Tage des letzten Schnees - Jan Costin Wagner - E-Book
SONDERANGEBOT

Tage des letzten Schnees E-Book

Jan Costin Wagner

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Morde, die jeder begeht Anfang Mai, im finnischen Turku fällt der letzte Schnee. Kimmo Joentaa wird gleich zwei Mal gerufen: an einen Unfallort, an dem eine Elfjährige durch einen Unbekannten ums Leben gekommen ist, und an einen Tatort, an dem zwei unbekannte Tote auf einer Parkbank liegen, als würden sie schlafen. Für den Vater des bei dem Unfall verstorbenen Mädchens wird Kimmo Joentaa zum Begleiter in der Trauer, während er gleichzeitig daran arbeitet, die Unfallflucht und den Doppelmord aufzuklären. Die Ermittlung führt Joentaa in ein fatales Beziehungsgeflecht, das Menschen, die ursprünglich nichts verband, schicksalhaft zusammengeführt hat: einen Architekten, der den festen Glauben an die Symmetrie des Lebens verliert, einen Schüler, der unaufhaltsam auf einen Amoklauf zusteuert, eine junge Frau, die versucht, der Armut zu entkommen, und einen Investmentbanker, der sich im Dickicht seines Doppellebens verliert. Als Kimmo Joentaa die Linien, die diese Menschen verbinden, schließlich zu erkennen beginnt, ist es fast zu spät. Und erst dann begreift er, dass seine große Aufgabe nicht die Suche nach einem Doppelmörder ist, sondern eine, die ihm noch bevorsteht …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 338

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jan Costin Wagner

Tage des letzten Schnees

Ein Kimmo-Joentaa-Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Jan Costin Wagner

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungErster TeilMaiZwei Monate früher – MärzIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtMaiZwei Monate früher – MärzIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtMärzMaiEinen Monat früher – AprilIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtMaiAprilIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtAprilMaiErster MaiIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtErster MaiZwei Stunden früher, in einer Geschichte, die nicht erzählt wirdZweiter TeilMaiIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtMaiIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtMaiIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtMaiIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtMaiZur selben Zeit, in einer Geschichte, die nicht erzählt wirdDritter TeilJuniIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtJuliIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtJuliIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtJuliZwei Stunden früher, in einer Geschichte, die nicht erzählt wirdVierter TeilAugustIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtAugustIn einer anderen Zeit, an einem anderen OrtAugustZur selben Zeit, in einer Geschichte, die nicht erzählt wirdZwischen Nacht und MorgenErster SeptemberDank
zurück

Für Steffi und Luis

zurück

Erster Teil

Mai

1

Am ersten Mai fiel der letzte Schnee.

Das hatte der Wetterbericht so vorhergesagt, und so war es gekommen. Lasse Ekholm steuerte den Wagen vom Parkplatz auf die Straße und betrachtete den Himmel, aus dem die dicken weißen Flocken fielen, die in diesem Monat nichts verloren hatten.

Er dachte darüber nach, dass im Zusammentreffen des ersten Tages mit dem letzten Schnee eine Symmetrie verborgen lag. Eine Symmetrie, die schlüssig und schön war, weil sie auf asymmetrischen Komponenten beruhte. Das Erste und das Letzte, Anfang und Ende, verschmolzen zu einer Einheit … allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Wetterbericht recht behalten und es tatsächlich der letzte Schnee sein würde, bevor der Sommer kam.

Der Wagen glitt über die weiche Schneedecke, und er öffnete das Handschuhfach, ohne die weiße Straße aus den Augen zu lassen. Er nahm die CD heraus, die Anna zusammengestellt hatte, Musik, mit der er nichts anfangen konnte, die er nicht verstand, aber Anna verstand sie und versuchte meistens, ihm zu erklären, worin der tiefere Sinn der hektischen Rhythmuswechsel bestand. Er legte die CD ein und wählte das einzige Stück, das er mochte, das mit Abstand ruhigste, dunkle Bässe auf einem warmen Klangteppich.

»Das gefällt mir«, sagte er immer zu Anna, wenn dieses Stück lief, und Anna lachte und antwortete, das sei wohl kein Wunder, da es sich um den Retro-Mix eines 80er-Jahre-Klassikers handle, und Lasse Ekholm fragte sich, woher sie diese Worte kannte – Retro-Mix … 80er-Jahre-Klassiker …

Er parkte auf dem weiten Platz vor der Eishalle und freute sich darauf, sie gleich zu sehen, während er durch den Flockenwirbel auf den Eingang zulief. Drinnen war es warm, und er hörte schon die durchdringende Stimme von Elina, der Trainerin, die es sich nicht hatte nehmen lassen, am ersten Mai, einen Tag nach dem Vappu-Fest, wenn normale Menschen ihren Rausch ausschliefen, zum Training zu bitten. Und er hörte die kreischenden Stimmen der Mädchen, die sich herzlich wenig für Anweisungen zu interessieren schienen. Anna in ihrem viel zu großen Trikot jagte dem Puck hinterher, ohne dabei augenscheinlich taktischen Vorgaben zu entsprechen. Sie führte den Puck, zunächst erfolgreich, bis drei Gegenspielerinnen entscheidend die Laufwege verkleinerten und sie zu Boden fiel und sich das Knie hielt. Ekholm schloss die Augen und spürte die Angst, die er immer spürte, wenn er Anna zusah. Eine Angst, die der Freude darüber, dass sie so gerne Eishockey spielte wie er früher, entgegenstand.

Er dachte an die strengen Blicke, die Kirsti ihm zuwerfen würde, wenn sie den blauen Fleck verarzten und Anna in ungebrochen guter Laune ins Bett humpeln würde. Vielleicht würde er ein weiteres Mal versuchen, Kirsti davon zu überzeugen, dass er mit Annas Begeisterung für diesen Sport nicht das Geringste zu tun hatte, und Kirsti würde ihm ein weiteres Mal nicht glauben, obwohl es stimmte.

Er freute sich einerseits jedes Mal darüber, Anna spielen zu sehen, hatte aber andererseits vermutlich noch größere Angst als Kirsti davor, dass sie sich irgendwann verletzen würde, zumal ihn ihre Spielweise sehr an die erinnerte, die seine eigene gewesen war – auch er war immer da hingegangen, wo es wehtat, und hatte aus Prinzip den Puck nur abgespielt, wenn es sich gar nicht hatte vermeiden lassen.

