Das Leben danach - Jürgen Hogeforster - E-Book

Das Leben danach E-Book

Jürgen Hogeforster

4,9

Beschreibung

Ein Vorstandsmitglied einer Bank gerät in eine Demonstration. Eine junge Frau drückt ihm einen Stein in die Hand und fordert ihn auf: „Wenn du ohne Schuld bist, dann werfe diesen Stein auf mich.“ Nachdem diese Szene im Fernsehen ausgestrahlt wird überschlagen sich die Ereignisse. Bereits wenige Tage später findet der Banker sich in Thailand wieder. Doch auch hier holt ihn seine Schuld ein. Einige Jahre verbringt er bei einem Mönch in einer einsamen Fel-senhöhle, bis er schließlich seinen eigenen Lebensweg erkennt und den Traum seiner Kindheit wieder findet: Er hat gelebt, denn er hat einmal selbstlos geliebt. Die mysteriösen Ereignisse in Thailand wiederholen sich beim Schreiben dieses Buches auf Kreta. Der Autor erfährt, wie schnell aus purer Phantasie bittere Wirklichkeit werden kann.

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DAS LEBEN DANACH

ODER

DER STEIN DER VERÄNDERUNG

Das Buch

Ein Vorstandsmitglied einer großen deutschen Bank gerät nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 in eine Demonstration. Eine junge Frau drückt ihm einen Stein in die Hand und fordert ihn auf: „Wenn du ohne Schuld bist, dann werfe diesen Stein auf mich.“ Nachdem diese Szene im Fernsehen ausgestrahlt wird, überschlagen sich die Ereignisse. Bereits wenige Tage später findet der Banker sich in Thailand wieder. Doch auch hier holt ihn seine Schuld ein.

Einige Jahre verbringt er bei einem Mönch in einer einsamen Felsenhöhle, bis er schließlich seinen eigenen Lebensweg erkennt und den Traum seiner Kindheit wieder findet: Er hat gelebt, denn er hat einmal selbstlos geliebt.

Die mysteriösen Ereignisse in Thailand finden eine Fortsetzung beim Schreiben dieses Buches auf Kreta und es zeigt sich, wie schnell aus purer Phantasie bittere Wirklichkeit werden kann.

Der Autor und der Graphiker

Bis auf ein Telefonat zu Beginn ihrer Arbeiten machen sich Autor und Graphiker an verschiedenen Orten zeitgleich ans Werk, ohne dass der Autor die Graphiken und ebenso der Graphiker die Texte kennt. Und doch passen beide Werke auf so wundersame Weise zusammen, als wären ihre Köpfe drahtlos miteinander verbunden.

Der Autor Jürgen Hogeforster wurde 1943 am linken Niederrhein in der Nähe der holländischen Grenze geboren. Nach einer Ausbildung und Tätigkeit als Landwirt hat er bis heute sieben ganz unterschiedliche Berufe ausgeübt und in jedem Berufung gefunden. Daneben bezeichnet er sich als Erzähler von Märchen für Erwachsene. Jürgen Hogeforster ist nebenberuflich journalistisch tätig, gestaltet und moderiert eine monatliche Fernsehsendung, in der er auch interessante Bücher vorstellt, und hat zahlreiche Fachbücher und verschiedene Erzählungen und Romanen publiziert.

Der Graphiker und Buchillustrator Horst Wolniak aus Hamburg hat zusammen mit Jürgen Hogeforster verschiedene Bücher gestaltet, u. a. Jakobs Wissen, Vertrauen, Sternenhöhlen und Langsam schneller sein. 2004 ist von Horst Wolniak das Werk erschienen „Die Geschichte des Handwerks“, das besonders eindrucksvoll sein großartiges graphisches Vermögen zum Ausdruck bringt.

Inhaltsverzeichnis

WER UNTER EUCH OHNE SÜNDE IST, DER WERFE DEN ERSTEN STEIN

DER GERECHTE MUSS VIEL LEIDEN

IM ANFANG WAR DER LOGOS - DAS WORT, UND DAS WORT WAR BEI GOTT

WIE UNERFORSCHLICH SIND SEINE WEGE!

