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Begegnungen mit Menschen und Museen, Stierkämpfen und Klimakapriolen. Die Autorin arbeitet an einem biografischen Text zu Picasso und reist nach Spanien um zu erfahren, ob der berühmte Maler Spanier geblieben oder Franzose geworden ist. Oder Weltbürger — vielleicht. Sie will sehen, was Picassos Augen zuerst sahen, welche frühen Eindrücke das Kind und den jungen Mann bis zu seinem zwanzigsten Jahr prägten. Die Reise mit den Zügen der Spanischen Eisenbahn führt die Autorin vom südfranzösischen Perpignan, über Valencia und Barcelona quer durch die iberische Halbinsel nach Madrid, ins galizische La Coruna und nach Malaga, wo Picasso 1881 geboren wurde. Jutta Schlott begann ihre Recherche-Fahrt im März 2004, eine Woche nach den Terror-Anschlägen auf den Madrider Bahnhof Atocha, bei denen über zweihundert Menschen starben. Enttäuschungen und Bestätigung bei den Recherchen, die von Selbstzweifeln begleiteten Versuche, neue Erkenntnisse über den “Kontinent Picasso” zu gewinnen, werden in diesen sehr persönlichen Aufzeichnungen ebenso dokumentiert wie die damalige Stimmung im Land.
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Seitenzahl: 276
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Jutta Schlott
Spaniens Himmel
Auf den Spuren Picassos
Ein Reisetagebuch
978-3-95655-088-1 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 2009 im Wiesenburg Verlag Schweinfurth.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Peter Festersen
© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Ich gebe Nachricht und Rechenschaft von jedem Tag und meinem Leben hier, aber zuweilen wird es mir sauer zu schreiben, da man dadurch Zeit verliert und das Leben nicht genießen kann.
August von Goethe, Italienreise 1830, aus Neapel.
Länderkunde in der Grundschule, Mitte der fünfziger Jahre im ostdeutschen Selmsdorf, nahe Lübeck. Die Europakarte hängt über der Wandtafel: Der Löwe ist Skandinavien, Italien der Stiefel, der Kopf mit Kappe und Nase die Iberische Halbinsel. Der Kopf ist Spanien. Was willst du in Spanien? meint Bella. Eine Freundin und Kunsthistorikerin. Da war er doch nur als Kind. Er ist Picasso. Kindheit und Jugend gelten nicht als Lebenszeit von Belang.
Was will ich in Spanien? Ich will herausfinden, ob Picasso Spanier geblieben oder Franzose geworden ist. Oder Weltbürger - vielleicht. Ich will erfahren, was Picassos Augen zuerst sahen, welche frühen Eindrücke das Kind geprägt haben.
Vor einigen Monaten, im Oktober, fragte mein Lektor, der mich Ende der 80er Jahre beim Schreiben der Heinrich-Vogeler-Biografie betreute, jetzt Literatur-Agent, ob ich mir einen biografischen Text über Picasso zutraue. Einer der großen Verlage will eine Biografie-Reihe aufbauen. Das Lektorat verlangt Probeseiten, vor Weihnachten müssen sie abgegeben werden. Ich liefere termingerecht. Ich habe einen Zeitraum gewählt, einen Ort, an dem ich mich historisch relativ sicher fühle: Das Paris am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Picasso, blutjung noch, lebt unbekannt und bitterarm auf der “Butte” unterhalb von Sacre Ceur. Die zehn Probeseiten sind eingereicht und ich höre wochenlang - nichts. Weder vom Agenten, noch vom Verlag. Telefonische Nachfragen prallen an Anrufbeantwortern ab, meine Mails bleiben ohne Resonanz. Einstellen! Alles einstellen! Alles zurück! schreit der Lektor Anfang Februar ins Telefon. Der Verlag hat das Projekt verworfen, weil die Mozartbiografie sich schlecht verkaufte. (Zu Recht, ich kenne sie.) Der Verlag, keiner von den armen, zahlt mir keinen Cent für die Probeseiten, keine Aufwandsentschädigung.
Meine Faszination Picasso lässt sich nicht einfach einstellen. Die Arbeit ist begonnen - ich will sie zu einem Ergebnis bringen. Ein Stipendium vom Schriftstellerverband, das meine Fahrt- und einen Teil der Quartier-Kosten deckt, und ein kleines, nie angetastetes Erbe von meiner Mutter ermöglichen die Reise nach Spanien.
Zum ersten Mal gehe ich nicht allein auf Recherche. H.M.F, der Theatermann, der Schauspieler, und mein Lebensgefährte, begleitet mich. Er wird im Text Friderico genannt.
Meldung in den Sechsuhrnachrichten: In der Nähe von Osnabrück ist ein Güterzug entgleist, auf der Strecke, die wir via Paris passieren müssen. Friderico lamentiert: Eine Explosion! Die Strecke wird gesperrt. Katastrophenheini! spotte ich.
Für vier Wochen habe ich alles hinter mir gelassen, alles geordnet für die Zeit der Abwesenheit, bin begierig auf die Reise und will von Behinderung nichts wissen.
Vor den Fenstern Nebel, nichts als Nebel. Die Paulskirche, unser Gegenüber auf der anderen Straßenseite, ist im wabernden Grau verschwunden.
Im vollen Zug nach Hamburg missgelaunte Reisende, die meisten Pendler auf dem Weg zur Arbeit “in den Westen”. Der Nebel, immer dichter, verwehrt den Blick nach draußen.
Zeitungslektüre: Der Tag, an dem Christa Wolf 75 wird. Der Zeit ist das Jubiläum der Autorin keine Zeile wert, dem Neuen Deutschland immerhin eine ganze Seite. Ein Bericht über anderthalb Jahrzehnte Gesprächsrunden bei der Autorin in Berlin. Die Eingeladenen, auch die Journalisten, haben das “Schreibverbot” über diese Treffen respektiert. Jetzt wird die Runde eingestellt. Christa Wolf fühlt sich durch den monatlichen Termin zu sehr gebunden.