Anna hatte zwei gute Tormöglichkeiten, während er zusah, und fiel noch drei Mal auf eine Weise aufs Eis, die ihn ein wenig ins Schwitzen brachte. Aber sie stand immer wieder auf und sagte »Ach, Papa«, als er sie am Ende des Trainings fragte, ob noch alle Knochen dran seien.

»Dann ist ja gut«, sagte er.

»Gar nicht gut. Ich habe zwei Mal die Latte getroffen. Und das ist ziemlich unwahrscheinlich, weil …«

»… die Querstange mit rund vier Zentimetern nur unwesentlich mehr Masse hat als der Puck, folglich ein Aufeinandertreffen des Pucks mit der Querstange nur in seltenen Fällen zu erwarten ist.«

»Genau«, sagte sie.

»Das heißt aber nicht, dass ein Torerfolg wahrscheinlich wäre, mit Abstand am wahrscheinlichsten ist es, dass der Schütze im Eishockey aufgrund der Abmessungen des Tores am …«

»… Goalie scheitert«, vervollständigte sie.

»Erzähle ich oft solches Zeug?«, fragte er.

»Ziemlich oft, Papa«, sagte sie. »Ich dusche und ziehe mich um, bis gleich.«

»Bis gleich«, sagte Lasse Ekholm. Er sah ihr nach und dachte wieder über den letzten Schnee am ersten Tag des Monats nach, während er wartete. Er erwiderte die gemurmelten Grüße von Annas Teamkolleginnen, und als Anna schließlich gemeinsam mit ihrer Freundin Laura mit nassen Haaren aus der Kabine kam, sagte er den Satz, den er häufig sagte, zumindest an kalten Tagen, wohl wissend, wie der kurze Dialog enden würde.

»Deine Haare sind noch nass.«

»Kein Problem«, sagte Anna.

»Du könntest sie noch schnell trocknen.«

»Passt schon«, sagte Anna.

»Hm«, sagte er und nahm ihr die bleischwere Sporttasche ab, und als sie ins Schneetreiben und in die Kälte traten, kam ihnen Lauras Mutter entgegen, und Laura fragte, ob Anna vielleicht noch mit ihnen fahren könne, zum Abendessen.

»Oh ja«, sagte Anna.

»Ja … von mir aus gerne«, sagte Lauras Mutter.

»Ich fürchte, das geht nicht«, sagte Lasse Ekholm.

»Ach, Papa.«

»Nein, Mama … also Kirsti hat gesagt, dass heute frühe Bettruhe ansteht. Wegen der Klassenarbeit morgen.«

»Mann«, sagte Anna.

»Klassenarbeit?«, fragte Lauras Mutter.

»Äh …«, sagte Laura.

»Nur so ’ne Zehn-Minuten-Prüfung vom Gockel«, sagte Anna.

»Vom was?«, fragte Ekholm.

»Vom … von unserem Chemie-Lehrer«, präzisierte Anna.

»Ah«, sagte Ekholm, und die Mädchen lachten.

Sie standen noch unschlüssig, für eine lange Sekunde, dann verabschiedeten sich Laura und ihre Mutter, und Anna sagte, während sie einstieg, dass es sich nicht lohnen werde, für die Chemieprüfung zu lernen, da sie es ohnehin nicht verstehen könne.

»Das ist … eine schlüssige Argumentation«, sagte Ekholm und startete den Wagen.

»Genau«, sagte sie.

»Nur sieht Mama das ein wenig anders.«

»Na und?«

»Das ist schon weniger schlüssig.«

»Was?«

»Dieses na und. Ist weniger schlüssig.«

Sie stöhnte, und Lasse Ekholm drehte sich zu ihr um und lächelte, und sie erwiderte das Lächeln und bat ihn, die CD einzulegen.

»Schon passiert«, sagte er, und dann füllte Musik das Innere des Wagens, die Musik, die er nicht verstand, obwohl Anna versuchte, sie zu erklären. Sie wollte ausgerechnet dieses eine Stück hören, dem er bislang noch nicht den Hauch einer Melodielinie hatte entlocken können. Aber Anna summte mit, und Lasse Ekholm stellte leiser, um Anna summen zu hören.

»Papa!«, sagte sie.

»Weitersummen«, sagte er.

»Was?«

»Weiter … ich wollte die Melodie raushören, die du da summst.«

Anna lachte, er wendete sich wieder der Straße zu, und dann passierten mehrere Dinge in kurzer Abfolge.

Lasse Ekholm sah ein Licht, er spürte es mehr, als dass er es sah, es war in seinem Rücken, es kam plötzlich, und es schien ungewöhnlich hell. Er drehte sich wieder zu Anna um, die immer noch lachte, und im letzten Moment glaubte er, eine Irritation in ihren Augen wahrzunehmen. Ihr Mund war leicht geöffnet, und vielleicht hatte sie Angst in der letzten Sekunde, aber das konnte er nie mit Sicherheit sagen, obwohl er später oft darüber nachdachte.

Er hatte den Eindruck, einen Blitz zu sehen, der direkt neben ihnen einschlug, neben dem Wagen, in dem sie fuhren, ein lautloser Einschlag, der das Gleichgewicht, in dem sie eben noch gewesen waren, ins Wanken brachte und schließlich aufhob, und dann versuchte er, gegenzusteuern, weil er begonnen hatte, gemeinsam mit Anna, die er nicht mehr sah, in einem leeren Raum zu schweben.

Der Aufprall war dumpf, leise und blechern, und er hörte die Musik, das andere Stück, das eine, das er mochte, den Retro-Mix eines Achtziger-Jahre-Klassikers, dunkle Bässe auf einem Klangteppich. Er versuchte, sich auf die Melodie zu konzentrieren, die sich langsam herauszukristallisieren begann. Er betrachtete das Display, die gelbe Acht, der achte Song auf der CD, die Anna zusammengestellt hatte, eine Auswahl an Stücken, die nur sie verstand.

»Anna?«, sagte er.

Er wartete und fragte sich, warum das Display funktionierte, warum die Musik lief, wenn alles andere kaputt war. Alles kaputt, dachte er. Vielleicht war die Musik nur in seinen Gedanken. Aber das Display funktionierte, und draußen, hinter der Scheibe, sah er Schatten, die vorüberglitten. Es schneite, und es war kalt. Eben war es noch warm gewesen, und wenn es in einem Auto schneite, war davon auszugehen, dass eine Scheibe zu Bruch gegangen war.

»Anna?«, sagte er.

»Hallo?«, fragte eine Stimme. Nicht Annas Stimme.

Er drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und sah einen Schatten an der Stelle stehen, an der die Beifahrertür gewesen sein musste.

