämische Fragen und trank gemeinsam mit Sonja und Martin Bier unter freiem Himmel und erwachte am Morgen hautumrankt.
Heute, in der flüchtigen Stille dieses Hotelzimmers, fern aller Formulare, allein und vom Alleinsein gealtert, kehre ich zurück zu jenem vierten Juli, einem Tag, an dem es um acht Uhr morgens sechsundzwanzig Grad warm war und ich eine Nacht hinter mir hatte, in der ich vor lauter Sonja mit den Fingerspitzen beinah eine Botschaft in die Wolken geritzt hätte.
Noch nie zuvor, sagte Olga Korbinian, habe ihr Mann länger als einen halben Tag nichts von sich hören lassen, und nun sei er die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen, ihr sei schwindlig vor Angst.
Ich wünschte, ich hätte wenigstens ihr sagen können, was geschehen war.
Er hatte es mir verboten. Und ich verstand ihn.
Für die Frau des Postbeamten, der nach der Privatisierung der Post kein Beamter mehr war, sondern Angestellter wie alle seine Kollegen, schien es das Wichtigste zu sein, dass ich Kaffee trank. Gegen meine Gewohnheit hatte ich mich an den Wohnzimmertisch gesetzt, nur um ihr einen Gefallen zu tun und sie auf diese Weise vielleicht etwas zu beruhigen, wobei sie sich größte Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. Zur Begrüßung an der Tür hatte sie mich angelächelt und hereingebeten, als wäre ich ein freudig erwarteter, oft gesehener Gast, der endlich einmal wieder den Weg in die Innenstadt gefunden hatte.
Das Ehepaar Korbinian wohnte neben der Feuerwehrtrutzburg nahe des Sendlinger Tors, ein paar Meter von einem elfstöckigen Backsteingebäude entfernt, das als das erste Hochhaus Münchens galt, weswegen schräg gegenüber noch immer ein »Café am Hochhaus« existierte. Bis vor einigen Jahren zählten die Adressen in der schmalen Straße zwischen Feuerwehrgebäude und Marionettentheater zur Blumenstraße, der angrenzenden Hauptstraße, mittlerweile wohnten die Korbinians und ihre Nachbarn An der Hauptfeuerwache. Die Wohnung des Postlerehepaars im Parterre eines gelben Hauses war vollgestellt mit schweren Möbeln aus dunklem Holz. An den Wänden hingen unzählige Landschaftsbilder, in braunen Farben gehaltene kleine Gemälde und Stiche, daneben Familienfotos in Schwarzweiß und oval gerahmte Porträts älterer Menschen mit verschlossenen Gesichtern. Es kam mir vor, als dürfe es in dieser Wohnung keinen freien Platz geben, keinen direkten Blick auf die weiße Wand, keinen offenen Blick nach draußen. Hinter den dicht geschlossenen, bis zum Boden reichenden Vorhängen erahnte man eine ferne Welt.
Das war die Wohnung zweier Menschen, die keine ferne Welt brauchten, deren Genügsamkeit sich auf dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr verteilte, eingebettet in einen unveränderlichen Alltag, der sie auch dann nicht wesentlich erschütterte, wenn bundespolitische Entscheidungen sich unmittelbar auf die Tätigkeit am Schalter auswirkten. Korbinians Dienst begann um acht Uhr morgens und endete von Montag bis Freitag um achtzehn Uhr, jeden zweiten Samstag um zwölf Uhr dreißig. Zog man die Mittagszeit ab, hatte die Vierzigstundenwoche am Ende des Jahres tatsächlich vierzig Stunden gedauert und der Urlaub sechs Wochen. So sah der Lebensrhythmus des Ehepaars von der Hauptfeuerwache seit einunddreißig Jahren aus, so lange arbeitete Cölestin Korbinian bei der Post, und nichts hatte bisher darauf hingedeutet, er habe keine Freude mehr an seiner Beschäftigung oder trage sich womöglich mit Kündigungsgedanken. Wenn er morgens aus dem Haus ging, küsste er seine Frau auf den Mund, sagte etwas zu ihr, was ihm gerade durch den Kopf ging, und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Postamt in der Fraunhoferstraße, in dem er im Alter von neunzehn Jahren seine ersten Briefmarken verkauft hatte. Inzwischen gehörte die Schalterhalle nicht mehr der Post, sondern einer privaten Firma, die mit Papier und Büroartikeln handelte und bereits eine Reihe von Postämtern übernommen hatte und diese mehr oder weniger wie Schreibwarenläden führte.
