Sommer bei Nacht - Jan Costin Wagner - E-Book
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Sommer bei Nacht E-Book

Jan Costin Wagner

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Beschreibung

Was geschieht, wenn das Unfassbare geschehen ist? Zum Auftakt seiner neuen Reihe erzählt Krimipreisträger Jan Costin Wagner eine spannungsgeladene Geschichte auf einmalig einfühlsame und literarisch meisterhafte Weise. Ein Kind verschwindet. Dabei hat seine Mutter den Jungen nur für wenige Momente aus den Augen gelassen. Die Ermittlungen beginnen und schnell stößt die Polizei auf Verbindungen zu einem weiteren vermissten Jungen.  Die Ermittler Ben Neven und Christian Sandner machen sich auf die Suche nach dem fünfjährigen Jannis. Zeugen erinnern sich, dass ein Mann mit einem Teddybär auf dem Arm das Kind während des Flohmarkts in der Grundschule angesprochen hat. Schnell wird Ben und Christian klar, dass sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten. Und nicht nur das: es scheint einen direkten Zusammenhang mit der nie aufgeklärten Entführung eines weiteren Kindes in Österreich zu geben. Die beiden Polizisten stoßen auf finstere Abgründe. Jan Costin Wagner verarbeitet gleich mehrere brisante gegenwärtige Themen und rührt dabei tief an in uns allen schlummernden Ängste. Doch das Wagnis gelingt – weil Wagner den Spagat zwischen Empathie und Zurückhaltung beherrscht und literarische Kriminalromane schreibt wie kaum jemand sonst.

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Seitenzahl: 284

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Jan Costin Wagner

Sommer bei Nacht

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Jan Costin Wagner

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Dank

Inhaltsverzeichnis

You paint a silhouette,

you wore it

with regret in limbo

once again, found a raven

(raven)

Inhaltsverzeichnis

Eins

 

Ihren

Traumsommer

gibt’s jetzt

zum günstigen

Früh-

bucher-

preis.

Marko

Er ist im Spielzeugladen gewesen, hat eingekauft. Zwei Stofftiere. Als er gegangen ist, mit den Tieren unter dem Arm, ist ihm wieder bewusst geworden, dass die Tiere ziemlich groß sind. Ein wenig hinderlich. Aber große Stofftiere bereiten Freude. Je größer die Tiere, desto größer die Freude. Er ist losgefahren. Ausgestiegen.

Jetzt läuft er durch den flirrenden Sommer. Die Wärme prallt ab. Er versucht, sie aufzufangen, wie einen Ball, wirft sie zurück an die Wände der grauen Häuser. Ihm ist warm und kalt, kalt und warm. Flauschiger Stoff an seinen Händen, er betastet ihn mit den Fingerspitzen.

Auf dem Hof der Schule herrscht Lärm. Betriebsamkeit, denkt er. Das Wort geht ihm durch den Kopf. Komisches Wort. Die Stofftiere fühlen sich zu groß an. Hindern ihn. Er wusste es. Er läuft an kreischenden Kindern vorüber zu einem weißen, schmalen, langen Tisch. Eine Reihe von Tischen, dahinter stehen lächelnde Frauen. Er legt eines der Tiere ab. Hält sich am anderen fest.

»Dein Teddy?«

Die Stimme kommt von unten. Streicht an seinen Hüften entlang. Eine helle Stimme. Er nickt. Betrachtet den kleinen Jungen.

»Ja«, sagt er.

Er reicht dem Jungen den Teddy, nimmt seine Hand. Etwas rastet ein. Seine Hand in der Hand des Jungen und noch etwas. Etwas anderes.

Sie laufen. Er spricht. Er erklärt dem Jungen, warum sie laufen. Die grauen Wände der Häuser sind jetzt auf der anderen Seite, spiegelverkehrt. Alles ist anders, alles neu. Die Wände sind so grau wie früher, aber die Wärme prallt nicht mehr ab, sie schmiegt sich an ihn, hüllt ihn ein. Der Junge läuft an seiner Hand, als sei er sein Sohn.

Im Hintergrund verebbt das Gerede der Menschen, das Gekreische der Kinder, das Lachen.

Sein Wagen steht in einer Seitenstraße. Er versetzt dem Jungen einen Schlag gegen die Schläfe, bevor er ihn auf die Rückbank legt.

Er steigt ein, startet den Motor, fährt los. Entfernt sich. Die grauen Wände werden klein.

Kleiner und kleiner, verschwinden ganz.

Ben

Ein weites Feld. Er steht allein. Hält inne, bewegt sich nicht. Ist auf der Hut. Niemand ist da, niemand zu sehen, niemand zu hören. Niemand. Er ist allein auf der Welt. Steht allein auf dem Feld. Verkatert, obwohl er nicht getrunken hat. Erschöpft, erleichtert. Auf eine Weise, die schmerzt. Er spürt, dass er sterben wird. Irgendwann, zu einem Zeitpunkt, der fremd bleibt.

Das Mobiltelefon spielt eine Melodie, die er häufig gehört hat, ohne sie je zu kennen. Sie war bereits da, als er das Telefon gekauft hat. In einem Medienmarkt. Bunte Lichter. Menschen, die sich ihre Wünsche erfüllen. Ohne eine Freude, ohne eine Regung zu zeigen.

»Ja?«, sagt er.

»Dein freier Tag fällt aus«, sagt Christian. »Ein Kind ist vermisst. Ein Junge.«

Ben schweigt. Christians Worte wabern durch den Raum. Zähflüssig. Kind, Junge, vermisst.

»Ben?«

»Ja?«

»Hast du es mitbekommen? Bist du wach?«

»Ja.«

Er spürt Sveas Berührung an seinem Arm.

»Schschscht, alles gut«, sagt er. »Christian ist dran. Schlaf weiter.«

»Musst du weg?«

»Ja, gleich. Schlaf weiter.«

Er hebt sich aus dem Bett. Sein Blick streift Svea, während er zur Tür läuft. Dann steht er in einem neuen Raum, Sonne hinter den Fenstern.