Zitat: “Älterwerden heißt: Alles geschieht, was du niemals für möglich gehalten hättest.” -
Meine erste Begegnung mit der Schriftstellerin Anfang der achtziger Jahre, Dorffest im Neddelrad, Landkreis Schwerin. Die Veranstalter organisierten einen Buchbasar und luden auch Christa Wolf ein. Ich hatte drei, vier ihrer Bücher mitgebracht, um sie signieren zu lassen. Uwe M., der Schauspieler, jünger als ich, den wir schon vor Jahren begraben haben, nimmt meine drei Kinder und geht mit ihnen Karussell fahren, damit ich ungestört mit der Autorin sprechen kann. Sie fragt mich, was ich mache, und ich traue mich zu antworten: Ich schreibe.
Noch gibt es - außer Gedichten - keinen veröffentlichten Text von mir. Christa Wolf scheint weder das eine, noch das andere zu wundern. Sie fragt nach meinen Themen, meinem Beruf.
Ich bin glücklich mit ihr zu sprechen, glücklich, dass sie mich ernst nimmt.
Bis heute erinnere ich mich meiner Irritation, dass Gerhard Wolf sie begleitete. Die Verehrte existierte damals in meiner Vorstellung offenbar ausschließlich als literarische Person, in familiärer oder häuslicher Bindung nicht denkbar. -
In Hamburg eine Stunde Aufenthalt. Früh um neun. Die Kneipen um den Bahnhof sind noch geschlossen. Am Kiosk ein Kaffee im Stehen. Die letzten Nachtschwärmer wanken davon. Der Zug nach Paris wird mit 80 Minuten Verspätung angekündigt. Folge des Unfalls, bei Osnabrück. Als wir in Köln ankommen, ist der Thalys, der französische Schnellzug, für den man Plätze buchen muss wie fürs Flugzeug, längst abgefahren. Ich hätte nicht spotten sollen.
Eine halbe Stunde Anstehen vor dem Fahrkartenschalter. Es gelingt, unsere Reservierungen für einen Zug, der in zwei Stunden fährt, umzubuchen.
Ein paar Schritte ins Freie. Köln, zwischen Hauptbahnhof und Dom, liegt im dunstigen Frühlingslicht. In den Cafés wenden Gäste das Gesicht der sanft vernebelten Sonne zu. Anna Seghers im Siebten Kreuz. Auch der Thalys kommt mit Verspätung. In Brüssel steht er ohne Ansage, ohne Angabe von Gründen, eine volle Stunde auf dem Bahnhof. Unsere Coupé-Nachbarin, eine junge Frau aus Neuguinea, die französisch und fließend deutsch spricht - mit ihren beiden Kindern verkehrt sie in einer Sprache, die wir nicht identifizieren können - hält uns auf dem Laufenden, was Mitreisende und Passanten draußen auf dem Bahnsteig über den ungeplanten Aufenthalt vermuten.
Die Kinder unserer Nachbarin, ein Mädchen und ein Junge, himmeln einen jungen Mann an, der vorm geschlossenen Zug-Bistro mit orangefarbenen Bällen jongliert. Sie stellen ihm “Aufgaben”, die er bereitwillig erfüllt. Der Anblick der Kinder lenkt ab. Im regungslosen Zug überfallen mich Momente des Unbehagens. Auch die anderen Fahrgäste scheinen nervös, angespannt.
Der Anschlag auf den Bahnhof Atocha in Madrid liegt erst eine Woche zurück. Zehn, fast zeitgleiche Explosionen von Sprengstoffbomben in den voll besetzten Vorortzügen im morgendlichen Berufsverkehr. Zweihundert Tote, Tausende Verletzte. Viele Kinder, viele Junge, Studierende, unter den Opfern. Apokalyptische Bilder, die über den Bildschirm ins Wohnzimmer fallen.
Gestern Abend riefen die beiden Töchter an. Eigentlich, um mir eine erfolgreiche und uns eine glückliche Reise zu wünschen. Ihre Sorge klingt durch, auch Unmut. Ob ich sie mit Gewalt zur mutterlosen Waise machen wolle, fragt die ältere. Die Ironie gelingt ihr nicht. Sie wird nicht annehmen, mich von meinem Entschluss zu reisen, wie es geplant war, abzubringen. Ich zitiere den sprichwörtlichen Brechtschen Ziegelstein, das immer Unvorhersehbare, das Imponderabile. Sie hält dagegen: Das Gesetz der Serie.
Allmähliche Umkehrung im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Ich fordere, wie ich einmal meine Mutter vor einer schwierigen Entscheidung bat: Gib mir deinen Segen! Jetzt seufzt die Tochter und sagt: Ihr habt meinen Segen. Dialog zwischen zwei atheistischen Seelen. Auf dem Bahnhof in Brüssel, im engen Zugabteil, in kleinlicher Ängstlichkeit gefangen, fühle ich mich von allen drei Kindern und ihrer Fürsorge schmerzhaft getrennt. -
Friderico versucht, sich mit Lesen abzulenken. Der 11. März bestimmt weiter die Schlagzeilen der Zeitungen. Der deutschen, in der Friderico blättert, der französischen, die ein Nachbar in den Händen hält.
Es gibt Warnungen vor neuen Anschlägen. Vor islamistischen Terroristen, die von den deutschen Medien sofort als Schuldige ausgemacht werden. In der Resolution 1530 allerdings, noch am Abend desselben Tages einstimmig vom Sicherheitsrat der UNO angenommen, die eine Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit formuliert, wird auf ausdrücklichen Wunsch der spanischen Diplomaten die ETA als Täter genannt. Wenige Tage später beschließt Spaniens Regierung - nun schon unter dem frisch gewählten Zapatero - den sofortigen Abzug ihrer Truppen aus dem Irak.
Endlich - der Zug rollt aus dem Bahnhof. Die Atmosphäre lockert sich. Das Bistro, in dem man leider nicht rauchen darf, wird geöffnet. Es duftet nach Kaffee. Die beiden Kinder haben sich neben ihrer graziösen Mutter in Decken eingekringelt und schlafen.