Das störte Cölestin Korbinian sehr. Anfangs hatte er sich fast täglich über die schlecht ausgebildeten jungen Mitarbeiter geärgert, die das eigentliche Postgeschäft nur nebenbei betrieben, weil sie zu Verkaufsfachfrauen und -männern ausgebildet wurden, von denen die wenigsten später bei der Post landeten, sondern in Kaufhäusern und Supermärkten. Ärger und Kummer hatten sich bei Korbinian derart aufs Gemüt gelegt, dass sein Kollege Magnus Horch eines Abends an der Wohnungstür bei der Feuerwache klingelte, um zu erfahren, ob Cölestin Probleme habe oder krank sei oder ihn etwas bedrücke, worüber er nicht sprechen wolle.
Nach jenem Abend nahm Cölestin Korbinian seine jüngeren Kollegen nur noch professionell zur Kenntnis, er half ihnen, wenn sie Fragen über Beförderungssysteme im Ausland oder spezielle Haftungsbedingungen hatten, und hörte weg, wenn Kunden sich lautstark über Ahnungslosigkeit und Unhöflichkeit beschwerten. Die Art der Ausbildung lehnte er immer noch ab, aber nur im Stillen und mit schwindender Intensität. Er sei, sagte seine Frau, wie immer gewesen.
Wie ist jemand, der wie immer ist? Wann fängt das »immer« an? Mit dem ersten Kuss? Mit der Hochzeit? Mit dem Eintritt ins Berufsleben? Mit dem dreißigsten Geburtstag? Und endet es mit einer neuen Frisur? Mit einem Weißwein zum Abendessen statt einem hellen Bier wie seit zehn Jahren? Mit einer anderen Meinung zur Meinung des Tagesthemenmoderators oder der des Oberbürgermeisters? Mit einem roten Hemd? Mit einer Sonnenbrille von Ray-Ban? Mit einer heimlichen Geliebten? Mit dem Tod der Partnerin? Mit dem eigenen Tod? Und was wäre dann am offenen Grab zu sagen? Er lebte wie immer und starb ganz anders?
Er sei wie immer gewesen. Als die anfänglichen Erschütterungen sich in ihm gelegt hatten, kehrte er zum Normalsein zurück. Und vermutlich war ein solides Normalsein die Basis für eine einunddreißig Jahre währende Tätigkeit bei der Post, noch dazu im selben Postamt. Denn Cölestin Korbinian war nach kurzen, unfreiwilligen, ausbildungsbedingten Stopps in Schwabing und Neuhausen unverzüglich in die Isarvorstadt zurückgekehrt, dahin, wo sein Leben stattfand, wo er aufgewachsen war, wo ihn alle Leute kannten, von wo aus er nur fünf Minuten bis zum Isarufer brauchte und höchstens fünfzehn bis in die Altstadt, in die Gegend um den Max-Joseph-Platz, zur Dienerstraße, zum Alten Peter, zum Viktualienmarkt. Die Vorstellung, in einem anderen Stadtteil wohnen zu müssen, schreckte ihn nicht, er hielt sie für vollkommen abwegig und absurd und unnütz.
