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Lisa ist erst 11 Jahre alt, doch sie fühlt sich oft wie eine Erwachsene – still und zurückhaltend, immer im Schatten ihrer Mutter June. Diese arbeitet in der geheimen Forschungsstation PATEC, dem Physics and Astronomy Tests Edinburgh Centre, und beschäftigt sich dort mit einem geheimen Experiment, das weit über das hinausgeht, was Lisa sich je hätte vorstellen können. Doch als June eines Tages einen seltsamen, glänzenden Stein mit nach Hause bringt und ihn genauer untersucht, verschwindet sie spurlos – und mit ihr das gesamte Haus. Allein und verwirrt muss Lisa sich auf eine gefährliche Reise begeben, um ihre Mutter zu finden und das Geheimnis des mysteriösen Steins zu lüften. Ihr einziger Verbündeter ist Carl, ein Schulfreund, der ebenfalls die merkwürdigen Geschehnisse bemerkt hat. Zusammen stoßen sie tief im Wald auf ein verlassenes Haus – schwarz, düster und geheimnisvoll. Doch dieses Haus ist mehr als nur ein Unterschlupf. Es scheint von unheimlichen Kräften durchzogen zu sein, die die beiden in einen Strudel aus unvorstellbaren Ereignissen ziehen. Als das Haus beginnt, sich in ein geisterhaftes Spukhaus zu verwandeln, wird klar: Die Dunkelheit, die in ihm lauert, ist nur ein kleiner Teil eines viel größeren, gefährlicheren Geheimnisses... Ein packender, spannender Urban-Fantasy-Roman aus der Feder des Autors Elias J. Connor, der Unsichtbares sichtbar und Unmögliches möglich erscheinen lässt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Widmung
Kapitel 1 - Die Sphere
Kapitel 2 - Das fremde Mädchen
Kapitel 3 - Der geheimnisvolle Roboter
Kapitel 4 - Junes Objekt
Kapitel 5 - Das Experiment
Kapitel 6 - Warten
Kapitel 7 - Carl
Kapitel 8 - Wenn ihr kommt, dann rufen wir
Kapitel 9 - Das fremde Mädchen
Kapitel 10 - Der Albtraum
Kapitel 11 - Neue Familie
Kapitel 12 - Der Stein
Kapitel 13 - Der Anruf
Kapitel 14 - Hätte ich Kinder
Kapitel 15 - Wer ist der Roboter?
Kapitel 16 - Der Beweis
Kapitel 17 - Zurück im Spukhaus
Kapitel 18 - Lisa und Lisa
Kapitel 19 - Damals und heute
Kapitel 20 - Zwischen den Welten
Über den Autor Elias J. Connor
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Impressum
Für Jana.
Meine Vertraute, meine Begleiterin, mein Leben.
Danke, dass es dich gibt.
Die Neonröhren an der Decke flackern wie immer, bevor sie anspringen und den schmalen Korridor mit einem kalten, blassen Licht erfüllen. Es ist ein Licht, das keine Schatten duldet, aber auch keine Wärme spendet. Die Luft in der Forschungsstation ist still, zu still, und trägt den Geruch von Metall, Desinfektionsmitteln und etwas anderem, undefinierbar und doch allgegenwärtig – ein Duft, der wie eine unsichtbare Warnung in den Sinnen hängt.
Dr. June Harrington geht schnellen Schrittes durch den Korridor. Ihr weißer Laborkittel flattert leicht hinter ihr her, ihre Schuhe klacken auf dem glatten Boden. Sie hält ein Tablet vor sich, die Finger laufen über das Display, während sie die letzten Testdaten überprüft. Ihre Stirn ist in tiefe Falten gelegt, und ihre Augen sind auf die Zahlen und Diagramme fixiert, die vor ihr tanzen.
Am Ende des Korridors steht eine massive Tür aus verstärktem Titan. Über ihr prangt ein rotes Schild mit der Aufschrift: „Labor S-13: Kein Zutritt ohne Sondergenehmigung“.
