Das kolonialisierte Gehirn und die Wege der Revolte - Andreas Heinz - E-Book

Das kolonialisierte Gehirn und die Wege der Revolte E-Book

Andreas Heinz

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Beschreibung

Das moderne Verständnis von Hirnfunktionen und psychischen Erkrankungen ist tief geprägt durch die Projektion kolonialer Hierarchien auf das Gehirn: Vermeintlich höheren Hirnzentren und Funktionen wird die Aufsicht über die angeblich primitiven Triebe und Lüste zugeschrieben. Psychische Erkrankungen wurden lange als Verlust dieser herrschaftlichen Kontrolle verstanden und die Betroffenen wurden Machttechniken ausgeliefert, die aus den Kolonien reimportiert wurden. Andreas Heinz rekonstruiert die Geschichte der Revolten gegen diese rassistischen Konstruktionen wie auch der Gegenbewegungen. Lassen sich noch bis in gegenwärtige Formen achtsamer Selbstdisziplin Spuren der verinnerlichten Hierarchien des kolonialisierten Gehirns finden?

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Cover

Titel

3Andreas Heinz

Das kolonialisierte Gehirn und die Wege der Revolte

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2403

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77596-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorbemerkung

Kapitel 1: Einführung: Die Wirklichkeit der Bilder

Teil 1: Die wilde Versuchung und der koloniale Blick

Kapitel 2: Der von Degeneration und Dekadenz bedrohte Herrscher

Kapitel 3: Darwin und Nietzsche – der Traum von der »Vernichtung der verfallenden Rassen«

Kapitel 4: Das kolonialisierte Gehirn: Evolution und Dissolution – eine neue Synthese

Teil 2: Gegenbewegungen und Reaktionen

Kapitel 5: Grenzüberschreitungen: Die revolutionäre Verkehrung der Werte und die »völkische« Reaktion

Kapitel 6: Grenzüberschreitungen: Der autoritäre Charakter und das Leben in der Revolte

Kapitel 7: Die anthropologische Wende und die Diversifizierung sozio-kultureller Entwicklungsmodelle

Teil 3: Die modernisierende Reform und die Mühen der Ebene

Kapitel 8: Sozialpolitische und theoretische Verschiebungen zu Beginn der Psychiatriereform

Kapitel 9: Freiheit heilt – heilt Freiheit?

Kapitel 10: Soziale Ungleichheit und psychische Krankheit

Teil 4: Die Kritik der Reform: revolutionäre Utopien und organische Widerstände

Kapitel 11: Theoretische und praktische Kämpfe um die therapeutische Gemeinschaft und die »negierte« Institution

Kapitel 12: Michel Foucault und der Weg von der Repression zur taktischen Polyvalenz der Diskurse

Kapitel 13: Krankheit als Metapher und die organische Herausforderung

Teil 5: Versuch einer Standortbestimmung der Gegenwart

Kapitel 14: Das 21.Jahrhundert – traditionelle Modelle und soziale Einflüsse

Kapitel 15: Eulenspiegeleien, Schwejkiaden und psychotische Dekontextualisierung: psychische Erkrankungen als Widerstand?

Kapitel 16: Die achtsame Selbstdisziplin – Psychotherapie zwischen anthropologischen Grundannahmen und sozialen Bedingungen zu Beginn des 21.Jahrhunderts

Kapitel 17: Ausblick: Ein für soziale Kämpfe offener Krankheitsbegriff

Danksagung

Literatur

Namenregister

Fußnoten

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5Vorbemerkung

Viele Zitate zeigen die Härte und Menschenverachtung der jeweiligen (in der Regel männlichen) Verfasser und können verletzen. Das [N-Wort] wurde durchgehend nicht ausgeschrieben; sein rassistisch diskriminierender Charakter ist hinreichend bekannt. Ein im Kontext positiver Bezug auf Zitate beinhaltet keine Unterstützung weiterer, nicht zitierter Aussagen oder Positionen der Autorinnen und Autoren. Das gilt explizit im Hinblick auf eine historisch falsche Gleichsetzung unterschiedlicher Formen des Terrors, antisemitische Doppelstandards mit Delegitimierung oder Dämonisierung Israels und die Verleugnung der Einzigartigkeit der Shoa.

9Kapitel 1: Einführung: Die Wirklichkeit der Bilder

Wird das Thema rassistischer Konstruktionen in der Psychiatrie erörtert, dann evoziert jeder zu diskutierende Begriff, jedes diskursive Muster und jede mit Praktiken verwobene Narration eine Vielzahl von Erinnerungsbildern, Vorstellungen und Vorurteilen. Die hier anklingenden Bilder sind zutiefst emotional gefärbt, sie tragen – wie zu zeigen sein wird – die Spuren jahrhundertelanger Sklaverei in den sich selbst als christlich verstehenden Nationen und ihren Kolonien. Diese Bilder sind kein Beiwerk, sondern – so eine These dieser Arbeit – integraler Bestandteil, ja organisatorisches Zentrum der sich um sie entfaltenden Diskurse. Wildheit, Barbarei und Zivilisation, Trieb und Vernunft, Herrschaft und Revolte, Natur und Kultur sind als theoretische Konstrukte eingebettet in einen Bedeutungshof, eine Geschichte, ein Spektrum an Narrationen dieser Geschichte und in die jeweilige Reproduktion der individuellen Identitäten, die sich innerhalb dieser Erzählungen entfalten. Deshalb soll zu Beginn dieser Exkursion in die Vergangenheit psychiatrischer und psychologischer Theorien eine Auseinandersetzung mit den Bildern stehen, die nicht allein das alltägliche Verständnis der Mitwelt, sondern auch die wissenschaftlichen Versuche ihrer systematischen Erfassung bündeln und prägen.

Die Wirklichkeit der Bilder ist ein Band tituliert, der den Ausdruck gesellschaftlicher Bedingungen in den Werken der Renaissance-Maler beschreibt.[1]  Ökonomische Verhältnisse bestimmen Preis und Qualität der Farben, die die Käufer vorab mit den Künstlern verhandeln; die mathematische Konstruktion der Perspektiven zeigt geometrische Kenntnisse, die zum Beispiel auch für die Lagerung von Waren in Fässern benötigt werden. Bilder reflektieren unser Verständnis von dem, was wir »Wirklichkeit« nennen, sie prägen es aber auch. Wenn der Psychiater Eugen Bleuler in seinem Werk Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien, das einer ganzen Krankheitsgruppe den bis heute gültigen Namen geben wird, das vermeintlich autistische Wunschdenken der Schizophrenen mit 10dem »des [N-Wort]« vergleicht, geht es um mehr als einen Schematismus evolutionärer Spekulationen, die psychische Erkrankungen als Rückfall auf eine »primitive« Entwicklungsstufe der Menschheit missverstehen.[2]  Auch hier werden Bilder aktiviert: In der Brutalität der Ausschließung psychisch Kranker spiegeln sich die kolonialen Grausamkeiten, die zeitgleich mit Bleulers rassistischer Konstruktion mittels Vernichtungskriegen und Konzentrationslagern im damaligen Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) stattfinden.[3] 

Die aktive Konstruktion der Erinnerungsbilder, die unsere Erfahrung der »Wirklichkeit« prägen und selbst wieder in Schemata und bildhaften Darstellungen Ausdruck finden, thematisiert Stephan Otto.[4]  Er betont den »Zwischenraum« zwischen Anschauung und Begriff, »in den die Analyse und Beschreibung einer erkenntnisrelevanten ›Anschaulichkeit‹ eingepasst wäre«.[5]  Dieser Zwischenraum entspannt sich laut Otto zwischen »Anschauung und Verstand«, er ist zwar von der Sinnlichkeit abhängig, aber mit der Anschauung eines »sinnlich unvermittelt ›Gegebenen‹« nicht identisch.[6]  Otto betont, dass sich diese Anschaulichkeit nicht einfach mit einem Verstandesdenken zur Deckung bringen lässt, das das in der Anschauung Gegebene nur subsumiert. Vielmehr sei diese Anschaulichkeit von intentionalen Akten der »Veranschaulichung« nicht abzulösen und damit eine aktive Leistung, die »Erinnerungsbilder« erst ermöglicht.[7]  Dieser kreative, aber eben auch vielfältig beeinflussbare Prozess der Veranschaulichung begründet für Otto auch die Personalität: »Eine Person findet zu sich selbst, wenn sie den denkbaren Gedanken ›Ich‹ als darstellbar und dargestellt denkt in ihrem Satz ›Ich erinnere mich‹ – und mit diesem Gedanken identifiziert sie sich auch im flüchtigen Strom ihrer Erinnerungsbilder, ja sie schafft sich mit Hilfe dieses Gedankens ein Bild ihrer Selbst.«[8] 

Wenn Otto hier die aktive Kreation wie die kreative Potenz der 11»Erinnerungsbilder« von der Anschauung abhebt und gegenüber einer begrifflich subsumierenden Analyse auf ihrer Eigenständigkeit beharrt, zeigen sich das Potenzial wie die Gefährlichkeit der Bilder in mehrerer Hinsicht: Sie können den sprachlich vermessenen Diskurs unterlaufen, vermeintlich irrationale Aspekte im affektiv grellen Licht aufleuchten lassen, von herrschenden Urteilen und Vorurteilen in ihrer Konstruktion beeinflusst werden, durch unerwartete Einsprengsel aber auch bestimmte Aspekte vorherrschender Sichtweisen subvertieren, unter der Oberfläche des ewig Gleichen Neues erhellen.