WIR LEIDEN MIT RECHT, DENN WIR EMPFANGEN, WAS UNSERE TATEN VERDIENEN

DIE RACHE IST MEIN, SPRICHT DER HERR

DIE KRAFT KOMMT IN DER SCHWACHHEIT ZUR VOLLENDUNG

DES GESETZES VOLLE ERFÜLLUNG IST ALSO DIE LIEBE

DENN WO DEIN SCHATZ IST, DA WIRD AUCH DEIN HERZ SEIN

Seltsam ist Prophetenlied, doppelt seltsam, was geschieht

Von Jürgen Hogeforster sind weitere Erzählungen und Romane erschien:

Die Ringe des Lebens

Die Geistlosigkeit der Medien

Utopia 2015 – Zukunft ist jetzt

Langsam schneller sein Auf dem Pfad der Liebe

Jakobs Wissen

Spiel des Lebens Adler, Narr und Schmetterling

Wachstum ohne Grenzen

Die Versuchung des Goldfuchs

WER UNTER EUCH OHNE SÜNDE IST, DER WERFE DEN ERSTEN STEIN

Das hat es seit Jahren, gar Jahrzehnten nicht mehr gegeben! Mitten an einem Werktag um fünfzehn Uhr saß ich im „Alex“ an der Binnenalster und tat nichts, einfach gar nichts.

Ich arbeitete täglich vierzehn Stunden, hin und wieder noch mehr. Vor zwanzig Uhr verließ ich nie das Büro, zumeist war es schon weit nach zehn. Doch heute an diesem Montag, den 15. Oktober des Jahres 2001, war ich regelrecht aus dem Büro geflohen. Ich hielt es einfach nicht mehr aus, schlenderte ziellos durch Hamburgs City und war schließlich hier auf der Terrasse des vor kurzem wieder eröffneten Cafés gelandet.

Die Welt war verrückt geworden, und scheinbar war ich von dieser Geisteskrankheit angesteckt. Seit dem 11. September, den schrecklichen Attentaten in New York und Washington, war die Welt in ihren fundamentalen Grundlagen erschüttert, nichts stimmte mehr, nichts war mehr wie zuvor. Gewiss, auch mich hatten diese heimtückischen Anschläge, die aus heiterem Himmel kommend, Tausende Menschen in den Tod rissen, entsetzt. Stets von neuem musste ich mir im Fernsehen die Bilder der Flugzeuge anschauen, die ins World Trade Center hineinjagten und darin verschwanden. Und kurze Zeit später stürzten die Wolkenkratzer wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Diese Bilder übten eine beklemmende Faszination auf mich aus. Fortwährend wurden sie im Fernsehen wiederholt, zogen mich magisch an, stießen mich ab und fesselten mich zugleich auf eigentümliche Weise.

Die Nachricht vom Attentat erreichte mich auf einer Konferenz der internationalen Finanzwelt in Basel. Direkt nach den ersten Schrecksekunden fühlte ich mich persönlich davon getroffen. Ich wusste instinktiv, dass die Folgen dieses Terrors für lange Zeit meinen Alltag bestimmen würden. Die Aktienkurse würden ins Bodenlose fallen, der internationale Handel drastische Einbrüche erleiden. Das Wirtschaftswachstum würde weltweit deutlich zurückgehen und die kränkelnde deutsche Konjunktur in eine Rezession stürzen. Zigtausend Arbeitsplätze würden vernichtet, die gesamte Wirtschaft in eine Talsohle geraten, und das Allerschlimmste: Zahlreiche Unternehmen, denen unsere Bank Kredite gewährt hatte, könnten in Konkurs gehen und unsere Aktienkurse in den Keller treiben.

Es ging um Geld, um sehr viel Geld. Ich musste also retten, was zu retten war. Als erstes kündigten wir unser finanzielles Engagement bei den Fluggesellschaften, zogen uns schrittweise bei den Flugzeugbauern und der Zulieferindustrie zurück, ordneten unser internationales Geschäft neu, schichteten vorsichtig unser Kapital zu Gunsten der Rüstungsindustrie um. Denn dem Attentat mussten ganz einfach militärische Schläge folgen, die Terroristen durften nicht ungestraft davonkommen. Sie mussten mit allen Mitteln aus ihren Schlupflöchern gejagt und vernichtet werden. Dafür brauchte man Waffen und Geld, viel Geld. Diese gerechte Bekämpfung des internationalen Terrors mussten wir mit unserem finanziellen Engagement unterstützen. Wir waren es den Menschen, die uns ihr Geld anvertraut hatten, schuldig. Wir mussten das Kapital retten.

Ich persönlich durfte es nicht zulassen, dass die Terroristen mit einem Schlag alles vernichteten, wofür ich Jahrzehnte gekämpft hatte. Und es gelang uns weitgehend. Bereits vier Wochen nach dem Attentat hatten wir die meisten Risiken neu geordnet.

Doch dann passierte das Unfassbare. Ausgerechnet mir, der sich mit allen Kräften dafür einsetzte, die Wirtschaft, ja die gesamte Gesellschaft vor den katastrophalen wirtschaftlichen Folgen des Attentates zu bewahren, wurde in aller Öffentlichkeit vorgeworfen, indirekt an den Grausamkeiten der Terroristen mitschuldig zu sein.