»Hilfe ist unterwegs«, sagte die Stimme, eine weibliche Stimme, die zitterte.

Er nickte und wollte aufstehen, aber es ging nicht. Er wollte aufstehen und aus dem Wagen steigen.

»Sie sollten sich vielleicht nicht bewegen«, sagte eine andere Stimme, eine männliche. »Der Notarzt kommt gleich.«

Der Notarzt, dachte er.

»Haben Sie Schmerzen?«, fragte die männliche Stimme. Die Musik lief noch, draußen schien jemand zu weinen. Am Tag von Annas Geburt war der Notarzt gekommen, zwei Sanitäter, die Kirsti getragen und zur Entbindung ins Krankenhaus gefahren hatten. Weil Anna quer gelegen und die Hebamme gesagt hatte, dass die werdende Mutter in diesem Fall aus Gründen der Sicherheit nicht mehr selbst laufen solle.

»Anna?«, sagte er.

»Der Notarzt kommt«, sagte die männliche Stimme, und er hörte die Sirene und sah das blaue flackernde Licht. Das Lied war zu Ende gegangen, er hatte den Schluss verpasst. Das Display zeigte eine Fehlermeldung an.

Der erste Tag, der letzte Schnee.

Anna könnte mit Laura fahren und bei ihr zu Abend essen.

Es war ganz still draußen, aber er spürte, dass die Anzahl der Menschen zugenommen hatte.

»Wie geht es meiner Tochter?«, fragte er.

2

Kimmo Joentaa stand am Fenster, betrachtete die Dunkelheit und den Schnee und dachte an das, was Larissa gesagt hatte, am Morgen, bevor er losgefahren war. Dass sie vermutlich nicht da sein werde am Abend, dass sie einige Tage lang weg sein werde.

»Wo?«, hatte er gefragt.

»Weg«, hatte sie geantwortet, und Kimmo Joentaa hatte die anderen naheliegenden Fragen im Raum stehen lassen, weil er gewusst hatte, dass es keinen Sinn haben würde, sie zu stellen.

Larissa. Seine Freundin Larissa, die nicht Larissa hieß. Die nicht antworten würde, wenn er sie fragte, wie es ihr gehe. Die ihn auslachen würde, wenn er sie fragte, wie ihr Tag gewesen sei.

»Wir haben da was«, sagte eine Stimme in seinem Rücken. Antti Lappeenranta, der junge Archivar, hatte den Raum betreten, ohne dass er es bemerkt hatte.

»Antti … was gibt’s?«

»Die in der Zentrale haben mich gebeten, Bescheid zu sagen, falls noch jemand da ist«, sagte Antti. »Weil die Kollegen vom Spätdienst anderweitig unterwegs sind.«

Joentaa nickte.

»Ein Unfall, also … vermutlich ein Unfall, mit Todesfolge, der Unfallverursacher ist weg, Fahrerflucht.«

Joentaa nickte.

»Ein Kind ist ums Leben gekommen, ein Mädchen. Elf Jahre alt. Der Vater hatte sie vom Eishockey abgeholt. Ein …« Antti senkte den Blick auf den Zettel in seiner Hand. »Ein … Lasse Ekholm. Seine Tochter … Anna ist bei dem Unfall ums Leben gekommen.«

Joentaa nickte. Er betrachtete Antti Lappeenranta, den jungen Archivar, und er dachte daran, dass er mit einer Frau zusammenlebte, die sich Larissa nannte und die sich weigerte, ihren tatsächlichen Namen preiszugeben. Und daran, dass er Antti Lappeenranta mochte, aus vielen Gründen, aber auch weil er die Namen notiert hatte. Es war ihm wichtig gewesen, nicht nur von einem Vater und einer Tochter zu sprechen, nicht von Opfern eines Unfalls, sondern von Lasse und Anna Ekholm.

Lasse und Anna Ekholm. Er schloss die Augen und sah sich an Sannas Grab stehen, am Tag der Beerdigung, im Regen, wie lange war das her? Vielleicht war tatsächlich nur ein Moment vergangen. Lasse und Anna Ekholm waren zwei Menschen, die er kannte.

»Ja … ich denke, es ist ja erst mal nicht direkt eure Sache … aber …«, sagte Antti Lappeenranta.

»Doch«, sagte Joentaa.

»Ja?«

Joentaa fragte sich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums sein konnte. Er erinnerte sich an den Kranz, den größten Kranz an Sannas Grab, am Tag der Beerdigung, der Kranz des Architekturbüros, in dem Sanna gearbeitet hatte, bevor sie erkrankt und gestorben war, vor einer Ewigkeit, die nur noch einen Moment entfernt war.

»Ja, dann …«

Ein Kranz, unterzeichnet von allen Mitarbeitern, in der Mitte, nicht groß, aber deutlich zu lesen, die Unterschrift von Lasse Ekholm, Sannas Chef, denn Lasse Ekholm war der Inhaber des Architekturbüros gewesen. Und Lasse Ekholm hatte damals eine kleine Tochter gehabt, Anna.

»Ich will da mal hinfahren«, sagte Joentaa.

»Das ist nicht weit von der Eishalle entfernt, die Landstraße Richtung Innenstadt …«

Joentaa lief. Er dachte an Anna, ein Mal hatte er mit ihr in einem Garten Fußball gespielt, im Garten der Ekholms, er hatte gemeinsam mit Anna auf ein kleines Tor geschossen, in dem Annas Vater, Lasse Ekholm, gestanden hatte. Sanna hatte kerngesund an einem Tisch in der Sonne gesessen und sich mit Kirsti Ekholm unterhalten. Ein schöner Tag im Sommer war das gewesen, die Ekholms hatten sie eingeladen.

Er fuhr auf der Landstraße zur Eishalle und sah schon in der Ferne die flackernden roten und blauen Lichter, und dann sah er das Auto, das keine Beifahrertür und keine Windschutzscheibe mehr hatte und verloren am Waldrand im Licht von Scheinwerfern stand. Uniformierte Polizisten standen um das Fahrzeug herum, und vor einem Krankenwagen beugte sich ein Sanitäter über einen in eine Decke gehüllten Mann.

In Decken gehüllt hatte Sanna auf dem Steg am See gesessen, in den Wochen vor ihrem Tod.

Joentaa stieg aus und ging auf den Krankenwagen zu. Er hörte, wie der Sanitäter leise und beruhigend mit dem Mann zu sprechen versuchte. Einer der uniformierten Polizisten kam auf ihn zu und bat ihn weiterzufahren, bevor er ihn erkannte. »Kimmo, gut, dass du da bist. Du hast schon …«

»Ein Mädchen, elf Jahre alt.«

»Ja.«

»Anna Ekholm«, sagte Joentaa.

