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Da treffen zwei, die sich einmal sehr gern gehabt haben und für ihr ganzes Leben beieinander bleiben wollten und sich dann doch zwei Mal wieder getrennt hatten, durch einen Zufall wieder aufeinander und plötzlich scheint alles auf Anfang. Allerdings ist seit damals Zeit vergangen, und die beiden sind nicht mehr ganz frei. Ob es trotzdem noch was werden mit, mit dem Liebespaar vom Körnerplatz? Das ist eine der insgesamt acht, mal kürzeren, mal längeren Alltagsgeschichten dieses Bandes aus den neunziger Jahren, die Jutta Schlott spannend, mit viel Sympathie und Verständnis für ihre Figuren, mit einem leisen Humor und oft mit überraschenden Wendungen erzählt. Sie wecken Erinnerungen an die Zeiten vor und während der Wende und an die heftig veränderten Verhältnisse danach, die manches mit dem Davor zu tun haben. Da erfährt eine junge Journalistin, die noch zu DDR-Zeiten in den Irak und damit in den Krieg fliegen soll, vom Vertreter des Außenministeriums in Berlin, dass ihre Angehörigen innerhalb von vierundzwanzig Stunden Bescheid erhielten, wenn ihnen etwas zustoßen sollte. Und was passiert während ihrer Abwesenheit mit dem fünfjährigen Sohn? Ein junger Mann, der mit seiner Tochter alleine lebt, bekommt von seiner Mutter zu hören, dass er sich eine Frau suchen soll: Dem Mädchen fehlt die Frauenhand. Ein Mädchen gibt einem jungen Mann deutlich zu verstehen, dass es mit ihm tanzen, angefasst und von ihm herangezogen werden möchte. Doch das ist ein Traum. Und dann muss Bernhard Stove eine schreckliche Nachricht verkraften. Der geplante Aufbau einer Umwelt-Bibliothek beginnt mit einem Einbruch in ein altes, leerstehendes Haus. Doch mit dem enthusiastischen Projekt gibt es ungeahnte Schwierigkeiten. Ein junges Mädchen lernt bei einem Ausflug nach Polen viel über deutsche Vergangenheit und – über zwei Großmütter. Eine junge Lehrerstudentin und Mutter erklärt, kein Kind geboren zu haben. Viel später ändert sich auf einmal alles. Und dann noch einmal. Ein Zirkuskünstler hat einen Unfall und muss sich Gedanken um seine Zukunft machen, eine neue Existenz aufzubauen. Doch es kommt alles anders, ganz anders.
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Seitenzahl: 181
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Jutta Schlott
Das Liebespaar vom Körnerplatz
ISBN 978-3-95655-076-8 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 2006 im Wiesenburg Verlag Schweinfurt.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Peter Festersen
© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Der Vertreter des Außenministeriums in Berlin versicherte den beiden Journalisten bei der Einweisung für die bevorstehende Auslandsreise, dass ihre Angehörigen innerhalb von vierundzwanzig Stunden Bescheid erhielten, wenn ihnen etwas zustoßen sollte.
Im Gespräch mit dem Mittfünfziger und seiner jungen Kollegin unterstrich er mehrmals, dass sie bei Begegnungen mit Offiziellen und dortigen Kollegen jedweden Kommentar zur aktuellen politischen Situation zu unterlassen hätten; vielmehr sollten sie auf die konsequente Friedenspolitik des eigenen Staates verweisen.
Ich weiß Bescheid. Arnold hat mich angerufen, erklärte Veras Mutter statt einer Begrüßung am Telefon. Er macht sich auch Sorgen. Ihre Stimme hörte sich reserviert an.
Arnold, Veras geschiedener Mann, arbeitete in der größeren der beiden zentralen Nachrichtenagenturen in Berlin. Seine ehemalige Schwiegermutter rief er öfter an als Vera.
Es ärgerte die junge Frau, dass ihr Arnold mit der Neuigkeit zuvor gekommen war, gleichzeitig enthob es sie der Schwierigkeit, der Mutter ihre Reisepläne zu eröffnen.
Mama, es ist mein Beruf!
Die Mutter reagierte nicht; ihr Atmen war zu hören.