Während der ersten Tage nach den Anschlägen waren sich alle einig: Die Terroristen müssen bestraft werden. Das ganze Mitgefühl galt der amerikanischen Bevölkerung, die Opfer des heimtückischen Terrorkrieges geworden war. Man erinnerte sich an Kennedys Worte an der Berliner Mauer „Ich bin ein Berliner“, und zahllose Deutsche waren an diesen Tagen Amerikaner.

Man war erleichtert, dass die Regierung der USA nicht blindlings zurückschlug, sondern planvoll und umsichtig vorging.

Doch mit Beginn des Bombardements der Amerikaner und Engländer in Afghanistan meldeten sich die ersten kritischen Stimmen, die schon immer alles besser gewusst hatten.

Zunächst waren es einzelne Intellektuelle und verwirrte Geister, die nach dem Muster „Die Täter sind schuldlos, die Opfer schuldig“ unsinnige Diskussionen entfachten.

Die absurdesten Behauptungen und abenteuerlichsten Mutmaßungen wurden aufgestellt. Den Amerikanern mangele es an Toleranz, sie würden weltweit nur ihr gesellschaftliches System gelten lassen und es mit kapitalistischer Macht durchsetzen, hätten sich mit Überheblichkeit an der islamischen Welt schuldig gemacht und erhielten dafür nun die Quittung. Uncle Sam hätte sich als der gute Weltpolizist aufgespielt, der alles nur nach seinem eigenen Gesetz beurteile, sich für übermächtig und unverletzbar hielt und jetzt mit seinen eigenen Waffen geschlagen würde. Es sei kein Zufall, dass die Terroristen das World Trade Center vernichtet hätten. Dieses sei ein Symbol des westlichen Kapitalismus, das der Welt seine hässlichste Fratze zeige und die ärmsten Völker ausbeuten würde.

Solche Hirngespinste gipfelten schließlich darin, dass auch die deutschen Großbanken eine Mitschuld träfe. Sie würden nur Shareholder value kennen, international Milliarden-Beträge hin und her schieben, hätten damit beispielsweise vor einigen Jahren in Thailand die wirtschaftliche Rezession ausgelöst und ebenso in ihrer Profitgier in der islamischen Welt Kulturen zerstört und Not hinterlassen.

Da hatten wir es: Das internationale Großkapital war wieder einmal an allem schuld. An unseren Bankschaltern verlangten sie für ihre Spargroschen maximale Sicherheiten und höchste Zinsen. Für steigende Kurse wurden wir bejubelt, und wenn irgendwo auf der Welt eine Kleinigkeit nicht in Ordnung war, trugen wir die Schuld. Sie alle lebten wie die Made im Speck in und von unserem so überaus erfolgreichen Wirtschaftssystem. Sie wollten für wenig Arbeit den höchsten Lohn, wollten mindestens dreimal im Jahr in Urlaub fahren, die Welt bereisen und sich jeden Luxus gönnen. Sie waren wie Hühner, die nur laut gackern konnten, in ihrer Verblendung die kreisenden Geier für ihre Retter hielten und schnell bedenkenlos „Heil Geier!“ riefen. Sie waren es eigentlich gar nicht wert, dass ich mich tagein, tagaus für sie schindete, ihren gefräßigen Mäulern Futter gab, sie vor den Geiern in Schutz nahm und vor dem Beil des Schlachters bewahrte. Ein undankbares, unbelehrbares Volk!

Erfüllt von solchen Gedanken des gerechten Zorns geriet ich am Ende der zweiten Oktober-Woche an einem Samstag auf dem Weg ins Büro in eine Friedensdemonstration.

Während ich wieder einmal das ganze Wochenende für sie schuften musste, hatten diese Radaubrüder, verwirrten Geister und Mitläufer nichts Besseres zu tun als gegen das Bombardement in Afghanistan zu demonstrieren.

Eine junge Frau, die ein Schild mit der anprangernden Aufschrift „Ami go home - Schluss mit dem Krieg“ trug, musste mich auf Grund von Zeitungsfotos erkannt haben. Jedenfalls sprach sie mich direkt namentlich an, und sofort war ich von einer Schar des demonstrierenden Pöbels unentrinnbar eingekreist.