»Ben?«, fragt Christian.

»Ja. Entschuldige. Ich bin aus dem Zimmer raus, Svea schläft.«

»Mittagsschlaf?«

»Ja. Sie ist gestern aus Korea gekommen und hat ein wenig Jetlag. Wir haben uns kurz hingelegt.«

»Ah. Okay. Hast du mitbekommen, was ich gesagt habe?«

»Ja. Wo ist das?«

»Holunderweg 11. Eine Grundschule. Da ist ein Flohmarkt heute. Wiesbaden-Biebrich. Bis dann.«

Bis dann, denkt Ben.

Christian

Christian lässt das Smartphone in seine Hosentasche gleiten, betrachtet die Szenerie.

Frauen, Kinder. Ein ratloser Hausmeister. Der Hausmeister sieht aus, als sei er einem Film entsprungen. Einem Film, der Klischees bedient. Er trägt einen blauen Handwerker-Overall, ist korpulent, hat eine Halbglatze. Einige der Frauen reden aufeinander ein, andere stehen still am Rand, in sich gekehrt, aber auch sie in Aufregung.

Ein Junge ist verschwunden. Christian spürt ein Brennen hinter den Augen. Er schließt sie. Öffnet sie. Uniformierte Kollegen und Kolleginnen stehen in der Szene. Er, Christian, leitet den Einsatz. Vorläufig allein, bis zum Eintreffen von Ben, der inzwischen sicher bereits auf dem Weg ist, aber noch eine Weile brauchen wird, um die Wegstrecke zurückzulegen.

Von hier nach dort. Aus dem Mittagsschlaf kommend. Aus Träumen an einen Ort des Verschwindens.

Christian fragt sich, was Ben geträumt hat. Ob es schön war oder nicht. Eine Frage der Perspektive. Traumlos, das hat er gelesen, sei in aller Regel nur der nächtliche Tiefschlaf. Das könnte dafürsprechen, dass man im Traum eine Anbindung an die Realität bewahrt. An das Leben. Während der Tiefschlaf Kontakt zum Tod aufbaut.

Gleich, wenn er in die Szene hineintreten wird, muss er in der Lage sein, seinen Text aufzusagen. Fehlerfrei.

Er läuft ein paar Schritte, behutsam, stellt sich vor, ein ermittelnder Beamter zu sein. In einem Vermisstenfall. Möglicherweise einem Entführungsfall. Ein Brennen ist hinter seinen Augen, ein stummes Lachen vibriert auf seinen Lippen. Einige Sekunden lang, dann zieht es sich zurück. Er läuft. Stellt sich vor, der leitende Ermittler zu sein, der er tatsächlich ist.

Ben

Ben durchquert den Sommer. Fährt einmal mittendurch. Seine Geschwindigkeit ist moderat, seine Gedanken kreisen im Ungefähren.

Nachmittag. Bald vier. Die Schule ist ein flacher, langer Bau. Helles Grau im Sonnenlicht. Verkaufsstände auf einer grünen Wiese. Bunt bekleidete Menschen.

Er steigt aus, sieht Christian, der kaum merklich auf und ab wippt, mit seinen schlaksigen Beinen, während er den Ausführungen eines untersetzten Mannes lauscht. Der Mann sieht aus wie ein Hausmeister.

Ben nähert sich an, beginnt, die Worte zu erahnen, die der Mann spricht. Dann hört er sie.

»… gar nichts mitbekommen«, sagt der Mann.

»Ah, Ben«, sagt Christian.

»Hallo«, sagt Ben.

»Herr Schäfer ist Hausmeister an dieser Schule. Er hat nichts mitbekommen. Er weiß nicht, auf welche Weise der Junge verschwinden konnte.«

»Wie alt ist der Junge? Wie heißt er?«, fragt Ben.

»Fünf. Jannis. Er war mit seiner Mutter und seiner Schwester hier. Lea Meininger und Tochter. Die Tochter war Schülerin an dieser Schule. Da hinten sind sie.«

Ben folgt Christians Blick. Unter einem Baum, im Schatten, stehen eine Frau und ein Mädchen. Beide in Weiß und Rosa. Partnerlook. Mutter und Tochter. Er fragt sich vage, welche Farbe die Kleidung des Jungen hatte.

»Das Ganze begann um halb zwölf. Traditioneller Sommerflohmarkt. Eltern und Lehrerschaft verkaufen Sachen für gute Zwecke. Gegen Viertel vor zwölf war der Junge, Jannis, plötzlich weg. Die Leute haben ihn gesucht, neben anderen auch Herr Schäfer.«

Herr Schäfer, der Hausmeister, nickt.

»Nach etwa einer Stunde vergeblichen Suchens hat die Mutter die Polizei verständigt.«

Ben wartet.

»Inzwischen sind seit dem Verschwinden des Jungen etwa drei Stunden vergangen. Eine Fahndung auf Basis eines Fotos aus dem Bestand der Mutter ist gerade rausgegangen.«

Ben nickt, Christian reicht ihm ein Foto. Es zeigt Jannis, mit einem gestellten Lächeln, vor einer kleinen Tafel, auf der in Kreideweiß Dinosaurier geschrieben steht. Vermutlich hat ein Fotograf im Kindergarten das Bild gemacht. Jannis ist Mitglied der Dinosaurier-Gruppe. Für Momente flackert der Gedanke vor Bens Augen. Als sei er Teil der Lösung, als erzähle er eine Geschichte, die alles erklärt. Vom ersten bis zum letzten Satz, mit glücklichem Ende.

»Ja«, sagt er.

