Das Licht in einem dunklen Haus - Jan Costin Wagner - E-Book
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Das Licht in einem dunklen Haus E-Book

Jan Costin Wagner

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Beschreibung

Kimmo Joentaa auf der Suche – nach einer unbekannten Toten, einer namenlosen Geliebten und einem Mörder, der sympathischer ist als seine Opfer Der Mord an einer ohnehin todgeweihten Frau stellt die Polizei im finnischen Turku gleich vor mehrere Rätsel: Wer dringt in ein Krankenhaus ein, um eine Komapatientin zu töten? Und was ist das für ein Mörder, der auf dem Bettlaken des Opfers eine einzige Spur hinterlässt – eine Substanz, die die Kriminaltechnik nach kurzem Zweifel als Tränenflüssigkeit identifiziert. Eigentlich müsste Kimmo Joentaas ganze Aufmerksamkeit dem Versuch gelten, die ungewöhnliche Tat aufzuklären – aber der junge Ermittler hat gerade eine andere, für ihn viel existentiellere Sorge: Larissa, die Frau, die unvermutet wieder Licht in sein von Trauer verschattetes Leben brachte, ist spurlos verschwunden. Während der rätselhaft souveräne Täter in verschiedenen Städten weitere Opfer findet, führt Kimmo Joentaa die beharrliche Suche schließlich in ein kleines Dorf in der tiefsten finnischen Provinz – und mitten hinein in die Dunkelheit eines lange vergangenen Sommers.

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Seitenzahl: 353

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Jan Costin Wagner

Ein Mörder, der weint

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Jan Costin Wagner

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungPrologHerbst1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. KapitelWinter32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. KapitelWeihnachten70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. Kapitel81. Kapitel82. Kapitel83. KapitelDank
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Für Venla

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Prolog

18. August 1985

 

Es ist etwas passiert. Ich muss es aufschreiben. Alles aufschreiben, um mich später daran erinnern zu können. Alles genau beschreiben, damit sich im Kopf ein Bild entwickeln kann.

Hat Lauri gesagt.

Also. Sie weint nicht. Und sie lacht nicht. Sie sitzt nur da. Ich sitze auf dem Stuhl neben ihr, und in meinem Kopf ist so ein Summen. Wie von Bienen oder Fliegen oder so. Liebes Tagebuch. Wir sitzen nebeneinander. Vor dem Klavier.

Sie sieht ganz konzentriert die Tasten an. Und dann schlägt sie eine Taste an, und es klingt hell. Und es ist warm. Wir schwitzen beide. Ihr Kleid ist noch so ganz verknäult. Irgendwie durcheinander und faltig.

Es ist das blau-weiße Kleid, von dem ich Lauri erzählt habe. So ein leichtes Sommerkleid, und darunter kann man die Form ihrer Brüste ziemlich genau sehen oder ahnen vielleicht eher.

Es ist ganz faltig und hochgerutscht, und ich sehe fast die Stelle, an der ihr Po beginnt. Der Ton klingt hell und ist etwas lauter als das Summen, und das Summen ist ja auch nicht wirklich da, es ist nur in meinem Kopf.

Das Fenster ist geöffnet. Wind weht rein, aber warm. Lachen und Planschen vom See. Das sind sicher die Kinder aus dem Nachbarhaus.

Draußen ist es ganz heiß, ich habe ziemlich geschwitzt, als ich mit dem Fahrrad zu ihr rausgeradelt bin.

Und dann sitzen wir schwitzend nebeneinander, nachdem das alles passiert ist. Aber sie zittert auch. Ihr ist sicher nicht kalt, weil sie ja schwitzt und irgendwie außer Atem ist, aber sie zittert ja auch, und schlägt wieder eine Taste an. Etwas höher als vorher, also noch heller. Es klingt irgendwie hell und leise. Also beides gleichzeitig.

Wie so ein geflüsterter Schrei.

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Herbst

1

Kimmo Joentaa lebte mit einer Frau ohne Namen in einem Herbst ohne Regen. Das Hoch wurde auf Magdalena getauft. Die Frau ließ sich Larissa nennen.

Sie kam und ging. Er wusste nicht, woher und wohin.

Abends, wenn er nach Hause zurückkehrte, blieb er für eine Weile im Wagen sitzen und suchte hinter den Fensterscheiben nach Anzeichen ihrer Anwesenheit. Manchmal brannte Licht, das nicht gebrannt hatte, als er am Morgen losgefahren war. Manchmal war es dunkel.

Wenn Licht brannte, war sie meistens nicht da. War es dunkel, saß sie mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa und lachte, wenn er sie fragte, wie ihr Tag gewesen sei. Sie lachte und lachte, bis Kimmo Joentaa irgendwann einstimmte.

Einige Male fragte er sie, warum sie immer das Licht einschaltete, wenn sie ging, und warum sie im Dunkeln saß, wenn er nach Hause kam. Sie antwortete nicht. Sie sah ihn nur an und schwieg. Das tat sie häufig, wenn er Fragen stellte. Wenn er neu ansetzen wollte, kam sie auf ihn zu, umarmte ihn, zog ihn aus, schob ihn auf das Sofa und bewegte sich in rhythmischen, einstudierten Bewegungen über ihm, bis er kam.

Bevor der Schnee und das Eis schmolzen, spielte sie auf dem See mit den Kindern Eishockey. Sie aß Unmengen Eiscreme, am liebsten Vanille und Tundrabeere. Sie mochte Actionfilme, Ballerei und explodierende Autos. Komödien mochte sie nicht, aber sie lachte viel. Meistens über ihn. Er musste gar nichts sagen, ihr reichte oft sein Gesichtsausdruck oder eine Bewegung, die er machte.

Sie hatte strohblonde Haare und bestand darauf, einen Meter und sechzig groß zu sein – und nicht einen Meter und einundfünfzig, wie Joentaa ab und zu in den Raum stellte, weil er ihren wütenden Blick mochte – und sie war sehr schmal, was Joentaa wunderte, angesichts ihres Süßwarenkonsums.

Manchmal verschwand sie. Unter ihrer Handynummer erreichte er die fremde, anonyme Stimme einer Mailbox. Er sprach Nachrichten auf und spürte, wie seine Worte in der Stille versickerten. Unter der Mailadresse, die sie ihm gegeben hatte, schrieb er Texte, die nie beantwortet wurden. Er saß in einem leeren Haus, mit dem Handy in der Hand, vor dem Laptop, und wartete.

Er begann, morgens das Licht anzuschalten, wenn er ging, und er spürte das Stechen im Magen, wenn das Haus irgendwann, nach Tagen oder Wochen, wieder im Dunkel lag, als er zurückkehrte. Dann saß sie mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa, wendete den Blick in seine Richtung und sagte, sie sei wieder da.