Ottos Betonung einer Anschaulichkeit der Erinnerungsbilder als aktive Leistung erinnert neurowissenschaftlich an Theorien über die Funktion unseres Nervensystems in Kontakt mit den Sinnesdaten: Friston und andere[9]  betonen, dass unsere Erkenntnisse über die Welt nicht aus dem direkten Kontakt mit den Sinnesdaten entstehen, sondern durch einen Abgleich des Vorwissens (prior knowledge) mit den durch dieses Vorwissen immer schon geformten Inputs in das System (es handelt sich auch nicht um ein bewusst reflektiertes »Wissen«, sondern eher um eine Art Vorinformation). Verglichen werden also nicht Sinnesdaten mit Vorannahmen (priors), sondern Vorannahmen mit »Nachannahmen« (posteriors), die wiederum nur aus der Kombination der Vorannahmen mit den Sinnesdaten entstehen. Komplexe Systeme wie das Gehirn verarbeiten also externe Sinnesreize im Rahmen ihrer durch Vorwissen und dessen Vorgeschichte immer schon geprägten Konstitution, ein Gedanke, der in ganz anderem Kontext auch in Luhmanns Aussage anklingt, dass einzelne »Elemente« im »Kontaktnetz des Systems« ihre Eigenschaften immer auch »aus der Selektionsgeschichte des Systems und aus der je besonderen Situierung« gewinnen.[10] 

Man mag neurobiologische, mit Bayesianischer Mathematik unterlegte Ansätze zur Erklärung der Funktionsweise des Gehirns schätzen oder nicht, gemeinsam ist der Betonung der kreativen Anschaulichkeit durch Otto und der Konstruktion unserer Erkenntnis durch Friston und andere die Betonung der aktiven Konstruktion unserer Anschauungen angesichts der eingehenden Sinnesdaten: 12Wir stoßen in unserer Anschauung nicht auf »die Realität, wie sie ist«, sondern wir werden mit Erkenntnissen über die Umwelt konfrontiert, die einerseits durch Vorwissen geprägt sind und andererseits durch aktive Verarbeitung des Inputs zu neuen und überraschenden Konstellationen und damit zu »Vorhersagefehlern« führen können, die wiederum zur Korrektur unserer Vorannahmen beitragen. Ein an anderer Stelle ausführlicher geschildertes Beispiel[11]  kann das Gesagte illustrieren und wird hier als »Erinnerungsbild« im Sinne Ottos benannt:

Erinnerung

Klinik für Neurologie, Bochum, 1990. Ein Patient hatte bedingt durch einen Tumor im Bereich der Verbindung zwischen den primären Sehfeldern und Regionen des Hirnmantels, in denen komplexe visuelle Wahrnehmungen verarbeitet werden, einen Ausfall eines Teils seines Gesichtsfeldes. In einer Fortbildung hatte ich vom Phänomen der »Palinopsie« gehört, bei der Patientinnen und Patienten mit solchen Gesichtsfeldausfällen visuelle Halluzinationen erleben können, die das Gesehene stimmig im Bereich des Gesichtsfelddefekts ergänzen. In der Literatur beschrieben war beispielsweise, dass Patientinnen und Patienten, die ein Schachbrettmuster sehen, auch im Bereich des ausgefallenen Gesichtsfeldes dieses Schachbrettmuster wahrnehmen und somit gar keinen Gesichtsfeldausfall mehr bemerken. Offenbar wird also aufgrund des Vorwissens über Schachbrettmuster und einer kontextuellen sinngemäßen Ergänzung des Gesehenen der Gesichtsfelddefekt ausgeglichen.

Deshalb fragte ich den Patienten, ob er solche Erfahrung auch schon gemacht habe. »Das ist mir tatsächlich passiert!«, antwortete er und schilderte, dass er kürzlich beim Beobachten eines Fußballspieles bemerkt habe, wie ein Spieler der gegnerischen Mannschaft einen zweiten Ball von der Seitenlinie aus ins Spiel geworfen hätte. Minutenlang habe die geg13nerische Mannschaft mit diesem Ball gespielt und er habe sich sehr geärgert, dass der Schiedsrichter die Partie nicht unterbrochen habe. Schließlich habe er bemerkt, dass er das ganze Geschehen im Bereich seines Gesichtsfelddefekts offenbar nur halluziniert hatte.

Weit über eine sinngemäße und möglicherweise mechanische Ergänzung eines Schachbrettmusters hinaus wird in diesem Beispiel die kreative Leistung bei der Entstehung der Wahrnehmungs- und Erinnerungsbilder deutlich: Gesehen werden sich natürlich bewegende Figuren in unauffälliger, ihrer Umgebung angepasster Größe, zudem in den richtigen Trikotfarben, und das ganze Geschehen ist so perfekt in den Kontext des »wirklich« ablaufenden Fußballspiels eingepasst, dass die betroffene Person minutenlang vom unfairen Verhalten der gegnerischen Mannschaft und vom Versagen des Schiedsrichters fasziniert war. Diese ganze Wahrnehmung spielte sich ohne das bewusste Zutun der betroffenen Person im Sehbereich ihres Gesichtsfelddefekts ab. Emotional gefärbte und adäquat kontextuell umgestaltete Erinnerungsbilder können also durch im Detail unbekannte Prozesse getriggert werden und belegen die Kreativität, aber auch die Gefahren der Verfälschung vermeintlich wahrer Bilder, die uns als korrekte Wahrnehmung oder Erinnerung erscheinen.

Werden vom Vorwissen geprägte Bilder zu Erinnerungsbildern, werden diese nicht nur durch visuelle Prozesse, sondern auch durch versprachlichtes Vorwissen geprägt. »Der Sinn, den man ersinnen kann, ist nicht der ewige Sinn. Der Name, den man nennen kann, ist nicht der ewige Name. Jenseits des Nennbaren liegt der Anfang der Welt. Diesseits des Nennbaren liegt die Geburt der Geschöpfe«, schreibt Laotse in der Übersetzung von Richard Wilhelm.[12]  In der Übersetzung von Ames und Hall wird der Bezug zur sprachlichen Artikulation noch deutlicher: »Way-making (dao) that can be put into words is not really way-making, and naming (ming) that can assign fixed reference to things is not really naming. The nameless 14(wuming) is the fetal beginning of everything that is happening (wanwu), while that which is named is their mother.«[13]  Mit dem Benennen beginnt die Unterscheidung der Einzelwesen und Dinge, ohne dass dieses versprachlichende Kategorisieren die fließenden Erfahrungen je endgültig fixieren kann. Man muss nicht mit Whorf postulieren, dass »linguistische Muster« und der imaginäre Raum, den sie entfalten, das sogenannte habituelle Denken und die dadurch konstituierte »Gedankenwelt« unhintergehbar prägen.[14]  Es genügt, die sprachlichen Artikulationen und die mit ihnen verbundenen Bilder zu dem Vorwissen zu rechnen, das unsere Wahrnehmungen und Erinnerungen immer schon prägt und strukturiert.

Im Bereich der wissenschaftlichen Forschung spielt die sprachliche Kategorisierung der über persönliche Wahrnehmung oder mechanische Registrierung aufgenommenen Daten eine wesentliche Rolle. Ludwik Fleck beschreibt, wie Bakteriologen Kolonien unterschiedlicher Keime einzuteilen suchten und wie sich erst nach längeren Bemühungen einzelne »Denkstile« bildeten, die das ursprünglich »unklare Sehen und die inadäquate erste Beobachtung« durch eine anfangs »irrationale, begriffebildende, stilumwandelnde Erfahrenheit« schließlich in das »entwickelte, reproduzierbare, stilgemäße Gestaltsehen« umwandelten.[15]  Besonders wichtig an diesen Ausführungen ist der retardierende Einfluss des Vorwissens, der Untersuchungen der Bakterien aufgrund rigider Vorannahmen über deren Gleichförmigkeit nur zu einem festen Zeitpunkt nach dem Beimpfen des Nährbodens für richtig hielt. Die theoretischen Vorannahmen strukturieren den Raum schulgerechter Praktiken und der durch sie ermöglichten Erfahrungen. Nur außerhalb dieser »Denkschule« verbreitete sich die anfangs überraschende Beobachtung, dass »innerhalb der Kolonien nach einigen Tagen Knöpfe 15wachsen, die modifizierte Keime enthalten«.[16]  Das etablierte, starr orthodoxe System der Bakteriologie, das die Gleichförmigkeit fixer Arten postulierte, ermöglichte laut Fleck zwar einerseits »viel Gestaltsehen und viele anwendbare Tatsachen«, machte aber »anderes Gestaltsehen und andere Tatsachen unmöglich«.[17]  In diesem etablierten Denkstil war die Variabilität der Keimkolonien rational nicht erklärbar und wurde zum technischen Fehler erklärt. Erst im Zuge veränderter Praktiken, in diesem Fall im Rahmen einer erneuten späteren Beobachtung der Bakterienkolonien, konnte eine Erfahrung gewonnen werden, die zuvor als »irrationaler« Verstoß gegen vorherrschende Annahmen der Gleichförmigkeit der Keimarten verworfen wurde. Die wissenschaftliche Verbreitung dieser so konstituierten neuen Tatsachen erfolgt dann nicht zufällig außerhalb der an ihren bisherigen Vorannahmen festhaltenden Denkschule und prägt einen neuen Denkstil, der selbst wieder zu einer geordneten Praxis gerinnt, die bestimmte Wahrnehmungen ermöglicht und andere ausschließt.