Statt wie geplant am frühen Nachmittag, erreichen wir kurz vor Mitternacht den Bahnhof Gare du Nord in Paris. Weiter zum Gare de Lyon, von dem wir morgen früh aufbrechen.
Im Dunklen, mit dem schnellen RER, durch den unterirdischen Bauch von Paris. Über mir die Stadt, in der Picasso vom Jungen zum Mann und zur Berühmtheit wurde. Die Stadt, wo Guernica entstand. Die Friedenstaube, die Brecht auf den Vorhang im Berliner Ensemble brachte ... Das Angelesene der letzten Monate drängt in mein Gedächtnis: Die Butte, Braque, Fernande, das Frauengefängnis von St. Lazare. Gertrude Stein, die Freundes - Bande, die Clique der frühen Jahre. Apollinaire, Prévert, Francoise... Nein, bleibt fort - noch nicht. Ihr seid noch nicht dran. Der Reihe nach. Erst dorthin, wo er geboren ist - Pablo, Paolo, Pablito - das Kind.
In der Rue d’ Aligre, fast gegenüber vom Bahnhof, buchen wir ohne lange Preisvergleiche ein Zimmer in einem kleinen, günstigen Hotel. Wir fahren seit fünfzehn Jahren ohne Vorbestellung. In Frankreich gibt es in der Nähe der Bahnhöfe meist etliche alte, billige Hotels. Die Preisliste der Zimmer hängt, anders als in Deutschland, überall deutlich sichtbar in den Fenstern.
Ich zahle im Voraus; der Zug nach Montpellier fährt morgen schon vor der Frühstückzeit.
Unser Proviant ist durch die verlängerte Reise längst verzehrt. Schnell noch etwas essen gehen.
Die Straßen um die Gare de Lyon gelten als kulinarisches Eldorado: Arabische Küche, spanische, amerikanische, französische Lokale mit regionalen Gerichten. Wir haben das Quartier bei früheren Parisbesuchen durchforstet, mal probiert, mal nur die Speisekarten inspiziert. Jetzt verfolgen wir, der späten Stunde geschuldet, unsere Taktik der ersten Gelegenheit. Ein chinesisches Restaurant in Nebenhaus. Auf meine Frage, ob wir noch eine Kleinigkeit bekommen, antwortet der Kellner: Yes. Quickly!
Aus der Flasche Wein, die wir uns zum Essen bestellt haben, werden die Gläser nach jedem Schluck nachgefüllt. Quickly-quickly! ermuntert uns lächelnden Auges der Wirt. Nach knapp einer halben Stunde stehen wir wieder auf der Straße. Hinter uns fallen rauschend die Jalousien herab.
In vier Stunden klingelt der Wecker. Aber wir sind in Paris. Eine Frühlingsnacht in Paris. Wenigstens einmal ums Carré. Die Straßen belebt, die Schaufenster illuminiert, Liebespärchen flanieren ... Als die Mauer in Berlin noch stand, habe ich einem Freund erzählt, was ich - in ferner, ferner Zeit, die ich für mich nicht mehr erlebbar hielt - aus dem Grenzstreifen machen würde: Eine grüne Taille um die innere City, ein Parkgürtel, in dem sich friedlich und von Laub beschattet wandeln lässt.
In Paris, im 12. Arrondissement, wurde mein Vorschlag angenommen. Ein altes backsteinernes Viadukt für die Bahnstrecke zum Gare de Lyon (oder Austerlitz?), das ich 1991, längst stillgelegt, als Zeugnis aus der Zeit der Dampflokomotiven fotografierte, wurde Ende der neunziger Jahre in eine Grünanlage umgestaltet. Ein Park auf steinernen Beinen. Im vergangenen Sommer haben wir ihn besucht und bewundert. Ein Musterbeispiel der Kunst französischer Stadt-Gestalter, einen Park öffentlich und kommunikativ einzurichten und gleichzeitig intime Plätze, Reservate fürs Private zu schaffen. Jetzt liegt das Musterbeispiel unbeleuchtet und verschlossen, wie alle französischen Parks, wenn es dunkel wird. Ich weiß, dass der Stadt-Garten nach einem Schriftsteller benannt ist, aber sein Name ist mir entfallen. Schließlich finden wir direkt am Zugang der Rue d’Alegri das Schild: Jardin Hector Malot, Écrivain (1830-1907).
Er herrscht doch das Gesetz der Serie. Die TGV in Frankreich, die schnellsten Züge und so pünktlich, dass man nach ihnen die Uhr stellen könnte, haben offenbar ihre Unfehlbarkeit verloren. Der TGV nach Montpellier hält mehrmals auf freier Strecke, schließlich rührt er sich eine geschlagene Stunde nicht vom Fleck. Draußen, vor den Fenstern, beidseitig hohe Maschendrahtzäune, die Tiere vor dem rasenden Ungetüm schützen sollen - oder umgekehrt. Aus den Zuglautsprechern kommt mehrmals, französisch und englisch, die Mitteilung, dies sei: Ein Aufenthalt zu Ihrer Sicherheit.
Anders als bei der Deutschen Bahn arbeitet bei Stillstand die Klima-Anlage in den Wagen weiter, man kann atmen, ohne nach Luft zu ringen. Manchmal tauchen auf den Wällen, zwischen denen die Gleise liegen, Männer in Overalls mit technischen Geräten auf. Die Medien sind voll mit Spekulationen, dass nach dem Anschlag auf Atocha zum Oster-Reiseverkehr weitere Attentate folgen werden.