Du weißt nicht, was du tust. Der Satz klang böse.
Ich weiß, dass es nicht ganz ungefährlich ist, setzte Vera hinzu. Aber ich habe mich entschieden - und nicht leichtfertig. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Und was wird mit dem Jungen, fragte die Mutter schließlich.
Ich dachte, dass du Albrecht ...
Natürlich nehme ich ihn, entgegnete sie, aber man fährt nicht in ein Land, in dem geschossen wird.
Am Tag vor der Reise brachte Vera den fünfjährigen Sohn zu ihrer Mutter. Nur zweimal am Tag, morgens und abends, verkehrte der Bus von der Bezirksstadt in die kleine Gemeinde. Vera half Albrecht aus dem Bus, umarmte die Mutter und stieg wieder ein.
Um den Jungen mach dir keine Sorgen, sagte sie und drückte das Kind an sich.
Als Vera die Tür zuziehen wollte, hielt die Mutter von außen dagegen.
Du weißt nicht was du tust, wiederholte sie zornig. Du hast kein Gewissen. Sie sprach leise, damit Albrecht ihre Worte nicht verstand, dann knallte sie die Tür vor der Tochter ins Schloss. Vera sank erschöpft auf einen Sitz im leeren Bus.
Zu Hause zog sie sich die Schuhe aus und sah in den Spiegel im Korridor. Er warf das Bild einer nachlässig geschminkten jungen Frau von Mitte dreißig zurück. Müde um die Augen, stellte Vera fest. Wird Zeit, dass du ins Bett kommst.
In ihrem Zimmer schmiss sie das Bündel Kleider vom Sessel auf die Liege. Sie stellte in der Küche die Kaffeemaschine an und kontrollierte den Zettel, auf der sie die notwendigen Besorgungen notiert hatte. Bis auf zwei Posten war auf der Liste alles erledigt und durchgestrichen. Nur die Punkte: Packen und Schlüssel zu Frau M.
Aus den Nachbarwohnungen drangen Geräusche. Stimmen. Klappern von Geschirr, Fernsehton - der vertraute abendliche Klangteppich des großen Mietshauses. Vera schaltete das Radio an, suchte nach klassischer Musik, fand nur ein Orgelkonzert, das ihr missfiel, und drückte die Aus-Taste.
Als sie das Fenster öffnete, drückte der Wind eine Bö herein. Regentropfen verteilten sich auf der Kommode und den Dielenbrettern.
Unschlüssig stand sie vor dem Kleiderberg. Alle Sachen erschienen fremd, nicht zu ihrer Person gehörig. Zwischen ihren Blusen fand sich ein Nicki von Albrecht.
Du brauchst mir gar nichts mitzubringen, hatte er beim Abschied gesagt. Pflück mir nur ein paar Bananen. Echte Bananen aus Afrika.
Vera seufzte tief. Erst mal Kaffee trinken, beschloss sie. Der Kühlschrank war leer geräumt, das Sahnekännchen gab noch ein paar dickflüssige Tropfen her. Sie zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief ein.
Du solltest dich freuen, redete sie sich zu. Du darfst raus aus diesem ummauerten Land. Du verlässt Europa. Ein anderer Kontinent wartet auf dich. Wer kriegt schon so eine Reise geschenkt!
Es klingelte. Im Hausflur stand der Telegrammbote; ein junger Mann, der ihr geduldig zeigte, an welcher Stelle auf dem Formular sie den Empfang zu quittieren hatte.
Ich könnte es ungeöffnet liegen lassen, dachte Vera auf dem Weg in die Küche. Gleich zehn. Um diese Zeit ist die Haustür meist schon abgeschlossen. Eigentlich bin ich nicht mehr da. Die Nachrichten aus diesem Land gehen mich nichts mehr an.
Mechanisch riss sie den Umschlag auf, las mehrmals den Text: Sibylle gestern friedlich verstorben - Termin für Beisetzung folgt - Fam. Schubert. Ihr Verstand weigerte sich, den Inhalt anzunehmen.
Aber doch nicht Billy, sagte sie laut. Sie tappte in den Korridor, stellte sich vor den Spiegel und wiederholte: Aber doch nicht Billy! Ihr Gegenüber starrte sie mit erschrockenen Augen an.