Das Beispiel zeigt, wie die vermeintlich objektiven Bilder unserer Wahrnehmung in einem kontextbezogenen System geprägt und eingeordnet werden. Die »Wirklichkeit der Bilder« wird bezüglich bestimmter Merkmale verfeinert, die vom Denkstil betont werden, andere Aspekte gehen verloren, sodass es im Denkstil geschulten Beobachtern fast unmöglich scheint, die einmal erlernte Gestalt nicht zu registrieren.

Während die wissenschaftskritische Arbeit von Fleck vornehmlich auf die Entstehung einzelner wissenschaftlicher Befunde bzw. Tatsachen und auf die damit interagierende Entwicklung wissenschaftlicher Denkschulen abzielt, fokussiert die Arbeit von Thomas Kuhn auf die großen Umbrüche in übergreifenden wissenschaftlichen Weltbildern.[18]  So schildert Kuhn den Übergang von einer an Newton orientierten Physik zu einem an Einstein orientierten Erklärungsmodell, der mit einem unterschiedlichen Verständnis von Raum und Zeit die postulierten Strukturen der Welt fundamental verändert. Trotz aller Differenzen im Detail gibt es vielfältige Bezüge zwischen den Thesen Flecks und Kuhns bezüglich der 16besonderen Bedeutung praktischer und praxisnaher Aspekte wissenschaftlichen Forschens. Bei Kuhn werden diese unter dem (allerdings mehrdeutigen) Begriff »Paradigma« thematisiert, der geteilte Grundannahmen über relevante Daten, dazu geeignete Versuchsanordnungen und -abläufe und deren theoretische Definitionen umfasst.[19]  Auch im Bereich der Neurowissenschaften spielen solche Paradigmen und die mit ihnen verbundenen linguistischen Muster, Bilder und Praktiken eine besondere Rolle. Visuell dargebotene Bildreize sind von besonderer Bedeutung für das weit verbreitete funktionelle Neuroimaging mittels Magnetresonanztomografie, nicht zuletzt ganz einfach deshalb, weil es während der Messung im Scanner sehr laut ist, sodass für die Verarbeitung akustischer Reize relevante Hirnregionen unspezifisch aktiviert sein können und visuell dargebotene Informationen deutlich weniger störanfällig sind als akustische. Mit diesen Bildern und der Versinnbildlichung komplexer Informationen tritt aber auch die ganze Vielfalt des mit der bildlichen Information verbundenen Vorwissens inklusive seiner affektiven Aspekte in den Bereich wissenschaftlicher Forschung.

Die Aufarbeitung wissenschaftlicher Befunde tritt dann wiederum, wie sich am Beispiel der Klassifikation von Bakterienkolonien zeigte, in Interaktion mit dem versprachlichten Vorwissen und den mit ihm verknüpften Assoziationen und imaginären Räumen. Sprachliche Benennungen können ebenso auf die visuelle Wahrnehmung und ihre Bewertung einwirken, wie umgekehrt die Replikation oder Veränderung vorherrschender Beobachtungspraktiken die sprachlichen Fixierungen beeinflusst. Die Bedeutung solcher Interaktionen wird am Beispiel Eugen Bleulers deutlich, der das psychotische Wunschdenken, den von ihm so titulierten »Autismus«, mit dem angeblichen Verhalten »des [N-Wort]« angesichts einer drohenden Strafe vergleicht: Laut Bleuler sei für den so konstruierten Vertreter aller kolonialisierten Subjekte unverständlich, warum er für eine Verfehlung bestraft werde, die er »gestern selbst gestanden« habe, heute aber »mit aller Sicherheit ableugnet«.[20]  Mit der Wahl des Singulars wird hier nicht nur die Vielfalt der Lebensformen und -wirklichkeiten ignoriert, die Reduktion der Personen auf einen an ihrer Hautfarbe orientierten Ausdruck evoziert zudem 17all die negativen Assoziationen, die sich nach Jahrhunderten des transatlantischen Sklavenhandels mit diesem Wort verbinden:[21] ,[22]  »Der Name ›[N-Wort]‹ steht […] in einem Zusammenhang mit einer Unterwerfungsbeziehung, einem Unterjochungsverhältnis. Im Grund gibt es den ›[N-Wort]‹ nur in Beziehung zu einem ›Herren‹. Der ›Herr‹ besitzt seinen ›[N-Wort]‹. Und der ›[N-Wort]‹ gehört seinem ›Herrn.‹«[23]  Nicht zufällig droht also in Bleulers Anekdote vom Wunschdenken die Disziplinierung des singularisierten Objekts. Die Bestrafung ist der Ausdruck der Herrschaftsbeziehung. Aber wo erscheint der Herr in diesem Arrangement? In der Komplizenschaft des kolonialen Blicks, der die Ausflüchte des Untertanen ebenso durchschaut, wie der diagnostische Blick des Psychiaters das »primitive« Wunschdenken der Schizophrenen durchdringt. Ein kritischer Ansatz zielt deshalb darauf, die vielfältigen Diskurse zu psychischen Erkrankungen im Hinblick auf gemeinsame Grundstrukturen des vorherrschenden Wissens zu untersuchen, die sich im Sinne von Lévi-Strauss als Reihung von Differenzen beschreiben lassen,[24]  die ihre jeweils eigenen (ent)wertenden und hierarchisierenden Assoziationen entfalten und so zur Rechtfertigung (post-)kolonialer Herrschaft und zur Selbstdisziplinierung der Bevölkerungen dienen können.[25] 

Wenn Otto betont, dass der Selbstbezug einer jeden Person als »darstellbar und dargestellt« von der aktiven Erinnerung abhängt und erst in dieser ein Bild ihrer selbst entsteht,[26]  dann wird deutlich, welchen Einfluss ein Kurzschluss rassistischer Abwertungs- und Rechtfertigungsversuche aus dem kolonialen Kontext mit einer evolutionären Erklärung psychischer Erkrankungen haben kann. Die hier verwendeten Bilder und ihre Strukturen prägen das Verständnis und den Umgang mit psychisch erkrankten Personen und beeinflussen den Selbstbezug der Patientinnen und Patienten und der Professionellen, der Gesunden und der Erkrankten. Ent18sprechend sollen im folgenden Kapitel verschiedene Aspekte der Projektion kolonialer Hierarchien auf psychisch Kranke und die ihnen zugeschriebenen Funktionsfähigkeiten und Besonderheiten ihrer Gehirne thematisiert werden. Die Entstehung eines modernen Verständnisses psychischer Krankheit zeigt sich in dieser Sicht als Internalisierung kolonialer Grenzen, die zur Selbstdisziplinierung der Kolonialisierenden und zur Ausgrenzung und »Ausmerze« der vermeintlich »Minderwertigen« führt. Die Projektion sozialer Herrschaftsverhältnisse auf das Gehirn wird – wie im Kapitel »Das kolonialisierte Gehirn« zu zeigen sein wird – durch Artikulation wissenschaftlicher Erkenntnisse in Gestalt sozialer Hierarchien vollzogen, sodass es wenig verwundert, dass hier ein Bild vom Gehirn entsteht, mit dem kaum jemand außerhalb der Neurowissenschaft etwas zu tun haben will.[27]  Hier stellt sich die Frage nach einer ideologischen Funktion solcher Projektionen, die über die Rechtfertigung sozialer Hierarchien durch vermeintlich naturgegebene Organisationsstrukturen hinausgeht. Wolfgang Fritz Haugs[28]  Begriff des »Ideologischen« kann helfen, die Auswirkungen sozialer und wissenschaftlicher Bildagglutinationen, also der Verschmelzung unterschiedlich konstruierter Bilder, zu erfassen. Zu fragen ist also nach der jeweiligen Bedeutung wissenschaftlicher Konstruktionen und der mit ihnen verbundenen Bilder für die Einbindung unterschiedlicher Gemeinschaften in die jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen.