»Das … weiß ich, ehrlich gesagt, nicht, die Kollegen dahinten waren zuerst vor Ort …«

»Doch, Anna Ekholm«, sagte Joentaa und ging weiter, auf den Krankenwagen zu, vor dem, in eine Decke gehüllt, Lasse Ekholm saß. Joentaa hörte die Stimme des Notarztes, der Ekholm zuredete, einzusteigen. Aber Ekholm schüttelte den Kopf. Er saß im Schnee vor dem Rettungswagen, und als Joentaa bei ihnen war, wusste er nicht, was er sagen sollte. Ekholm sah auf und schien einige Sekunden lang Joentaas Gesicht mit Erinnerungen abzugleichen.

»Ich bin es, Kimmo«, sagte Joentaa. »Meine Frau, Sanna, hat bei euch im Architekturbüro gearbeitet.«

Ekholm sah ihn weiter an, dann nickte er kaum merklich, senkte wieder den Blick, und Joentaa setzte sich neben ihn in den Schnee. »Gleich, noch ein paar Minuten«, sagte Joentaa zu dem Notarzt, der nickte und ging.

Sie saßen schweigend, und Joentaa sah den Kollegen zu, die sich darum bemühten, im trüben Licht der Scheinwerfer Entfernungen abzumessen und Bremsspuren zu sichern. Er dachte an Sanna, an den Sommertag in Lasse Ekholms Garten, an Lasse Ekholm, der lachend einen Schuss seiner Tochter parierte.

Er betrachtete das Autowrack, das in einem leeren Raum unter Bäumen stand.

»Anna …«, sagte Ekholm nach einer Weile. Es klang wie eine Frage, die er an Joentaa richtete, in der Hoffnung, eine Antwort zu erhalten.

3

Der Notarzt wollte Lasse Ekholm ins Krankenhaus bringen, und Lasse Ekholm wollte nach Hause fahren.

»Wir sind auf dem Heimweg«, sagte er.

»Herr Ekholm …«, sagte der Notarzt.

»Wir sind auf dem Heimweg. Ich will jetzt weiterfahren. Kirsti … wartet schon.«

»Herr Ekholm, Sie hatten einen Unfall. Wir sollten zunächst zumindest eine ambulante …«

»Können Sie mich fahren, Kimmo?«, fragte Lasse Ekholm, und Joentaa, der den beiden zugehört hatte, ohne den Blick von dem Autowrack abwenden zu können, sah zunächst Ekholm an und dann den Notarzt. Er stand auf und signalisierte dem Notarzt, ihm zu folgen. Der Arzt, ein recht junger, schmaler Mann, folgte ihm.

»Ist es möglich, zunächst nach Hause zu fahren? Ich glaube nicht, dass es jetzt in erster Linie um die Versorgung seiner Verletzungen geht, sondern darum, dass er nach Hause möchte«, sagte Joentaa.

Der Arzt runzelte die Stirn, nickte aber.

»Und Sie kommen auch mit? Seine Frau, Kirsti, weiß wohl noch nicht, was passiert ist. Sie werden vielleicht helfen müssen. Beiden.«

Der Arzt schwieg einige Sekunden lang, dann schien er sich einen Ruck zu geben und sagte: »Dann machen wir es so. Obwohl der Mann natürlich eingehender untersucht werden muss. Er realisiert das jetzt nicht, aber er hat einige Verletzungen, deren Schweregrad ich noch nicht einschätzen kann … gut, wir fahren ihn erst mal nach Hause … Sie fahren voraus, wir fahren hinterher.«

Joentaa nickte. »Danke«, sagte er.

Während sie fuhren, sah er den Notarztwagen im Rückspiegel, der ihnen folgte, ohne die Sirene angeschaltet zu haben, wie ein Schatten, still, aber beharrlich, ein Begleiter, der daran erinnerte, dass sich etwas verändert hatte, nicht mehr stimmte, dass die Welt aus den Fugen geraten war.

»Kirsti …«, sagte Ekholm. Er sagte den Namen einige Male, während sie fuhren. Mehr nicht. Dann standen sie vor dem Haus, und Joentaa schaltete den Motor aus und sah, wie der Notarztwagen hinter ihnen zum Stillstand kam. Sie saßen schweigend, und Joentaa betrachtete das Haus im Dunkel, das hell erleuchtet war. In allen Zimmern schien Licht zu brennen.

Joentaa erinnerte sich an das Haus und an den Tag im Sommer vor einigen Jahren, an dem Sanna noch gelebt hatte und sie gemeinsam dort gewesen waren, er erinnerte sich daran, dass es in einem ganz feinen, weichen Hellblau gestrichen war, das jetzt im Dunkel nur zu erahnen war, und er erinnerte sich jetzt auch an die Irritation, die der Anblick des Hauses im ersten Moment ausgelöst hatte.

Er hatte Sanna gefragt, ob es sein könne, dass dieses Haus gerader stehe als die anderen, und Sanna hatte gelacht und gesagt, er sei ein guter Beobachter, denn Lasse Ekholm sei in Bezug auf Symmetrie und Statik der unangefochten brillanteste Architekt, den sie kenne. »Und das ist etwas Schönes, Kimmo, ich arbeite für die Ewigkeit. Die Häuser, die wir planen, sollten eigentlich auch noch stehen, wenn die Welt schon untergegangen ist.«

Dann waren sie ausgestiegen und auf das Haus zugelaufen, und Joentaa war fast ein wenig erleichtert gewesen, dass gleich im Eingangsbereich Schuhe kreuz und quer gestanden hatten, bunte Schuhe, Annas Schuhe, und Lasse Ekholm hatte sie ganz entspannt begrüßt, woraus Joentaa geschlossen hatte, dass sich sein Sinn für Ordnung und gerade, rechtwinklige Formen auf die Häuser zu beschränken schien, die er baute.

Sie waren durch den Flur in ein weites, helles Wohnzimmer gelaufen, Kirsti Ekholm hatte Lasagne gekocht, die sehr gut geschmeckt hatte, und Sanna hatte nach dem Rezept gefragt. Kirsti Ekholm hatte sich darüber gefreut und die Zutaten aufgezählt, und Joentaa war durch eine geöffnete Tür nach draußen gegangen, in den lauen Sommerwind, um mit Lasse Ekholm und der kleinen Anna Fußball zu spielen. Eine Schaukel, einige Meter entfernt, an der Schwelle zum Wald, in den der Garten überging. Anna hatte ein Tor geschossen und das laut gefeiert, und Kimmo Joentaa hatte sich beiläufig gefragt, wo der Garten endete, wo der Wald begann, und es als angenehm empfunden, dass es keinen Zaun gab, keine Linie, die die Grenze zwischen dem Grundstück und dem Wald vor Augen führte.