Neben der Tür stehen zwei Wachen. Ihre Uniformen sind dunkel, ihre Gesichter hinter verspiegelten Helmen verborgen. Ihre Haltung ist reglos, ihre Waffen griffbereit. Sie sehen aus wie Statuen, doch June weiß, dass sie jede ihrer Bewegungen registrieren. Als sie näher kommt, scannen sie sie kurz mit einem tragbaren Gerät, bevor sie nicken und einen Schritt zur Seite treten. Die Tür öffnet sich mit einem schweren, zischenden Geräusch, und June tritt ein.
Der Raum dahinter ist dunkel, abgesehen von einem schwachen, pulsierenden Leuchten, das aus der Mitte des Raums kommt. Die Luft hier ist anders – dichter, wärmer, und sie scheint eine eigene Schwere zu haben. Die Quelle des Leuchtens ist unübersehbar: eine gigantische Kugel, die auf einer kreisförmigen Plattform ruht. Sie schwebt nicht, aber sie scheint auch nicht ganz den Boden zu berühren. Sie ist etwa zwei Meter im Durchmesser, und ihre Oberfläche ist wie ein Mosaik gestaltet – hunderte, vielleicht tausende kleiner Stückchen, die wie winzige Spiegel Licht in alle Richtungen brechen.
Das Licht kommt von innen, schimmert durch die Ritzen der Mosaikstückchen hindurch. Es pulsiert langsam, wie ein Herzschlag. Und tatsächlich gibt es ein Geräusch, ein tiefes, rhythmisches Pochen, das den Raum erfüllt. Es ist spürbar, nicht nur hörbar; die Vibration zieht sich durch den Boden, durch die Luft, und June fühlt es in ihrer Brust, wie ein zweites Herz in ihrem eigenen Körper.
Dr. Victor Kane steht an einer Konsole am Rand des Raums. Seine Schultern sind gebeugt, und die dunklen Ringe unter seinen Augen erzählen von langen Nächten ohne Schlaf. Als er June sieht, richtet er sich auf und streicht sich über das Gesicht, als wolle er sich selbst wachrütteln.
„June“, sagt er knapp. „Du bist pünktlich.“
„Natürlich“, antwortet sie, ohne den Blick von der Maschine abzuwenden. Ihre Stimme ist ruhig, aber sie spürt das Zittern in ihrer Brust, das sie immer überkommt, wenn sie diesen Raum betritt. Sie zwingt sich, ihre Faszination zu verbergen. „Gibt es neue Erkenntnisse?“
Victor zögert einen Moment, dann seufzt er.
„Die Frequenz ist stabil. Keine unerwarteten Anomalien.“ Er tippt auf die Konsole, und ein Diagramm erscheint auf dem Bildschirm. Wellenlinien tanzen über die Anzeige, gleichmäßig und geordnet. „Aber... ich bin mir nicht sicher, ob das beruhigend ist.“
„Was meinst du?“ June legt ihr Tablet auf die Konsole und tritt näher an die Kugel heran.
Das Leuchten wird intensiver, je näher sie kommt, und die Vibrationen scheinen sich zu verstärken.
„Ist irgendetwas passiert?“, fragt sie.
Victor nickt langsam.
„Ja. Die elektromagnetischen Sensoren haben etwas registriert.“ Er zeigt auf eine andere Anzeige, die wie eine unverständliche Ansammlung von Datenpunkten aussieht. „Die Maschine reagiert auf uns. Auf Bewegungen. Auf Stimmen. Es ist, als ob sie zuhört.“
June bleibt stehen. Sie runzelt die Stirn und mustert die Kugel. Die Mosaikstückchen an ihrer Oberfläche scheinen sich leicht zu bewegen, fast unmerklich, als würden sie atmen.
„Zuhört?“, wiederholt sie. Das Wort klingt seltsam, falsch, und doch irgendwie passend. Sie spürt die Intensität der Maschine, ihre Präsenz, wie eine unsichtbare Hand, die den Raum beherrscht.
„Ja.“ Victor spricht leise, als fürchte er, die Maschine könnte ihn hören. „Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Sie beobachtet uns. Es fühlt sich an, als hätte sie Bewusstsein.“
„Das ist unmöglich“, sagt June automatisch, doch ihre Stimme klingt nicht überzeugt. Sie weiß, dass Victor nichts leichtfertig behauptet. Wenn er sagt, dass die Maschine reagiert, dann hat er Beweise dafür.