Mit der Freilegung der kolonialen Hierarchien im modernen Selbstverständnis psychisch gesunder und ständiger Selbstoptimierung verpflichteter Menschen stellt sich aber auch die Frage nach den Alternativen, den »Wegen der Revolte«. Dabei lohnt es sich, über eine postmodern gefällige Kritik an Kategorien, Fehlern und anderen Stilfragen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse hinauszugehen. Die Praktiken der Ausgrenzung, »Auslese« und »Ausmerze«, die den körperverletzenden und vielfach mörderischen Umgang mit psychisch Kranken bis in die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts gekennzeichnet haben, sind nach Jahrzehnten der Psychia19triereform nicht unverändert geblieben. So wegweisend Foucaults[29]  Analysen der klassischen Ausgrenzungspraktiken und der paternalistischen Reintegrationen der Internierten für eine Kritik der sozialen Funktion psychiatrischer Institutionen war, so sehr muss sich eine postmodern diversifizierte Gesellschaft fragen lassen, welche neuen Disziplinierungs- und Normierungsmechanismen sie entwickelt hat. Auch ist wenig damit gewonnen, auf der Kompetenz der Geisteswissenschaften bei der Selbstbeschreibung der Menschen zu beharren, wenn die abschließende Botschaft zum allgemein netten Umgang miteinander verkümmert.[30] 

Zumindest verfehlt es den Rahmen einer radikalen Kritik, die bereits vor 25 Jahren Wolfgang Fritz Haug formuliert hat.[31]  Gegen die ideologische Verschleierung antagonistischer gesellschaftlicher Gegensätze »durch die herrschaftskonformen Spezialisten der Institution« forderte Haug eine kritische Praxis ein, die gerade auch für eine »Demokratische Psychiatrie«[32]  als Gegensatz zur »traditionellen Anstaltspsychiatrie« notwendig sei. Der traditionellen Anstaltspsychiatrie warf Haug vor, dass sie die »Unterscheidung zwischen Subordination und der Herrschaft und Einordnung in genossenschaftliche Formen der Selbstvergesellschaftung« ideologisch verschleife. Die auch im Rahmen sozialer Widerstandsbewegungen notwendigen Komponenten »der Konstitution von dauerhafter Handlungsfähigkeit«[33]  wurden so mit »Normalisierungspraxen« vermengt, die laut Haug »im Rahmen der Geschlechterverhältnisse wie der Klassenverhältnisse deren überdeterminierte Subjektzumutungen geschlechtsspezifisch umsetzen«.[34] 

Das Ideologische ist für Haug damit nicht primär etwas »Geistiges«, sondern eine »Modifikation und spezifische Organisationsform des ›Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse‹ und der Teilhabe der Individuen an der Kontrolle dieser Verhältnisse oder auch nur ihrer Einbindung« in diese.[35]  Haug geht es um die »selbst20tätige Herstellung der eigenen ›Normalität‹«.[36]  Dabei versteht er die Subjektivierung in der Doppelbedeutung der Individualisierung wie der Unterwerfung unter diverse Herrschaftsverhältnisse bzw. »Ordnungen« (»des Erwerbslebens, der Moral, der Sexualität usw.«), deren Zusammenhalt »je individuell reproduziert« wird.[37]  Was Haug anhand der Traktate und Hausbücher aus der Zeit des Faschismus als Praktiken der Subjektivierung beschreibt,[38]  müsste also für unsere heutige Zeit fortgeführt werden anhand von Fragen zur Normierung und Selbstdisziplinierung seit Beginn der Psychiatriereformen in westlichen Industrieländern, die zu einer Neugestaltung der Verhältnisse im Umgang mit psychisch Kranken geführt hatten – wesentlich getrieben durch Proteste der Betroffenen und ihrer Angehörigen und durch Solidarisierung einer demokratischen Idealen verpflichteten Ärzteschaft, die zumindest in Teilen eine aktive Überwindung des Status quo unterstützte und unterstützt.[39] 

Diese Ansätze sollen in den folgenden Kapiteln näher ausgeführt werden. Die Arbeit ist in fünf Teile gegliedert, die sich der Entstehung und Verankerung des kolonialen Blicks auf Nervensystem und psychische Erkrankungen, revolutionären Gegenbewegungen und Reaktionen, praktischen Reformen, deren grundsätzlicher Kritik und dem Versuch einer Diagnose der Gegenwart widmen. Werden Revolten als »Kämpfe um Anerkennung« verstanden, die sich in Auseinandersetzungen um zwischenmenschliche Beziehungen, rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Solidarität manifestieren,[40]  dann lassen sich diese nicht thematisieren, ohne den jeweiligen sozialpolitischen Kontext zumindest anzureißen. Jeder Teil dieser Arbeit wird deshalb durch ein Kapitel zur geschichtlichen Kontextualisierung eingeleitet, in deren Rahmen die zeitgenössischen psychiatrischen Konstruktionen und deren Kritik ebenso wie die vorherrschenden Praktiken, Gegenbewegungen und Reaktionen erläutert werden können. In den zwei folgenden Kapiteln jedes 21Textteils werden exemplarisch je zwei richtungsweisende Positionen vorgestellt, die unterschiedliche Pole im jeweils vorherrschenden Spektrum des Verständnisses psychischer Erkrankungen repräsentieren. Dies folgt der Idee Julliens,[41]  dass sich sozio-kulturelle Traditionen nicht mittels identitärer Positionierungen definieren, sondern anhand der Diskursräume rekonstruiert werden können, die unterschiedliche Positionierungen innerhalb der jeweils vorherrschenden Paradigmen eröffnen.

Teil 1 erläutert die Verschmelzung der Thesen zu Evolution und Dissolution, zur stammes- wie individualgeschichtlichen Entwicklung und der drohenden Degeneration in einem neuen Paradigma, das Erfahrungen aus den Kolonialkriegen ebenso reflektiert wie Fragen der sozialen Herrschaft in den Metropolen. Die Kapitel 2 bis 4 widmen sich der historischen Produktion der Bilder, die das Verständnis der Primitivität und der Psychosen bis heute prägen, sei es offen und gezielt oder unterschwellig und wenig reflektiert.

In Kapitel 2 wird der koloniale Kontext nachgezeichnet, in dem sich die Theorien über Degeneration, Dekadenz und psychische Krankheit in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts entfalten. Für deutschsprachige Psychiater (die männliche Form ist hier bewusst gewählt) ist das die koloniale Expansion im heutigen Namibia und Tansania, die von der gezielten Vernichtung aufständischer autochthoner Bevölkerungen über den Bau von Konzentrationslagern bis zur Erfindung der »Rassenhygiene« reicht. Den angloamerikanischen Kontext prägen Erfahrungen mit widerständigen Gruppierungen an der sich ständig verschiebenden »Westgrenze« der Vereinigten Staaten von Amerika, die zur Gleichsetzung der Ausgegrenzten mit »Parasiten« und schließlich zur ersten gesetzlichen Verankerung der Zwangssterilisation 1907 im Bundesstaat Indiana führen.

Kapitel 3 thematisiert eine richtungsweisende Reaktion auf die gegen Ende des 19.Jahrhunderts wahrgenommene Gefahr, den »Kampf ums Dasein« nicht erfolgreich zu bestehen. Die hier vorherrschenden Ängste vor Dekadenz und Degeneration zeigen sich exemplarisch anhand der Auseinandersetzung Nietzsches mit Darwin. Friedrich Nietzsches im Spätwerk artikuliertes Lob der »arische[n] Humanität« bei der Vernichtung der »Auswurf-Stoffe der 22Gesellschaft«[42]  nimmt die staatlichen Gewaltexzesse des 20.Jahrhunderts vorweg.

In Kapitel 4 wird die kreative Vereinigung von zwei großen Erzählungen des 19.Jahrhunderts, der Evolution und der Degeneration, anhand exemplarischer Texte von Neurologen, Psychiatern und Psychoanalytikern erläutert. Die Hoffnung auf ständige evolutionäre Verbesserung der menschlichen Art tritt hier nicht etwa an die Stelle des Pessimismus eines auf Dekadenz und Degeneration fokussierten Geschichtsbildes. Vielmehr wird die Degeneration zur krankhaften Umkehr der Evolution, die Kranken werden zu Degenerierten, und die vielfältigen Dispositionen zur Krankheit gerinnen zur ständigen Bedrohung des vermeintlich an der Spitze der menschlichen Entwicklung stehenden weißen Mannes in den Metropolen. Anders als es eine wohlmeinende Kontrastierung geisteswissenschaftlich orientierter Psychotherapeuten gegenüber naturwissenschaftlich reduzierenden biologischen Psychiatern glauben machen mag, arbeiten die unterschiedlichen Disziplinen Hand in Hand. Am Beispiel der Interaktionen Sigmund Freuds, Carl Gustav Jungs und Eugen Bleulers wird die Entwicklung des neuen Krankheitsverständnisses und seiner sozialpolitischen Implikationen nachgezeichnet.

Teil 2 widmet sich Gegenbewegungen, die aus dem Zusammenbruch der Monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs entstehen und revolutionäre Hoffnungen auf soziale Gleichstellung mit individuellen Versuchen verbinden, vorherrschende Konventionen zu durchbrechen. Theoretischer Ausgangspunkt ist ein Verständnis herrschaftskritischer Revolten, das Camus in seiner Schrift Der Mensch in der Revolte[43]  artikuliert und das in Kapitel 6 eingehender erörtert wird. Diese Revolten rufen jeweils Reaktionen hervor, die sich dem drohenden Untergang der vorherrschenden Hierarchien entgegenstellen, sich um die Begriffe der »Rasse« und des »Völkischen« konstituieren und sich mit Praktiken der »Hygiene« und der Eugenik verbinden.

Im fünften Kapitel wird der zeitgeschichtliche Kontext reflektiert, in dem sich nach dem Ersten Weltkrieg die kolonialen Erfahrungen und Imaginationen mit dem Schicksal der aufständischen 23Arbeiterinnen und Arbeiter verbinden. Auf die revolutionäre Bewegung folgt eine herrschaftskonforme Reaktion. Anhand der völkischen Ideologie des Münchner Psychiaters Emil Kraepelin werden die antisemitischen Aspekte der Forderung nach innerer Kolonialisierung erläutert, die als doppelte Internalisierung kolonialer Herrschaftstechniken ins Innere des kolonialisierenden Staatsgebiets interpretiert werden. Die sich daraus ergebenden Disziplinierungsversuche werden anhand der Geschichte der Zwangssterilisation psychisch Kranker und der Kinder afrikanischstämmiger Besatzungssoldaten im Rheinland thematisiert und mit Wilhelm Reichs kritischen Thesen vom »Körperpanzer« kontrastiert.