»Ich …«, sagte Lasse Ekholm, der neben ihm saß. Joentaa nahm den Blick vom Haus und sah Ekholm an, der müde und gehetzt zugleich aussah, und er dachte, dass kein weiteres Wort gesprochen werden sollte, keines, weder Lasse Ekholm noch er noch sonst irgendwer sollte noch irgendetwas sagen, weil alles gesagt war.

»Ich … möchte das … erst mal allein … machen«, sagte Ekholm.

Joentaa nickte und sah wieder das Haus an. Er erinnerte sich, er stand im Garten, Blumen an der Seite, und Lasse Ekholm sprang nach dem Ball, aber er tat nur so, in Wirklichkeit wollte er den Ball passieren lassen, um Anna eine Freude zu machen, und während Anna den Torerfolg bejubelt und Lasse Ekholm beteuert hatte, der Ball sei nicht haltbar gewesen, hatte Joentaa Sannas Blick gesucht. Sanna hatte am Rand an einem Tisch gesessen und war in ein Gespräch mit Kirsti Ekholm vertieft gewesen, vermutlich über die Zutaten für eine Lasagne, die Sanna und er nicht mehr gekocht hatten, bevor sie gestorben war.

»Ich möchte kurz mit Kirsti sprechen«, sagte Ekholm. »Aber bitte, Kimmo, bleiben Sie?«

»Natürlich«, sagte Joentaa.

Ekholm nickte. »Ich komme dann raus und würde mich freuen, wenn Sie … ich glaube, ich möchte, dass Sie hierbleiben und warten.«

»Das mache ich«, sagte Joentaa.

Ekholm nickte noch einmal, dann stieg er aus und lief auf das Haus zu. Joentaa sah ihm nach. Er sah, dass Ekholm an der Tür stand und dass die Tür geöffnet wurde. Er erahnte die Silhouette einer Frau und sah Ekholm, der sprach und sparsam gestikulierte, ein wenig gebückt stehend. Er zuckte zusammen, als der Notarzt gegen die Scheibe auf der Fahrerseite klopfte. Joentaa öffnete die Tür.

»Wie geht es weiter?«, fragte der Notarzt.

»Er möchte kurz mit seiner Frau sprechen und hat mich gebeten zu bleiben. Und ich bitte Sie, auch zu bleiben.«

Der Notarzt nickte, und als sich Joentaa wieder dem Haus zuwendete, sah er, dass Ekholm auf sie zukam. Joentaa stieg aus dem Wagen, und Ekholm sagte:

»Ich brauche Hilfe, denke ich … ich habe Kirsti gesagt, was passiert ist, aber sie … versteht es nicht richtig …«

Der Notarzt ging schon auf das Haus zu, und auch die beiden Sanitäter stiegen jetzt aus und folgten ihm. Joentaa lief neben Ekholm, der kaum hörbar den Namen seiner Frau aussprach, und Kirsti Ekholm stand auf der Schwelle zum Haus und begrüßte sie, als sie näher traten.

»Was ist denn los?«, fragte sie.

»Frau Ekholm? Mein Name ist Toivonen, ich war der Notarzt am Unfallort …«

»Was ist denn passiert?«, fragte Kirsti Ekholm.

Der Notarzt, Toivonen, zögerte, die Sanitäter warfen sich Blicke zu, die Joentaa nicht deuten konnte, und Kirsti Ekholm fragte: »Wo ist Anna?«

»Frau Ekholm …«, begann der Notarzt.

»Wo ist meine Tochter?«

»… es hat einen Unfall gegeben. Ihre Tochter ist ums Leben gekommen.«

Der Satz hallte nach und breitete sich in der Stille aus, und Kirsti Ekholm sah den Notarzt an, einige Sekunden lang. Dann lachte sie.

»Ich denke, wir sollten vielleicht ins Haus gehen«, sagte der Notarzt.

Lasse Ekholm nickte, aber Kirsti Ekholm sagte: »Nicht um diese Zeit.«

»Kirsti …«, sagte Ekholm.

»Nein, nein, es ist spät.«

»Kirsti, lass uns …«

»Was machst du hier?«, fragte sie.

»Was …?«, fragte Ekholm.

»Was machst du hier? Was stehst du hier rum? Wo ist Anna?«

»Frau Ekholm …«, sagte der Notarzt.

»Hallo, Kirsti«, sagte Joentaa und trat einen Schritt nach vorn. »Wir kennen uns, ich war vor einigen Jahren mit meiner Frau bei euch, Sanna.«

Kirsti Ekholm wendete den Blick von ihrem Mann ab und sah Joentaa an, der versuchte, ihren Blick aufzufangen.

»Hallo …«, sagte sie und streckte ihm intuitiv die Hand entgegen. Joentaa nahm sie und ließ nicht los.

»Wir waren hier, vor einigen Jahren, im Sommer«, sagte er.

»Ja, ja … ich erinnere mich.«

»Wollen wir reingehen und uns erst mal alle setzen?«, sagte Joentaa.

»Ja … natürlich, kommt doch rein«, sagte Kirsti Ekholm, und Joentaa dachte, dass sie es sagte wie die Gastgeberin, die sie gewesen war und die sie hereingebeten hatte in das von Sonne durchflutete Haus, vor Jahren, aber jetzt war es dunkel, und die Gäste waren andere.

Er löste langsam seine Hand aus ihrer und betrat das Haus, den Eingangsbereich, der genauso aussah wie damals, und auf dem Boden lagen bunte Schuhe kreuz und quer. Kirsti Ekholm sagte, dass sie Kaffee kochen werde, und Ekholm setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer, der Notarzt und die Sanitäter blieben unschlüssig stehen.

Joentaa ging ein paar Schritte, zur Küche, und sah Kirsti Ekholm, eine schlank und groß gewachsene Frau, die sich fließend bewegte und ganz auf den Ablauf der routiniert auszuführenden Handgriffe konzentriert zu sein schien, während sie den Kaffee kochte.

»Schön, dass wir uns mal wiedersehen«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. Joentaa nickte.

»Ihre Frau, Sanna … habe ich sehr gemocht«, sagte sie.