»Mark Lederer ist in dem Parkhaus da hinten. Die haben möglicherweise Bilder von den Überwachungskameras.«

Ben dreht sich um, sieht das mehrstöckige Parkhaus, das Teil eines großen Einkaufszentrums ist. Wie ein stiller Koloss ruht das ovale Gebäude unter der Sonne. Bunte Werbebanner kleben an der grauen Fassade. Burger King, New Yorker MaxiDaxi, CineMAX.

»Das ist ein Stück weit weg, aber wenn wir Glück haben, ist der Junge in die Richtung verschwunden.«

Ben nickt. Glück haben, denkt er.

Er sieht die Mutter und die Schwester. Rosa und weiß. Ein schöner Tag. Dinge verkaufen, die Freude bereiten, für den guten Zweck. Er läuft schon, Schritt für Schritt, den beiden entgegen.

Lea

Sie sieht den Mann erst, als er schon bei ihnen ist. Vor ihnen steht. Sie hat ihn nicht kommen sehen, ebenso wenig, wie sie Jannis hat gehen sehen.

»Frau Meininger?«

Sie nickt. Sie sucht in den Augen, im Gesicht des Mannes, auf seinen Lippen nach dem Wort, das Jannis zurückbringt.

»Mein Name ist Neven. Ben Neven. Ich bin einer der Ermittler, die …«

»Es geht um Jannis, meinen Sohn.«

»Frau Meininger, sagen Sie mir bitte noch mal, wie es passiert ist. Wann haben Sie Jannis zuletzt gesehen? Und wo genau?«

»Jannis ist weg.«

»Frau Meininger, bitte sagen Sie mir doch noch mal …«

»Wir sind hier angekommen. Ich bin rein, um unsere Sachen abzugeben, für den Flohmarkt. Das hat nicht mal eine Minute gedauert.«

Ben nickt. Sieht sich um. »Also da rein.« Er deutet auf den Haupteingang, über dem in breiten Lettern der Name der Schule prangt.

»Ja«, sagt sie. »Gleich rechts im ersten Klassenraum werden die Sachen gesammelt, bevor sie dann zu den Verkaufsständen kommen.«

»Ja. Verstehe«, sagt Ben. »Und Ihr Sohn, Jannis, war …«

»War bei mir. Bei uns.« Sie sieht die Tochter an, die seinen Blick auffängt.

»Meine Tochter, Sarah«, sagt sie.

»Ich habe auch Sachen reingebracht«, sagt Sarah. »Jannis war eigentlich dabei. Er hat sogar irgendwas getragen.«

»Ja, stimmt. Er hatte ein altes Playmobil-Schiff. Er hat noch in den vergangenen Tagen damit gespielt und dann gesagt, dass er es trotzdem zum Flohmarkt bringen will. Damit andere Kinder auch Spaß daran haben.«

Ben nickt. Er hört ein Rauschen, es ist direkt in seinen Ohren. Wie Meeresrauschen.

»Ich dachte, dass er da ist, dass er hinter uns herkommt«, sagt die Tochter. Sarah.

Ben lässt seinen Blick auf ihr ruhen.

»Dieses Schiff …«, murmelt er.

»Er muss es reingetragen haben und dann irgendwie weggerannt sein. Ich weiß es nicht«, sagt die Mutter. »Ich hatte kurz mit einer der Lehrerinnen gesprochen, die den Flohmarkt organisiert.«

»Gut. Wer ist das? Diese Lehrerin?«

»Frau Spahn. Ich glaube, dass sie drin ist. Sie hat blonde Haare. Helle Haare. Also, fast weiß.«

»Ah. Gut, erst mal danke.«

Er läuft, entfernt sich.

Rosa und weiß. Sommer. Ein Junge, der andere an seiner Freude teilhaben lassen möchte. Er betritt das Gebäude, angenehme Kühle umspielt ihn.

In dem Klassenraum kann er keine Frau entdecken, die helle Haare hat, aber er sieht sofort, auf einem grauen Tisch, neben anderen Gegenständen, das dunkelbraune Piratenschiff, das er selbst als Kind besessen hat und an dem eine Flagge mit Totenkopf weht.

Inhaltsverzeichnis

 

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Christian

Christian steht im Schatten. Er fühlt sich wohl, geborgen, beschützt. Die Kühle scheint den überhitzten Tag, der draußen wartet, ad absurdum zu führen. Der Mann, der vor dem Bildschirm sitzt und die flimmernden Bilder ablaufen lässt, ist gelangweilt. Das ist ungewöhnlich.

Häufig geraten die Menschen in Unruhe, wenn sie mit einer polizeilichen Ermittlung konfrontiert werden. Sie geraten unwillkürlich in eine Art Rollenspiel, darum bemüht, einer Erwartung zu entsprechen. Oder aber, in seltenen Fällen, einer Erwartung nicht zu entsprechen. Dieser Parkhauswächter hier wirkt vor allem genervt. Von sich? Vom Leben? Von Dingen, die unerwartet Mühe bereiten?

Christian betrachtet die laufenden Bilder und am rechten unteren Bildrand die Zeitangabe. 11.32 Uhr. 11.33 Uhr. 11.34 Uhr.

Gerade als der Mann sich auf seinem Stuhl zurücklehnt, sieht Christian das, was seine Augen gesucht haben.

»Stopp«, sagt er.

»Was?«

»Stopp! Ich möchte das als Standbild sehen.«

»Standbild«, murmelt der Parkhauswächter.

Während Christian die beiden grauen, schwarzen Silhouetten betrachtet, kehren die Spiegelungen zurück. Der Gedanke, dass es nicht echt ist. Er steht nicht wirklich hier, vor dem grauen Bild. Er ist außen vor, steht außerhalb, betrachtet sich selbst und den Parkhauswächter. Zwei Fremde.

»Und jetzt?«, fragt der Parkhauswächter.

»Können Sie das näher ranholen? Die beiden, den Jungen und den Mann?«

»Klar«, sagt der Wachmann.