Durch die offene Balkontür taumelte ein Nachtfalter ins Zimmer. Vera verfolgte seinen Irrflug um die Lampe.
Als sie wieder auf die Uhr sah, war es kurz vor elf. Einen Moment lang wunderte sie sich, dass sie in der Küche saß. Wahrscheinlich funktioniert das Gehirn nicht richtig, registrierte sie träge, das Erinnerungsvermögen setzt aus.
Sie holte den Brief der Mutter, den sie ihr nach dem Telefonat geschrieben hatte, vom Schreibtisch ... Dein Leben habe ich Dir nicht einfach geschenkt, ich habe es Dir erkämpft. Ein halbes Jahr habe ich im Krankenhaus gelegen und alles ertragen, damit Du lebst.
Aber Du bist bereit, Dein Leben wegzuwerfen. Dort ist Krieg. Du weißt nicht, was Krieg bedeutet. Ich weiß es, ich habe ihn am eigenen Leib erfahren. Du hast noch keine Bombe fallen sehen. Neben Dir ist noch kein Mensch krepiert. Du weißt nicht, was Du tust. Du denkst nicht an Dein Kind ...
Warum willst du mich kränken, Mama, dachte Vera. Wer hat mir beigebracht, was Verantwortung ist? Es ist meine Pflicht, zu sagen, was geschieht. Und ich habe mir die Fähigkeit erworben, hinter die Dinge zu sehen. Ich bin nicht eitel - ich weiß, was ich kann. Ich muss Bericht erstatten - auch von diesem Land im Krieg. Ich muss.
Sie zerriss den Brief. In zwei Teile, in vier, in acht, in lauter kleine Schnipsel, die sie in den Aschenbecher häufelte. Danach fühlte sie sich erschöpft, fiel zur Seite und schlief in ihren Sachen neben dem Kleiderberg auf der Liege ein.
Der Wagen, der sie nach Berlin zum Flughafen bringen sollte, kam pünktlich früh um vier. Der Fahrer trug ihren Koffer und die prall gefüllte Reisetasche nach unten.
Volker Kern, der berühmte, zwanzig Jahre ältere Kollege, begrüßte sie wohlgelaunt. Vera kannte ihn von Sitzungen; er saß in mehreren Vorständen. Sie hatte ihn der Rubrik “Präsidiumsgesicht“ zugeordnet. Beim Gespräch mit dem Vertreter des Außenministeriums hatten sie zum ersten Mal ein paar Worte gewechselt. Kern duzte sie ohne Umschweife. Meingott, was schleppst du mit, frotzelte er. Willst du zur Modenschau! Bloß was Warmes - für die Nacht, wollte sie entgegnen. Die ersten drei Worte gelangen, der Rest des Satzes ging in Schluchzen unter. Ratlos sahen die beiden Männer auf den Rücken der Frau, die sich unter immer neuen Heulstößen auf den Autopolstern krümmte. Ein erklärendes Wort brachte sie nicht zustande. Kern ließ sich den Kofferraum öffnen. Er zwang sie, Cognac aus einem Flachmann zu trinken.
Wortlos holte Vera das zerknitterte Telegramm aus der Tasche und reichte es Volker Kern.
Wer? Wollte er wissen.
Meine Freundin, antwortete sie mit vom Weinen krächzender Stimme. Leukämie ... Mit einunddreißig.
Volker Kern flößte ihr die Hälfte der Flasche ein. Von unendlicher Müdigkeit erfasst, fiel Vera in Schlaf, der einer Ohnmacht glich. Als sie auf dem Flughafen in Schönefeld ankamen, wurde es gerade hell.
Vera befolgte automatisch, was von ihr verlangt wurde. Sie zeigte bei der Abfertigung auf dem Flughafen das Gepäck zur Kontrolle vor. Sie reichte dem Uniformierten die Papiere in der Reihenfolge, die Kern ansagte.
In der Maschine wurde sie wach, als es rumpelte, wie in einem schlecht gefederten Bus. Kern, in eine Decke gewickelt, las in einem englischen Journal. Er sah von oben auf die Jüngere herab. Weiterschlafen, befahl er. Zum zweiten Mal wachte sie vom geschäftigen Rumoren der Passagiere auf. Kern hatte schon ihr Handgepäck griffbereit neben Veras Sitz gestellt.