Besser auf der Strecke bleiben, als in die Luft fliegen, witzelt Friderico. Fünf Wochen später, wieder in Schwerin, lese ich im Internet: “An der Strecke Paris - Montpellier wurden am 19. März mehrere Sprengsätze entdeckt und entschärft.” Ob vor unserem Zug - ich weiß es nicht und will es nicht wissen. -
Picasso reiste nicht gern. Vor dem Fliegen fürchtete er sich. War er doch unterwegs, konnte er sich vollkommen in die andere Lebensebene, in diese Existenz in nuce, hineinbegeben. Eine Nachkriegsreise nach Polen, nach Wroclaw, wohin ihn Ilja Ehrenburg zu einem internationalen Friedenskongress eingeladen hatte, sollte drei Tage dauern. Picasso blieb fast drei Wochen. Er hatte seiner Frau - in diesen Jahren die Malerin Francoise Gilot - versprochen, ihr jeden Tag einen Brief zu schreiben. Was nach meinen Erfahrungen an der Realität eines Kongresses vorbeigeht. Die Gilot erhielt keinen einzigen Brief, dafür täglich Telegramme, in einem Stil, der nicht vom Meister stammen konnte und die nicht mit Pablo, wie er sich nannte, sondern mit Picasso unterschrieben waren. Der umschwirrte, viel beschäftigte Kongressteilnehmer hatte seinen Begleiter, Marcel Boudin, das Verfassen der Telegramme überlassen. Picasso rief auch nicht an - er gab einfach nicht Laut. Jugendliche Unbekümmertheit, kann ihm kaum unterstellt werden. Er war damals Mitte sechzig. Das Unterwegs-Sein als Möglichkeit temporärer Autonomie.
Die erboste Francoise Gilot soll Picasso bei seiner Ankunft in Südfrankreich auf La Galloise, ihrem gemeinsamen Anwesen, mit einer Ohrfeige begrüßt haben. Danach schloss sie sich bis zum nächsten Morgen mit dem kleinen Sohn Claude in ihrem Zimmer ein. So hat sie es im Erinnerungsbuch “Leben mit Picasso” beschrieben. -
Wir, auf unserer Reise nach Süden, kommen nur zwei Stunden später als geplant in Montpellier an. Auch hier ist der Anschlusszug längst entschwunden. Der nächste Intercity fährt am späten Nachmittag, erklärt die Frau hinterm Office, die zum Glück englisch spricht. Eine Regionalbahn ginge schon in anderthalb Stunden. Wir entscheiden uns für die zweite Variante.
Drei Stunden Zeit für Montpellier. Der Bahnhof wenig einladend. Gesessen haben wir lange genug. Auf in die City.
Unser Gepäck müssen wir auf den Stadtgang mitschleppen. Seit dem Attentat auf einen Pariser Bahnhof Anfang der neunziger Jahre sind nicht nur die Papierkörbe, sondern auch die Gepäckfächer in allen französischen Bahnhöfen verschweißt. Die großen Stationen haben mittlerweile wie auf Flughäfen Kontrollstationen vor den Fächern eingerichtet, in der das Gepäck durchleuchtet wird. Dergleichen existiert in Montpellier nicht. Wir traben, eine Tasche gebuckelt, eine Tasche im Schlepptau, die Magistrale entlang zu einem erhöhten Platz, der sich am Ende der Straße auftut.
Auf dem Platz - von allen Seiten strömen Menschen herbei - formieren sich in Weiß gekleidete Frauen und Männer zu einer Kundgebung gegen die Gesundheitspolitik der Regierung. Stilles Aufbegehren: Keine Trillerpfeifen, keine Lautsprecher, keine Sprechchöre. Die Demonstranten halten Transparente mit Statistiken und Berechnungen in die Höhe. Per Hand gemalte und gezeichnete Zettel mit persönlichen Statements. Über der Szenerie, entlang des Trottoirs, blühen in sattem Lachsrot Bäume, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Sie umrahmen die Menschenmenge und lassen den Anblick der Protestierenden ins Unwirkliche entrücken.
Der schöne Hauch von Fremde zerstiebt Sekunden später, als wir uns zum Bahnhof zurückwenden. Überdimensionale Plakate werben für zwei Supermärkte, die man auch in deutschen Städten nicht übersehen kann. Der Bummelzug, in den wir steigen, ist kaum besetzt. So können wir eine halbe Stunde später ohne jemand zu stören, aus dem geschlossenen Abteil auf den Gang stürzen und wieder zurück, von der rechten Seite auf die linke, von der linken auf die rechte - im Wortsinn hin- und hergerissen von der Landschaft, die vor den Fenstern vorbeigleitet. Die Bahnlinie führt dicht an der Küste vorbei, der Küste des Golf de Lion. Aber der Zug fährt nicht nur am Wasser, er fährt auch im Wasser, auf einem schmalen Podest, einen halben Meter über dem Meeresspiegel. Rechts und links im Wasser stehen Flamingos. Sie seihen, ungerührt vom gemächlich dahinzuckelnden Zug, mit ihren Schnäbeln die Wasseroberfläche nach Nahrung durch. Neben ihnen, auf Buhnen, auf Pfählen - schneeweiße Kuhreiher, reglos auf grazilen Beinen. Nicht zehn oder zwanzig Vögel: Hunderte rosa Federwölkchen, Hunderte weiße. Mit großzügiger göttlicher Geste auf das Azurblau des Mittelmeers geworfen. -
Der Bahnhof von Perpignan befindet sich etwas außerhalb der Stadt. Es ist merkwürdig still bei unserer Ankunft. Kein einziges Taxi auf dem Vorplatz. Wir rollern mit dem Gepäck in Richtung City. Kaum Menschen auf der Straße; Kneipen und Cafés geschlossen. Nur vor einem arabisch anmutenden Lädchen, einem langen, engen Schlauch, der im Dunkel der Regale endet, döst ein schwarzhaariger Mensch vor seiner altmodischen Kasse.
Man sei immer etwas verlegen, wenn man an einen fremden Strand kommt, meint Bertolt Brecht in seiner Oper “Mahagonny”, man wisse nicht, wohin man gehen soll, wen man anbrüllen dürfe und vor wem man den Hut ziehe ...