Wenn er sie fragte, wo sie gewesen sei, schwieg sie.

Sie ging gern spazieren. Stundenlang stapften sie an den Wochenenden gemeinsam durch den Wald, und sie erzählte von Filmen, die sie gesehen hatte, oder von Büchern, die sie las. Sie las alles Mögliche, es mussten nur Geschichten sein, Geschichten, die sie ihm erzählen konnte. Die Bücher stapelten sich in verschiedenen Ecken des Hauses. Er hörte ihr aufmerksam zu und versuchte, hinter den Figuren, die auf der Bühne ihrer Fantasie zu leben begannen, die Erzählerin zu finden.

Sie arbeitete als Prostituierte, Joentaa wusste nicht, wo. Irgendwann begann er, sie danach zu fragen, aber sie grinste nur schief und sagte, das wolle er nicht wissen. Als der Sommer begonnen hatte, hatte sie ihm gesagt, dass sie zusätzlich einen Halbtagesjob angenommen habe, als Eisverkäuferin, und Joentaa sagte, dass ihn das freue.

»Wenn ich es geschickt anstelle, kann ich so viel Süßes essen, wie ich will«, sagte sie.

Er fragte sie nach ihrem Namen, ihrem richtigen Namen, und sie sagte, dass Namen keine Rolle spielen.

Im Schlaf weinte sie, und wenn er sie weckte oder nach dem Erwachen darauf ansprach, konnte sie sich nicht erinnern, etwas geträumt zu haben.

2

Mitte September gingen sie gemeinsam zu einem Geburtstagsfest. Der Polizeichef von Turku, Nurmela, feierte seinen Fünfzigsten im riesigen Garten seines Hauses, das direkt am Fluss lag und eine malerische Aussicht bot.

Als sie ankamen, empfing sie Nurmelas Frau, Katriina, die Joentaa einige Male bei den Weihnachtsfeiern der Polizeibelegschaft gesehen hatte. Sie war groß gewachsen und schlank und schien sich immer im Bewusstsein ihrer körperlichen Präsenz zu bewegen.

Der Garten war schon bevölkert von Gästen, und Joentaa steuerte auf Petri Grönholm und Paavo Sundström zu, die an einem breiten Tisch in der Sonne saßen. Larissa drückte fest seine Hand, während sie liefen, und als Joentaa ihr einen kurzen Blick zuwarf, lachte sie ihn an. Er spürte ihre Hand in seiner und die Wärme eines viel zu warmen Herbstes und freute sich plötzlich, dass sie zu dem Fest gegangen waren. Er trat an den Tisch heran, an dem Sundström und Grönholm saßen, und stellte die Frau, die neben ihm stand und sich an ihn schmiegte, als Larissa vor.

»Hallo«, sagte Grönholm.

»Wow«, sagte Sundström.

Larissa lachte. Dieses laute, abrupte Lachen, das er mochte, weil es echt war und ihm für Momente das Gefühl gab, sie zu kennen.

Sundström starrte Larissa an, bis ihn ein Gedanke in die Realität zurückzuholen schien: »Meine schlechtere Hälfte ist hier auch irgendwo«, sagte er und sah sich halbherzig um. »Wahrscheinlich an der Proseccotheke.«

»Da will ich auch hin«, sagte Larissa.

»Ja … gleich«, sagte Joentaa.

»Heute besaufen wir uns«, sagte Larissa.

Sundström lachte, Grönholm lachte, Joentaa nickte, und Larissa löste ihre Hand aus seiner und ging den Abhang hinauf auf die Getränkestände zu. Joentaa sah ihr nach und spürte, dass Sundström und Grönholm dasselbe taten.

»Respekt, Kimmo, Respekt. Die neue Frau in deinem Leben, was?«, fragte Sundström.

Joentaa nickte. Die neue Frau. Oder was auch immer.

»Es freut mich«, sagte Grönholm. »Es freut mich für dich …«

»Was für eine …«, unterbrach Sundström.

»Was?«, fragte Grönholm.

»Was für eine … Höllenmaus«, sagte Sundström.

»Was bitte?«, fragte Grönholm lachend und warf Joentaa einen verunsicherten Blick zu.

»Ich mein ja nur … oh, hallo, Schatz«, sagte Sundström. »Darf ich dir Kimmo Joentaa vorstellen, einen weiteren meiner bedauernswerten Untergebenen. Kimmo, Sabrina. Sabrina, Kimmo.«

»Hallo«, sagte Joentaa.

Sabrina Sundström führte ein Glas mit Prosecco zum Mund, nahm einen Schluck, ließ das Glas sinken und lächelte offen. Joentaa kannte sie nicht, wusste aber, dass sie Humor haben musste. Eine Menge davon. Wie hätte sie sonst mit Paavo Sundström zusammenleben können?

Im Hintergrund setzte die Musik von Violinen ein, und danach sprach ein glänzend gelaunter Polizeichef Nurmela, auf der Terrasse stehend, in ein Mikrofon und bedankte sich bei allen für ihr Kommen und für die großzügigen Geschenke, die er zu gegebener Zeit auspacken werde. Er hoffe nur, dass nicht zu viele Anspielungen auf Rente, Abschied und Lebensabend dabei seien, denn er mache erst Halbzeit und habe noch jede Menge vor. Seine Frau, Katriina, stand neben ihm und sagte abschließend, dass in wenigen Minuten das Buffet eröffnet werde.

Die Violinen setzten wieder ein, das ganz in schwarz gekleidete Musikerquartett saß am Rand der breiten Terrasse, drei junge Frauen und ein junger Mann. Larissa kehrte zurück, ein Tablett mit einer Sektflasche und Gläsern balancierend.

»Genug für alle«, sagte sie.

Sundström lachte, Grönholm schenkte ein, und Larissa setzte sich und war sofort in ein Gespräch mit Sundströms Frau vertieft. Ein Gespräch über Sommerkleider, wenn Joentaa die Worte richtig deutete, die ihn von Zeit zu Zeit streiften.

Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass Nurmela an der Seite seiner Frau auf sie zukam. Beschwingten Schrittes, in einem beigen Anzug, mit einer gelben Krawatte, auf der blaue Donald-Ducks lachten. Katriina bewegte sich fließend und graziös und hielt mühelos mit dem Tempo seiner Stakkatoschritte mit.

»Tolles Outfit«, sagte Sundström, als die beiden in Hörweite waren. »Die Krawatte, meine ich. Und natürlich das Kleid deiner Frau.«

»Danke, danke«, sagte Nurmela, Katriina lächelte, und Joentaa hatte den Eindruck, dass sich in Nurmelas Gesicht eine plötzliche Veränderung vollzog.

»Hey, Mann, August«, sagte Larissa.

»Hm?« Das war Grönholm.