Seit seiner Geburt in der Klinik an der Nussbaumstraße war die Heimat des Cölestin Korbinian östlich des Sendlinger Tors, und wenn die neuen Pächter ihren Laden in der Fraunhoferstraße schließen sollten, würde er vorzeitig in Rente gehen und sich unter keinen Umständen in ein anderes Postamt versetzen lassen oder irgendeine Verwaltungsstelle beim Staat annehmen, die man ihm als langjährigen Beamten zur Verfügung stellen musste. Vielleicht hatte er sowieso vor, in ein paar Jahren die Arbeit zu beenden. Gelegentlich sprach er mit seiner Frau darüber, und sie unterstützte seine Pläne.
Sie hatte seine Pläne immer unterstützt, zum ersten Mal, als er ihr die Idee unterbreitete, ob sie eventuell bereit sein könne, ihn zu heiraten. Das war vor fast dreißig Jahren gewesen. Dann hatte es noch eine Weile gedauert, bis er genügend Mut und Entschlusskraft beisammenhatte, bevor er eines Abends im März am Ufer unterhalb der Reichenbachbrücke, wo die Isar, von der Schneeschmelze braun und fett geworden, mit einem bulligen Geräusch vorbeirauschte, die entscheidende Frage stellte, etwas leise, wie Olga Korbinian sich erinnerte, aber vielleicht lag es am lauten Fluss. Sie heirateten am vierzehnten Mai in St. Maximilian, der Kirche, in der Cölestin Korbinian getauft worden war. Kurz darauf zogen sie in die Blumenstraße, in jenen Teil, der später in An der Hauptfeuerwache umgetauft wurde. Einen Anlass wegzuziehen oder sich zu trennen gab es nie. Alle heiligen Zeiten brachte Olga ihren Mann dazu, mit ihr nach Südtirol zu verreisen, meist nach Meran, wo sie als Kind oft die Ferien mit ihren Eltern verbracht hatte. In der Erinnerung hörte sie das Klacken ihrer rosafarbenen Stöckelschuhe, die sie als kleines Mädchen tragen durfte, nur im Urlaub allerdings, und jedes Mal, wenn sie mit Cölestin an den alten Häusern vorüberging, stellte sie sich mit einem Eis in der Hand in den Schatten einer Laube, so wie sie es als Kind getan hatte, und bat ihn, sie zu fotografieren. Widerwillig tat er es, seiner Meinung nach hatten Fotos keinen Sinn, sie würden einem nur etwas vorgaukeln, und wenn Olga fragte, was er damit meine, wandte er sich ab und kam vielleicht beim Abendessen darauf zurück, indem er erklärte, was man erst fotografieren müsse, könne man auch gleich vergessen.
Manchmal sagte er solche Sachen, dann wunderte sie sich ein wenig über ihn und sah ihn länger an als üblich, beobachtete ihn sogar, abends in der Pension, morgens beim Frühstück, beim Wandern auf dem Küchelberg. Aber er wirkte entspannt und gleichmütig wie zu Hause, er pflückte Blumen auf der Wiese und schenkte sie ihr, beinah übermütig und eigenartig linkisch, und sie nahm den kleinen bunten Strauß und küsste ihren Mann auf den Mund. Dabei, sagte sie, habe sie manchmal daran denken müssen, wie er ihr den Antrag gemacht hatte, unten an der Brücke, da hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, obwohl sie schon zweiundzwanzig war und er zwanzig. Ehrlich gesagt, meinte sie, sei sie doch ganz gut dran. Welche Ehefrau werde jeden Tag geküsst, und immer auf den Mund und nie flüchtig, eher inniglich. Ja, inniglich, betonte sie, auch im Urlaub, wenngleich nicht jeden Morgen, aber untertags, bei bestimmten Gelegenheiten, in einer kühlen Gasse, am Flussufer in einem milden Wind, plötzlich, als erinnere er sich an ein Versäumnis, und hinterher, sagte sie, habe er meist einen heiteren Gesichtsausdruck gehabt.
In diesem Jahr hatten sie nicht vor zu verreisen. Wegen der Terminplanung seiner Kollegen musste Cölestin Korbinian vier Wochen Urlaub im Juli nehmen, das machte ihn einen Tag und einen Abend lang wütend. Ursprünglich hatte er überlegt, eine Woche nach Bozen zu fahren, zur Abwechslung, und Olga war einverstanden gewesen. Sie waren erst vor drei Jahren in Meran gewesen, und sie hatte sich einen Reiseführer für Bozen besorgt und schon Telefonate mit Pensionen geführt.