In Kapitel 6 werden die Grundlagen einer von Revolutionshoffnungen getragenen, kritischen Theorie anhand der Arbeit des Frankfurter Instituts für Sozialpsychologie diskutiert und mit den Ansätzen Helmuth Plessners und Albert Camus’ kontrastiert. Es handelt sich hier um exemplarische Versuche, sozialpolitische, anthropologische und philosophische Ansätze zu formulieren, die auf eine rassistische Hierarchisierung der Menschheit bewusst verzichten. Die Analyse des autoritären Charakters durch das Frankfurter Institut für Sozialforschung ist ein historisch richtungsweisender Versuch, die Unterordnung weiter Teile der deutschen Bevölkerung unter die Herrschaft des Nationalsozialismus ideengeschichtlich wie individualpsychologisch zu erklären. Es ergibt sich damit die Möglichkeit, die Bedeutung rassistischer und antisemitischer Stereotype zu erfassen, die das Institut allerdings nicht nutzte. Damit wurde eine Chance kritischer Aufklärung vergeben. Plessners Philosophische Anthropologie und Camus’ These vom Menschen in der Revolte werden diskutiert, da es sich hier um Ansätze handelt, auf denen eine Kritik an rassistischen Hierarchisierungen aufbauen kann und die einen Weg zur aktiven Veränderung gesellschaftlicher Zustände weisen, der auf alltägliche Grenzüberschreitungen statt auf einmalige revolutionäre Umwälzungen setzt und so auch für die Reform des Umgangs mit psychisch Kranken wirksam werden kann.

Das siebte Kapitel behandelt die Entstehung einer anderen Denkschule, nämlich die der empirischen Sozialanthropologie als wissenschaftlicher Grundlage einer heute möglichen, kritischen Sicht auf die rassistischen Konstruktionen psychiatrischer Theorien. Es handelt sich hierbei nicht um verstreute lokale Wissensformen, sondern um einen systematischen anthropologischen Dis24kurs, der in direkter Begegnung mit den vermeintlich »Primitiven« eine anderslautende Erzählung sozialer Diversität entfaltet. Mit der Niederlage des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg wird zudem ein größerer Teil der auch in den USA zuvor weitgehend unhinterfragten »Rassenkunde« obsolet. Größere Forschungsförderer wenden sich von der Eugenik ab und Anthropologen wie Franz Boas gewinnen an Einfluss, die die sozialen und kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Kulturen erforschen, statt sie evolutionär auf einer imaginären Stufenleiter anzuordnen. Damit werden auch theoretische Positionen verlassen, die psychisch Kranke mit vermeintlich »primitiven« Völkern oder »Rassen« vergleichen. Stattdessen entfalten sich unterschiedliche Erzählungen kultureller Diversität im anthropologischen Diskurs. Die hier manifeste Umwertung der in den kolonialen und postkolonialen Hierarchien imaginierten Unterordnungsverhältnisse ist auch eine Voraussetzung für die Aufhebung bestimmter Formen institutioneller Ausschließung psychisch Kranker.

Teil 3 widmet sich der Psychiatriereform in Deutschland, wie sie in der BRD und DDR seit den 1960er Jahren diskutiert und in den folgenden Jahrzehnten schrittweise umgesetzt wird. Deren Rückschläge und partielles Scheitern werden im Rahmen sozialer Konflikte und theoretischer Kontroversen thematisiert.

Kapitel 8 beschreibt, wie sich mit dem Sieg einer marktwirtschaftsorientierten Demokratie auch die Anforderungen an das Verhalten der Staatsbürger ändern, die als Konsumenten den richtigen Belohnungen folgen sollen. Die von Foucault anhand der Französischen Revolution thematisierte »Befreiung« der »Irren« von ihren Ketten, die äußere in innere Disziplinierung umwandelt, kann zum Verständnis theoretischer Veränderungen in der Konzeption gesunden und kranken Verhaltens genutzt werden. Die hieran anknüpfende Kritik soll aber nicht beim historisch Geleisteten stehenbleiben, sondern muss sich vielmehr auf die spezifischen Bedingungen und speziellen Anforderungen der Gegenwart einlassen. Diesbezüglich werden praktisch wirksame Kritiken des institutionellen Umgangs mit psychisch Kranken zu Beginn der Psychiatriereform der 1960er und 1970er Jahre beschrieben und im Hinblick auf ihre Auswirkungen diskutiert.

Im neunten Kapitel werden die während der Psychiatriereform in Italien und in der Bundesrepublik Deutschland formulierten 25Hoffnungen auf das Verschwinden psychischer Probleme durch Beendigung des sozialen Ausschlusses exemplarisch thematisiert. Wegweisend für die weitere Ausrichtung der Reformbemühungen werden die damals artikulierte Hoffnung auf Reintegration der psychisch Erkrankten in ihre Lebenswelt, die solidarische Interaktion mit der Gemeinde und die Unterstützung der Deinstitutionalisierung durch Gewerkschaften und linke Parteien in Italien. Anhand der genannten Ziele wird verdeutlicht, wie abhängig der Erfolg der Reformbemühungen vom gesellschaftlichen Umfeld und von den vorherrschenden politischen Strömungen ist.

Kapitel 10 thematisiert die Konfrontation der aus der institutionellen Isolierung befreiten Menschen mit psychischer Erkrankung mit den sozialen Bedingungen in westlichen Industrienationen. Anhand von Michael Marmots[44]  Arbeit über die Bedeutung des sozialen Status wird der Einfluss gesellschaftlicher Hierarchien und der ungleichen Verteilung des Einkommens für das Auftreten psychischer und somatischer Erkrankungen diskutiert.

Teil 4 ist unterschiedlich verorteten Kritiken der Reformbewegung und ihres partiellen Scheiterns gewidmet. Auf der Grundlage ausgewählter Beispiele sozialer Kämpfe um die Psychiatriereform werden richtungsweisende Kritiken ebenso angesprochen wie eine Kritik der Kritik, die auf den Widerstand des Organischen gegen die Verlockungen der Metaphorisierung psychischen Leidens verweist.

Kapitel 11 thematisiert die Hoffnung auf »therapeutische Gemeinschaften« als solidarisches Miteinander von Therapeutinnen und Therapeuten, Betroffenen und Angehörigen. Es wird erläutert, wie sich mit diesem sozialpsychiatrischen Ansatz Kämpfe um die Ausgestaltung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und eine radikale Kritik der Einpassung in die vorherrschenden Machtverhältnisse verbinden konnten, die bis heute ihre Aktualität nicht verloren haben. Diesbezüglich werden zwei Ansätze der Psychiatriereform zu Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre kontrastiert: die Verteidigung des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg durch Jean-Paul Sartre[45]  und die Diskussionen in einer therapeu26tischen Gemeinschaft in Berlin, die die Pole revolutionärer Hoffnung und reformerischen Alltags entfalten.

Kapitel 12 fasst Foucaults kritische Positionen zur Disziplinierung und Normalisierung zusammen, die sich in den Vorlesungen aus dem Frühjahr 1975[46]  und 1976[47]  finden. Foucaults These einer Produktivität der Normalisierung wird mit Sartres[48]  Rede vom »wahren« Bedürfnis kontrastiert, das durch einen revolutionären Akt befreit werden soll. Die Konsequenzen der jeweiligen Position für die Einschätzung alltäglicher Kämpfe gegen Ausschließung und Stigmatisierung werden vor dem Hintergrund von Foucaults Postulat diskutiert, dass die radikalsten Formen der Gesellschaftskritik zu einem Rassismus neigen, der sich auch in der staatlichen Herrschaft nachweisen lässt.

Das dreizehnte Kapitel thematisiert Susan Sontags[49]  Kritik an der Verwendung von Krankheitskonzepten als Metaphern für soziale Missstände, um Möglichkeiten und Grenzen unterschiedlicher Formen der Psychiatriekritik zu diskutieren. Sontag beschreibt, wie bezüglich ihrer Entstehungs- und Behandlungsbedingungen jeweils weitgehend unverstandene Krankheiten zur Projektionsfläche für gesellschaftlich vorherrschende Ängste werden. So reflektiere der Umgang mit der Tuberkulose die Sorge eines aufstrebenden Bürgertums im 19.Jahrhundert, seine Ressourcen ungezielt zu verschwenden, während auf Krebserkrankungen Ängste vor einem Stau der Warenzirkulation projiziert würden. Die Schattenseite dieser Nutzung von Krankheiten als Metaphern ist die Beschuldigung der Betroffenen, für ihr Leid aufgrund ihres individuell falschen Verhaltens selbst verantwortlich zu sein.

Teil 5 versucht sich an einer Diagnose der gegenwärtigen Situation. Dafür werden das derzeitige schulmedizinische Wissen, alltägliche Revolten und modernisierte Disziplinierungsversuche thematisiert.