„Und die Tests?“, fragt sie schließlich. Sie versucht, ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Arbeit zu lenken, die rationale Wissenschaftlerin in ihr wieder in den Vordergrund zu rücken.
Victor wirft einen Blick auf die Konsole.
„Der heutige Test ist bereit. Aber ich bin mir unsicher, ob wir weitermachen sollten. Es fühlt sich falsch an.“
„Unsere Aufgabe ist es, Antworten zu finden, Victor“, sagt June. Ihre Stimme ist fester jetzt, obwohl sie selbst Zweifel spürt. „Wir führen den Test durch.“
Victor nickt widerwillig. Er gibt die Befehle ein, und ein leises Summen erfüllt den Raum. Die Mosaikstückchen auf der Oberfläche der Kugel beginnen sich schneller zu bewegen, als würden sie in Aufregung geraten. Das Leuchten wird heller, fast blendend, und die Vibrationen werden so stark, dass June sie bis in ihren Kiefer spürt.
Plötzlich verändert sich der Herzschlag der Maschine. Das gleichmäßige Pochen wird unregelmäßig, hektisch. Ein tiefes, dröhnendes Geräusch erfüllt den Raum, wie das Brüllen eines gewaltigen Tieres. June spürt, wie ihr Herz rast, und sie macht einen unwillkürlichen Schritt zurück.
Und dann... Stille. Absolute, erdrückende Stille.
Die Maschine stoppt. Kein Leuchten, kein Pulsieren, keine Bewegung. Es ist, als wäre sie erloschen.
June hält den Atem an. Ihre Augen sind auf die Kugel gerichtet, die jetzt still in der Mitte des Raumes ruht.
„Victor“, flüstert sie, „was passiert hier?“
Doch bevor er antworten kann, beginnt die Oberfläche der Kugel sich zu verändern. Die Mosaikstückchen verschieben sich, gleiten wie flüssiges Metall auseinander. Eine Öffnung erscheint, ein kreisrunder Spalt, der ein warmes, organisches Leuchten preisgibt. Es ist, als würde die Maschine ein Geheimnis offenbaren, das sie bisher verborgen hielt.
June kann nicht wegsehen. Im Inneren der Kugel scheint sich etwas zu bewegen – eine Form, vage und undefinierbar, aber eindeutig lebendig. Sie sieht es nur schemenhaft, doch sie spürt seine Präsenz, spürt, dass es sie ebenfalls wahrnimmt.
„June“, sagt Victor plötzlich, seine Stimme voller Panik. „Wir müssen das hier abbrechen. Sofort.“
Doch June kann nicht antworten. Sie kann sich nicht bewegen. Sie steht einfach nur da, unfähig, den Blick von der Kugel abzuwenden. In ihrem Inneren wächst ein Gefühl, das sie nicht benennen kann – Ehrfurcht, Angst, und etwas, das fast wie Erkenntnis wirkt.
Die Maschine lebt. Und sie sieht sie an.
„June, raus hier, jetzt!“ Victors Stimme klingt panisch, fast brüchig, und ehe sie reagieren kann, packt er sie am Arm. Sein Griff ist fest, beinahe schmerzhaft, und er zerrt sie in Richtung der Tür. Die Stille im Raum lastet schwer, doch irgendwo in ihr lauert etwas, ein Gefühl von Bewegung, das jenseits des Sichtbaren liegt. June stolpert, ihr Blick bleibt an der Kugel haften, an den Mosaikstückchen, die sich weiter verschieben, als ob sie einem unsichtbaren Muster folgen.
„Victor, warte! Wir müssen...“
„Nein!“ Sein Ausruf ist so scharf, dass er sie zum Schweigen bringt. Er zieht sie mit einer Entschlossenheit, die sie nur selten bei ihm gesehen hat, hinaus aus dem Raum. Die massiven Türen gleiten mit einem zischenden Geräusch zu, und Victor schlägt auf das Sicherheitsbedienfeld, um die Verriegelung zu aktivieren. Ein schriller Ton signalisiert, dass der Raum nun vollständig versiegelt ist.