„Herr Degenhardt, Sie sind Vorstandsmitglied einer der größten deutschen Banken. Sie sind außerordentlich stark international tätig und haben in den letzten Jahren allein im Erdölgeschäft im arabischen Raum Milliarden verdient. Sehen Sie hier einen direkten Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 11. September?“

Diese unverschämte Feststellung machte mich zunächst sprachlos. Ich fühlte Wellen des Zorns in mir hochsteigen, die meinen Verstand überspülten und drohten, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Doch schnell kehrte mein rationales Denken zurück und ich setzte zu einer Antwort an.

Vergeblich.

Meine Worte wurden mir von dem mich umringenden Pöbel vom Mund gerissen und gingen in ihrem Gegröle ungehört unter. Nur wenn die Wortführerin des Haufens ihr Gift versprühte, kehrte Ruhe ein.

„Ihre Bank engagiert sich doch in der internationalen Rüstungsindustrie. Jetzt werden Sie wieder Milliarden Dollar an dem Krieg in Afghanistan verdienen. Hören Sie nicht die Schreie der unschuldigen Menschen, die bei den Luftangriffen umkommen? Lässt Sie das kalt? Können Sie bei all dem überhaupt noch ruhig schlafen?“

„Ich kann sehr gut schlafen! Ich habe ein reines Gewissen, denn ich habe nie etwas Unrechtes getan“, wollte ich antworten.

Doch die Schreihälse ließen mir keine Chance. Sie hielten mir eine blutverschmierte amerikanische Flagge vor das Gesicht, die ich zornig zur Seite wischte.

Mit eiserner Beherrschung bewahrte ich innerlich zwar bebend, äußerlich jedoch meine Ruhe. Deshalb verlor der Haufen schnell das Interesse an mir und zog weiter. Zurück blieb nur die junge Wortführerin, die nun dicht vor mir stand und mich fast mitleidig ansah.

Aberwitzige Gedanken schossen mir durch den Kopf: ‚Sie ist ja sogar ganz hübsch. Sie müsste nur etwas anderes anziehen und vielleicht auch einmal zum Friseur gehen .‘

So als hätte sie meine Gedanken erraten, stellte sie kopfschüttelnd fest: „Und sonst fällt Ihnen dazu nichts ein?“

„Doch, doch“, erwiderte ich schnell, „Ihre Anschuldigungen entbehren jeglicher Grundlage. Unsere Bank hat keine Terroristen finanziert. Bei uns gibt es keine schwarzen Kassen. Wir verwalten kein Drogengeld. Wir beuten keine Völker aus, engagieren uns vielmehr intensiv in der Entwicklungshilfe. Wir bejahen unsere demokratische Ordnung und arbeiten hart, damit unsere freiheitliche Demokratie gestärkt wird. Ja, wir verdienen Geld für unsere Sparer, aber auch dafür, dass die Staatskassen gefüllt sind und junge Menschen wie Sie eine fundierte Ausbildung erhalten können. Sie sind doch Studentin, nicht wahr?“

„Ja, Soziologie.“

„Und Politologie“, ergänzte ich zynisch.

„Vorurteile?“

„Ja“, gab ich ertappt zu.

Das Mitleid in ihren Augen traf mich tiefer als ihre unverschämten Anschuldigungen zuvor. Dieses Mitleid vor allem musste ich abstellen.

„Schauen Sie, ich habe eine Tochter in Ihrem Alter. Ich könnte gut Ihr Vater sein. Meinen Sie nicht, dass meine Erfahrungen etwas gelten müssten? Ich nehme Ihnen Ihre Vorwürfe persönlich nicht übel. Aber ich bedaure zutiefst, dass in unseren Familien grundlegende Tugenden nicht mehr vorgelebt und vermittelt werden. Wie könnten sonst junge Menschen wie Sie so in die Irre gehen, die Opfer in Amerika zu Schuldigen zu machen und für die Terroristen einzutreten? Ich bedauere auch, dass in den Schulen und Universitäten nicht mehr das Richtige vermittelt wird, keine Grundlagen mehr geschaffen werden und dann eine solche geistlose Verwirrung herrscht, dass unser gesamtes System gefährdet wird.“

„Aber sehen Sie nicht, wohin uns das System führt?“, fuhr sie erregt dazwischen. „Heute ist es New York, morgen vielleicht Berlin. Die Terroristen, deren Tun ich mit aller Entschiedenheit ablehne und verurteile, sind direkte Folgen unseres Systems. Ich möchte ein neues, besseres System schaffen, das keine Terroristen produziert, sie nicht nötig hat.“

„Gewiss, unser System ist nicht fehlerfrei“, gab ich zu, aber es produziert keine Terroristen. Die kommen aus ihrem fanatischen Religionssystem, rufen den Heiligen Krieg aus. Unsere freiheitliche Demokratie ist zwar nicht optimal, aber die beste denkbare Gesellschaftsordnung.“