»Wer?«, fragte Sundström, und Grönholm ließ den Blick schweifen, vermutlich auf der Suche nach dem August.

»Ups«, sagte Larissa und hielt sich die Hand vor den Mund, und Joentaa spürte, dass Nurmela neben ihm ins Wanken geriet und sich fahrig entschuldigte. Katriina starrte Larissa an. »Komme gleich, Schatz, ich muss mal nach … den Gästen sehen …«, sagte Nurmela. Er lief in Richtung der Getränkestände.

Alle sahen ihm nach, Katriina riss sich los und folgte ihm.

»Was war das denn?«, fragte Grönholm.

»Seit wann heißt Nurmela August?«, fragte Sundström.

»Er heißt doch gar nicht August«, sagte Grönholm und wendete sich Larissa zu.

»Mein Fehler«, sagte sie und warf Kimmo Joentaa ein breites Lächeln zu. »Wer will noch Sekt?« Sie nahm die Flasche und schenkte nach. Joentaa hielt dankbar sein Glas hin und leerte es in einem Zug. Er hatte plötzlich das sichere Gefühl, diesen Sommerherbsttag angemessen nur im Zustand eines leichten Rauschs verleben zu können.

»Prost«, sagte Larissa, und alle stießen an.

»Heißt der nun August oder nicht?«, fragte Sabrina Sundström.

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Grönholm.

»Nö«, sagte Sundström.

»Ein Irrtum«, sagte Larissa.

»Namen spielen keine Rolle«, sagte Joentaa.

Er fing einen Blick von Larissa auf, den er nicht deuten konnte, und ging, um eine weitere Flasche Alkohol zu holen.

3

Der Rest des Festes versank in einem wohligen, weichen Nebel. Das Klirren und Klingen der Essbestecke, die Menschenschlange auf dem frisch gemähten Rasen, an den schneeweißen Buffettischen. Larissa aß mit gutem Appetit und mochte vor allem die Eier auf Lachs und die Heringe in Curry.

»Mhm, lecker«, sagte sie mehrfach und lachte, und Joentaa spürte den Impuls, sie zu umarmen und an sich zu drücken, bis ihnen beiden die Luft wegbleiben würde. Er hatte innerhalb recht kurzer Zeit acht bis zwölf Mal sein Sektglas geleert, er wusste nicht genau, wie oft, weil er sich irgendwann verzählt hatte, und nahm vage wahr, dass Sundström die Augenbrauen anhob.

»Äh, Kimmo … alles klar so weit?«, fragte er.

Joentaa nickte. Er fühlte sich merkwürdig nüchtern, abgesehen von dem sanften Schleier, der sich über seine Gedanken gelegt hatte.

Larissa unterhielt sich angeregt mit Sundströms Frau, und Grönholm saß entspannt zurückgelehnt, trank ein Bier nach dem anderen und zwischenzeitlich den einen oder anderen Sekt, und schien den beiden aufmerksam zuzuhören. Joentaa fragte sich, warum Grönholm nie in Begleitung einer Frau zu derartigen Anlässen erschien. Er erwog, ob Grönholms gute Laune und weitgehend ausgeglichene Art darauf zurückzuführen sei, verwarf den Gedanken aber und betrachtete für eine Weile Nurmela, der im Zentrum des Gartens mit Gästen sprach, die ihn umringten. Ab und zu warf er Blicke zum Tisch, an dem Joentaa saß. Vermutlich bemühte er sich, herauszufinden, auf welche Weise die kleine Blonde zu seinem Geburtstag hatte kommen können.

Joentaa hatte das Gefühl, dass Nurmelas Blick in kürzer werdenden Abständen auf seinem Gesicht haften blieb, aber er wich nicht aus, seine Augen waren zu träge und die Wärme des Abends zu lau und weich. Er spürte Larissas Umarmungen, sie streiften ihn, wenn sie ging, um sich Nachschub vom Buffet zu holen. Manchmal hielt er ihre Hand fest und wartete einige Sekunden, bis er sie losließ.

»Ich muss zum Buffe-e-t«, sagte Larissa mahnend.

»Dann will ich dich nicht auf-hal-ten«, erwiderte Joentaa.

Er sah ihr nach und registrierte, dass sie prätentiös mit dem Po wackelte. Was sie sonst nie tat. Eine Show für die anderen. Für August vielleicht. Die meisten der anwesenden Männer wendeten den Blick in ihre Richtung, einige lachten, andere waren bemüht, sich ungerührt zu geben.

»Die Frau ist der Hammer«, flüsterte Sundström, in unmittelbarer Nähe seines Ohres. Er spürte den Luftzug seines Atems und nickte.

»Was sagst du?«, fragte Sabrina neben ihm.

Larissa kehrte zurück, einen weißen Teller balancierend, mit Eiern und Heringen. Er sah sie an und dachte plötzlich, dass er noch nie einen so fröhlichen Menschen gesehen hatte.

»Was ist?«, fragte sie.

»Hm?«

»Du siehst mich so komisch an«, sagte sie.

»Nichts«, sagte er.

Noch nie einen so fröhlichen Menschen, dachte er. Und noch nie einen, der so oft weint im Schlaf.

Dann mampfte sie Heringe und Eier, und Sundströms Witze begannen, die Grenze zum Zotigen zu streifen. Der Abend und die Dunkelheit kamen, Fackeln spendeten Wärme und ein wenig Licht, und als es zu kalt und zu dunkel wurde, zog der harte Kern ins Haus um, das hell erleuchtet war. Joentaa ging auf schwachen Beinen und nahm vage wahr, dass Nurmela ihn auf die Seite zog.

»Komm mal, Kimmo«, sagte er.

»Hm?«

Sie standen zu zweit auf dem Rasen, aus dem Innern des Hauses drang Gelächter. Hinter ihnen klirrte Geschirr, Bedienstete räumten die Reste des Buffets beiseite.

»Hast du die angeschleppt?«

»Hm?«

»Die … Frau, mit der du gekommen bist …«

»Larissa.«

Nurmela starrte ihn an. Schien Mühe zu haben, Worte über seine Lippen zu bringen. Schien sich auf irgendeinen fernen Punkt zu konzentrieren. Joentaa betrachtete die Enten in ihren Matrosenanzügen. Auf Nurmelas Krawatte. Im flackenden Licht der Fackeln.

»Bist du irre?«, fragte Nurmela.

»Hm?«

»Hier mit einer … Nutte anzutanzen …«

»Ach so«, sagte Joentaa.

»Ja, ach so.«

»Ja.«

»Ja, genau, ach so.«

»Larissa arbeitet auch als Eisverkäuferin. Halbtags«, sagte Joentaa.

Nurmela schwieg. Starrte sich die Augen aus dem Kopf.

»Die Donalds tanzen«, sagte Joentaa.

»Bitte?«

»Auf deiner Krawatte.«

Nurmela sah an sich hinab. Hob den Blick.