In Frankreich, wissen wir aus Erfahrung, ist man sehr verlegen, wenn man an einem Sonntag oder einem Feiertag in eine fremde Stadt kommt. Sie liegen apathisch, wie ausgestorben vor dem unbehausten Gast. Perpignan ist seit Mitte des 17. Jahrhunderts französisch, es ist katholisch, es ist katalanisch und heute, am 19. März, wird der Tag des Heiligen Joseph begangen. Ein Feiertag. Wir sind aus Unkenntnis in die Falle getappt. Den Ausschlag, dass wir uns im “Hotel de la Poste et de la Perdrix” einmieten, gibt außer dem günstigen Preis die wunderbare, rot-weiß geäderte Marmortreppe und das Ambiente ancienne. Nichts Aufgemutztes. Alles Mobiliar, alle Dinge stehen so selbstverständlich und gelassen an ihrem Ort, als würden sie seit Hunderten von Jahren mit abgeklärtem Blick das Tun der Reisenden betrachten.
Von unserem Zimmer in der ersten Etage hängt auf dem gegenüberliegenden Balkon ein langes, rotes Frauenkleid und leuchtet in der Abendsonne.
Madame Perdrix, wie ich sie nach dem Namen des Hotels für mich nenne, erhebt sich, als wir den Frühstückssalon betreten, und lächelt uns an. Selbstsicherheit, Charme, ein bisschen Koketterie, Freundlichkeit und Neugier - alles in einer winzigen Hebung der Mundwinkel. Wie nur eine Französin lächeln kann. Ihr Anblick tröstet über das Petit dejeneur, das leidige, ewig gleiche französische Hotel-Frühstück hinweg: Butter, Marmelade, Croque. Aber Kaffee, soviel man trinken mag und angewärmte Milch.
Nachdem Madame Perdrix uns versorgt hat, setzt sie sich wieder an ihr Tischchen, zum Strickzeug aus knallrosa Wolle und der zusammengefalteten Zeitung. Perdrix bedeutet Rebhuhn, sagt mir das Wörterbuch. Madame gleicht einem zierlichen, wohlgestalten Hühnchen. Kaum mehr als anderthalb Meter groß im leicht taillierten, maßgeschneiderten Kostüm, ein weißes Krägelchen auf dem Revers. Dezenter Schmuck, aus Gold natürlich. Die Haare tadellos frisiert, nicht irgendeiner Mode gemäß, sondern so, dass sie die schöne Eigenartigkeit des Gesichtes von Madame Perdrix aufs Vorteilhafteste zur Geltung bringen. Von ihrem Stuhl aus kann sie auf die kleine Passage vor dem Hotel sehen; bisweilen wirft sie einen freundlich aufmerksamen Blick auf uns, ihre einzigen Frühstücksgäste. Und lächelt. -
Gleich neben unserem Hotel, vor der Halle des großen Marché, sind Marktstände mit Obst und Gemüse aufgeschlagen. Im Innern des Marktes zwei Fleischereien, ein Fischgeschäft, Gewürzhändler, Geflügel- und Eierstände. Angebote von barocker Pracht. Jede Sardine, jedes Röllchen Ziegenkäse, jedes Hühnerbrüstchen wird durch achtungsvoll-ästhetische Präsentation zur Delikatesse geadelt. In einer Ecke, ein bisschen schummrig ist es dort, zapft ein alter Mann den Kunden Wein vom Fass in ihre mitgebrachten Gefäße. Er sieht uns aufmunternd an.
Aucune bouteille - keine Flasche, radebreche ich achselzuckend. Er greift hinter sich und füllt uns einen Liter vom Roten in eine Vitel-Wasser-Flasche.
Mit Salat, Radieschen, Öl, Zitronen, dem obligatorischen Baguette, mit ein bisschen Käse und Schinken für unsere Selbstversorgung verlassen wir die Halle.
Bei allen längeren Reisen gehört zu unserer Standard-Ausrüstung ein Kästchen aus Leichtmetall. Sein Inhalt: Ein scharfes Universal-Küchenmesser, ein daumengroßer Büchsenöffner aus DDR-Zeiten, zweimal Besteck, zwei Plasteteller und eine Schüssel. Dazu ein Minimum an Gewürzen: Pfeffer, Salz, Paprika, das unschlagbare Lammgewürz vom Türken aus der Berliner Wollankstraße. Gekörnte Brühe, Curry, Knoblauchpulver. Geschirrtücher und Servietten.
Die Selbstversorgung ist finanzielle Notwendigkeit. Wenn ich gut wirtschafte, können wir einmal am Tag, besser am Abend, eine Kleinigkeit essen gehen. Das genießen wir - im doppelten Sinne. Selbst wenn wir uns dreimal am Tag etwas vorsetzen lassen könnten, möchte ich die kleine Reise-Küche nicht missen. Sie macht unabhängig, schafft einen Hauch von Häuslichkeit in der Fremde und gibt hinreichend Vorwand, etwas kaufen zu müssen von der appetitlichen Fülle der Marchés ...
Zum Palast der Könige von Mallorca, dem Palais des Rois de Majorque in Perpignan, muss man bergan und treppauf, hoch zum Puig del Rey. Die Könige des Inselstaates hatten den Palast im 13. Jahrhundert bauen lassen, um auch auf dem Festland mit der ihnen angemessenen scheinenden Repräsentanz vertreten zu sein. Das Schloss, später von der Zitadelle, einer Festung, umbaut - wurde in den Jahrhunderten, die folgten, zum Zankapfel zwischen sizilianischen, katalanischen und französischen Machtansprüchen.
Die ehemalige Monarchenwohnstätte sollte bis Mitte des 20. Jahrhunderts als Kaserne dienen, teilt der deutschsprachige Flyer den Touristen mit. Ich bin auf den Haupt-Turm geklettert, weil ich überprüfen will, ob Picasso von hier, von Perpignan, wie Zeitzeugen berichten, voller Heimweh nach Katalonien, zu den Pyrenäen, hinübergesehen hat. Über die Grenze nach Franco-Spanien, in das ihm die Einreise verwehrt war. Nie hätte und hat sein Stolz es ihm gestattet, bei den Faschisten um ein Visum, einen Pass zu bitten.