Er strahlte sie an: Willkommen in Arabien! Hinter dem Bordfenster, tief unten - in unwirklich samtigem Blau - war der Flugplatz zu sehen. Inmitten der Lichterfülle der Stadt ein strahlender, sechseckiger Diamant.
In der Empfangshalle wurden sie von einem Vertreter der Botschaft und dem Kultur-Attaché, einem noch junger Mann mit leicht sächselndem Stimmklang, begrüßt. Ein einheimischer Journalist, der ihn begleitete, schoss pflichtgemäß Fotos.
Der Dolmetscher, ein schlanker, sorgfältig frisierter und gekleideter Mensch in silbergrauem Anzug, gab Kern die Hand. Vor Vera verbeugte er sich mit einem knappen Kopfnicken.
Ein luxuriöser Wagen mit Fahrer wartete vor dem VIP-Eingang. Er transportierte Vera und Kern ins Hotel.
Das vielstöckige Gebäude wurde von einer rechteckigen, etwa drei Meter hohen Betonmauer umschlossen. An jeder der vier Ecken erhob sich ein Wachturm.
In Veras Apartment rauschte die Klimaanlage. Aus unsichtbaren Lautsprechern im Flur, im Bad, im Zimmer säuselte James Last mit seinem Orchester.
Auf dem Schreibtisch mit Intarsien aus Bruyereholz stand ein Fernseher. Wahllos drückte sie eine Taste. Ein Comic-Film in französischer Sprache mit arabischen Untertiteln. Verrückt, murmelte sie.
Das Telefon klingelte. Kern lud seine Kollegin zu einem Bier ein, das er sich vom Boy auf sein Zimmer bringen ließ.
Vera sah aus dem Fenster. In jedem der Wachtürme stand deutlich sichtbar ein Soldat mit Gewehr. Das Innere des Betonquadrats glich einem Park. Alle Bäume sind Palmen, sagte sie ergriffen.
Kern lachte laut: Ja - und alle Menschen sind Araber.
In der Nacht träumte Vera, dass sie nach der Reise in der Redaktionskantine sitzt. Ich bin aus dem Irak zurück, will sie dem Wirt sagen. Er hält ihr mit merkwürdiger Geste die Hand über den Tresen. Sie greift danach - es sind kalte, gekrümmte Totenfinger.
Am Morgen ließ sich Vera die Badewanne randvoll laufen.
Wasser ist der kostbarste Luxus dieser Region, hatte ihr Kern erklärt. Es war seine sechzehnte Reise in ein arabisches Land. Na und, dachte sie trotzig, vielleicht ist es mein letztes Bad.
Auf dem Weg in die Stadt fuhren sie am Trichter vorbei, den vor drei Tagen eine Rakete in den Boden gerissen hatte. Eisenträger und bizarre Betonbrocken ragten in die Luft; dazwischen hingen abgerissene Leitungen, eine Lampe, Stofffetzen. Die Reste einer gekachelten Küche waren zu erkennen. Der Basar wird dir gefallen, sagte Kern freundlich. Was zum Eingewöhnen.
Sie antwortete nicht. Ich bin das nicht, dachte sie. Ich kenne die Frau nicht, die hier zwischen den Ständen umhergeht. Es ist nicht wirklich, dass der Mann mit Nadel und Faden einen Schuh näht und dass in der Nische daneben unter ohrenbetäubendem Lärm ein Becher aus dem Messingblech getrieben ward.
Ein Stoffhändler, der prächtige Tuche ausgebreitet hatte, winkte Kern und Vera zu seinem Stand. Er radebrechte englisch mit ihnen und wollte wissen, woher sie kämen.
Germany, antwortete Kern.
Welches Deutschland, fragte der Mann.
GDR.
Walter Ulbricht meine Freund! rief der Händler wie aus der Pistole geschossen.