»Ich wusste nicht, dass ihr euch kennt«, sagte Joentaa.

»Wie bitte?«

»Ich wusste nicht, dass Larissa und du … dass ihr euch … kennt.«

Nurmelas Arme zuckten nach vorn und würgten Joentaa am Hals. Er spürte ein Stechen in der Brust und hörte sich röcheln. Betrachtete die blauen Enten.

Nurmelas Atem roch nach Alkohol, seine Stimme klang präzise und nüchtern. »Arschloch«, sagte er.

Dann ließ er ihn los. Joentaa folgte seinem Blick auf die Fensterfront. Katriina im Zentrum des Raums, im Licht, das die Kronleuchter spendeten. Schlank und groß gewachsen. Für jeden Gast ein Lächeln.

»Tut mir leid, falls Katriina …«, sagte Joentaa.

Nurmela ließ sich auf einen weißen Klappstuhl fallen. Joentaa ging ein paar Schritte und zog sich einen heran. Setzte sich.

»Tut mir leid, falls Katriina … irgendwie irritiert war …«

»Hat nichts gemerkt«, sagte Nurmela.

»Nicht?«

»Nein. Doch. Aber ich kann das regeln«, sagte Nurmela.

Regeln, dachte Joentaa. Weicher, sanfter Regen fiel, der erste seit Langem. Im Haus schien niemand den Gastgeber zu vermissen.

»Ich erzähle einfach irgendeine Scheiße«, sagte Nurmela.

Joentaa nickte.

»Spielt doch keine Rolle«, sagte Nurmela.

Joentaa nickte und sah Larissa hinter der Fensterfront. In ein angeregtes Gespräch mit Nurmelas Frau vertieft. Sie lachten gemeinsam. Nurmela starrte in die Dunkelheit und hatte jetzt doch begonnen, über Worte zu stolpern.

»Spielt doch alles keine Rolle«, nuschelte er.

»Ja«, sagte Joentaa. Sah Larissa hinter der Fensterscheibe. Larissa. Mit Nurmela. Es fiel ihm schwer, dem Bild Konturen zu geben.

»Halbzeit«, sagte Nurmela.

»Ja«, sagte Joentaa.

»Halbzeit mache ich.« Offensichtlich in dem Bemühen, die Ankündigung in die Tat umzusetzen, richtete er sich auf, mühsam, und stiefelte auf das Haus zu. »Komm, Kimmo, wir trinken noch einen«, rief er.

Joentaa folgte ihm.

»Seid ihr … zusammen?«, fragte Nurmela im Gehen.

Larissa hinter der Fensterwand. Sie tanzte im Rhythmus einer lautlosen Musik.

Joentaa nickte.

»Mhm. Mhm«, sagte Nurmela, und Joentaa dachte, dass Larissa möglicherweise einen ihrer besten Kunden verlieren würde. Obwohl, warum eigentlich? Jetzt, wo alles hinreichend geklärt war.

Nurmela, Larissa.

Nurmela nickte vor sich hin. Die blauen Enten lachten schallend, ähnlich, wie Larissa hinter der Fensterwand.

Als Nurmela die Tür öffnete und sie endlich die Musik hören konnten, zu der Larissa und Katriina tanzten, dachte Joentaa, dass er ihm irgendwann zwei Fragen stellen musste.

Warum sein Haus eine derart schalldichte Verglasung hatte.

Und warum … warum August?

4

»Warum … warum eigentlich August?«, fragte Sundström, weil ihm keine Zoten mehr einfielen oder weil Grönholm gerade ein weiteres Bier holen ging.

Er beugte sich zu Joentaa hinüber, der am anderen Ende des Sofas lehnte, zwischen ihnen saß eine rothaarige Frau, die Joentaa nicht kannte, und auch Sundström schien zumindest keinerlei Interesse daran zu haben, sie in das Gespräch einzubeziehen. Sein Kopf verharrte knapp über ihrem Schoß in der Luft, während er seine Frage präzisierte: »Was war das denn vorhin mit diesem August?«

»Keine Ahnung«, sagte Joentaa.

»Larissa will mir weismachen, sie hätte gar nichts von einem August gesagt. Aber du hast doch auch gehört, dass sie von August gesprochen hat. Und sie schien Nurmela zu meinen.«

»Keine Ahnung«, sagte Joentaa.

»Aber …«

»Nicht wichtig. Ein Missverständnis«, sagte Joentaa.

»Ich mein ja nur … Nurmela heißt nämlich nicht August. Sein Name will mir die ganze Zeit nicht einfallen, aber ganz sicher nicht …«, murmelte Sundström und hob seinen Kopf vom Schoß der Frau, die keine Miene verzog.

Die Musik war laut und sphärisch, und die Bässe brummten und summten, und Larissa und Katriina tanzten und lachten sich an, und Joentaa dachte, dass Nurmela eine wirklich bemerkenswerte Party schmiss. Ein harter Kern letzter Gäste. Das Violinquartett hatte sich verabschiedet. Grönholm torkelte bestens gelaunt auf sie zu, und Nurmela lag etwas abseits in einem Sessel und lächelte entrückt.

Halbzeit, dachte Joentaa. Angesichts des Bildes, das sich ihm bot, wirkte das eher untertrieben.

Larissa. Und August.

Oder wie immer sie hießen.

Dann kam Larissa auf ihn zu und zog ihn am Arm auf die Tanzfläche in Nurmelas Wohnzimmer. Mit einer Kraft, die keine Widerrede duldete. Er fragte sich, woher zum Teufel Nurmela diese abgedrehte Musik hatte, und Larissa hing an seinem Hals, ihre Lippen an seinem Ohr. Die Ahnung ihrer Stimme, aber er verstand die Worte nicht, die sie sprach. Zu laut, signalisierte er, und sie lächelte und winkte ab.

Im Hintergrund strich Sabrina Sundström ihrem Mann die wirren Haare glatt, und Petri Grönholm führte das Bierglas zum Mund. Larissa lachte. Über ihn. Natürlich. Er erwiderte das Lachen und erweiterte die Lächerlichkeit seines Tanzstils um nervöse Zuckungen. Auch Grönholm auf dem Sofa lachte und feuerte ihn an, Sundström hatte die Augen geschlossen und schien Sabrinas Kopfmassage zu genießen. Danach ein ruhiger Song, Klavier und Gesang. Larissa schlang die Arme um ihn und sagte, der Sänger könne dieses Lied kaum überlebt haben.

»Inwiefern?«, fragte Joentaa.

»Zu traurig.«

»Hm«, sagte Joentaa.

Sie ließ sich fallen und zog ihn lachend Richtung Boden. »Hoppla«, sagte Joentaa und hielt sie fest, und Petri Grönholm erbrach sich auf Nurmelas goldbraunen Teppichboden.