Christian wendet sich den beiden Silhouetten auf dem Bildschirm zu. Eine groß, eine klein. Ein Mann, ein Junge. Der Junge hält etwas in der Hand. Etwas Großes. Ein Stofftier?

»Und?«, murmelt der Wachmann.

»Ich brauche einen Ausdruck«, sagt Christian.

»Okay«, sagt der Wachmann.

Christian fokussiert noch einmal das Bild. Jetzt ganz bei sich, das andere, falsche Bild, in dem alles nicht wirklich passiert, hat sich zurückgezogen, wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Er versucht, Gesichtszüge auszumachen, in Gedanken Konturen einzuzeichnen. Es gelingt ihm nicht.

Das Einzige, was er jetzt, bei näherem Hinsehen, wirklich erkennen kann, ist das Stofftier. Ein großer grauer Teddybär.

Ben

Er läuft. Wieder hat er das Gefühl, den Sommer zu durchqueren. Eine Schneise hineinzuschlagen. Es fühlt sich angenehm an, in Bewegung zu sein. Das Parkdeck ragt vor ihm auf wie ein Ungeheuer. Ein grauer Dinosaurier, umgeben von einer blassen bunten Welt.

Mark Lederer und zwei uniformierte Kollegen, eine Frau und ein Mann, stehen bei den Aufzügen, bei den Kassenautomaten. Zwei weitere Uniformierte laufen die Flächen ab, werfen Blicke in die stillstehenden Autos. Die Autos schlafen. Traumlos.

»Christian ist unten bei dem Parkhauswächter. Sie prüfen das Überwachungsvideo«, sagt Mark Lederer.

»Gut«, sagt Ben. Er steigt in den Aufzug, fährt ein Stockwerk nach unten. Als er aussteigt, sieht er schon Christian in dem Kabäuschen stehen, das hell beleuchtet ist, umgeben von Schatten. Christian winkt ihn heran. Vor dem Bildschirm sitzt ein Mann, der schwer atmet.

»Wir haben hier was«, sagt Christian. »Das könnte der Junge sein. Können aber natürlich ebenso gut ein Vater und sein Sohn sein, die vom Flohmarkt kommen.«

Ben nickt. Kneift die Augen zusammen, öffnet sie weit, versucht, das schwammig graue Bild scharf zu stellen. »Geht das irgendwie schärfer? Oder größer?«

»Nein, ich fürchte nicht«, murmelt der Parkhauswächter.

»Das ist erst mal das Beste, was wir bekommen konnten«, sagt Christian.

»Okay.« Ben tritt näher heran. Dinosaurier-Gruppe, denkt er. Ein Junge mit gestelltem Lächeln, hinter dem ein ehrliches, offenes Lächeln darauf gewartet hat, den Weg auf seine Lippen zu finden.

»Das ist er«, sagt er.

»Ja?«, sagt Christian.

Ben nickt. Die beiden sehen tatsächlich aus wie Vater und Sohn. Gemeinsam unterwegs, schlendernd. Es muss eine Kamera sein, die einen Bereich außerhalb des Parkhauses abdeckt. Die beiden laufen die Straße entlang. Ben sieht Jannis, im grauen, weißen, schwarzen Sommer, hinter den Pixeln sieht er sein Lächeln. Ein verschlüsseltes Lächeln, eines, das erst noch entpackt werden muss, vom richtigen Format, in der richtigen Auflösung, bevor es Raum greifen kann. Wenn der Fotograf endlich gegangen ist.

»Das ist Jannis«, sagt Ben. »Und von dem Stoffteddy gibt es noch einen.«

»Was?«, fragt Christian.

»Ich habe so einen gesehen, gerade eben«, sagt Ben. »So einen Teddybären. Liegt draußen bei dem Flohmarkt auf einem der Tische.«

Sarah

Sie geht vorsichtig näher heran. Bleibt stehen. Die Polizisten sind zurückgekommen, sie waren in dem Parkhaus. Jetzt stehen sie in dem Klassenraum, im Schatten. Komisch kühl ist es hier.

Sie steht auf der Schwelle, unbemerkt. Die beiden Polizisten stehen mit zwei anderen, die weiße Kleidung tragen, vor den Tischen, auf denen die schönen Sachen liegen. Sie hatte sich, als sie angekommen sind, schon ein paar Sachen ausgesucht, die sie kaufen wollte.

Der riesige Teddy hat nicht dazugehört, aber die Polizisten scheinen an ihm besonders interessiert zu sein. Sie hat diesen Teddy erst mal gar nicht gesehen. Er lag noch nicht da, als sie ankamen. Die Polizisten haben ihn reingebracht, von draußen, aus der Sonne, mit Handschuhen, obwohl Sommer ist. Vorsichtig, als sei er zerbrechlich. Oder verletzt, an der Pfote.

Sie besprechen sich, während sie den Teddy beobachten. Die weiß Bekleideten nicken. Draußen sind andere Polizisten damit beschäftigt, ein Gebiet abzusperren. Alle wurden aufgefordert, zur Seite zu treten, die Rasenfläche zu verlassen. Sie weiß nicht, wo Mama ist. Sie weiß gar nichts.

Sie steht in einem Bild, das nicht stimmt. Der Raum ist zu kühl, die Polizisten sind zu ernst. Bis auf einen, der manchmal plötzlich aussieht, als würde er lachen müssen. Die anderen bemerken es nicht, aber sie sieht es, weil es ihr ähnlich geht. Mit dem Mann stimmt was nicht, und mit ihr stimmt auch was nicht. Weil sie manchmal fast lachen muss, weil sie es einfach nicht glauben kann.

Das alles hier kann nicht wirklich passieren, nichts davon stimmt.

Jannis kommt gleich um die Ecke geflitzt, lachend. Sie wartet die ganze Zeit darauf, dass das endlich passiert. Jannis lacht, Mama lacht und ist böse, aber nur kurz, weil Jannis wieder da ist. So ein Teddy, das geht Sarah seit einigen Minuten durch den Kopf, würde Jannis gefallen. Warum ist der Teddy hier, wenn Jannis weg ist?