»Ja«, sagte Joentaa.

»Es tat mir sehr leid damals … dass sie gestorben ist. Ich habe das natürlich mitbekommen … Lasse hat davon erzählt.«

Joentaa nickte.

»Wie geht es Lasse?«, fragte sie.

Joentaa hob den Blick und dachte über die Frage nach, auf die er keine Antwort hätte geben können. Kirsti Ekholm stellte die Kaffeekanne auf ein Tablett und nahm Tassen aus dem Schrank.

»Fünf, oder? Nein, sechs …«, sagte sie und schien durchzuzählen, wie viele Menschen im Wohnzimmer auf Kaffee warteten. »Sechs«, sagte sie und nickte. »Aber nur fünf Tassen, weil ich um diese Zeit keinen Kaffee mehr trinke.« Sie nickte noch einmal, befüllte das Tablett mit den Tassen, einer kleinen Kanne mit Milch und einem Zuckerstreuer, und als sie das Tablett anhob, löste sich Joentaa und nahm es ihr ab.

»Lassen Sie mich das tragen«, murmelte er und ging voran. Im Wohnzimmer war das Bild unverändert. Ekholm saß auf dem Sofa, der Notarzt und die Sanitäter standen am Rand.

»Setzen Sie sich, bitte«, sagte Kirsti Ekholm, und Joentaas Hände zitterten ein wenig, als er das Tablett auf dem Glastisch abstellte.

»Schenkst du ein, Lasse?«, sagte Kirsti Ekholm.

Ekholm hob den Blick und sah seine Frau einige Sekunden lang an, bevor er zu begreifen schien. »Natürlich«, sagte er, nahm die Kanne und füllte die Tassen, die niemand entgegennahm. Ein Piepser summte, ein fremder Ton, und Joentaa sah, dass der Notarzt sich ein wenig entfernte, um ein Gespräch entgegenzunehmen. Nach einigen Minuten kam er zurück, wechselte ein paar Worte mit den Sanitätern und bat Joentaa, kurz mitzukommen. Sie gingen in die Küche.

»Wir müssen los«, sagte der Arzt. »In Paimio gab es einen Unfall, die Versorgung vor Ort reicht nicht aus.«

Joentaa nickte.

»Wir machen Folgendes: Ich lasse Ihnen diese Tabletten da. Mehr kann ich ohnehin jetzt nicht machen, es ist ein einfaches, aber starkes Beruhigungsmittel.«

»Gut«, sagte Joentaa.

»Höchstens zwei, und in jedem Fall vier Stunden Abstand bis zur nächsten Einnahme. Man kann sie aber mehrmals täglich nehmen.«

Joentaa nickte.

»Falls sich hier an der Situation etwas ändert, erreichen Sie mich unter dieser Nummer direkt.« Er gab ihm eine weiße Karte, auf der nur der Name und die Nummer standen und das Logo der finnischen Notfallambulanz abgebildet war.

»Danke«, sagte Joentaa.

»Und morgen muss der Mann ins Krankenhaus zu einer eingehenden Untersuchung. Für den Fall, dass sich über Nacht Schmerzen einstellen, lasse ich Ihnen auch hoch dosiertes Ibuprofen da. Aber dieser Wirkstoff stößt ab einem gewissen Punkt an Grenzen …«

»Ja. Danke«, sagte Joentaa.

Er blieb in der Küche stehen, betrachtete die Karte, die ihm der Arzt gegeben hatte, und hörte, wie die Haustür leise ins Schloss fiel. Im Wohnzimmer saß Lasse Ekholm schweigend auf dem Sofa, als er zurückkehrte. Die gefüllten Tassen standen unberührt auf dem Tablett.

»Kirsti hat sich schlafen gelegt«, sagte er.

Joentaa setzte sich auf den Rand des Sofas. Hinter der Fensterwand lag der Garten im Dunkel. Joentaa erahnte die Schaukel, an der Schwelle zum Wald.

»Ich werde mich auch hinlegen«, sagte Ekholm. »Oder …? Ich weiß nicht … was …«

»Der Arzt hat Tabletten dagelassen«, sagte Joentaa. »Beruhigende und auch schmerzstillende. Und Sie sollen morgen unbedingt zu einer Kontrolluntersuchung ins Krankenhaus gehen.«

Ekholm nickte. »Morgen«, sagte er. Es klang, als wisse er nicht, was mit dem Wort anzufangen sei. »Kimmo, könnten Sie … noch eine Weile bleiben?«, fragte er. »Es … würde mich … irgendwie beruhigen …«

»Natürlich«, sagte Joentaa.

Ekholm nickte. Dann ging er, und Joentaa erinnerte sich an den Morgen nach Sannas Tod. An den Gedanken, nie wieder einschlafen zu können, den er genau in dem Moment gehabt hatte, in dem er eingeschlafen war.

Er blieb lange auf dem Sofa sitzen, auf dem Sanna und Kirsti Ekholm gesessen und über das Rezept für die Lasagne gesprochen hatten. Ab und zu flackerten die Lichter vorüberfahrender Autos in der Dunkelheit, die für Momente den Garten erhellten.

Joentaa stand vorsichtig auf und öffnete die schmale Tür, die hinausführte. Es schneite nicht mehr, aber es war kalt. Er lief ein paar Schritte über den von weichem Schnee bedeckten Rasen, sah jetzt die Schaukel und auch das kleine Tor, auf das Anna geschossen hatte. Es stand am selben Platz, im Zentrum der Rasenfläche, das Netz war ein wenig ausgefranst, und der Ball lag im Tor, rechts unten, genau in der Ecke, in die Lasse Ekholm damals vergeblich gehechtet war. Joentaa stand einige Meter entfernt, etwa da, wo Anna gestanden haben musste, als sie den Ball aufs Tor geschossen hatte.

Er sah das Tor, das stand, wo es gestanden hatte, den Ball, der lag, wo er gelegen hatte, und dachte, dass vielleicht auch Annas triumphaler Jubelschrei erst vor Sekunden vergangen war.

Zwei Monate früher – März

4

Markus Sedin hatte nicht den Eindruck, bestimmten Gedanken nachzuhängen, aber irgendwann, als sich das Schweigen im Speisewagen zwischen Brüssel und Ostende in die Länge zu ziehen begann, bemerkte er, dass seine Blicke einen Rhythmus annahmen, dass sie zwischen dem Kaffee und dem Schnee hin- und herwanderten.