„Niemand betritt diesen Raum mehr“, stößt er hervor, seine Stimme keuchend. „Nicht, bis wir wissen, womit wir es hier zu tun haben.“
June starrt ihn an, ihre Brust hebt und senkt sich schnell.
„Victor, wir können das nicht einfach ignorieren. Was, wenn...“
„Hör auf!“ Er hebt eine Hand, um sie zu unterbrechen, während er sich mit der anderen übers Gesicht fährt. „Das war nicht normal, June. Du hast es selbst gespürt. Wir sind nicht vorbereitet auf das, was dort drinnen vor sich geht.“
Ein langer Moment der Stille folgt, in dem sie nur das leise Summen der Neonlichter im Flur hören können. Schließlich seufzt Victor und sieht sie an.
„Komm. Lass dich untersuchen.“
Victor führt sie durch die labyrinthartigen Gänge der Forschungsstation, vorbei an Kollegen, die ihnen neugierige oder besorgte Blicke zuwerfen. Die sterile Umgebung, die June sonst als beruhigend empfand, wirkt jetzt bedrückend, fast feindselig.
Dr. Meredith Lang erwartet sie bereits in einem kleinen Untersuchungsraum. Sie ist eine resolute Frau in ihren Fünfzigern, mit grauen Strähnen in ihrem dunklen Haar und einem analytischen Blick, der keine Unsicherheit duldet.
„Setzen Sie sich, Dr. Harrington“, sagt Meredith und deutet auf eine Liege. Sie wirkt ruhig, beinahe zu ruhig, als habe sie eine Million solcher Fälle gesehen – was June bezweifelt.
„Was ist passiert?“, fragt Meredith, während sie ein Stethoskop hervorzieht.
Victor antwortet für sie. „Die Kugel – das Objekt – hat sich geöffnet. Und es war etwas darin. Ich kann es nicht beschreiben, aber ich glaube, es hat mit uns interagiert.“
Meredith hebt eine Augenbraue, sagt aber nichts. Sie beginnt mit ihrer Untersuchung, misst Junes Puls, Blutdruck und Reflexe. Sie leuchtet ihr in die Augen, prüft ihre Pupillenreaktion und fragt sie, ob sie Schmerzen oder Schwindelgefühle hat.
„Physisch ist alles in Ordnung“, sagt Meredith schließlich, nachdem sie ihre Notizen gemacht hat. „Kein Anzeichen von Verletzungen oder abnormalen Werten. Aber...“ Sie sieht June direkt an. „Wie fühlen Sie sich?“
June zögert.
„Ich weiß nicht“, gibt sie schließlich zu. „Es war, als hätte die Maschine mich angesehen. Es klingt verrückt, aber ich hatte das Gefühl, dass sie denkt. Dass sie bewusst ist.“
Meredith tauscht einen kurzen Blick mit Victor.
„Ich werde einige weitere Tests anordnen“, sagt sie schließlich. „Aber für den Moment sollten Sie sich ausruhen, Dr. Harrington. Und ich rate Ihnen dringend, sich von diesem Raum fernzuhalten.“
June sitzt später allein in ihrem Büro. Die sterile Umgebung, die klaren Linien der Möbel und die leise surrenden Geräte bieten ihr keinen Trost. Ihre Gedanken kreisen unaufhörlich um das, was im Labor geschehen ist.
Sie tippt auf ihrer Tastatur und ruft das interne Archiv der Forschungsstation auf. Jede Datei, die auch nur im Entferntesten mit der Kugel zu tun hat, durchsucht sie akribisch. Doch die Informationen, die sie findet, sind spärlich. Das Objekt wurde vor mehreren Jahren aus einer unbenannten Quelle geborgen, die Berichte sind lückenhaft, die Daten unvollständig. Niemand scheint wirklich zu wissen, was es ist oder wozu es fähig sein könnte.