Es stellte sich heraus, dass sein Sohn vor Jahren in Leipzig Fahrzeugbau studiert hatte. Dass die beiden Fremden Leipzig kannten, erfüllte ihn mit überschwänglicher Freude. Er nötigte sie, wenigstens einen Tee mit ihm zu trinken und ließ sich bereitwillig von Kern fotografieren. Vera drückte er zum Abschied ein geschnitztes, exotisch duftendes Hölzchen in die Hand. For health, sagte er.
Bei einem Gewürzhändler griff Kern in einen Jutesack mit Muskatnüssen, die noch von fester Schale umschlossen waren. Eine Holzschüssel voll getrockneter Blüten, kleinen Rosenknospen ähnlich, hielt er sich unter die Nase und roch daran.
Glaub mir, er lächelte sie an, wenn es je ein Paradies gegeben hat, muss es hier gewesen sein. Vera versuchte zurückzulächeln, sie antwortete nicht. Abends, als sie mit einem Whiskey in der Hotelhalle saßen, sagte sie zu dem Älteren: Paradiese zu beschreiben, hab ich nicht gelernt. Meine Mutter war dagegen, dass ich hierher fliege. Ich hab beteuert, es sei meine Pflicht, Bericht zu erstatten. Über diesen Scheiß-Krieg. Und jetzt weiß ich gar nichts mehr ...
Wie soll ich das in Worte bringen - diesen Basar, die Palmen, Männer in Kleidern, die verschleierten Frauen. Und über allem dieser irrsinnig blaue Himmel, aus dem einem in jeden Moment die nächste Rakete auf den Kopf fallen kann. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob Berlin existiert. Oder Schnee - unvorstellbar!
Sie stellte ihr Glas ab. Wahrscheinlich haben sie heute Billy beerdigt.
Kern überhörte den letzten Satz. Du schreibst wie immer. Was du siehst, hörst, begreifst. Im Verband haben sie mir gesagt: Begabte junge Kollegin. Er goss sich Soda in den Whiskey. Dein Ding über den ehemaligen Knastologen war gut, meinte er sachlich.
Ich habe meinem Sohn versprochen, Bananen für ihn zu pflücken, sagte sie ablenkend. Und nun wachsen hier gar keine.
Zwei arabische Frauen, mitteleuropäisch gekleidet, betraten die Halle. Eine der beiden warf Vera einen Blick zu. Nicht einmal die Blicke verstehe ich, dachte sie irritiert.
Hast du den Mond gesehen? Wie sein Spiegelbild auf dem Fluss schwimmt? fragte sie Kern am nächsten Morgen. Es kann nicht derselbe sein, vor dem ich zu Hause die Vorhänge zuziehe. Wenn ich's nicht besser wüsste - dieser riesige rote Mond ist größer als unser blaues Kügelchen Erde.
Der Wagen, der sie zur Besichtigung einer gerade eingeweihten, hochmodernen Druckerei in die benachbarte Stadt bringen sollte, wurde von einem anderen Fahrer gesteuert als an den Vortagen. Er fuhr unbewegten Gesichts.
Auch der Dolmetscher schwieg. Er hatte dank eines Auslandsstipendiums in Tübingen studiert und ließ keinen Zweifel daran, dass er allein den Westen Deutschlands für einen legitimen Staat hielt. Er ließ die beiden Journalisten auch unmissverständlich wissen, dass sein Auftrag, für Ostdeutsche zu dolmetschen, eine Zumutung sei.
Auf Veras Fragen antwortete der Gleichaltrige stets mit einem einzigen Wort: Ja.
Nachfragen oder höfliche Bitten änderten nichts an dem mit stoischem Gleichmut vorgebrachtem: Ja.
Der Gelackmeierte ist in seinem Selbstverständnis doch er selber, lachte Kern, als sich Vera bei ihm über das ungehobelte Benehmen des Dolmetschers beschwerte. Hinter diesem Ja geht sein Satz weiter: Ja, das ist mein Job. Aber ich werde mich nicht zwingen lassen, einer Frau zu dienen.
Vor dem Autofenster zogen lang gestreckte Vororte vorbei. Häuser für die Familien, deren Söhne im Krieg gefallen sind, erklärte Kern. Der Tod als Privileg. Die Siedlungen waren einander ermüdend ähnlich.