Der Teddy liegt auf dem Tisch. Die Polizisten stehen um ihn herum, als würden sie ihn behandeln wollen. Operieren. Die Polizisten sind Chirurgen, der Teddy ist krank.

Sie mag den Teddy nicht, sie weiß nicht, warum. Es ist keine Schande, krank zu sein.

Ben

Als Ben den Blick von dem Stoffbären abwendet, sieht er Sarah, die Schwester, auf der Schwelle zum Klassenraum stehen.

Er geht auf sie zu, sucht nach Worten, während er läuft. Er findet keine, und sie schweigt, während er ihr gegenübersteht.

»Komm, wir gehen raus«, sagt er schließlich.

Er geht voran, es fühlt sich gut an. Richtig. Der Sonne entgegen. Die Fläche draußen, die grüne Wiese, ist inzwischen abgesperrt worden, mit roten Bändern, die im lauen Wind flattern. Die Besucher des Flohmarkts stehen am Rand der Szenerie, an der Straße, schweigend, manche tuscheln miteinander, als sei unter den gegebenen Umständen alles vertraulich. Alles geheim, im Verborgenen.

Ein Gedanke zuckt auf, ein Gefühl, ein helles Bild, das er in der Nacht gesehen hat.

»Jannis rennt manchmal weg«, sagt sie. »Also, ein paar Meter. Dann kommt er eigentlich zurück.«

Er sieht sie an. Sucht ihre Augen, weicht aus, als ihre Augen seine finden. Er nickt.

»Ist der Teddy wichtig?«, fragt sie.

Die Worte hallen nach. Er sieht Christian, der jetzt in einiger Entfernung, am Rand neben den Absperrbändern, bei einer blonden Frau steht. Helle Haare. Vermutlich Frau Spahn, die Lehrerin. Die Frau spricht, Christian hört zu.

»Vielleicht«, sagt er. »Wir wissen es noch nicht.«

»Okay«, sagt Sarah.

»Sag bitte noch mal, wann genau du Jannis zuletzt gesehen hast.«

»Als wir ankamen. Wir haben Sachen abgegeben. Drinnen, in dem Raum, in dem der Teddy liegt.«

»Gut. Und Jannis …«

»Ist rausgerannt. Glaube ich, nachdem er sein Schiff abgestellt hatte. Mama hat noch mit den Lehrerinnen gesprochen.«

»Und dann seid ihr raus …«

»Mama hat nach Jannis gesehen, aber er war nicht da. Wir sind einmal herumgelaufen. Um das Gebäude. Haben Leute gefragt. Irgendwann wurde es … ja, komisch.«

Er nickt. »Könnte es sein, dass Jannis hier jemanden gekannt hat. Einen Mann?«

»Was für einen Mann?«

»Kennt er Leute hier? Sind vielleicht Freunde von euch da gewesen? Väter oder Brüder von Klassenkameradinnen?«

»Na ja, hier waren viele Leute, die wir kennen. Aber wir haben alle gefragt, keiner hatte Jannis gesehen.«

In den Augenwinkeln sieht er Christian. Er kommt auf sie zu.

»Frau Spahn hat Jannis rausrennen sehen. Nachdem er sein Schiff abgestellt hat. Sie hat noch kurz mit der Mutter gesprochen.«

Ben nickt. Immerhin dieser Teil der Geschichte scheint sicher zu stimmen.

»Die Aufnahme der Überwachungskamera muss bearbeitet werden. Im Moment ist es unmöglich, da irgendwas zu erkennen außer Kontur und Schatten.«

»Hast du noch so einen Teddy gesehen?«, fragt Ben.

Sarah hebt den Blick. »So einen wie drinnen?«

»Ja.«

»Nein. Der lag auch erst später da. Als wir ankamen, war da kein Teddy, das wäre mir aufgefallen.«

»Entweder gibt es mehrere von denen oder der Teddy ist, im Gegensatz zu Jannis, zurückgekommen«, sagt Christian.

Ben denkt an einen Teddy, der gehen kann, allein, während er selbst über grünes Gras läuft, zu den roten Absperrbändern, hinter denen die Menschen stehen.

»Entschuldigung«, sagt er. »Hat irgendjemand von Ihnen hier heute einen Mann mit einem Teddy gesehen. Oder vielleicht auch mit zwei Teddys.«

Schweigen.

»Ziemlich große Teddys, überproportional groß«, sagt Ben.

»Ja, habe ich gesehen.«

Ben sucht das Gesicht zur Stimme.

»Zwei Teddys. Der Mann hat draußen gestanden, an der Straße.«

Ben findet das Gesicht eines kleinen Jungen. Für Momente denkt er, dass es Jannis ist. »Du hast also den Mann gesehen, mit den beiden Teddys?«

»Ja, genau. Ich wusste aber nicht, ob er dazugehört.«

»Ob er dazugehört?«

»Ja, er sah so aus, dass er nicht weiß, ob er hier hingehört. Also, zu dem Flohmarkt.«

»Er war also irgendwie … zögerlich.«

»Genau«, sagt der Junge.

»Kannst du sagen, wie er aussah? Wie alt war er denn?«

»Weiß nicht. Jung oder alt.«

Ben wartet.

»Also, irgendwie beides. Er war ja wie ein Kind, mit den Teddys. Aber auch irgendwie alt. Viel älter als ein Kind. Hatte auch so … wenig Haare auf dem Kopf.«

»Hast du ihn früher mal gesehen? Hier an der Schule? Hat er mit Leuten hier geredet? Vielleicht ist er der Papa von einem der Kinder?«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein, er war ganz allein.«

»Okay. Hast du ihn mit Jannis gesehen? Kennst du Jannis?«

»Nein. Aber da war auch niemand bei dem Mann. Der Mann war ganz allein.«

Ben nickt. Allein, denkt er. Ganz allein.