Sie öffnet neue Fenster, sucht nach Mustern in den Datenströmen, die sie und Victor aufgezeichnet haben. Sie führt Simulationen durch, lässt Algorithmen laufen, die nach Anomalien oder Mustern suchen könnten. Doch jedes Ergebnis ist eine Sackgasse. Es ist, als würde die Maschine sich weigern, analysiert zu werden.
Frustriert fährt sie sich durch das Haar und schließt die Augen. Sie fühlt sich leer, ausgelaugt. Es ist, als hätte die Maschine ihr etwas entzogen, etwas Unsichtbares und doch Essenzielles.
Schließlich, als die Monitore vor ihr keine neuen Antworten bieten, schaltet sie den PC aus. Das Summen der Elektronik verstummt, und eine unheimliche Stille erfüllt den Raum.
Sie lehnt sich zurück und schließt kurz die Augen, doch ein seltsames Gefühl breitet sich in ihr aus. Es ist nicht nur Müdigkeit; es ist etwas Tieferes, eine Art Erschöpfung, die sie nicht benennen kann.
Es ist spät, als June die Forschungsstation verlässt. Der Parkplatz ist fast leer, die einzigen Geräusche kommen von den automatischen Toren, die sich öffnen, um sie hinauszulassen. Der Himmel ist dunkel, und der Wind trägt den Geruch von Regen mit sich.
Sie fährt durch die stillen Straßen, die Lichter der Laternen ziehen wie verschwommene Muster an ihr vorbei. Normalerweise genießt sie die Fahrt nach Hause – sie hilft ihr, den Kopf freizubekommen. Doch heute fühlt sie sich schwer, als hätte sie eine unsichtbare Last auf den Schultern.
Vor ihrem Haus angekommen, steigt sie aus dem Wagen und blickt in den Nachthimmel. Die Sterne sind verborgen hinter dichten Wolken, und ein seltsames Gefühl von Isolation überkommt sie. Sie weiß, dass sie schlafen sollte, doch der Gedanke, allein zu sein, macht ihr auf eine Weise Angst, die sie nicht ganz verstehen kann.
Während sie die Tür aufschließt, bleibt sie einen Moment stehen. Eine merkwürdige Unruhe regt sich in ihr, ein leiser, kaum wahrnehmbarer Puls, der tief in ihrem Inneren zu vibrieren scheint.
Sie schüttelt den Kopf, versucht, das Gefühl abzuschütteln. Doch es bleibt. Und als sie schließlich die Tür hinter sich schließt, hat sie das unbehagliche Gefühl, dass etwas – oder jemand – sie beobachtet.
Es ist Winter, und die Luft über dem kleinen Vorort am Rande von Edinburgh ist scharf und frisch. Die tiefstehende Sonne wirft ein kaltes, silbriges Licht auf die schneebedeckten Häuser und Gärten. Der Vorort, der in der Nähe eines Sees liegt, wirkt wie aus einem Wintermärchen entsprungen. Die Straßen sind von einer feinen Schicht aus Raureif überzogen, die bei jedem Schritt unter den Stiefeln knirscht. Es herrscht eine ruhige, fast meditative Stille, die nur gelegentlich vom heiseren Rufen der Raben oder vom entfernten Lachen von Kindern unterbrochen wird, die im Schnee spielen.
Die Häuser hier sind meist im viktorianischen Stil gebaut, mit spitzen Giebeln, dekorativen Verzierungen und schmalen Schornsteinen, aus denen oft Rauch aufsteigt. Das warme, gelbliche Licht der Gaslaternen erleuchtet die Straßen, sobald die Dämmerung einsetzt. Die Gärten, die diese Häuser umgeben, sind von einer dünnen Schneedecke bedeckt, und hier und da sind Spuren von Eichhörnchen und Vögeln zu sehen, die nach Futter suchen.
Der See, der das Herz dieses Vororts bildet, liegt still und geheimnisvoll in der Winterlandschaft. Er ist nur teilweise zugefroren; dickes Eis bedeckt die flachen Bereiche am Ufer, während die Mitte des Sees von kaltem, dunklem Wasser durchzogen ist. Eine feine Schicht Schnee hat sich auf dem Eis abgesetzt, und dort, wo das Eis klar und durchsichtig ist, erkennt man gelegentlich eingefrorene Luftblasen und kleine Risse, die wie Adern wirken. Einige Kinder sind mit Schlittschuhen auf dem Eis unterwegs und gleiten lachend über die glatte Oberfläche, während ihre Eltern am Ufer stehen und heißen Tee aus Thermoskannen trinken.