„Ruft nicht allein schon Ihre Selbstgerechtigkeit die Terroristen auf den Plan, um uns zu beweisen, dass wir falsch liegen und sie den allein selig machenden Glauben haben?“

Wieder flammte zügelloser Zorn in mir auf: „Aber Sie leben und profitieren doch von diesem System! Wenn alles so grundlegend schlecht und falsch an unserer westlichen Ordnung ist, warum lassen Sie sich dann von diesem System aushalten? Warum gehen Sie nicht fort? Warum steigen Sie nicht aus und schaffen Ihr eigenes gerechtes System?“

In ihre vorher so strahlenden Augen traten Tränen, und mit unendlicher Traurigkeit sagte sie dann langsam: „Genau das ist es, was ich mir vorwerfe. Ich lasse mich von dem System korrumpieren und mache einfach mit, lasse es geschehen. Ich fühle mich zu schwach und hilflos, etwas zu ändern. Und deshalb demonstriere ich, um mein Gewissen zu beruhigen und in der Hoffnung, mit anderen zusammen doch noch etwas ändern zu können.“

Ich wusste darauf nichts zu erwidern und empfand unser Schweigen ebenso als Belastung wie kurz zuvor den Lärm der Demonstranten.

In diese Stille hinein fragte sie schließlich: „Zweifeln Sie nie an Ihrem Weg?“

„Nein, nie! Warum sollte ich? Ich habe nie wie Sie studieren können. Ich musste mich vom kleinen Kreditsachbearbeiter bis zum Vorstand unserer Bank hocharbeiten. Ich habe alles aus eigener Kraft heraus geschafft. Ist mein Leben nicht Beweis genug, dass unser System gut ist und wir darin alles erreichen können, für das wir uns einsetzen, ja kämpfen? Das System an sich ist weder gut noch schlecht. Es liegt an uns selbst, was wir daraus machen. Ich habe nie etwas Schlechtes gewollt und verfolgt, deshalb absolut keine Zweifel.“

„Sie haben also alles fest im Griff?“ Und ehe ich antworten konnte, wie ein zuckender Blitz: „Also unschuldig?“

„Wie?“

„Sie fühlen sich unschuldig an den Anschlägen in New York und Washington? Keine Mitschuld am Bombardement in Afghanistan? Kein Beitrag zur Massenarbeitslosigkeit? Kein Anteil am Hunger in der Welt? Also unschuldig?“

„Absolut unschuldig!“, entgegnete ich voller Überzeugung. „Ich verantworte mein Denken und Handeln, und das ist in Ordnung. Was darüber hinaus in dieser Welt an Bösem geschieht, entzieht sich meinen Möglichkeiten und meiner Verantwortung. Deshalb fühle ich mich absolut unschuldig.“

Sie sah mich lange fest an, griff dann in ihre Manteltasche und hielt mir in ihrer ausgestreckten Hand einen kleinen blauen Stein entgegen: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“

Ich starrte sie fassungslos an.

„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!“, wiederholte sie energisch.

War sie nun völlig verrückt geworden?

„Los! Nehmen Sie den Stein!“, forderte sie erneut. „Sie sind doch unschuldig. Nehmen Sie ihn und werfen Sie den Stein. Bewerfen Sie mich damit, denn ich bin schuldig.“

„Aber ich kann doch nicht....... Was soll denn dieser Blödsinn.....Nun hören Sie aber auf.....“, stammelte ich hilflos.

Sie explodierte: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“

Mit diesen Worten ließ sie ihr Schild „Ami go home“ fallen, fasste mit großer Kraft meinen rechten Arm und zwängte in meine offene Hand den blauen Stein hinein. Und ehe ich mich besann, drehte sie sich abrupt um, deutete über ihre Schulter auf ihren mir zugewandten Rücken und forderte im Weggehen: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“

Ich habe nicht geworfen, sondern den Stein in meine Hosentasche gesteckt.

Seitdem trage ich ihn immer bei mir.

DER GERECHTE MUSS VIEL LEIDEN

Nach diesem Erlebnis mit den Demonstranten und der jungen Frau konnte ich mich in meinem Büro nur schwerlich auf die Arbeit konzentrieren.

Vor mir auf dem Schreibtisch lag der blaue Stein.

Ausgerechnet mir, Michael Degenhardt, 53 Jahre alt, lastete man an, auf irgendeine Weise Mitschuld an den Attentaten des 11. September zu tragen!

Ausgerechnet mir, der sich in seiner Arbeit für andere Menschen regelrecht aufopferte und immer einem rechten Lebenserwerb nachgegangen war!