Die Gegend wurde ländlicher. Gelbliche Hütten, mit getrockneten Palmwedeln gedeckt. Buden aus Wellblech. Kaum Grün.
Der Wagen fuhr an einem Viehmarkt vorbei. Zottige Schafe und Ziegen, ein Muli. Magere, streunende Hunde. Braunhäutige Kinder, in Lumpen gekleidet, spielten mit alten Gummireifen.
Im gelben Sand tauchten archaisch anmutende Befestigungsanlagen auf, veraltete Flakgeschütze. Grausames Spiel, sagte Kern in das Schweigen. Diese Spielzeuge sollen Raketen abwehren. Lächerlich!
Soldaten mit kindlich jungen Gesichtern blieben am Straßenrand zurück. Nur noch verdorrtes Gras. Disteln. Entlang der Fahrspur zerplatzte Reifen, umgekippte Lastwagen. Eine tote Kuh, ein totes Schaf.
Da - Beduinen! Kern wies auf eine Ansammlung ockerfarbener Zelte; daneben menschliche Gestalten in langen Gewändern. Sie schienen der Bibel entsprungen. Eine Maultierherde, die sich Schutz suchend zusammendrängte.
Nach zwei Stunden, etwa der Hälfte des Weges, erreichten sie eine Oase. Eine kleine Siedlung, überragt von der Moschee und ihrem Minarett.
Im Restaurant war Essen bestellt. Auf den Tischen standen üppige Rosensträuße. Vera fasste an ein Blatt. Es war aus Stoff.
VEB Kunstblume Sebnitz, grinste Kern.
Über Sebnitz hat Billy ihre Diplomarbeit geschrieben, wollte Vera sagen. Sie ließ es unausgesprochen.
Bevor die Mahlzeit aufgetragen wurde, ging Vera nach draußen. Allein. Ohne Furcht vor der Hitze, ohne Furcht vor der Fremde. Sie öffnete die Tür. Glühende, trockene Luft umschloss ihren Körper.
Die Empfindung des Heißen trennte sie mit einem Schnitt von dem Gebäude in ihrem Rücken. Sie löste die Frau von allem, was hinter ihr lag. Von dreißig Jahren Leben. Von Europa. Vom Tod. Ich bin frei, dachte sie verblüfft. Ich bin Vera und ich bin frei. Sie wagte einen Schritt, einen zweiten. Die goldene Kuppel der Moschee tauchte auf, im selben Moment wurden die Gläubigen vom Muezzin über Lautsprecher zum Gebet gerufen.
Hinter dem Restaurant stand im Schatten eines rot blühenden Oleanders der Wagen des Kulturministeriums. Der Fahrer schlief auf dem Rücksitz. Die Luft stand still, nichts schien sich zu bewegen. Vera bückte sich nach einem Stein. Er war so heiß, dass sie ihn fallen ließ. Ein alter Schmerz, dachte sie. Ich kann ihn ertragen.
Aus der Perspektive der beiden Bussarde, deren Areal vom Kiefernwald am Wallgraben bis zum Rethberg reichte, glich der graugrüne Personenzug einer überdimensionalen, gegliederten Raupe. Der Zug wurde mehrmals in kurzen Abständen gebremst, dann hielt er auf freier Strecke.
Die Gespräche in den voll besetzten Abteilen der Zweiten Klasse verstummten. Nach dem ständigen Maschinengeräusch, nach den knatternden, sich überschallenden Lautsprecherdurchsagen auf den Bahnhöfen, nach dem Grollen und Rumpeln der Achsen über die Schienenstöße breitete sich vollkommene Stille aus.
In einem der vorderen Wagen saßen sich ein etwa zehnjähriges Mädchen und ein junger Mann von Mitte dreißig auf den Fensterplätzen gegenüber. Er sah aus dem Fenster, reglos, in sich versunken. Vielleicht hatte er die Stockung gar nicht wahrgenommen. Sie folgte seinem Blick. Über dem Haferfeld neben den Gleisen schwebte eine Lerche, als stehe sie in der Luft, dann ließ sie sich in gleichmäßigen Schwüngen nieder. Das letzte Stück fiel sie senkrecht - ein Stein, der zur Erde stürzt. Über dem grünen Hafermeer blieb ihr Lied hörbar, ein klares, nachdrückliches Liri-Liri.