Und an seinem dritten Urlaubstag, am Mittwoch, den dritten Juli, ging er mittags aus der Wohnung, um, wie er sagte, seinen Kollegen und Freund Magnus zu treffen, der am Nachmittag frei hatte. Gemeinsam wollten sie auf dem Viktualienmarkt ein Bier trinken, eine Kleinigkeit essen und bei Dehner nach den Fischen sehen. Seit Olga ihn kannte, liebäugelte Cölestin damit, sich zwei Aquarien anzuschaffen. Sein Vater hatte fünf besessen, und Cölestin behauptete, er könne sich an keine stärkere Verbundenheit mit seinem Vater erinnern als an die in jenen Stunden, die sie beide vor den beleuchteten Glaskästen verbrachten und den unermüdlich zwischen den Pflanzen und Steinen dahingleitenden, vielfarbigen und auch unheimlich wirkenden Fischen zusahen. Sein Vater beobachtete jedes einzelne Exemplar, und wenn er glaubte, ein Fisch bewege sich merkwürdig, holte er ihn mit einem grünen Kescher heraus, betrachtete ihn, blies ihn an und setzte ihn behutsam ins Wasser zurück. Danach nickte er seinem Sohn zu, als wolle er ihm mitteilen, es sei alles in Ordnung und sie brauchten sich keine Sorgen zu machen. Manchmal winkte der kleine Cölestin den Fischen zu und beugte sich vor, damit sie ihn besser sehen konnten.
An diesem Mittwoch verabschiedete sich der Postler von seiner Frau, und als ich sie fragte, ob er sie an der Tür wie immer auf den Mund geküsst habe, wusste sie es nicht mehr. Erschrocken ging sie zum Fenster, schob die Gardine ein Stück beiseite und sah hinaus. Endlich stand ich auf. Vom heißen Kaffee und der drückenden Luft lief mir der Schweiß in den Nacken.
Natürlich hatte meine junge Kollegin, Oberkommissarin Freya Epp, einige Stichpunkte notiert, eine Weile zugehört und dann der Anruferin erklärt, sie möge sich beruhigen und Geduld haben, bestimmt kehre ihr Mann im Lauf des Tages nach Hause zurück, nichts weise darauf hin, dass etwas Schlimmes passiert sei. Mehrmals verstummte Olga Korbinian am Telefon so lange, dass Freya dachte, sie habe aufgelegt. Das Gespräch dauerte eine Viertelstunde, und am Ende versicherte Freya, sie würde sich mittags melden, und falls Cölestin Korbinian bis dahin nicht aufgetaucht sei, würde sie eine vorläufige Vermisstenanzeige aufnehmen, das verspreche sie. Die Kommissarin glaube ihr nicht, sagte Frau Korbinian, sie denke, ihr Mann sei bei einer anderen Frau, aber das stimme nicht, das stimme ganz und gar nicht, er sei verschwunden, und das sei das Furchtbarste, was ihr in ihrer Ehe je passiert sei.