»Iiiiiiih«, schrie die Rothaarige, sprang vom Sofa und landete in den Armen eines Drogenfahnders.

»Oje«, sagte Sabrina Sundström, und Katriina schritt durch den Raum, aufrecht und graziös, und beugte sich über Grönholm, der sich, ein Tischbein umklammernd, aufzurichten versuchte.

»Macht nichts«, sagte Katriina.

»Der Teppich sieht aus wie das Bier, das du ausgekotzt hast«, sagte Sundström.

»Paavo, bitte«, sagte Sabrina.

»Was denn? Das passt doch«, sagte Sundström.

Nurmela kam und legte den Arm um Katriina, und gemeinsam sahen sie auf Grönholm hinab, und Grönholm nuschelte: »Tschuldigung … hab gar nicht gemerkt … dass ich so … das letzte Bier war … eins zu viel.«

Katriina begann aufzuwischen, und Nurmela nahm ihr den Lappen aus der Hand. »Lass mich das machen«, sagte er.

»Noch ’nen Wein?«, fragte Sundström, während er Grönholm dabei half, sich aufzurichten.

»Kimmos Schuld«, sagte Grönholm. »Dein absurdes Tanztheater hat mir den Rest gegeben.«

»Entschuldige«, sagte Joentaa, und Grönholm begann zu kichern. Nurmela schrubbte, was das Zeug hielt, und Katriina sagte: »Nicht zu viel, Schatz, sonst verblasst der Teppich.«

»Was?«

»Der Teppich. Wenn du viel schrubbst, geht das Waschmittel nicht raus.«

»Ah.«

»Salz«, sagte Sundström.

»Bei Wein«, sagte Sabrina. »Bei Wein.«

Dann saßen sie alle um den Tisch herum, und Nurmela bot einen Absacker an, einen aus Frankreich stammenden Aprikosenlikör, der …

»Ich weiß nicht, ob das jetzt die beste Idee ist«, sagte Katriina, aber selbst Grönholm sagte: »Geht schon, geht schon.« Und Nurmela war ohnehin nicht zu bremsen und brachte die Flasche und alle stießen an.

»Hmmmm. So gut«, sagte Larissa und leerte das Glas in einem Zug, und Nurmela räusperte sich.

Das Signal zum Aufbruch gaben die Rothaarige und der Drogenfahnder. Joentaa stützte, gemeinsam mit Sundström, den wankenden Grönholm, der unablässig vor sich hinmurmelte: »Mann … Mann, Mann, Mann, hätte nicht … für möglich gehalten, dass mir so was … ausgerechnet …« Dann kicherte er wieder.

Nurmela und Katriina winkten, der Drogenfahnder und die Rothaarige winkten, und dann saßen sie zu fünft in einem von Sabrina Sundström gesteuerten Wagen. Vorne saßen die Sundströms, hinten Joentaa, Larissa und Grönholm.

»Wohin zuerst?«, fragte Sabrina.

»Erst mal Petri nach Hause bringen«, sagte Joentaa.

»Macht euch wegen mir … ich … ich kann auch fahren, wenn es … sein muss …«, versicherte Petri Grönholm.

Es hatte wieder zu regnen begonnen.

»Jetzt kommt der Herbst«, sagte Sundström.

»Es soll warm bleiben«, sagte Sabrina Sundström.

Grönholm bedankte sich für den schönen Abend und bestand darauf, selbstständig und allein aus dem Wagen zu steigen und in seine Wohnung zu gehen. Ein vergleichsweise hohes Haus im Zentrum von Turku, direkt am Marktplatz.

»Auf bald, in alter Frische«, rief Sundström aus dem Beifahrerfenster, und Petri Grönholm grunzte etwas, das Joentaa nicht verstand. Dann fuhren sie auf schmaler werdenden Straßen durch zunehmenden Regen.

»Bist du sicher, dass wir hier noch richtig sind?«, fragte Sundström, als Joentaa Sabrina bat, auf den Waldweg abzubiegen.

Was ist schon sicher, dachte Joentaa.

Das Haus im Dunkel.

Larissa neben ihm.

Ihre Hand in seiner.

»Na, dann macht’s mal gut, ihr beiden«, sagte Sundström.

»Schlaft schön«, sagte Sabrina.

»Ihr auch«, sagte Joentaa und folgte der Frau, deren Namen er nicht kannte, und die schon auf halbem Weg zur Haustür war.

5

Sie weinte im Schlaf und konnte sich an nichts erinnern, als Kimmo Joentaa sie weckte und fragte, ob alles in Ordnung sei.

»Ich muss jetzt schlafen«, sagte sie.

»Irgendwas musst du geträumt haben.«

»Kimmo, ich weiß nicht, was. Lass mich schlafen, ja?«

»Wenn du mir versprichst, nicht zu weinen.«

»Manchmal bist du anstrengend.«

»Wie ist er denn so, der August?«

Sie schwieg. Richtete sich ein wenig auf.

Er spürte ein Stechen im Magen, in der Brust.

Ein Brennen hinter den Augen.

»Kimmo, schlaf jetzt.«

»Entschuldige.«

»Schlaf einfach.«

»Entschuldige.«

»Gute Nacht, Kimmo«, sagte sie und drehte sich auf die Seite.

Einige Zeit verging. Ein Satz kristallisierte sich heraus, er wog ihn eine Weile auf der Zunge ab, bevor er ihn aussprach.

»Ich brauche etwas von dir«, sagte er schließlich.

Er bekam keine Antwort, und er wusste nicht, ob sie ihn gehört hatte.

»Ich brauche deinen Namen«, sagte er.

Vermutlich waren seine Worte nur Klänge oder Farben in dem Traum, den sie träumte und an den sie sich nicht erinnern würde, sobald sie erwachte.

6

14. September 2010

 

Liebes Tagebuch,

 

so sagt man doch, oder? Doch, ja. Ich denke, ja.

Alles aufschreiben, so, wie man es wahrgenommen hat. Damit man sich erinnern kann. Später.

Das Krankenhaus ist karg eingerichtet. Die Wände sind grün, weiß und blau. Ich laufe durch weite Hallen und habe das Gefühl, allein zu sein. Blicke treffen mich, ohne haften zu bleiben. Gleiten ab. Die Menschen tragen Kittel in den Farben der Wände. Sie sind in Eile und konzentriert. Fokussiert auf etwas, das nichts mit mir zu tun hat. Sie sehen mich nicht. Sie laufen schnell und verschwinden hinter Türen, und durch die Wände dringen gedämpfte Stimmen und manchmal ein Stöhnen, ein Schreien oder ein Weinen.