Der Zug ruckte an. Der Mann beugte sich vor und fragte seine Tochter: Was grinst du so?
Sie lachte: Der Frosch hat die Prinzessin abgeknutscht!
Vor dem Fenster rauschte ein Gegenzug vorbei, offene Ladeflächen mit Panzerspähwagen und Armee-Fahrzeugen, von gefleckten Planen überdeckt. Auf dem letzten Waggon stand eine mit Seilen festgezurrte Gulasch-Kanone.
Gunnar Peters zog seine Taschenuhr aus der Jeans. Vierzig Minuten Verspätung, knurrte er.
Das Haus, in dem Gunnars Mutter lebte, war das letzte in der Neuen Reihe. Die zwölf Zweifamilien-Häuser hatte die Gemeinde Spantekow in den sechziger Jahren für die zugezogenen Leitungskader der Landwirtschaftlichen Genossenschaft gebaut.
Im Hausflur, gleich neben dem Verteilerkasten, hing das Foto eines breitschultrigen, blonden Mannes. Hans Petersen, der die Genossenschaft viele Jahre geleitet hatte, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er starb, als Gunnar gerade sein Abitur gemacht hatte.
Kommt rein, rief Gerda Petersen aus der Küche. Sie umarmte den Sohn, küsste die Enkelin auf die Stirn: Was du wieder gewachsen bist, meine Rosa Rugosa!
Das Mädchen drehte sich weg: Ich heiß Irma.
Ich hab neue Kartoffeln für euch, sagte die Frau.
Herrlich, erwiderte Gunnar. Eigene?
Ach! Hat mir Ricarda aus Berlin mitgebracht! Meine sind noch nicht so weit.
Irma nahm den Kater, der Carmen hieß, auf den Arm und drückte sich an den beiden Erwachsenen vorbei durch den Hausflur in den Garten. Carmen sprang mit einem Satz aus ihren Händen und verschwand zwischen den Johannisbeersträuchern.
Die rechte Seite des Gartens glich denen hinter den Nachbarhäusern: Kartoffeln, Möhren, Sellerie. Beete mit Salat, Zuckererbsen, Buschbohnen und Porreestangen. Viererreihen mit Zwiebeln, Gurkenpflänzchen, die gerade erste Blüten angesetzt hatten. Irma zupfte zwei Radieschen heraus, schnipste Kraut und Wurzel mit dem Fingernagel ab und wischte die roten Kügelchen am Hosenstoff ab. Sie schmeckten erdig, frisch und scharf, ganz anders als die aus der Kaufhalle.
Zwiebeln, rote und weiße, wuchsen auch in der linken Hälfte des Gartens. Neben den meisten Pflanzen steckten dort kleine gelbe Holzschildchen mit den lateinischen Namen und dem Herkunftsgebiet: Karpaten, Donaudelta, Kaukasus ... Auf dem Schildchen vor einer Pflanze, die ihre Rosetten an Stielen in alle Himmelsrichtungen streckte, stand: Aeonium arboreum arthropurpureum, Rilagebirge.
Gerda Petersen war Botanikerin. Nur ihrem Mann zuliebe hatte sie die Forschung im Institut für Getreidezucht aufgegeben, war mit nach Spantekow gezogen und arbeitete seitdem als Abteilungsleiterin für Feldbau in der LPG. Botanik ist kein Fachgebiet, behauptete sie gern, Botanik ist ein Universum.
Irma ließ sich in den Liegestuhl neben den Pfingstrosen fallen. Sie zupfte drei Blätter vom Breitwegerich ab. An den hellen Fäden, die aus den Stielen herausragten, konnte man die Zahl seiner künftigen Kinder ablesen.
Einmal vier, einmal zwei, einmal drei. Neun Stück, dachte sie zufrieden, fast eine Fußballmannschaft. Vielleicht heirate ich dreimal.