In Kapitel 14 werden die zu Beginn des 21.Jahrhunderts vorherrschenden Theorien psychischer Erkrankungen vorgestellt, die sich unter dem Einfluss wissenschaftlicher Traditionen und unter27schiedlicher gesellschaftlicher Akteure und Reformbewegungen ausgebildet haben. Es wird diskutiert, ob heutige Krankheitsmodelle überkommene Hierarchisierungen fortführen, inwieweit sie den Einfluss sozialer Faktoren auf die Entstehung psychischer Erkrankungen berücksichtigen und inwiefern sie die Betroffenen für ihre Erkrankungen selbst verantwortlich machen.

Das fünfzehnte Kapitel thematisiert Formen der Dekontextualisierung herrschenden Wissens, das widerständige Potenzial manischer Gesten und gesellschaftlich verfemter Begierden und die Bedrohung durch soziale Ausschließung einerseits und privatsprachliche Vereinsamung andererseits.

In Kapitel 16 wird die Aneignung kulturell komplexer Traditionen in vermarktungsfähigen kleinen Übungseinheiten diskutiert, die flankiert wird von einer Fülle pathologisierender Beschreibungen angeblich ausufernder Süchte und zu kontrollierender Persönlichkeitsanteile. Damit werden non-direktive psychotherapeutische Techniken kontrastiert, die den Kampf um ihre Finanzierung durch die Krankenkassen weitgehend verloren haben und deshalb im heutigen therapeutischen Spektrum marginalisiert sind, für das Verständnis eines modernen psychotherapeutischen Zugangs aber richtungsweisende Ideen geliefert haben.

Im Abschlusskapitel wird ein an der Philosophischen Anthropologie orientiertes Menschenbild skizziert, das die Bedingungen solidarischer Handlungsfähigkeit im Sinne eines Camus’schen »Ich rebelliere, also sind wir« artikuliert, deren Beeinträchtigung zu psychischen Erkrankungen führen und die Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe einschränken kann. Als Bedingungen solidarischer Handlungsfähigkeit werden »lebensrelevante« Funktionsfähigkeiten beschrieben, die individuelle Entwicklungen, gezielte Verfremdungen und diverse Formen sozialer Teilhabe ermöglichen, ohne den jeweiligen Inhalt des gelebten Lebens bewertend einzuschränken.

29Teil 1: Die wilde Versuchung und der koloniale Blick

31Kapitel 2: Der von Degeneration und Dekadenz bedrohte Herrscher

Wie entsteht der koloniale Blick? Wie verankert er sich im alltäglichen Diskurs, ist er selbstverständlicher Ausgangspunkt eines immer schon Gewussten, das keiner Referenzierung, keines Belegs mehr bedarf? Genauer gefragt: Wie kommt Bleuler auf die Idee, in einem ansonsten durchaus differenzierten Buch über die »Gruppe der Schizophrenien«[1]  das Wunschdenken schizophrener Patientinnen und Patienten mit dem zum Singular reduzierten Objekt kolonialer Herrschaft in Afrika gleichzusetzen? Bereits die Rede vom »Objekt« der Herrschaft trifft das Geschehen nicht ganz: In seiner Arbeit zur Faschisierung des bürgerlichen Subjekts beschreibt Wolfgang Fritz Haug[2]  den Einfluss unterschiedlicher Herrschaftstechniken auf die Subjektivierung im Sinne der Unterwerfung (lateinisch: subicere) wie der ideologischen Selbstkonstitution der so adressierten Personen. Die Frage ist also, welche Funktionen die Konstituierung der neu definierten »Gruppe der Schizophrenien« als vermeintliche Manifestation des Objekts kolonialer Herrschaft für die Beherrschung und Disziplinierung der Betroffenen wie der (zumindest im je eigenen Selbstverständnis) Gesunden hat. Bevor die Auswirkungen rassistischer Konstruktionen diskutiert werden können, stellt sich die Frage nach der Besonderheit oder Allgemeingültigkeit der hier aktivierten Bilder und Konstruktionen. Die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen ist, dass es sich um einen Prozess der sukzessiven Internalisierung kolonialer Grenzziehungen handelt.

In seinem Buch Traumzeit vertritt Hans Peter Dürr[3]  die These, dass vorindustrielle Gesellschaften durch eine Grenzziehung zwischen dem Lebensraum der sozialen Gemeinschaft und der sie umgebenen Wildnis gekennzeichnet seien. Diese Grenze wurde räumlich markiert, beispielsweise durch eine Hecke, die das Dorf von der 32umgebenden, ebenso verlockenden wie bedrohlichen, unkontrollierbaren Natur abtrennte. Im europäischen Kontext sei die Hexe dann die Person, die »auf der Hecke reitend« den durch soziale Regeln domestizierten Bereich menschlicher Interaktionen immer wieder verlasse, um auf die andere Seite möglicher Erfahrungen zu gehen. Etwas romantisierend postuliert Dürr weiter, dass vorindustrielle Kulturen durch ritualisierte Initiationen gekennzeichnet waren, in denen junge Menschen zum Erwachsenwerden eine bestimmte Zeit in dieser Wildnis verbringen, wodurch sie um die Erfahrung der anderen Seite reicher in ihre Lebensgemeinschaft zurückkehren. Dürr selbst hat in seinen späteren ethnologischen Arbeiten statt auf individuelle Sinnsuche verstärkt auf soziale Prozesse in der Interaktion mit einer als fragil erlebten Umwelt fokussiert.[4]  Er versuchte zu zeigen, »daß die ›archaischen‹ Menschen weniger das Wissen liebten als das Leben, und daß sie es unternahmen, das Leben zu erhalten und immer wieder zu regenerieren«.[5]  Unabhängig von solchen Fragen eines romantisierenden oder verzerrenden Blicks europäischer Ethnologen auf vorindustrielle oder nichteuropäische Bevölkerungen und ihre Lebensweisen ist aber der Hinweis relevant, dass eine moderne oder postmoderne Naturerfahrung, die sich im Wesentlichen auf Reservate beschränkt, die dem verwertenden Zugriff als Nationalparks oder Schutzzonen zumindest teilweise entzogen werden, von früheren Formen menschlicher Umweltbegegnungen substanziell abweicht.

Mit der seit dem Mittelalter in Europa zunehmenden Durchdringung vielfältig strukturierter Lebensräume durch zentralisierte staatliche Herrschaft verlagert sich die imaginäre Grenze zwischen »Zivilisation« und »Wildnis«. Systematisch werden Sümpfe entwässert, Wälder gerodet, und keine noch so entlegene Gemeinschaft entgeht der Besteuerung. Die im Inneren Europas verschwindende Wildnis wird auf die zu kolonialisierenden Weltregionen projiziert, auch wenn dies dem Erstaunen früherer Begegnungen widerspricht:

Als die ersten europäischen Seefahrer in die Bucht von Guinea kamen, waren sie voller Staunen: sorgfältig angelegte Straßen, mit prächtigen Feldern bedecktes Land, Menschen in prunkvollen Gewändern aus selbstgewebten Stoffen, bis in kleinste durchgeführte Ordnungen großer, wohlgeglieder33ter Staaten, machtvolle Herrscher, üppige Industrien – Kultur bis in die Knochen. Die Vorstellung des barbarischen [N-Wort] ist eine Erfindung Europas.[6] 

Die »Erfindung« dient einem Zweck – der Rechtfertigung der Sklaverei der zu Millionen aus Afrika in die Plantagenwirtschaft der Neuen Welt verschleppten Personen.[7]  Mit der Versklavung ändern sich die Vorstellungen: erscheinen Afrikaner in der Bildwelt des Mittelalters meist in Person eines der drei Heiligen Könige, mit vergleichbarem Ornat und derselben Würde ausgestattet wie ihre europäischen und asiatischen Kollegen, so setzt im 17. und 18.Jahrhundert die »Vertierung« der Abbildungen ein – afrikanische Gesichter werden verzerrt dargestellt, um möglichst affenartig zu erscheinen.[8] 

Auf die Phase der Sklaverei folgt im 18.Jahrhundert die Zeit des europäischen Imperialismus, jetzt unter dem Vorwand, den von Europa selbst initiierten massiven Sklavenhandel zu beenden, wobei die afrikanischen Königreiche und Völker der kolonialen Herrschaft unterworfen wurden.[9]  Auch Bleulers zu Beginn des 20.Jahrhunderts verschriftlichte Spekulation über den angeblichen [N-Wort] im Singular muss vor dem Hintergrund der Kolonialpolitik des Deutschen Reiches in Afrika gelesen werden. 1904 erheben sich die Herero und die Nama (die sogenannten ›Hottentotten‹) in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Die Herero werden bei einer Schlacht am Waterberg im heutigen Namibia geschlagen und fliehen in Richtung Omaheke-Wüste. General von Trotha proklamiert einen Rassenkrieg, die Armee setzt den fliehenden Herero nach und besetzt die Wasserstellen. Von Trotha gibt Schießbefehl auf Frauen, Kinder und Männer, die es wagen, sich den Wasserstellen zu nähern.[10]  Der Schießbefehl wird später aufgehoben, aber es ist zu spät: »Die Verfolgung des Hereros zeigte die rücksichtslose Energie der deutschen Führung in glänzendem Licht. Wie ein halb zu Tod gehetztes Tier war der Feind von Wasserstelle zu Wasserstelle gescheucht worden, bis schließlich die wasserlose Omahek-Wüste vollendete, was die deutschen Waffen begonnen hatten: die Ver34nichtung des Herero-Volkes.«[11]  Es ist unter Historikern strittig, wie viele der etwa 80000 Herero überlebten und wie hoch die genauen Zahlen der in der Wüste verdursteten Opfer dieses Völkermords sind. Von Trotha selbst äußerte sich dazu wie folgt: »Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss.«[12] 