Ich empfinde mich als Schatten. Auch, als ich bei ihr sitze. In einem leeren Raum, den ich gefunden habe, ohne nach ihm zu suchen. Grün die Wand, die uns umgibt. Daran ein Nagel und ein Jesuskreuz aus Holz. Auf einem weißen Abstelltisch eine Pflanze aus Plastik. Weiß das Bett und die Bettdecke. Medizinische Gerätschaften. Schläuche, Elektronik. Technik, die merkwürdig alt aussieht. Gebraucht, benutzt. Der wiederkehrende, sanfte, summende Ton verklingt in der Stille wie damals die Klänge des Klaviers, einige Zeit, nachdem sie die Tasten angeschlagen hatte.

Der wiederkehrende, sanfte, summende Ton, der verrät, dass sie lebt.

Schlafen, erwachen.

Alles geht so schnell, deshalb muss man es aufschreiben. Um es festzuhalten. Um sich irgendwann erinnern zu können.

Alles so schnell, zu schnell, ich muss später darauf zurückkommen.

Das, was sie leben lässt, fließt in die Hand, in den Arm und lässt sich ablösen, als sei es nur ein Pflaster auf einer Wunde.

Ich verlasse das Zimmer, laufe die Flure entlang, in rechten Winkeln. Die anderen kommen mir entgegen. Ihre Schatten brechen an den Wänden. Einige sitzen auf Bänken und heben den Blick, als eine Stimme einen Notfall ausruft.

Als ich ins Tageslicht trete, fühlt sich der Herbst wie ein Sommer an, die Sonne scheint wie damals, und für Sekunden habe ich das Gefühl, dass nur Sekunden vergangen sind.

7

Als Joentaa am Morgen erwachte, war Larissa schon aufgestanden. Auf seiner Zunge lag der Geschmack von abgestandenem Sekt. Der Schwindel und die Kopfschmerzen waren nicht stark, aber er spürte, dass sie schon in den Stunden des Schlafs gekommen waren und eine Weile bleiben würden.

Er stand auf und ging durch das Wohnzimmer in die Küche. Das Haus war still und leer. Kein rauschendes, prasselndes Wasser in der Dusche. Er spürte den Impuls, ihren Namen zu rufen, aber dann verließ das Wort seinen Mund wie ein Krächzen. Er räusperte sich und setzte neu an. »Larissa«, sagte er neutral und so, dass sie es nicht hätte hören können, selbst wenn sie da gewesen wäre.

Aber sie war nicht da. Er ging in den Keller und öffnete die Holztür zur Sauna, die in der Morgenkühle lag. Das schmale Fenster stand offen. Sie hatten vergessen, es zu schließen. Er stand in dem kleinen, quadratischen Raum und betrachtete die Reste vom Vortag. Die Steine waren erkaltet, das Wasser zum Aufgießen war eine ruhige, blanke Fläche im alten, grauen Eimer, und auf der unteren Stufe der Holzbank glaubte er Abdrücke wahrzunehmen, Abdrücke ihrer Körper und möglicherweise auch der Körperflüssigkeiten, die an die hitzige Stunde erinnerten, die sie hier verbracht hatten. Bevor sie zu Nurmela und seiner außergewöhnlichen Geburtstagsparty gefahren waren.

Wie ist er denn so, der August?

Und was würde ihn die Stunde, in der Sauna, hitzig, leidenschaftlich, kosten?

Er ging nach oben. Setzte sich an den Küchentisch und dachte darüber nach, dass Samstag war und dass sie samstags eigentlich nicht arbeitete. Vielleicht war sie spazieren gegangen. Oder schwimmen. Das Telefon klingelte. Er blieb stehen und wartete, bis der Anrufbeantworter ansprang. Er wusste, dass es nicht Larissa war. Larissa rief nie an. Es war Sundström, der ihn um Rückruf bat.

Er ging ins Wohnzimmer, trat dicht an die Fensterfront heran und suchte das Wasser des Sees ab, das eine ruhige, blanke Fläche war, wie das Wasser unten, in der Sauna, in dem verbeulten Eimer aus Blech, den Sanna gekauft hatte, als sie noch gelebt hatte und alles in Ordnung gewesen war.

Er setzte sich auf das Sofa, ohne den See aus den Augen zu lassen, und dachte, dass Sanna tot war und Larissa verschwunden. Und dass es mehr nicht zu denken gab.

Sie würde zurückkommen. Am Abend. Oder morgen. In einigen Tagen oder Wochen.

Sannas Grab würde er gießen.

Er ging in die Küche, goss Wasser in ein Glas und führte es zum Mund. Pasi Laaksonen aus dem Nachbarhaus ging vorbei. Mit seiner Angel. Er winkte, und Joentaa hob den Arm, um den Gruß zu erwidern. Wie immer. Wie an dem Tag, an dem Sanna gestorben war, und an so vielen Tagen danach.

Wenn Pasi Laaksonen an Wochenenden spät vormittags angeln ging, stand Joentaa erstaunlich häufig am Küchenfenster. Er sah Pasi nach, der in der Senke, die zum See hinunterführte, verschwand, und dachte darüber nach, ob es eigentlich Zufall war, ein immer wiederkehrender Zufall, oder etwas ganz anderes.

Pasi mit der Angel, laufend, winkend. Wenige Stunden nach Sannas Tod. Vielleicht stand er am Küchenfenster, um die Szene immer wieder zu erleben. Weil Pasis Gang ans Wasser immer von Neuem den Moment zurückbrachte, in dem Sanna gestorben war – und den Moment, in dem sie noch gelebt hatte.

Je länger er darüber nachdachte, desto schlüssiger erschien ihm der Gedanke, und er fragte sich, warum ihm das erst jetzt, nach Jahren, bewusst wurde.

Er dachte noch darüber nach, als das Telefon wieder klingelte. Er löste sich und lief mit schnellen, federnden Schritten, obwohl er wusste, dass es nicht Larissa sein würde.

Es war Petri Grönholm. Seine Aussprache war klar, vielleicht ein wenig verlangsamt. Joentaa dachte an den nicht lange zurückliegenden Moment, in dem Petri Grönholm sich auf Nurmelas Teppich übergeben hatte, und an den länger zurückliegenden, in dem Sanna aufgehört hatte zu atmen, und daran, dass Larissa gegangen war, ohne sich zu verabschieden. Larissa oder wie immer sie hieß, und er hatte Schwierigkeiten, sich auf die Worte zu konzentrieren, die Grönholm am anderen Ende der Leitung sprach.

»Kimmo?«

»Ja?«

»Hast du alles mitbekommen?«

»Nicht ganz. Im Krankenhaus, sagst du …«

»Ja, Paavo Sundström ist unterwegs, und Kari Niemi mit der Kriminaltechnik schon dort. Die Frau war wohl ohnehin schwer krank.«

Ohnehin, dachte Joentaa.