Das Mädchen fühlte sich schläfrig werden. Hier war es langweilig, sterbenslangweilig. Durch das geöffnete Küchenfenster tröpfelte der gleichförmige Singsang von Gerdas Stimme. Oma Gerdas Stimme, verbesserte sie sich in Gedanken. Gerda Petersen besaß verschiedene Stimmen. Eine für den Kater, eine für Gunnar, eine für Frau Knorr, die Nachbarin.
Die Stimme, die Irma nachts aus dem Schlaf schreckte, rief heftig: Du musst auch mal Rat annehmen können, Junge!
Irma schob das schwere Deckbett beiseite. Langsam erhoben sich aus dem dämmrigen Schlafzimmer die Konturen der Möbel. Der große Kleiderschrank, Kommode, Wäschetruhe und das helle Viereck des unberührten Bettes neben sich.
Dem Mädchen fehlt die Frauenhand, sprach im Nebenraum Gerdas Stimme, die für Gunnar zuständig war.
Mama, antwortete er mühsam beherrscht, das geht dich nichts an. Lass mich in Ruhe.
Nein, sagte sie, lass ich nicht! Du verkommst und das Kind lässt du auch verkommen. Hast du dir die Söckchen angesehen, die sie heute anhatte! Zwei verschiedene! Ihr rennt rum wie die Hottentotten. Wenn ich schon eure Zotteln sehe!
Auf Zehenspitzen, damit die Dielen nicht knarrten, lief Irma zur Tür und öffnete sie. Durst! quengelte sie. Ich hab Durst.
Gerda Peters warf ihr einen unwilligen Blick zu: Nachts gibt es nichts zu trinken.
Ihr trinkt ja auch!
Auf dem Küchentisch standen leere Bierflaschen und ein Kräuterschnaps. Gunnar ging zum Waschbecken, ließ Wasser in ein Glas laufen und reichte es der Tochter.
Hier, ein ganzes Glas voll Gänsewein.
Ohne Hausschuhe bist du auch wieder. Die Frau zog eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie sich an. Du wirst dir Splitter einreißen.
Das Mädchen kugelte sich auf dem Schoß des Vaters zusammen. Er strich ihr mit der Hand über den Rücken.
Wir beide sind ein Herz und eine Seele, nicht wahr, Schmusekatze?
Nein, fuhr sie auf. Ich hab dir das Schnapstrinken verboten!
Ein seltsamer Ton gluckste aus seiner Kehle, die Schultern zuckten, die kleine Halbkugel über dem Gürtel - ein unaufhaltbares Lachen breitete sich im Körper des Mannes aus. Oh, stöhnte er und wischte sich die Tränen ab, ich kann nicht mehr. Sie hat es mir verboten!
Gerda Petersen versuchte, die Stirn zu runzeln, aber Irma sah, wie sie von der Heiterkeit des Sohnes angesteckt wurde. Schließlich lachte auch sie lauthals.
Mama! er tastete die Jeans nach einem Taschentuch ab. Kannst Du mir sagen, was ich mit einer Frau soll, wo mir doch schon meine Tochter alles verboten hat!
Mit finsterem Gesicht starrte Irma auf den Wasserfleck, den das Glas auf der Tischplatte hinterlassen hatte. Ich werde kein Stück lachen, dachte sie. Indianer müssen niemals lachen, wenn sie es nicht wollen. Sie lief zum Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Als das Mädchen wieder aufwachte, lag rings um das Bett Geld verstreut. Viele Pfennige, blanke Markstücke, goldene Zwanzigermünzen. Irma stand auf und sammelte sie ein. Es waren mehr, als sie in beiden Händen halten konnte. Plötzlich sagte eine Frau in ihrem Rücken: Das Geld gehört dir doch nicht!
Ich hab es gefunden, wollte sie sich verteidigen. Die Stimme versagte, nur ein Krächzen kam aus ihrer Kehle und schlagartig wurde Irma klar: Ich hab geträumt. Ich hab gar kein Geld gefunden.
Hinter den Gardinen zeigte sich bläuliches Morgenlicht. Das Bett neben ihr war noch leer. Sie drehte sich auf die Seite. In der Küche klapperte leise Geschirr.
Lass uns Schluss machen, hörte Irma die Großmutter sagen, gleich fängt die Amsel an zu brüllen. Wir beide kriegen die Welt heut doch nicht mehr verbessert.