Die Überlebenden werden – ebenso wie die Überlebenden des Aufstands der Nama, die einen anfangs erfolgreichen Guerillakrieg führen –in sogenannte Konzentrationslager gesperrt.[13]  Diese Lager wurden vom britischen Feldmarschall und Politiker Herbert Kitchener im Krieg gegen die aus den Niederlanden stammenden Buren 1900 in Südafrika eingeführt. Etwa 120000 Kinder und Frauen wurden in diesen »concentration camps« interniert, etwa 26000 starben dort. Auch in den deutschen Konzentrationslagern überlebten von ca. 2400 Nama nur etwa 500.[14]  Der Völkermord kostet nach plausiblen Schätzungen in etwa 65000 Herero sowie ca. 7000 Nama das Leben.[15]  Es ist nicht der einzige Völkermord im deutschen Kolonialismus: »In Tanganjika rottete die deutsche Kolonialverwaltung den Stamm der Maji-Maji vollkommen aus. Die Dörfer wurden zerstört, die Ernte verbrannt, die Felder verwüstet. Der Stamm wurde dem Hungertod ausgesetzt. Zahl der Toten: 120000.«[16] 

In den Jahren nach dem Aufstand der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika findet sich eine von den Kolonialbehörden geführte Diskussion über den Einsatz von Prügelstrafen, die den Kontext liefert für Bleulers 1911 publizierte Aussage zum vermeintlichen Wunschdenken »des [N-Wort]«: »[…] dem [N-Wort] ist es unverständlich, wie es auffallen kann, wenn er heute mit aller Sicherheit einen Diebstahl leugnet, den er gestern selbst gestanden hat und der auch sonst außer allem Zweifel steht.«[17]  Aber woher stammen die Spekulationen über das vermeintlich »autistische« Verleugnen einer Tat angesichts drohender Strafen?

35Bleuler führt keine Quelle für seine »Anekdote« an. Die Schweiz, in der er 1911 lebt, hat keine Kolonien, wohl aber das angrenzende Deutsche Reich. Und hier diskutieren die Kolonialbehörden in den Jahren vor dem Erscheinen von Bleulers richtungsweisendem Werk zur Schizophrenielehre ausführlich über verschiedene Formen der Prügelstrafe. In der Diskussion werden medizinische und verwaltungstechnische Argumente ausgetauscht, die Bleuler nicht entgangen sein mögen. Sie verdeutlichen die Gefahren, die schizophrenen Patientinnen und Patienten drohen, wenn sie als irrationale Wunschdenker mit den »Objekten« kolonialer Herrschaft gleichgesetzt werden. Das sich abzeichnende Bild einer Strafkultur lässt es verständlich erscheinen, dass jeder Mensch, dem solche Strafen drohen, alles daransetzen wird, sie zu vermeiden, und sei es durch Leugnung offensichtlicher Tatbestände.

Der Schriftsteller Uwe Timm referiert diesen Diskurs aus dem Nationalarchiv in Windhoek in seinem Roman »Morenga«. Er zitiert folgende Verfügung:

Durch den […] Erlaß vom 31. Oktober 1905 K.A. 10497 war von meinem Amtsvorgänger die Anordnung getroffen worden, daß bei Vollstreckung der Prügelstrafe gegen Eingeborene der Schambock oder Kibo [gemeint ist die weiter unten explizit genannte Flußpferd- oder Elefantenpeitsche, auch Kiboko genannt] in Zukunft in allen afrikanischen Schutzgebieten Anwendung zu finden hätte. Diese Anordnung hat von seiten der Gouvernements von Kamerun und Togo insofern Widerspruch erfahren, als dieselben unter Hinweis auf angeblich bei Benutzung des Schambocks beobachtete schädliche Folgen die Beibehaltung bzw. Wiedereinführung des Tauendes als Züchtigungsmittel befürworten.[18] 

In den von Timm zitierten Dokumenten entfaltet sich eine Diskussion zur Humanität unterschiedlicher Instrumente für die Prügelstrafen:

Ich bin überzeugt, daß das früher in Togo angewandte Tauende ein humaneres Züchtigungsinstrument ist als der Schambock oder Kiboko. Aus meinem Bericht vom 18.4.05 konnte, glaube ich, entnommen werden, daß eine Änderung des damals in Gebrauch gewesenen Züchtigungsinstrumentes nicht gewünscht wurde. Der Schambock ist eingeführt worden (vergl. Dienstanweisung vom 10.1.1906, eingereicht mit Bericht vom 21.1.06), 36weil hierzu mit Erlaß vom 31.10.05 ausdrücklich Auftrag gegeben war. gez. Graf Zech, 21.6.[19] 

Zu Fragen der Humanität gesellen sich Überlegungen bezüglich der Machbarkeit:[20] 

Auch ich halte ein Tauende, dessen Länge und Dicke in maximo festgesetzt werden muß, für ein humaneres Züchtigungsmittel als die Flußpferd- oder Elefantenpeitsche. Hiermit Ref. =erg. Berlin, 21.6. Ref. 12. J.V. gez. Meyer.

Vor- und Nachteile beider Instrumente werden sorgfältig abgewogen:[21] 

Es ist zugegeben, daß ein Tauende die Haut mehr schont und weniger leicht blutige Striemen und direkte Hautverletzungen macht als ein Kiboko, in diesem Sinne kann man ein Tauende als das humanere Instrument betrachten. Ein Tauende macht aber – und zwar je dicker das Tau ist umso mehr – leichter Verletzungen in der Tiefe, und auf die Verletzungen tieferer Organe, besonders der Leber, sind mit größter Wahrscheinlichkeit die auf körperliche Züchtigung folgenden plötzlichen Todesfälle zurückzuführen. […]Will man also – und darauf kommt es m.E. an – die plötzlichen Unglücksfälle nach körperlichen Züchtigungen ausschließen oder wenigstens so viel wie möglich ausschließen – so wird kaum etwas anderes übrigbleiben, als anstelle des Tauendes ein Instrument wie den Kiboko zu wählen, welcher wegen seines geringen Gewichtes eine Tiefenwirkung wie das Tauende nicht entfalten kann, wenn er auch bezüglich seiner Wirkung auf die Haut weniger »human« ist. gez. Dr. Steudel, 23.6.

Die örtlichen Behörden in Deutsch-Südwestafrika beteiligen sich an der Diskussion:[22] 

An das Kaiserliche Gouvernement in Windhuk. Station Atakpame. Atakpame, den 9. August 1906[:] […]Wenn ich auch als Freund der Prügelstrafe mir wohl bewußt bin, daß gerade eine kräftige Züchtigung als abschreckende Strafe erwünscht erscheint, so bin ich in den vier Monaten, in denen nunmehr hier mit Flußpferdpeitschen gezüchtigt wird, doch zu der Überzeugung gekommen, daß diese Art der Züchtigung eine Grausamkeit darstellt, die wohl nicht beabsichtigt worden ist. Es ist fast unvermeidlich, daß von den Hieben der Flußpferdpeitsche Löcher in die Haut gerissen 37werden und gerade an der Stelle, die dem Menschen und besonders dem Auge des Verletzten am schwersten zugänglich ist. Eine Wundpflege ist daher für den Geprügelten selber recht schwer, die Wunden sind schwer reinzuhalten, der Verletzte bedarf des Gesäßes zum Sitzen, die Wunde wird schmutzig, eitert, und der Gezüchtigte bleibt wochenlang arbeitsunfähig. Ich glaube nicht, daß das die Absicht der Kolonialabteilung gewesen ist, als sie die Nilpferdpeitsche einführte. Wie so anders die Züchtigung mit dem Tauende. Der Missetäter fürchtet sie sicher ebenso wie die mit dem Kiboko. Aber die Folgen sind bei weitem nicht so schwer, sie sind milder, menschlicher und doch von pädagogisch nachhaltigerer Wirkung. Der Schmerz ist heftig, brennt heiß und juckend, aber die Haut wird nur selten verletzt, und die früher einmal zum Ausgangspunkt von allerhand Klagen gemachten »Epidermisverluste« treten kaum auf. Das Tauende erscheint mir das Ideal eines Züchtigungsmittels für Disziplinarvergehen, für Entlaufen oder Drücken vor der Arbeit, Beharren im Ungehorsam, gröbliche Verletzung des Pflichtverhältnisses und dergl. Die Züchtigung mit der Dickhäuterpeitsche erscheint mir für solche Vergehen als zu schwer, man hebt sie gern für nur schwere Verbrechen auf, und so verliert die Prügelstrafe an Wert: Sie büßt ihre Eigenschaft als Disziplinarmittel ein. gez. von Doering.