»Das ist ja doch irgendwie merkwürdig … sie wäre wohl in jedem Fall gestorben.«

»Aha«, sagte Joentaa.

»Egal. Jedenfalls sagte Paavo, dass wir auf dem Parkplatz vor dem Hauptgebäude parken sollen, die Intensivstation ist dann ausgeschildert.«

Joentaa nickte. Er kannte die Intensivstation der Klinik in Turku.

»Ja … holst du mich ab? Wegen Restalkohol, ich war ja doch ziemlich platt gestern Nacht und will da nicht …«, sagte Grönholm.

»Ja … sicher.«

»Dann bis gleich«, sagte Grönholm und unterbrach die Verbindung. Joentaa stand eine Weile mit dem Telefon in der Hand da.

Als er seinen Mantel anzog, fiel ihm endlich ein, wie Nurmela mit Vornamen hieß. Petri, genau wie Grönholm. Er war sich nicht ganz sicher, aber doch, er glaubte, den Namen vor Augen zu haben. Petri Nurmela, Polizeichef.

Deckname August.

Stromverschwendung, dachte er vage, und schaltete alle Lichter im Haus an, bevor er ging.

8

29. Juni 1985

 

Lauri sagt, dass ich alles aufschreiben soll. Er sagt, dass ich mich irgendwann daran erinnern möchte. Weil man ja auch daran denken muss, dass alles so schnell geht, und irgendwann wird alles vergessen und vergangen sein, und dann möchte man sich erinnern. Sagt Lauri.

Ich finde, dass Lauri ein ziemlicher Spinner ist mit seinen Büchern und seinen klugen Sprüchen und seinem ganzen Getue, aber er ist wohl auch ziemlich schlau, das muss man ihm lassen, und außerdem ein echter Freund, da bin ich mir sicher, also schreibe ich alles auf. Ab heute.

Ich habe auch Lust dazu. Komischerweise, weil ich nichts schlimmer finde, als Aufsätze und Diktate zu schreiben und diesen Mist. Aber ich glaube, dass Lauri eine gute Idee gehabt hat, auch wenn ich mich wieder fast über ihn totlachen musste, als er mir vorhin erklären wollte, dass Matti Nykänen irgendwann auf die Schnauze fallen wird, weil das Leben ja nicht darin bestehen kann, auf zwei Brettern durch die Luft zu fliegen.

Das sei ja wohl logisch, sagt er.

Ich habe ihn gefragt, was er überhaupt mit Matti Nykänen will, wenn dreißig Grad sind und wir die Füße im Wasser baumeln lassen und die Sonne brennt wie schon ziemlich lange nicht mehr.

»Hast ja recht«, hat Lauri gesagt, das sagt er oft, obwohl ja eigentlich meistens er recht hat.

Manchmal frage ich mich, warum Lauri sich überhaupt mit mir abgibt, weil er ja in allen Fächern der Beste ist und ich in den meisten der Schlechteste, und zum Dank habe ich ihn als Ersten in meine Mannschaft gewählt, beim Fußball gestern. Die anderen haben den Mund nicht mehr zu bekommen, und Lauri hat gedacht, er hätte sich verhört und sich nicht getraut, zu mir zu kommen. Ich musste ihn noch mal laut rufen, und dann kam er langsam und hat mich so fragend angeschaut. In der Abwehr hat er dann richtig gut mitgespielt und sich in die Bälle geschmissen.

Wahrscheinlich fragt sich Lauri auch manchmal, warum ich mich mit ihm abgebe, und weil wir uns das beide fragen, sind wir ein ziemlich gutes Duo, wir beide. Und das ist sowieso ein schöner Sommer bisher. Lauri hat gesagt, dass das ein Sommer ist, der eigentlich nie vergehen sollte, so gut ist der.

Wir lassen unsere Füße im Wasser baumeln, ich ziemlich braun gebrannt, und er mit T-Shirt und Sonnencreme auf den Armen, weil er diese Riesenangst vor Sonnenbrand hat.

Und er sagt, dass ich mich irgendwann erinnern möchte und deshalb alles aufschreiben soll. Obwohl ich ihm noch gar nichts erzählt habe. Ich habe nur gesagt, dass ich das machen werde, mit dem Klavierunterricht. Mehr nicht. Er sieht mich mit einem komischen Blick an und sagt, dass ich alles aufschreiben soll. Alles, woran ich mich erinnere, weil ich mich an das, an den Klavierunterricht und natürlich an sie immer erinnern möchte.

Und dass ich aufpassen soll, weil es keinen Sinn hat, sich in die falschen Frauen zu verlieben.

Das sagt ausgerechnet Lauri Lemberg, der noch nie ein Mädchen geküsst hat, weil er daneben geknutscht hat, als die dicke Satu Koivinen ihn beim Juhannusfest ranlassen wollte.

Das ist schon ein komisches Bild, wenn man sich das vorstellt. Daneben zu knutschen.

Mal sehen, ob ich mich daran irgendwann erinnern will, jedenfalls habe ich es jetzt aufgeschrieben. Liebes Tagebuch. So sagt man das doch, oder? Liebes Tagebuch. Hallo, liebes Tagebuch. Muss ich morgen mal Lauri fragen, ob man das so sagt.

9

Das Krankenhaus von Turku. Ein weiter, weißer Bau mit ungezählten Fenstern, die Kimmo Joentaa einmal hatte zählen wollen, an einem sonnigen Tag, in den Tagen vor Sannas Tod.

Er hatte eigentlich nach Hause fahren wollen, um die Post durchzusehen und einige Stunden zu schlafen. Aber dann hatte er im Wagen gesessen und das klotzige Gebäude angestarrt und versucht, das Fenster zu finden, hinter dem Sanna lag. Und schlief. Oder starb.

Und dann hatte er begonnen zu zählen, hatte abgebrochen bei einhundertvierundsiebzig, war ausgestiegen und durch die Flure zurück in Sannas Zimmer gelaufen. Das sei ja schnell gegangen, hatte sie gesagt, müde und mit belegter Stimme, und er hatte sich an ihr Bett gesetzt und versucht zu lächeln.

Der Parkplatz sah unverändert aus. Eine zu warme Herbstsonne, wie damals. Grönholm neben ihm stieg aus dem Wagen. Joentaa folgte ihm, überholte ihn. Er hatte plötzlich das Gefühl, das alles schnell hinter sich bringen zu müssen. Er ging zielstrebig, er kannte den Weg. Rechtwinklige Wände, Pfeile, die die Richtung wiesen. An der breiten Schwingtür mit der Aufschrift Intensivstation stand eine uniformierte Polizistin. Joentaa zog seinen Ausweis aus der Manteltasche und erwiderte ihr Nicken, bevor er weiterging. In seinem Rücken die schlurfenden Schritte von Petri Grönholm.