Der Kaffee war ein wenig übergelaufen, über die weiße Tasse, auf die Serviette und das Tischtuch, und hinter den Scheiben lag die blasse Landschaft in Schnee gehüllt. Markus Sedin hörte leise das weiche Trommeln, das Markkanens Finger verursachten, während sie über die Laptoptastatur glitten, und er konzentrierte sich, in regelmäßigem Wechsel, auf das Schwarz des Kaffees und das Weiß des Schnees – bis er einen leichten Schwindel hinter der Stirn spürte und das Gefühl hatte, nach einem bestimmten Gedanken greifen zu können.

»Alles gut?«, fragte Bergenheim.

»Was?«

»Alles gut bei dir?«, fragte Bergenheim. »Du machst so zuckende Kopfbewegungen.«

»Ja?«, sagte Sedin. Er sah jetzt Bergenheim an, der ihm gegenübersaß, neben dem schwitzend auf die Tastatur einhämmernden Markkanen. Bergenheim nickte, schien sich gedanklich aber schon wieder ein wenig entfernt zu haben. Markus Sedin betrachtete den Kaffee, nahm die kleine Tüte und schüttete Zucker hinein.

»Haut das noch hin bei dir?«, fragte Bergenheim und meinte dieses Mal Markkanen, der sich nicht angesprochen fühlte.

»Bis heute Nachmittag steht die Präsentation, da sind wir uns einig, ja?«, sagte Bergenheim, und Markkanen murmelte eine Zustimmung, ohne den Blick von seinem Laptop zu heben.

»Gut«, sagte Bergenheim und bestellte bei der jungen Frau, die nach seinen Wünschen fragte, einen Schokoladenkuchen und einen Espresso.

Sedin lehnte sich zurück und sah während der weiteren Fahrt, die noch etwa eine halbe Stunde dauerte, weder Bergenheim noch Markkanen an und auch nicht den Kaffee oder den Schnee hinter den Fenstern. Er schloss die Augen. Das Klappern von Markkanens Laptop schläferte ihn ein, und gerade als er begann, abzugleiten, kündigte eine durchdringende weibliche Stimme die baldige Ankunft an.

»Du hast ja die Ruhe weg«, sagte Bergenheim, der ihn ansah, hellwach, mit aufmerksam zusammengekniffenen Augen.

Sedin setzte sich aufrecht und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Bergenheim lächelte, Markkanen hämmerte und fluchte. Wenige Minuten später fuhr der Zug im Bahnhof von Ostende ein, und Markkanen hob den Blick vom Laptop und sagte, ihm sei die Präsentation abgestürzt.

Bergenheim sah ihn an, schweigend.

»Schwarz, weg«, sagte Markkanen und deutete auf den Bildschirm. »Alles weg.«

Schwarz, dachte Sedin. Schwarz der Kaffee, weiß die Welt hinter den Fenstern.

Bergenheim nickte, Markkanen seufzte, und Sedin beugte sich, einem Impuls folgend, nach vorn, schüttete noch mehr Zucker in den Kaffee und trank alles in einem langen, wohltuenden Schluck. Am Ende schlürfte er ruckartig den Bodensatz, den Zucker in sich hinein, und sein Schmatzen füllte die Stille.

Die Süße blieb einige Sekunden lang auf der Zunge haften, bevor sie sich verlor.

5

De Vries, der Vorstandsvorsitzende der belgischen Bank persönlich, holte sie ab, ein großer, breiter Mann, der viel lachte, über den Schnee, über das Wetter im Allgemeinen und vor allem darüber, dass am Vorabend in der Nähe der Strandpromenade ein Mann erfroren war.

»Bei uns, in Ostende. Das gibt’s nicht«, sagte er und lachte, herzhaft, während sie in seinem geräumigen Wagen zum Hotel fuhren, und Bergenheim stimmte ein. Markkanen hielt den Kopf über die Tastatur gesenkt, auf dem Bildschirm des Laptops flimmerten bunte Bilder. Grüne Pfeile, rote Punkte, verbunden durch Buchstaben und Zahlen, alles schien an seidenen Fäden in der Luft zu hängen.

»Hab’s gleich«, sagte Markkanen.

»Halt dich ran«, sagte Bergenheim.

Das Hotel war ein großer gelber Kasten, der Strand war von Schnee bedeckt, und das Meer hatte die graue Farbe des Himmels angenommen. Sedin folgte den anderen in eine warm beleuchtete Lobby, und Bergenheim fuhr sich durch die kurz geschorenen Haare, während er mit der jungen Frau am Empfang über die Modalitäten der anstehenden Tagung sprach. Gemeinsam mit De Vries und der Frau ging er, um den Konferenzsaal zu besichtigen. Markkanen saß an einem Tisch in der Lobby und kämpfte mit seiner Präsentation.

Sedin fuhr mit dem Aufzug nach oben. Das Zimmer war karg eingerichtet. Karg oder edel. In der Ferne hinter dem Fenster brach der Horizont das Grau in zwei Teile. Sedin kniff die Augen zusammen und versuchte, die schmale Linie auszumachen, die das Meer vom Himmel trennte. Das Licht war diffus und trübte sein Urteil. Er lag lange auf dem Bett, dachte darüber nach, Taina anzurufen.

Um Viertel vor zwei fuhr er hinunter und ging in den Konferenzsaal, der schon angefüllt war mit Menschen, die er nicht kannte und die ihm doch vertraut waren. Gedämpfte Gespräche, ab und zu ein verhaltenes Kichern. Seriöses Stimmengewirr. Bergenheims Anzug passte wie angegossen, Markkanens Krawatte saß etwas schief. Vertraute, fremde Menschen, dachte Sedin.

De Vries begrüßte die Anwesenden, lachend, aber ohne den Toten vom Strand zu erwähnen, und dann sprach Bergenheim über Teambuilding, Synergien und freundliche Übernahmen. Über schwere Zeiten und Hoffnungen am Horizont, er fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar und senkte den Blick auf seine Notizen, und dann breitete er die Arme aus, als wolle er eine Umarmung signalisieren, die alle einschloss, und sagte, dass der Rendite-Plus im schwierigen Marktumfeld angezogen habe, der Europa-Potenzial ebenso. Und selbst der Technologie-Spezial halte Kurs, obwohl in der Branche ein Rundumschlag auf die Kursziele eingesetzt habe.