Ein schmaler Pfad führt um den See herum, gesäumt von hohen, kahlen Bäumen, deren Äste wie schwarze Silhouetten gegen den grauen Himmel stehen. Auf diesem Weg trifft man Spaziergänger mit Hunden, Jogger, die trotz der kühlen Temperaturen ihre Runden drehen, und gelegentlich einen Fotografen, der die stille Schönheit der Landschaft einfängt. Unter den Bäumen liegen häufig Haufen von braunem Laub, das noch nicht ganz vom Schnee bedeckt ist. Die wenigen Bäume, die ihre Blätter behalten haben – vor allem immergrüne Kiefern und Tannen – tragen nun eine schwere Last aus Schnee.
Im Zentrum des Vororts gibt es einen kleinen Marktplatz, der auch im Winter das soziale Herz der Gemeinschaft bleibt. Hier stehen einige Geschäfte und Cafés, deren Schaufenster mit Lichtern und winterlichen Dekorationen geschmückt sind. Ein Bäcker bietet frische Brötchen und Lebkuchen an, und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee strömt aus einem kleinen, gemütlichen Café, dessen Fenster mit Eisblumen bedeckt sind. In einer Ecke des Platzes befindet sich ein Weihnachtsbaum, der mit bunten Kugeln und einer Lichterkette geschmückt ist. Kinder bleiben oft stehen, um ihn zu bewundern, während die Erwachsenen mit Einkaufstüten beladen sind.
Ein wenig abseits des geschäftigen Marktplatzes steht die alte Dorfkirche mit ihrem hohen, schlanken Turm. Ihre Steinfassade ist von Moos überwachsen, und die schweren Holztüren sind mit Eisästen verziert, die wie kleine Skulpturen wirken. Die Glocken der Kirche schlagen jede Stunde und verleihen dem Ort einen Hauch von Nostalgie. Hinter der Kirche befindet sich ein kleiner Friedhof, dessen Grabsteine mit Schnee bedeckt sind. Der Ort strahlt eine friedliche, melancholische Schönheit aus, besonders im Licht des frühen Abends.
Die Bewohner des Vororts haben sich gut auf den Winter eingestellt. Viele tragen dicke Wollmäntel, Schals und Handschuhe, und es scheint, als würde niemand die Kälte, die klare Luft scheuen. In den Häusern flackern Kamine, und aus den Küchen dringen die einladenden Gerüche von winterlichen Gerichten – Suppen, Eintöpfen und frisch gebackenem Brot. Manche Familien haben Kerzen in ihre Fenster gestellt, deren warmes Licht eine einladende Atmosphäre schafft. In den Abendstunden sieht man Kinder, die mit roten Wangen nach Hause eilen, während Erwachsene den Tag mit einem Spaziergang am See ausklingen lassen.
Ein besonderes Highlight im Winter ist der kleine Weihnachtsmarkt, der jedes Jahr am Ufer des Sees stattfindet. Hier gibt es Holzbuden, die handgefertigte Waren, heißen Glühwein und geröstete Kastanien anbieten. Musiker spielen traditionelle schottische Lieder auf ihren Fiddles, und ein Chor singt Weihnachtslieder, deren Klänge sich mit dem Knistern der Feuerkörbe mischen. Die Gemeinde versammelt sich hier, um die festliche Stimmung zu genießen, und man spürt, wie der Geist von Zusammenhalt und Freundschaft den Ort erfüllt.
Der Winter bringt auch Herausforderungen mit sich. Die engen Straßen des Vororts werden gelegentlich von Schneeverwehungen blockiert, und die Bewohner helfen einander dabei, die Gehwege und Einfahrten zu räumen. Der See, so schön er auch aussieht, birgt Gefahren, wenn das Eis an manchen Stellen zu dünn ist. Die Dorfgemeinschaft hat jedoch klare Regeln aufgestellt, um Unfälle zu vermeiden, und ein kleines Team von Freiwilligen kontrolliert regelmäßig die Sicherheit der Eisflächen.