In Weiß gehüllte Spurensicherer und eine merkwürdige Stille. Hinter einer Glaswand lehnten Schwestern und Pfleger an den Wänden. Am Ende des Gangs stand Sundström in ein Gespräch mit einem Mann vertieft, den Joentaa kannte.

Rintanen. Der Oberarzt, der Sanna versorgt hatte, in den letzten Tagen ihres Lebens. Der ihm ermöglicht hatte, Tag und Nacht bei ihr zu sein, obwohl der Krankenhausbetrieb andere Regelungen vorsah. Eine der Schwestern hatte ihm damals mitgeteilt, dass das nicht üblich sei, und dass er sich nur selbst krank machen werde, wenn er nicht schlafe und esse. Joentaa hatte genickt und geschwiegen und sich gefragt, warum ein Mensch, der nichts vom Tod begriff, in einem Krankenhaus arbeitete.

Er ging auf Sundström zu, und auf Rintanen, der aufrecht und gleichzeitig entspannt stand, mit leicht geneigtem Kopf, so wie damals. Joentaa passierte das Zimmer, in dem Sanna gelegen hatte, er erinnerte sich an die Nummer, an die schneeweiße Farbe, die Tür war verschlossen. Seine Beine begannen zu zittern, und er lief noch einige Meter, bevor er einen Gruß ausstieß, der als Krächzen seine Lippen verließ.

»Kimmo, altes Haus«, sagte Sundström, ungerührt humorig, wie immer. »Und der Herr Grönholm, Respekt.«

Joentaa nickte Sundström zu und gab Rintanen die Hand. »Hallo, wir … kennen uns.«

Rintanen sah ihn einige Sekunden lang an, dann stellte sich die Erinnerung ein. »Ja … das ist … Ihre Frau … vor einigen Jahren …«

»Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte Joentaa, einem Impuls folgend.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Rintanen.

Joentaa nickte. Sundström räusperte sich.

»Ganz gut«, sagte Joentaa.

Kari Niemi, der Leiter der Spurensicherung, ging vorüber, den Blick auf einen in einer Klarsichtfolie aufbewahrten Gegenstand fokussiert. Niemi, der ihn umarmt hatte, in den Tagen nach Sannas Tod. Er fragte sich, ob er sich das einbildete, ob es ein Produkt seiner von dieser Umgebung inspirierten Fantasie war, oder ob er Niemis Umarmung tatsächlich noch immer spürte.

Sundström, Rintanen und Grönholm diskutierten die Frage, wie man den Krankenhausbetrieb aufrechterhalten und gleichzeitig eine Mordermittlung durchführen konnte.

Joentaa löste sich und näherte sich dem Raum, in dem die meisten der Kriminaltechniker arbeiteten. Einer der Techniker reichte ihm Handschuhe und den Überwurf. Ein Krankenzimmer, das dem, in dem Sanna gelegen hatte, zu gleichen schien. Ein weiter Raum, in dem nur ein Bett stand. Weil Menschen, die auf den Tod zusteuerten, das Privileg genossen, allein zu sein.

Er betrat den Raum und bemühte sich, das Zittern seiner Beine zu kontrollieren. Die Frau lag auf dem Bett, auf dem Rücken. Salomon Hietalahti, der Gerichtsmediziner, saß auf einem Besucherstuhl neben dem Fenster und machte sich Notizen.

»Eine Tote wird ermordet«, sagte Sundström in seinem Rücken.

Joentaa wendete sich um.

»Die Frau lag im Koma, zeitweilig im Wachkoma. Apallisches Syndrom, wie der Kollege Rintanen da draußen das nennt. Es bestand seiner Einschätzung nach keine Aussicht auf Besserung.«

Joentaa nickte.

Keine Aussicht auf Besserung, dachte er.

»Aber das Beste kommt noch: Wir wissen nicht mal, wer sie ist. Wir wissen nicht mal ihren Namen.«

»Wie das?«, fragte Grönholm.

Nicht mal ihren Namen, dachte Joentaa.

»Weil die Gute mit Schädel-Hirn-Trauma in einem Straßengraben aufgefunden wurde. Ohne Personalien.«

Larissa anrufen.

»Ich glaube, daran erinnere ich mich. Das ging doch eine Zeit lang durch die Presse, oder?«, sagte Grönholm.

Auf dem Abstelltisch, neben dem Telefon. Bildete er sich das ein? Er musste nach Hause, er musste das prüfen.

»Was weiß ich«, sagte Sundström.

»Doch. Die Unbekannte ohne Erinnerung und Bewusstsein. Habt ihr das nicht mitbekommen?«

Er musste das prüfen. Er musste nach Hause. Grönholm und Sundström sprachen über die Frau, die wenige Meter entfernt auf einem Bett lag, das dem glich, auf dem Sanna gelegen hatte. In einem Zimmer, das aussah wie das, in dem sie gestorben war.

»Wobei, wie soll sie eine Erinnerung haben, wenn sie nicht bei Bewusstsein ist?«, sagte Grönholm, und Joentaa fragte sich, ob es der Restalkohol in seinem Blut war, der ihn so dumm daherreden ließ. Er dachte an Sanna. Und an das, was auf dem Abstelltisch neben dem Telefon lag. Das, was sein Blick gestreift hatte. Er war sich nicht sicher. Er musste los, nach Hause.

»Kimmo?«

»Die Giraffe«, sagte er.

»Was bitte?«, fragte Sundström.

»Ich muss los«, sagte Joentaa.

»Wie bitte?«

»Bin gleich wieder da. Hab was vergessen.«

»Kimmo? He, warte mal bitte.«

Er lief die Gänge entlang. Schnell, wie damals, in der Nacht, in der Sannas Puls ausgesetzt hatte.

»Kimmo, verdammt!«, rief Sundström, und er trat ins Freie, rannte zum Wagen, fuhr los.

Noch nicht mal ihren Namen, dachte er.

Und dass er sie nicht verlieren durfte.

10

Das Licht brannte. Es war schwer, das zu erkennen, denn die Sonne schien fast heller als die elektrischen Lampen im Innern des Hauses, aber Joentaa sah es.

Das Licht brannte, Larissa war nicht da.

Natürlich nicht. Für einen Moment fragte er sich, ob sie je da gewesen war.

Während er die Tür öffnete und während er in den Flur trat, dachte er an den Abstelltisch, auf dem das Telefon stand. Dann stand er davor und betrachtete den Schlüssel.

Den Zweitschlüssel fürs Haus, den Larissa zurückgelassen hatte. Zum ersten Mal. Wann immer sie gegangen war, auf unbestimmte Zeit, hatte sie ihren Schlüssel mitgenommen, um irgendwann, nach Tagen oder Wochen, wenn sie zurückkehrte, die Tür aufschließen, das Licht löschen und sich ins Dunkel im Wohnzimmer setzen zu können.