»Also nein, natürlich nicht ganz«, sagt der Junge.

»Was?«

»Er hatte ja die beiden Teddybären.«

Marko

Während der Junge bewusstlos gewesen ist, hat Marko ihn auf das Bett gelegt und die Sachen an ihm ausprobiert, die er sich online bestellt hatte.

Der Junge schläft immer noch. Ist ohne Bewusstsein, hat nichts mitbekommen. Das ist gut, das ist schlecht. Der ganze Tag läuft anders ab als erwartet. Hängt in einer schiefen Ebene.

Er legt den Jungen in die Badewanne. Im Wohnraum schaltet er den Fernseher ein. Sein Herz macht einen kleinen Sprung, als er sieht, dass eine Zeichentrickserie läuft, die er mag.

Er setzt sich in den Sessel, betrachtet die Bilder, denkt, dass er müde ist und schlafen könnte, wie der Junge. Vielleicht dasselbe träumen.

Inhaltsverzeichnis

 

In einer

digitalen Welt

sagt mir

mein Auto,

wann es

an der Zeit ist,

loszufahren.

Das Auto, von dem sie

als Kind träumten,

wurde soeben überholt.

Mein Auto kennt

meinen Namen,

meine Ziele.

Fortschritt. Freiheit.

Die Eroberung der

digitalen Welt.

Ben

Der Nachmittag weicht, der Abend nähert sich an. Sie sitzen im Schatten des Besprechungsraums, durch Jalousien fällt warmes Abendsonnenlicht.

Malvi, der Leiter der Abteilung, ist der Einzige, der steht. Vielleicht, weil er auf dem Sprung ist, vielleicht, weil er sich über andere erhaben fühlen möchte. Vielleicht aus anderen Gründen.

Ben wendet sich dem Breitbildschirm zu, auf dem die stillstehende Video-Aufnahme flackert. Ein Mann, ein Junge, ein Teddybär.

»Und das ist alles?«, fragt Malvi.

Christian lacht. Kurz und trocken. Er sitzt ganz hinten am Tisch, wie immer. »Vorgesetzter«, murmelt er.

»Bitte?« fragt Malvi.

»Sie reden wie ein Vorgesetzter«, sagt Christian. »Der Sie ja auch sind.«

Malvi betrachtet Christian. Christian betrachtet Malvi. Keiner der beiden weicht aus.

Das ist alles, denkt Ben. Mann, Junge, Teddybär.

»Ich prüfe die Vertriebswege«, sagt Mark Lederer.

Leise und in sich gekehrt, wie immer. Ben beugt sich ein wenig vor, um zu verstehen, was er sagt.

»Also, wohin die Firma, die diese Teddys herstellt, ausliefert«, sagt Lederer. »In welchen Warenhäusern oder Spielzeugläden die zu erwerben sind. Bis spätestens morgen wissen wir das. Ob es uns unmittelbar weiterbringt … weiß ich nicht.«

Malvi nickt.

Ein Bild schiebt sich vor das Bild, das Ben sieht. Er gleitet ab. Einen Bären suchen, denkt er. Seinem Weg folgen, seinen Fußstapfen. Aber er wurde ja getragen, hat keine Spuren hinterlassen.

»Was war mit dem Vater?«, fragt Malvi. Er sieht Christian an, der das Telefonat geführt hat.

»Macht irgendwas mit Werbung«, sagt Christian.

»Aha. Sonst was?«

»Befindet sich in Berlin. Arbeitet aktuell an einem Auftrag für einen Automobilkonzern.«

»Aha«, sagt Malvi.

»Besitzt keinerlei Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Überwachungsvideo«, sagt Christian.

»Ja.«

»Er ist auf dem Weg zurück, sein Flieger landet um halb acht in Frankfurt, ich werde da sein.«

»Gut«, sagt Malvi.

»Die Familie vermittelt den Eindruck, intakt zu sein«, sagt Christian.

Ben lässt den Satz nachklingen. Die Familie vermittelt den Eindruck, intakt zu sein.

»Die Beamten am Boden haben bisher keine Meldung gemacht. Wir haben über dem an die Schule angrenzenden Waldgebiet inzwischen zwei Helikopter mit Wärmebildkamera im Einsatz, die bis etwa 23 Uhr fliegen werden«, sagt Ben.

Malvi nickt.

»7886 von 8234«, murmelt Lederer. Noch leiser als sonst.

»Ja?«, fragt Malvi.

»Ich habe die Statistik zum Vorjahr rausgesucht«, sagt Lederer. »7886 von 8234 Kindern in der Gruppe der bis einschließlich 13-Jährigen wurden wieder angetroffen oder aufgefunden. Das entspricht einer Aufklärungsquote von mehr als 95 Prozent.«

Stille.

»Die restlichen fünf Prozent umfassen nahezu komplett Dauerausreißer, Streuner. Oder Kinder, die ihren Sorgeberechtigten entzogen wurden.«

Dauerausreißer, Streuner, denkt Ben.

»Komischer Begriff, Streuner«, sagt jetzt auch Lederer. Er senkt den Blick auf ein Blatt Papier, das vor ihm liegt. »Insgesamt ist festzuhalten, dass tagtäglich zwar viele Kinder als vermisst gemeldet werden, jedoch der Anteil der Kinder, deren Verbleib auch nach längerer Zeit nicht geklärt werden kann, sehr gering ist.«

Malvi räuspert sich.

»Bei dem verbleibenden Teil ist zu befürchten, dass sie Opfer einer Straftat oder eines Unglücksfalls wurden, sich in einer Situation der Hilflosigkeit befinden oder nicht mehr am Leben sind«, liest Lederer.

»Sind Sie dann fertig, Herr Lederer?«, fragt Malvi.