Der Winter hat Lochview fest in seinem eisigen Griff. Frostige Luft schneidet wie winzige Messer, und alles, was still steht, wird in eine starre, glitzernde Hülle aus Eis getaucht. Die kahlen Äste der Bäume am Rand des Sees biegen sich unter dem Gewicht des Raureifs, der glitzert, wenn die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ihn streifen. Der See selbst ist still, eine dünne, brüchige Schicht aus Eis hat sich über ihn gelegt. Die Oberfläche ist unruhig, kleine Risse und Schollen zeugen davon, dass das Eis fast noch nicht die Stärke erreicht hat, um den neugierigen Mut der Kinder aus der Gegend zu testen.
Doch der See ist nicht verlassen. Mitten auf dem alten Holzsteg, der sich wackelig über das Wasser erstreckt, liegt ein Mädchen. Sie ist vielleicht elf oder zwölf Jahre alt, schwer zu sagen unter dem dicken, abgetragenen Wintermantel, der sie beinahe verschluckt. Der Mantel ist zu groß für sie, die Enden der Ärmel schlottern lose um ihre Hände, die ausgebreitet neben ihrem Körper liegen. Ihre Beine, steckend in einer verwaschenen, wollenen Strumpfhose, sind schmal, und ihre kleinen Füße in abgetragenen Stiefeln stehen über den Rand des Stegs hinaus.
Das Mädchen liegt auf dem Rücken, regungslos, die Augen geschlossen. Für den flüchtigen Betrachter könnte es so wirken, als wäre sie von der Kälte besiegt worden, als wäre sie eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man das Leben in ihr. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich, nur schwach, aber beständig. Der Mantel über ihrem Körper hebt sich mit jeder Einatmung leicht und senkt sich mit jeder Ausatmung wieder. Ein sanfter, kaum wahrnehmbarer Rhythmus, der gegen die überwältigende Stille des Winterabends ankämpft.
In der Ferne sind Menschen zu hören. Gelächter, das schallend durch die frostige Luft getragen wird. Ab und zu durchdringen Rufe und das dumpfe Geräusch von Schritten den friedlichen See. Es ist die übliche Geschäftigkeit eines Winterabends in Lochview, wo die meisten Menschen sich in die Wärme ihrer Häuser zurückziehen, bevor die Dunkelheit hereinbricht. Doch niemand scheint das Mädchen auf dem Steg zu sehen.
Niemand bemerkt sie, wie sie dort liegt, wie ein kleines Geheimnis, verborgen inmitten der eisigen Landschaft.
Plötzlich bewegt sich das Mädchen. Es ist eine zaghafte Bewegung, ein winziges Ruckeln, kaum mehr als ein Zittern. Ihr Kopf dreht sich ein wenig zur Seite, und ihre geschlossenen Augenlider zucken leicht. Für einen Moment bleibt sie wieder still, als hätte sie nur geträumt. Aber dann wölbt sich ihre Stirn, eine flüchtige Falte, und sie dreht sich langsam, vorsichtig, auf den Bauch. Ihre Hände tasten über die rauen, mit Frost bedeckten Planken des Stegs. Sie bewegt sich, als würde sie einer unsichtbaren Anweisung folgen, einer inneren Stimme lauschen, die niemand sonst hören kann.
Schließlich legt sie ihren Kopf seitlich auf die Bretter, drückt ihr Ohr gegen das gefrorene Holz. Ihre Bewegungen sind bedacht, fast rituell, als wüsste sie genau, was sie tut. Ihre dunklen Haare, die unter ihrer gestrickten Wollmütze hervorquellen, kleben an ihrer Wange, die von der Kälte gerötet ist. Ihre Augen bleiben geschlossen, aber ihre Lippen bewegen sich leise, als würde sie Worte murmeln, die niemand hören kann.