Er leitete über von falschen Propheten zu echten Werten, und dann, in einem Moment, in dem Markus Sedin gar nicht darauf vorbereitet war, stellte er ihn vor. Bergenheims Stimme klang plötzlich noch schärfer, noch lauter, und Sedin hörte seinen Namen, hatte fast den Eindruck, ihn zu sehen, eingerahmt von Bergenheims Worten, die ihn als den erfolgreichsten Fondsmanager der Norda-Bank priesen, dem es gelungen sei, den OptiRent um mehr als zwölf Prozent zu steigern, während andere den Krisen zum Opfer fielen, den tatsächlichen und den eingebildeten, und deshalb …

»… deshalb, lieber Markus Sedin, sind wir sehr froh, dass wir dich haben. Zeig dich, lieber Markus, damit alle schon mal sehen können, wie so ein Tausendsassa aussieht …«

Sedin blieb noch kurz sitzen, benommen, ohne genau zu wissen, warum, dann fühlte er Bergenheims Blick auf sich ruhen und begriff, dass er aufstehen sollte. Er erhob sich und nickte den Anwesenden im Saal zu, ohne einen von ihnen anzusehen, und Bergenheim fuhr fort:

»Manche pfeifen dieser Tage im Walde und rufen: Wir kommen wieder! Ich sage euch etwas anderes – wir, wir alle, wir Finnen mit Norda, ihr hier in Belgien mit dem traditionsreichen Bankhaus De Vries, wir alle sind nie weg gewesen, und gemeinsam werden wir stärker sein als je zuvor.«

Stille. Den letzten Satz hatte Bergenheim leise gesprochen und ganz sanft, und Markus Sedin wusste auch, warum, denn einmal hatte Bergenheim ihm erläutert, dass starke Worte umso wirksamer nachhallten, wenn man sie in Watte hüllte.

Lang andauernder, gleichmäßiger Beifall setzte ein. Dann verließ Bergenheim das Podium, und Markkanen kam auf die Bühne, warf bunte Bilder aus seinem Laptop an die Wand und sprach sein träges Englisch mit dem ausgeprägt finnischen Akzent.

Doch nicht abgestürzt, die Präsentation, zumindest nicht unwiederbringlich, dachte Sedin, während er die Bilder an der Wand betrachtete, und dann trug Markkanens einschläfernde Stimme seinen Blick über die Gesichter hinweg zu den Fenstern und durch die Scheiben auf den Sand und das Meer. Die Sonne brach durch die Wolken und beleuchtete den Eisregen, und niemand reagierte auf das gespenstische Licht. Niemand reagierte, als Markkanen zu schweigen begann und seine Bilder von der Wand nahm, indem er den Laptop zuklappte.

De Vries kehrte auf die Bühne zurück und entließ alle für einige Stunden »in Freiheit«, wie er es nannte, bis zum Abendessen. Sedin wechselte ein paar Worte mit Bergenheim und Markkanen, die beide auf ihre Weise erhitzt und erleichtert wirkten, vermutlich weil die Präsentation ihren Erwartungen entsprechend funktioniert hatte, dann fuhr er mit dem Aufzug nach oben und lag für eine Weile auf dem Bett, auf dem kühlen, glatten Laken.

Er dachte darüber nach, Taina anzurufen und Ville, stellte sich vor, ihre Stimmen zu hören. Irgendwann, als der Gedanke sich entfernte, stand er auf, zog sich um und fuhr nach unten in den Wellnessbereich. Die kleine Schwimmhalle war gedämpft beleuchtet, draußen schimmerte ein Regenbogen, auf einer Liege saß ein Mann, der in einer Zeitung blätterte, und neben ihm tauchte ein Mädchen. Das Wasser war sehr warm, angenehm, das Mädchen hustete, als es an die Oberfläche kam. Sedin schwamm Bahnen, in regelmäßigem Tempo, und ein zweites Mädchen betrat die Halle, schwungvoll, erhitzt lachend.

»Du musst mal das Dampfbad ausprobieren oder wie das heißt«, rief sie, und Sedin glaubte, aus ihrem Englisch einen schottischen Akzent herauszuhören. »Limone, kommt geil.« Das Mädchen sprang vom Beckenrand ins Wasser, obwohl die Aufschrift auf einem Schild an der Wand darauf hinwies, dass das verboten sei. Draußen waren der Regenbogen und das dumpfe Weiß der einsetzenden Dunkelheit gewichen. Sedin sah den Mädchen zu, die inzwischen einen Ball hin- und herwarfen und um die Wette tauchten und jede Menge Spaß zu haben schienen, bis ein kleiner Junge kam.

»Mein kleiner Bruder«, flüsterte eines der Mädchen dem anderen zu, und der Junge fragte, ob er mitspielen dürfe. Das andere Mädchen sprang ins Wasser und tauchte und berührte mit den Füßen, kurz vor dem Auftauchen, Sedins Beine.

»Oh, ’tschuldigung.«

»Macht nichts«, sagte Sedin.

Er spürte noch die Berührung und betrachtete den Jungen, der unentschlossen am Beckenrand stand und etwa in Villes Alter sein musste, sieben oder acht. Taina anrufen, dachte er. Taina anrufen, um mit Ville zu sprechen. Er hievte sich aus dem Becken, legte sich ein Handtuch um und erwiderte den gemurmelten Gruß des Mannes, der noch immer auf seiner Liege saß und in einer Zeitung blätterte. In der Saunalandschaft war das Licht orange und blau, Kontrastfarben. Vor recht langer Zeit hatte Sedin ein Buch über Farbenlehre gelesen und einige Bilder gemalt. Darüber dachte er nach, während er im Dampfbad saß.

»Limone«, dachte er und ließ sich ganz von dem heißen Dunst einhüllen, der die Welt vor seinen Augen verbarg.

6

Am Abend rief er Taina an. Er trug noch den weißen Bademantel, saß gegen das weiße Kissen gelehnt auf dem Bett und konzentrierte sich auf die regelmäßige Wiederkehr des Freizeichens, das ihm signalisierte, dass am anderen Ende ein Telefon klingeln musste. Falls nicht der Rufton deaktiviert war.

Nach dem fünften Klingeln nahm Taina ab. »Ja?«, sagte sie, mit dieser müden und gleichzeitig aufgekratzt klingenden Stimme, und Sedin sah sie am Tisch sitzen, vor sich ein Glas und eine zur Hälfte geleerte Flasche mit Schaumwein.

»Ich dachte schon, du hättest auf leise gestellt«, sagte er.

»Was?«

Er schloss die Augen. Falscher Beginn, was redete er da? Noch mal von vorn anfangen. »Vergiss es«, sagte er. »Ich wollte mich nur mal melden und …«

»Was?«, fragte sie.

»… nur mal melden und sagen, dass ich gut angekommen bin.«

Taina schwieg.