Lederer nickt. Ben betrachtet ihn. Unendlich traurig sieht er aus. Weil die Statistik ihm keine Gewissheit geliefert hat. Dass es Jannis gut geht. Fünf Prozent zu wenig. Ben fragt sich, ob Mark Lederer Kinder hat. Er weiß wenig über ihn, eigentlich nichts. Ein stiller, lieber Mensch, das ist alles.

»Die Technik arbeitet daran, das Bild des Mannes zu schärfen. Von der Überwachungskamera. Wir bräuchten es deutlich klarer, um es für Befragungen oder auch die öffentliche Fahndung verwenden zu können«, sagt Ben.

Er wendet sich Malvi zu und sieht, dass dessen Blick auf ihm ruht. Malvis Augen suchen seine.

»Ihr Fall«, sagt Malvi.

Die Worte hallen nach, während Malvi sich von Ben abwendet, allen im Raum zunickt und geht. Mein Fall, denkt Ben. Mein Fall, mein Fall. Malvi liebt diese Sprüche. Aber dieses Mal klingt es anders.

Weil es stimmt.

Mein Fall, denkt Ben und schließt für Sekunden die Augen.

Inhaltsverzeichnis

 

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Erlebnis aus

Christian

Christian betrachtet die Menschen am Flughafen. Alle hierhin und dorthin unterwegs, in Eile. Kleine Menschen, große Menschen. Prätentiöse, bescheidene. Liebenswerte, merkwürdige.

Er versucht, Blicke aufzufangen. Zählt. Stellt Berechnungen an. Die Mehrzahl der Kinder lacht. Die Mehrzahl der Erwachsenen verzieht keine Miene. Zwei kleine Kinder weinen. Eines von ihnen liegt in einem Kinderwagen.

Die Mehrzahl der Säuglinge weint oder schweigt.

Die Mehrzahl der Erwachsenen beugt sich über Smartphones.

Einige sind sehr laut. Schrilles Lachen dringt herüber, von der Schlange am Check-in-Schalter einer asiatischen Fluglinie, deren rosa Logo sich deutlich von anderen abhebt. Lachende Frauen. Hell. Eine Asiatin, eine Europäerin, sie teilen einen komischen Moment. Einen, in dem alles anders ist.

»Entschuldigung, Herr …«

Er wendet sich ab, noch geblendet von dem Rosa der asiatischen Fluglinie, sieht in die Augen von Frau Meininger.

»Frau Meininger«, sagt er.

»Sie sind doch einer der Polizisten …«

»Ich warte auf Ihren Mann«, sagt er. »Ich möchte kurz mit ihm sprechen. Christian Sandner. Sie hatten heute Mittag mit meinem Kollegen gesprochen, Herrn Neven.« Er reicht ihr seine Hand, spürt ihre Haut. Weich, kühl. Christian Sandner, denkt er. Das bin ich. »Neun Buchstaben, sieben Buchstaben.«

Sie sieht ihn fragend an.

»Mein Name. Neun Buchstaben hat der Vorname, sieben der Nachname.«

Er wundert sich ein wenig darüber, dass er es laut gesagt hat. Meistens denkt er es nur. Wenn er sich anderen vorstellt, denkt er nahezu immer an die Anzahl der Buchstaben seiner Namen. Neun und sieben. Ganz selten vergisst er, daran zu denken.

Drei und neun. Lea Meininger.

Es ist wohl eine Art Tick. Eine Art Mantra. Sagt man so? Er denkt an Natalie, für einen flüchtigen Moment. Natalie lacht, nachdem sie die Buchstaben gezählt hat. Natalie hat es nie Mantra genannt.

Wo ist Sarah?

»Wo ist Ihre Tochter?«, fragt er.

»Sie ist zu Hause geblieben«, sagt Frau Meininger. »Sie wollte …«

»Ah ja, verstehe«, sagt er. Versteht tatsächlich.

»Sie wollte da sein, falls Jannis kommt. Oder falls er … gefunden wird. Falls er zurückgebracht wird.«

»Ja.«

Die Tür des Ankunft-Gates öffnet und schließt sich. Öffnet und schließt sich. Christian fängt die Blicke der Menschen auf, hält sie fest, lässt sie los. Er weiß nicht mehr, wie der Familienvater, der Ehemann von Frau Meininger, aussieht, er hat kein Bild vor Augen. Er hat ein Foto gesehen, es ist bereits Teil der Ermittlungsakte, aber die Erinnerung ist weg. Er versucht, sich zu erinnern, sich eine Vorstellung zu machen, aber da kommt nichts.

Sechs. Denkt er.

Jannis.

Ben

Bevor Ben nach Hause fährt, fährt er bei Landmann vorbei. Er ist seit einiger Zeit nicht bei ihm gewesen. Jetzt steuert er sein Haus an, als sei das ganz selbstverständlich, als sei es das Selbstverständlichste, was es gibt. Landmann zu besuchen. Obwohl er ihn telefonisch nicht erreicht hat, ist er sicher, dass er da sein wird.

Landmanns Haus liegt unter der Abendsonne, von goldenem Licht umspielt. Ben spürt ein Stechen im Magen, während er aussteigt und auf das Haus zugeht, der Kies knirscht unter seinen Schritten. Im Hintergrund, am Ende des weiten Gartens, liegt wie ein Trugbild der See, wie ein dunkelblauer Teppich, der gerade erst ausgebreitet worden ist. Nur für ihn, aus diesem einen Grund. Damit er ihn sehen kann, den dunkelblauen See. Den dunkelblauen Teppich.

Rennen, zum Steg, abheben, springen, eintauchen.

Unter Wasser verweilen.

»Ben.«

Ben hebt den Blick.

»Wie schön, dich zu sehen«, sagt Landmann. Er steht auf der Schwelle zur Eingangstür.

»Das müsste eigentlich ich sagen«, sagt Ben. Er lächelt. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlt er wirklich ein Lächeln. Ein fremdes, fernes Gefühl, das plötzlich ganz nah ist, unmittelbar, auf seinen Lippen.