Schließlich ergeht eine Entscheidung, deren Umsetzung in den Kolonien dokumentiert und in dem Zentrum kolonialer Herrschaft gemeldet wird:[23] 

Aus dem Aktenbestand des Gouvernements von Deutsch-Südwestafrika, S.694. Der Kaiserliche Bezirksamtmann. Windhuk, den 16. Januar 1908 [:] Betreff: Prügelstrafen. Dem Kaiserlichen Gouvernement berichte ich gehorsamst, daß seit 1. Oktober v. Jahres keine Prügelstrafen von mehr als zehn Hieben verhängt worden sind. Eine weitere Einschränkung der Prügelstrafe halte ich im gegenwärtigen Moment nicht für angängig. Die Prügelstrafe ist die einzige Strafe, die der Eingeborene als solche empfindet. Sie entspricht seinem Anschauungs-, seinem Auffassungsvermögen und seinen Sitten. […] Es dürfte sich nach den hier gemachten Erfahrungen empfehlen, eine weitere Einschränkung der Prügelstrafe, als sie die Verfügung des Herrn Staatssekretär vom 12. Juli 1907 erstrebt, zurzeit noch nicht in Erwägung zu ziehen. (Unterschrift) Auswärtiges Amt. Kolonial-Abteilung. Berlin, den 26. Februar 1907.

Bleulers harmlos klingende Anekdote erscheint so in einem anderen Licht. Der koloniale Kontext ist vordergründig ausgeblendet, 38steht aber im Hintergrund mit seinen Szenarien des 1904 erfolgten Völkermords an den Herero, des Einsatzes der Konzentrationslager für die Überlebenden und der alltäglichen Körperverletzungen. Die Gleichsetzung der schizophrenen Patientinnen und Patienten mit den angeblich »primitiven Objekten« kolonialer Herrschaft verortet beide in einer äußerst prekären Position. Wie die weitere Geschichte zeigt, werden Gewalttaten wie die Zwangssterilisation und die systematische Ermordung, die gegen die eine Gruppe der so Ausgeschlossenen etabliert werden, auch an der anderen verübt.

Denn mit dem Ende des deutschen Kolonialismus bricht die Traditionskette nicht ab. Einerseits gibt es familiäre Bande, in denen Erfahrungen tradiert werden. So war Ernst Heinrich Göring der erste kaiserliche Kommissar der Kolonie Deutsch-Südwestafrika.[24]  Sein Sohn, Hermann Göring, wies im April 1933 die Regierungspräsidien im Rheinland an, Statistiken über Anzahl und Alter der von französischen Besatzungstruppen aus Afrika mit deutschen Frauen gezeugten Kinder zu erstellen.[25]  1933 wurde das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, 1935 das »Reichsbürgergesetz« und 1937 das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« erlassen; ab 1937 wurden auch die als »Rheinlandbastarde« verunglimpften Kinder französischer Besatzungssoldaten afrikanischer Herkunft zwangssterilisiert. Den hiermit beauftragten Ärzten wurden Gutachten führender »Rassenhygieniker« vorgelegt, zu denen auch der Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, Eugen Fischer, zählte, dessen Tätigkeit in Deutsch-Südwestafrika noch Erwähnung finden soll.[26]  Mehrere hundert Menschen wurden Opfer dieser Maßnahme. Die Kinder schwarzer Besatzungssoldaten erlitten mit der Zwangssterilisation dasselbe Schicksal wie eine Vielzahl psychisch Kranker in der Zeit des Nationalsozialismus. Wenn das angebliche Wunschdenken der schizophrenen Patientinnen und Patienten mit jenem des imaginierten Afrikaners gleichgesetzt wird, gefährdet das 39beide Gruppen: sie unterliegen denselben Abwertungsmechanismen und demselben Versuch der »Ausmerzung« aus dem imaginierten »Volkskörper«.

Andererseits zieht sich eine Traditionslinie von den Militärführern in den Kolonien zu denen der Freikorps, die die deutsche Demokratie nach Ende des Ersten Weltkriegs bekämpften und schließlich der NSDAP beitraten. Ein prominentes Beispiel ist Franz Ritter von Epp, der 1904 Kompanieführer des ersten Feldregiments der kaiserlichen Schutztruppen war und 1919 im sogenannten Freikorps Epp an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik teilnahm. Er beteiligte sich 1920 am Kapp-Putsch von Freikorps und Teilen der Reichswehr gegen die Regierung der Weimarer Republik, der am bewaffneten Widerstand der Arbeiterinnen und Arbeiter und an einem Generalstreik scheiterte. 1928 war Epp Spitzenkandidat der NSDAP in Bayern, 1933 Reichsstatthalter in Bayern und 1934 Reichsleiter des kolonialpolitischen Amtes der NSDAP.[27]  Am Kapp-Putsch beteiligte sich auch der frühere Kommandeur der »Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika«, Paul von Lettow-Vorbeck, der die Militärgewalt in Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz übernahm. In Mecklenburg-Schwerin verhängte er den Ausnahmezustand, setzte Standgerichte ein und nahm die von ihm abgesetzte, demokratisch gewählte Regierung in »Schutzhaft«.[28] 

Eine weitere Traditionslinie ergibt sich im Bereich der sogenannten Rassenhygiene. So führte der bereits erwähnte Eugen Fischer 1908 eine Forschungsreise zum Studium der »Rassenkreuzung« in Deutsch-Südwestafrika durch. Dort waren Ehen zwischen deutschen Kolonisatoren und afrikanischen Personen, im Wesentlichen Frauen, verpönt.[29]  Im Jahr 1910 erfolgte die Gründung der Ortsgruppe Freiburg der »Gesellschaft für Rassenhygiene« mit Fritz Lenz als erstem Vorsitzenden. 1921 verfasste Fischer mit Erwin Baur und Lenz das Standardwerk »Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene«,[30]  das ideologisch auch den Weg bereitete für die 1937 erfolgende Sterilisierung der Kinder schwarzer 40Besatzungssoldaten in Deutschland. Fischer setze sich auch persönlich für diese Zwangssterilisation ein.[31] 

Mit dem Nachzeichnen solcher Traditionslinien sollen nicht die vielfältigen Unterschiede und Brüche ignoriert werden, die sich zwischen der deutschen Kolonialpolitik zu Zeiten der Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg und der nationalsozialistischen staatlichen Gewalt aufzeigen lassen.[32]  So betonen die Historiker Gerwarth und Malinowski,[33]  dass die berufliche und politische Laufbahn des bereits genannten Franz Ritter von Epp zwar tatsächlich vom Kolonialoffizier und späteren Freikorpsführer zum Leiter des kolonialpolitischen Amtes im NS-Staat führte, dass er aber an der Shoa selbst nicht direkt beteiligt war und hierfür auch keine entscheidende Rolle spielte. Gerwarth und Malinowski weisen zudem darauf hin, dass die vom monarchistischen Deutschen Reich in seinen Kolonien begangenen Grausamkeiten nicht fundamental von den Kolonialpolitiken anderer imperialistischer Länder abwichen und dass beispielsweise die US-amerikanische koloniale Expansion in den Philippinen mit 250000 bis 750000 Toten noch weitaus blutiger verlaufen sei als die von Trotha angestrebte Vernichtung der Herero.[34]  Zudem postulieren Gerwarth und Malinowski, dass Massenmorde an der autochthonen Bevölkerung in der Geschichte des westlichen Kolonialismus zwar wiederholt verübt wurden, aber anders als bei der Operation Barbarossa und der Shoa nicht als das eigentliche Ziel des Kolonialismus gelten dürften. Diese Argumentation übersieht allerdings, dass der Befehlshaber der Kolonialtruppen in Deutsch-Südwestafrika, General von Trotha, im Laufe der Konflikte explizit die »Vernichtung« der aufständischen autochthonen »Nation« forderte. Zudem konnten gerade die »modernisierenden« Aspekte der Internalisierung außereuropäischer Kolonialpraktiken zu ihrer weiteren Brutalisierung, Systematisierung und einzigartigen Grausamkeit in der Zeit des Nationalsozialismus beitragen: Die »Vernichtung«, die massenhafte Ermordung der 41als feindlich imaginierten und rassifizierten Personen findet jetzt im vermeintlichen »Lebensraum im Osten« und damit innerhalb der Grenzen des erstrebten »Großdeutschen Reiches« statt. Die hier verübte Shoa richtet sich nicht – wie noch die genozidalen Handlungen in den afrikanischen Kolonien – gegen eine zwar vermeintlich »primitive«, aber immer noch der unilinear imaginierten menschlichen Evolution zugehörige autochthone Bevölkerung, sondern gegen eine »degenerierte« und damit angeblich aus der Art gefallene, besonders gefährliche »Rasse« – die Juden.[35]  Die weiter unten noch detailliert zu erörternde Bemerkung Nietzsches, dass die Juden gerade nicht »degeneriert«, sondern eine »höhere Rasse« seien,[36]  weicht nur vordergründig von diesem Denkstil der Projektion einer gefährlichen Degeneration auf »die« Juden ab. Denn laut Nietzsche haben sich die Juden mit dem Christentum an die »Spitze aller décadence-Bewegungen gestellt« und erscheinen gerade deshalb als besonders gefährlich.[37]  Sind die vermeintlich »primitiven« autochthonen Bewohner der europäischen Kolonien noch auf kindlicher Stufe einer normativ verstandenen Entwicklung verortet und damit der europäischen »Zucht und Züchtung« zugänglich, werden die Juden als »artfremd« imaginiert oder sogar als besonders bedrohliche »Rasse« konstruiert, die sich nur dekadent stellt, um sich umso wirksamer mit den wirklich Degenerierten gegen die eigentlich »Starken« in Stellung zu bringen. Tatsächlich beschreiben auch Gerwarth und Malinowski,[38]