Dann ist es da. Das Geräusch. Ein leises, tiefes Vibrieren, kaum mehr als ein Flüstern, das durch das Holz des Stegs zu ihr getragen wird. Es ist ein dumpfer, rhythmischer Klang, wie ein ferner Herzschlag, gleichmäßig und doch fremd. Ihre Augenlider zucken, ihre Hände klammern sich an das Holz. Das Vibrieren wird lauter, verstärkt sich, wird so intensiv, dass sie es nicht nur hört, sondern in ihrem ganzen Körper spürt. Es ist, als würde der Steg selbst zu leben beginnen, als hätte er eine Geschichte zu erzählen, die nur sie verstehen kann.
Das Mädchen verharrt regungslos. Ihr Atem geht schneller, kleine Wolken entweichen ihren leicht geöffneten Lippen. Sie wagt es nicht, sich zu bewegen, wagt es nicht, die Verbindung zu dem Klang zu unterbrechen, der sie so unnachgiebig gefangen hält. Sie presst ihr Ohr noch fester gegen das Holz, als würde sie versuchen, näher heranzukommen, tiefer in den Klang einzutauchen.
Doch dann verstummt das Geräusch. So plötzlich, so endgültig, dass sie erschrickt. Das Vibrieren bricht ab, und es bleibt nur die Stille. Die Stille des Sees, die Stille des Waldes, die Stille des herannahenden Abends. Das Mädchen hebt den Kopf, blinzelt, als wäre sie aus einem Traum gerissen worden. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihre Lippen leicht geöffnet, aber sie sagt nichts. Sie bleibt eine Weile so sitzen, starrt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, als könnte sie es durch schiere Willenskraft zurückholen.
Aber da ist nichts mehr. Nur die Kälte, die sie plötzlich empfindet, die sich durch den Mantel bohrt und ihre Haut erreicht. Sie zittert, aber es ist nicht nur die Kälte, die sie bewegt. Es ist etwas anderes, eine Ahnung, ein Gefühl, das sie nicht in Worte fassen kann. Schließlich steht sie auf, langsam, zögerlich. Sie klopft sich den Schnee von den Knien, schaut noch einmal zurück auf den See, der jetzt im letzten Licht der Abendsonne liegt.
Sie geht. Ihre Schritte sind leise, der Steg knarrt unter ihrem Gewicht, doch sie achtet nicht darauf. Sie bewegt sich wie in Trance, ihre Gedanken scheinen weit weg zu sein, irgendwo bei dem Klang, der noch immer in ihrem Kopf widerhallt. Der Pfad, der vom Steg wegführt, ist schmal, und der Schnee knirscht unter ihren Stiefeln. Die Schatten der Bäume werden länger, die Sonne sinkt hinter den Horizont.
Das Mädchen verschwindet im Wald, ihre Silhouette löst sich auf zwischen den dunklen Stämmen. Der See bleibt zurück, still und reglos, und doch scheint es, als würde er etwas bewahren, etwas Unsichtbares, das nur sie gehört hat.
Und mit dem Mädchen verschwindet auch die Sonne.
Die Dämmerung ist hereingebrochen, als Lisa den schmalen Waldpfad entlangläuft. Die Kälte sticht in ihre Wangen, doch sie zieht den Mantel fester um sich und beschleunigt ihre Schritte. Vor ihr liegt das kleine, steinerne Haus, das sie ihr Zuhause nennt. Es duckt sich zwischen die kahlen Bäume, von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die unter dem Mondlicht silbern schimmert. Aus dem Schornstein steigt ein dünner Rauchfaden auf, und die Fenster glimmen warm in der frostigen Dunkelheit.
Lisa öffnet das Gartentor, das mit einem vertrauten Quietschen zurückschwingt, und stapft den kurzen Weg zur Haustür hinauf. Sie drückt die Klinke herunter, das Holz knarrt, und warme Luft schlägt ihr entgegen. Im Flur riecht es nach Eintopf, doch auch der vertraute Geruch tröstet sie nicht. Ihre Gedanken hängen immer noch an dem Geräusch, das sie am See gehört hat. Es war so klar, so real, und doch weigert sich ihr Verstand, eine Erklärung zu finden.
„Lisa!