Picasso hat sich in den Sommern 1953 und 1954 in der Stadt aufgehalten. War die Burg der Majorquinischen Herrscher damals noch Kaserne, war sie es nicht? Die Pyrenäen kann man auch vom Ufer des Tet sehen, der durch Perpignan rieselt. Von hier oben ist der Anblick der Berge unvergleichlich imposanter.
Auf der Aussichtsplattform, auf der Brüstung des Turmes, sind farbige Keramikplatten eingelegt, die den Besuchern erklären, auf welchen Stadtteil, welchen Berg, welche Bucht der Küste ihr Blick fällt.
St. Cyprien lese ich, dem gemalten Horizont zu, in Richtung Südosten. Zeitgleich dreht ein Lautsprecher in meinem inneren Ohr dröhnend die Stimme von Ernst Busch auf:
Abschied von Spanien - Letztes Lied der XI. Internationalen Brigaden.
Geschrieben und Gesungen im Internierungslager Lager St. Cyprien
Von den hohen Pyrenäen lasst uns noch ein letztes Mal
über Wald und Feld und Tal in das Land hinuntersehen.
Teures Land zu unsren Füßen, edles Spanien, lass dich grüßen
wo wir kämpften Tag und Jahr, Spanien, das uns Heimat war.
Nie wird dich vergessen Schöne, wer für deine Freiheit stritt,
all die Liebe deiner Söhne tragen wir im Herzen mit ...
Mir schießen Tränen in die Augen. Ein Lied, das ich seit Kindertagen kenne. Das Lied, das Reinhard Weißbach, mein Mentor auf den Schweriner Poetenseminaren, zum Mitsingen anstimmte. Das Lied, das wir am Ende manches Theater-Kantinen-Abends in die Nacht schmetterten - im eitlen Bewusstsein, uns der Linie dieser stolzen, solidarischen, internationalistischen Tradition zurechnen zu dürfen. Ein Lied der Zukünftigen, der Siegreichen.
Hier oben, auf der Festung der Könige von Mallorca, höre ich es als das, was es ist: Ein Lied der Verlierer, der Besiegten. Ein letzter trotziger Aufschrei. Auf ganz andere Weise gehöre ich wieder zu ihnen, den Geschlagenen des Spanienkrieges von 1939. Als eine der Besiegten, der Verlorenen des ostdeutschen Aufbruchs vom Jahr 1989. Ach.
Die Touristengruppe ist in ihren Bus gestiegen, die beiden alten Damen, die wir beim Eingang trafen, sind mit ihren Rädern davon geradelt. Allein, winzig im riesigen Innenhof, sitzt Friderico auf einem Stein und liest. Er merkt meinen Stimmungswandel. Ich kann jetzt nicht erklären, was mich oben auf dem Zitadellenturm ereilt hat. -
Durch die engen Gassen unterhalb der Festung zurück in die Stadt. Die Bürgersteige so schmal, dass man nicht auf ihnen gehen kann. Parkende Autos stehen mit zwei Rädern auf der Straße, mit den anderen beiden direkt an der Hauswand. Die Häuser sehen nicht aus, als wenn hinter ihren Mauern viel Komfort zu erwarten wäre.
Es ist Samstag. Vor den Fenstern hängt die Wäsche zum Trocknen; bunte Laken, Jeans, Slips, Tischdecken und Handtücher. T-Shirts in knalligen Farben.
Das Leben findet auf der Straße statt. Die steinernen Treppen als Bänke. Ein junges Mädchen kämmt einem anderen hingebungsvoll das lange schwarze Haar. Ein unrasierter Alter mit schlechten Zähnen spuckt Hülsen von Sonnenblumenkernen auf das Pflaster. Die meisten hocken dicht an dicht und schwatzen miteinander. Das Flair ist nicht französisch, wie in anderen Städten im Süden von France - auch nicht die Sprachfetzen, die wir aufschnappen. Eine andere Fremde. Vielleicht katalanisch, vielleicht schon nordafrikanisch.
Zwei Halbwüchsige starten auf einem einsitzigen Moped die Gasse bergan. Ohrenbetäubend donnert der Krach der überlasteten Maschine gegen die Mauern. Außer mir scheint es niemand zu stören. Unzählige Kabel - deren Funktion ich nicht deuten kann - sind in Höhe der zweiten Etagen von einer Straßenseite auf die andere gespannt. Verwilderte Haustauben hocken in Scharen auf den luftigen Schaukeln.
Rechter Hand tut sich der Blick in eine noch engere, gänzlich menschenleere Gasse auf. An ihrem Ende, hinter einer Kurve, verschwinden zwei stattliche Männer im Dunkel der Straßenschlucht. Jeder der beiden führt ein winziges Schoßhündchen am Gängelband.
Unten, in der Innenstadt, auf einer Platanen-Promenade langweilen sich am späten Nachmittag die Verkäufer auf dem fast leeren Antique-Markt. Schränke, Tische, Stühle und Konsolen. Alte Möbel und auf alt getrimmte. Fleckige Spiegel geben das Bild der blühenden Palmen-Reihe hinter den Platanen wieder. Der Platz heißt: Bir Hakeim. Nie gehört, kein Eintrag in den Reiseführern.
Zu Hause klärt mich Wikipedia auf: Bir Hakeim - eine Wüstenoase in Libyen, Schauplatz der Schlacht von Bir Hakeim im Mai und Juni 1942, in dessen Folge freifranzösische Truppen den Vorstoß der deutschen Rommel-Truppen aufhielten. Die Schlacht von Bir Hakeim gilt heute bei den Franzosen als Geburtsstunde des France Libre.