Freya gab mir das abgetippte Gesprächsprotokoll, und ich fand, sie hatte sich am Telefon richtig verhalten. Derartige Anrufe erhielten wir regelmäßig. Männer tauchten ab und ließen verdatterte Familien zurück, von denen mir manche den Eindruck vermittelten, sie seien weniger schockiert und besorgt als vielmehr beleidigt und fühlten sich bloßgestellt. Ohne ihre wahren Empfindungen in Worte zu fassen, klang aus jedem ihrer scheinbar sorgenerfüllten Sätze die Anklage, wie der Verschwundene sein Verschwinden ihnen nur antun, wie er sich nur so rücksichtslos und beschämend verhalten könne, woher er die Frechheit nehme, seine Angehörigen zu zwingen, Dinge zu erzählen, die niemanden etwas angingen, auch nicht die Polizei. Zumindest mit Letzterem hatten sie Recht. Sogar wenn wir einen Unglücksfall oder einen Selbstmord für möglich hielten, bestanden wir nicht auf den intimen Details der Familiengeschichte. Entscheidend für uns waren eine konkrete Beschreibung des Vermissten, seine äußere Erscheinung – mitteleuropäisch, asiatisch, negroid, slawisch, nordländisch, orientalisch –, Angaben über seine Gewohnheiten, über Orte und Stellen, an denen er sich oft aufgehalten hatte, über seine Kleidung, körperliche Merkmale – Tätowierungen, Narben –, seine Art zu sprechen – Hochdeutsch, Mundart, Fremdsprachen –, seinen letzten Aufenthaltsort, den genauen Zeitpunkt seines Verschwindens. Fakten, die unsere Fahndungsmaßnahmen bestimmten, unabhängig davon, dass wir das lokale Umfeld sowieso als Erstes überprüften: Keller, Speicher, Garagen, Grundstück, Garten, bevorzugte Lokale und Sportplätze. Wenn wir Zeit hatten und genügend Kollegen zur Verfügung standen, führten wir diese Kontrollen auch dann durch, wenn jemand erst einen Tag oder eine Nacht verschwunden war, und stellten die Angaben ins Computersystem, wo die Personenbeschreibung über eine Datei des Bundeskriminalamts mit der von unbekannten Toten verglichen wurde. Diesen Vorgang verschwiegen wir. Jedenfalls hatten wir vorerst genug getan, um die Angehörigen zu beruhigen, in den meisten Fällen kehrte der zornig Vermisste spätestens nach drei Tagen zurück, und manchmal erfuhren wir erst durch einen Routineanruf bei der Familie davon. Dass sie gerade noch jemanden vermisst hatten, schien den Angehörigen schlagartig entfallen zu sein.
Was Freya Epp nach dem Anruf von Olga Korbinian keine Ruhe ließ, hing einerseits mit einem der Merksätze zusammen, die sie in den wenigen Monaten, seit sie auf der Vermisstenstelle arbeitete, immer wieder gehört hatte: Verschwindet jemand ohne Voraussetzungen, dann ist er aller Wahrscheinlichkeit nach tot. Andererseits machte sich Freya vor allem deshalb Sorgen um den Postler, den sie nicht kannte, weil Olga Korbinian trotz des Vorwurfs, die Kommissarin würde ihr keinen Glauben schenken, »eigenartig still und zurückhaltend«, wie Freya fand, und in keiner Weise aufgeregt gewirkt habe. So, als wisse sie mehr, als sie zugeben mochte, und Freya ärgerte sich, weil ihr dieses Verhalten nicht bereits während des Telefongesprächs aufgefallen war, sondern erst hinterher, als sie das Protokoll abschrieb.
Wenn jemand ohne Voraussetzungen verschwand – und länger als drei Tage verschwunden blieb –, gingen wir erst einmal nicht davon aus, dass er ein neues Leben in einer fernen Welt begonnen hatte. Stattdessen rechneten wir mit einem Unglück oder Verbrechen und stimmten unsere Ermittlungen darauf ab. Fast immer bestätigte die Wirklichkeit unsere Hypothesen, auch dann, wenn wir klare Indizien für eine Straftat vorweisen, aber die Leiche nicht finden und die Täter nicht überführen konnten. Echte Langzeitvermisste tauchten in unseren Statistiken höchstens alle zwei bis drei Jahre auf, Personen, bei denen wir ziemlich sicher waren, dass sie sich auf Nimmerwiedersehen ins Ausland abgesetzt hatten. Ansonsten gelang es uns, trotz der jährlich steigenden Zahl von Vermissungen die meisten zu klären, und nur in seltenen Fällen endete die Suche mit einer Totauffindung, wobei die geringste Zahl der Opfer ermordet wurde. Die meisten von ihnen hatten Selbstmord begangen.