Landmann bittet ihn herein, mit einer einladenden Geste, und er folgt ihm ins Innere des Hauses. Schatten spielen an den Wänden. Ein Spiel, das er nicht versteht, und das gefällt ihm. Es ist gut, dass er das Spiel nicht versteht, es ist gut zu wissen, dass Landmann das Spiel gewinnen würde. Würde er spielen, aber Landmann spielt nicht, löst keine Rätsel, ist kein Ermittler. Nicht mehr.

»Setz dich doch«, sagt er, geht zum Kühlschrank, nimmt eine Flasche Weißwein, öffnet sie.

Wie schön, denkt Ben. Die Sonne-Schatten-Spiele an den weißen Wänden. Er setzt sich auf das helle Sofa.

»Wie geht es dir?«, fragt er.

»Ach«, sagt Landmann. »Gut.«

»Das freut mich.«

»Und dir? Euch?«

Das ist typisch für Landmann. Dass er über Ben hinausdenkt, dass er auch Svea und Marlene in seine Frage mit einbezieht.

Ja. Wie geht es ihm? Wie geht es Svea? Wie geht es Marlene?

»Ich glaube, dass es Marlene sehr gut geht«, sagt er. »Sie kommt gut zurecht, hat viele Freundinnen. Genießt die Tage.« Ja, das stimmt, denkt er. Jetzt, wo Landmann ihn fragt, wird es ihm bewusst. Auch das ist schön. Der Gedanke, dass es Marlene, seiner Tochter, gut geht. Dass sie glücklich durch ihr Leben läuft, unbeschwert, zumindest in diesem Moment.

Und Jannis läuft mit einem Teddybären. An der Hand eines unbekannten Mannes.

»Und Svea?«, fragt Landmann.

»Auch gut«, sagt Ben. Es fühlt sich hohl und leer an, obwohl es die Wahrheit ist. Er denkt wirklich, dass es Svea gut geht. »Sie fliegt viel. Also, das ist ja ihr Job, inzwischen ist sie Purserette, das heißt, sie leitet die Crew. Sie war in Korea, hatte ein wenig Jetlag, aber ansonsten alles gut. Ich glaube, dass der Jetlag in Richtung Korea auch schlimmer ist als auf dem Rückflug. Also, halb so wild.«

Landmann nickt. Hält inne. Betrachtet ihn, mit einem Lächeln.

»Und du?«

Ben schweigt. Landmann wartet.

Halb so wild, denkt Ben. »Hm«, sagt er.

»Ein schwieriger Fall?«

Auch das typisch für Landmann. Den Finger in die Wunde zu legen. Mit einem wissenden Lächeln. Was weiß er eigentlich?

»Ja«, sagt er. »Ein Kind ist vermisst. Ein Junge.«

Landmann schweigt. Schließt die Augen. Öffnet sie.

»Jannis«, sagt Ben. »Fünf Jahre alt.«

»Was wisst ihr?«, fragt Landmann.

»Zu viel und zu wenig«, sagt Ben.

Landmann wartet.

»Wir wissen nicht, wo er ist. Wie es ihm geht. Wir wissen, dass er vermutlich entführt wurde. Es gibt Aufzeichnungen einer Überwachungskamera, die den Verdacht nahelegen.«

Landmann bringt die Gläser, stellt sie auf dem Tisch ab. Der Weißwein perlt ein wenig. Landmann setzt sich in den Sessel, Ben gegenüber.

»Das tut mir leid«, sagt er.

Sie sitzen für eine Weile, auf der Suche nach Worten. Zumindest Ben ist auf der Suche, aber er fühlt sich auch merkwürdig leicht und entrückt, eigentlich sucht er nicht wirklich. Fast könnte er schlafen. Landmann hebt sein Glas an.

»Auf dich«, sagt er.

Sagt er das wirklich?

Ben hebt sein Glas, es ist schwer. Es klirrt und klingt, als es sanft mit dem von Landmann kollidiert.

Er möchte fragen: Warum auf mich? Aber er fragt nicht.

»Ich wünsche euch von Herzen, dass ihr den Jungen bald finden werdet«, sagt Landmann.

»Darf ich dir kurz skizzieren? Was passiert ist?«

»Sicher.«

»Also. Ein Flohmarkt. In einer Schule. Draußen, auf der großen Wiese. Lehrer, Eltern, Schülerinnen und Schüler. Tische mit Sachen, die verkauft werden. Gegen Mittag kommen die Meiningers. Mutter, Tochter und der kleine Jannis. Kurz darauf, nachdem Mutter und Tochter Sachen in einen der Klassenräume gebracht haben, ist Jannis weg.«

Landmann nickt.

Ben schließt die Augen. Die Sonne, denkt er. Sie scheint.

»Die Sonne scheint«, sagt er. »Als ich ankomme. Kennst du eigentlich meinen Kollegen, Christian?«

Landmann schüttelt den Kopf.

»Er ist sehr eigen, aber ich mag ihn. Ich glaube, dass er nichts wirklich ernst nimmt. Er kann es nicht.«

»Aha?«, fragt Landmann.

»Ja. Er kann es nicht. Es ist so, als würde er … seine Mitte suchen.«

»Hm«, sagt Landmann.

»Verstehst du?«

»Ich denke, ja. Vielleicht. Es klingt ungewöhnlich.«

Abendsonne, Morgensonne, denkt Ben. Und die Sonne, die dazwischenliegt, gegen Mittag und Nachmittag. Es war Nachmittag, als er an der Schule ankam.

»Wir haben die Aufnahmen einer Überwachungskamera sichern können. In einer nahe gelegenen Tiefgarage«, sagt er.

»Was genau zeigen die Bilder?«

»Den Jungen. Jannis. Zweifelsfrei. Und einen unbekannten Mann.«

Landmann wartet. Als würde er wissen, dass noch etwas fehlt.

»Und einen Teddybären«, sagt Ben.

»Einen Teddybären?«