Auf dem Weg ins Hotel, in den weniger aufgeräumten Straßen, hängen reife, gelbe Zitronen aus den Gärten bis auf die Gehwege. Mandarinen und Kumquats daneben. Seit meiner Reise in den Irak, Ende der achtziger Jahre, habe ich keine Südfrüchte mehr reifen sehen. Ich widerstehe der Verlockung, mir eine Zitrone abzupflücken, wie damals im Garten der DDR-Botschaft in Baghdad. -
Nächtlicher Nachsatz: Kalendarischer Frühlingsanfang - mein Vater hätte heute sein neunzigstes Jahr begonnen. Siebenundfünfzig hat er nur erlebt. Heinz Köbschall - einer der vielen Neulehrer, die als junge, vom Faschismus relativ unbelastete Menschen anstelle der entlassenen Nazi-Lehrer in der Sowjet-Zone eingesetzt wurden. Als er anfing zu unterrichten, war er - wie die meisten dieser Pädagogengeneration - selbst noch Student und seinen Schulkindern im Russischen oft nur um eine Lektion voraus.
Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre arbeitete mein Vater als Lehrer im Kirchdorf Friedrichshagen nahe Grevesmühlen. Die meisten Kinder gingen bei Wind und Wetter vier, fünf und mehr Kilometer zur Schule und wieder zurück. Beim langen Laufen wurden die schweren Ranzen mit Schiefertafel, Griffelkasten und Büchern zur Last. Mein Vater unterbreitete dem Mecklenburgischen Bildungsministerium in Schwerin einen Verbesserungs-Vorschlag: Die Kinder - zwischen sechs und zehn Jahren alt - sollten nur das Lesebuch im Ranzen tragen. Alles andere Material in Form von Merkblättern und Heften. Er wollte seinen Schulkindern, die oft mit leeren Mägen lostrabten, im Wort-Sinn das Leben erleichtern.
Der Antrag des Neulehrers wurde als “Angriff auf die sozialistische Bildungspolitik” ausgelegt. Unsinnige Verdächtigungen wiederholten sich, es gab Strafversetzungen, Maßregelungen, Parteiverfahren. Am Ende seines Lebens - inzwischen längst Fachlehrer für Mathematik und Geschichte - sah er für sich als Pädagogen nur noch eine sinnvolle Arbeit: Kindern in den ersten Klassen Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Heinz Köbschall starb an Lungen-Krebs; zu seinem frühen Sterben hat tiefe Verbitterung ihr Teil beigetragen.
Als mein Vater starb, wusste ich seit einer Woche, dass ich mit meinem dritten Kind schwanger war. Trauer habe ich in den neun Monaten nicht zugelassen. Wenn ich ihr Nahen spürte, habe ich mir - lautlos und hörbar - gesagt: Du darfst dich nicht aufregen. Sei vernünftig - denk an dein Kind. Weinen konnte ich nicht, nicht eine Träne.
Die wirkliche, unerledigte Trauer überfiel mich viele Jahre später, als mir ein Buch in die Hände kam, das mir mein Vater ohne Anlass geschenkt und gewidmet hatte. Es hieß: Ein langes glückliches Leben. -
Mit der Trauer kam das Bedürfnis, eher ein Pflichtgefühl, die Geschichte meines Vaters, die exemplarische Geschichte eines Neulehrers in Mecklenburg, aufzuschreiben. Mehrere Ansätze zu einer größeren Erzählung misslangen. Nur im Hörspiel “Uschidelniza”, Anfang der achtziger Jahre geschrieben und produziert, ist ein Quäntchen von dieser Zeit und meinen frühen Kindheitserinnerungen eingefangen. Wenn ich das Alter meines Vaters erreicht hätte, würde ich es schaffen, über ihn zu schreiben, dachte ich als Dreißigerin. Jetzt bin ich zwei Jahre älter als mein Vater bei seinem Tod. Die Selbst-Verpflichtung blieb bisher unerfüllt.
Wahlsonntag in Frankreich. Die Abgeordneten für die Departements und die Kommunen kandidieren. Im Rathaus sind zwei Wahllokale eingerichtet.
Die vier schmiedeeisernen Gittertüren zum quadratischen Innenhof des Hotel de Ville stehen weit offen, auch für neugierige Zufallsgäste wie Friderico und mich. Früh, kurz vor zehn Uhr, herrscht wenig Betrieb. Zwei alte Frauen sprechen miteinander, ein dunkelhäutiger Mann im Anzug bindet sich einen Schnürsenkel zu.
Wir betrachten zwei überlebensgroße Frauen-Statuen von Maillol, dem Sohn der Stadt, wie ein Flyer ihn nennt. Beide Figuren füllig, in sich ruhend. Die Sitzende, La Meditéranée, in der Mitte eines Brunnens platziert. -
Vor der Kathedrale Saint Jean in der Stadtmitte, von einem filigranen schmiedeeisernen Glockenturm gekrönt, stehen Bettler. Vor dieser Tür sind es ausschließlich Männer. Jeder Ankommende wird höflich begrüßt. Die Haltung der Bettler ist frei von Demut, Unterwürfigkeit oder Klage. Sie begegnen denen, die geben sollen, auf derselben sozialen Ebene. Manche haben Pappbecher mit, andere kehren einfach die offene Hand nach oben. Die meisten Kirchgänger halten Münzen parat. Ein paar Worte, Floskeln, werden gewechselt. Ritualisierte Vorgänge. Man kennt sich.
Wir müssen in keine Kirche und können den Sonntagvormittag verbummeln.
Im Hof des Musée des Baux-Arts Hyacinthe Rigaud hört man - irgendwo in der Nähe, irgendwo im Freien - einen unsichtbaren Chor singen. Auf Französisch schallt es durch den Frühlingsmorgen: Oh Tannebaum, oh Tannebaum, wie grün sind deine Blätter ...
Im Musée Rigaud, benannt nach dem berühmtesten Porträt-Maler des Ancien-Regimes Hyacinthe Rigaud (1659-1743), der in Perpignan geboren wurde und in Paris am Hof Karriere machte, weiß ich drei Picassos. Es sind Porträts von Madame de Lazerme in katalanischer Tracht, Mitte der Fünfziger Jahre entstanden. Madame de Lazerme und ihr Mann hatten Picasso eingeladen. Die Konterfeis waren sein Dankeschön an die Gastgeber.
Die Bilder hängen dicht an dicht, kein Abstand zwischen den Rahmen. Die Picassos sind hier keine Attraktion. Nicht exponiert präsentiert, nicht einmal eine Aufsicht im Raum, die verhindern könnte, dass man zu dicht an die Bilder tritt oder sie gar stiehlt.
In einer Glas-Vitrine erkenne ich eine handgroße, tönerne Figur von Manolo Hugué, das erste Original, das ich sehe.
Manolo, Picassos Jugendfreund, hatte den Kontakt zu den Lazermes vermittelt und Picassos Aufenthalt in der Stadt arrangiert, so steht es bei Penrose. In meinen Notizen zwei unterschiedliche Angaben über das Todesjahr Manolos: 1945 im Brockhaus und 1953 bei Penrose. Jedenfalls lebte er nicht mehr, als Picasso sich in Perpignan einquartierte. Penrose, der frühe Biograf, der noch Fernande Olivier gekannt und befragt hat, berichtet viel Wunderliches über das Original Manolo Hugué, in der Kunstgeschichte meist nur unter seinem Vornamen verzeichnet. Die Freundschaft zwischen den beiden Künstlern begann in Barcelona. Manolo, Sohn eines Offiziers, der im Spanischen Cuba-Krieg kämpfte, wollte um keinen Preis eine Waffe in die Hand nehmen. Der sogenannte Cubakrieg war eine militärische Auseinandersetzung zwischen den USA und Spanien. Er dauerte vom April bis August des Jahres 1898. Pazifist Manolo floh vor dem Wehrdienst nach Paris und kehrte erst 1927 nach einer offiziellen Amnestie für “Deserteure” nach Katalonien zurück, nach Céret.
Manolo soll Picasso bei seinem ersten Parisaufenthalt in den Cafés auf der Butte als seine Tochter eingeführt haben, was für einige Heiterkeit sorgte. Falls er das auf Französisch tat, wird ihn der Freund vielleicht nicht verstanden haben. Picasso wird in der ersten Pariser Zeit als sehr schweigsam beschrieben, was vermutlich mit seinen mangelnden Sprachkenntnissen zu erklären ist. -
Anfang der 50er Jahre, in der Trennungsphase von Frangoise Gilot, als alte Freunde starben - Matisse, Fernand Leger - als Picasso sich einsam fühlte, weil er seine Generation zu überleben begann, sollen sich Totote, die Witwe Manolos und deren Tochter, um “Picassos Haushalt gekümmert” haben. So jedenfalls Roland Penrose. Was ich, bei allem Respekt, zu bezweifeln wage. Picasso hasste nichts mehr als “Aufräumen”, Staubwischen, Saubermachen und jede andere Einmischung in seine Sphäre. Er wird nicht zwei relativ fremde, sich “kümmernde” Frauen bei sich geduldet haben.
Sprachbarrieren verhindern meine Nachfragen nach Manolo, dem Bildhauer, dem Witzbold, dem lebenslangen Freund. Meine Hoffnung, dass im Museum jemand englisch spricht, erfüllt sich nicht. Es ist Sonntag, in der Verwaltung wird nicht gearbeitet. Der Mann und die beiden Frauen, die hier Aufsicht führen, sind keine Kunstwissenschaftler, natürlich nicht.
Gelassen hören sie mein französisches Kauderwelsch an und zeigen auf drei Fenster in der oberen Etage des Innenhofes - gegenüber vom Eingangstor - hinter denen Picasso gearbeitet, geschlafen und gegessen habe, wie mir die männliche Aufsicht gestikulierend bedeutet.
Ich halte den Dreien fragend meinen Fotoapparat entgegen - oui! oui! Ich darf. Eine der Frauen hebt den Schminkspiegel, vor dem sie gerade ihr Make-up aufgefrischt hatte, vom Fenstergriff und öffnet beide Flügel, damit ich nicht durch das Glas fotografieren muss.
Die Räume, in denen Picasso gewohnt hat, lassen ausschließlich den Ausblick auf den quadratischen Innenhof mit dem Brunnen an der Wand und den steinernen Blumenbänken entlang der Mauern zu. Die Rückfront ist vermauert, vergewissere ich mich. Auch von hier kein Blick auf die Pyrenäen.
Eine Büste von Hyacinthe Rigaud in wallender Perückenpracht schmückt den Hof. Außer uns hat in der Stunde vor Mittag niemand das Museum besucht. Es ist still, der Chor verstummt. Alles atmet sanfte, abgeklärte Melancholie. Ein Refugium zum Arbeiten, zum Innehalten hinter den kühlenden Mauern - und abends lädt das Ehepaar Lazerme den einsamen Picasso zum Essen ein ...
Nein, so stimmt es nicht. Die drei kleinen Zeugnisse von Picassos Anwesenheit in Perpignan und das Gebäude in der stillen Seitenstraße suggerieren ein falsches Bild. In den beiden Sommern der Jahre 1953 und 1954 sind - wenigstens zeitweise - Picassos Kinder, der erwachsene Sohn Paul und Maya in der Stadt. Auch Claude und Paloma. Und deren Mutter Francoise Gilot.
Vor allem aber trifft Picasso hier Jaqueline Roque wieder, die seine letzte große Liebe, die seine letzte Frau werden wird. Hier in Perpignan, zumindest innerlich, wird die Trennung zwischen Francoise und Picasso vollzogen. Eine Zeit voller Spannungen und Krisen.
Der berühmte Mittsiebziger ist wie überall in den letzten Jahrzehnten auch in Perpignan ein Mann der Öffentlichkeit. Die Kommunistische Partei in Céret, dem benachbarten Städtchen - wo Manolo vor dem Ersten Weltkrieg lebte - veranstaltet dem Meister zu Ehren ein Fest. Céret, am Fuß der Französischen Pyrenäen, liegt so nah an der spanischen Grenze, dass sich die Bewohner vermischten. Sie sind von unterschiedlicher Staatsangehörigkeit, aber diesseits und jenseits der Schlagbäume vor allem Katalanen. Picasso fühlt sich unter seinesgleichen. Er besucht Stierkämpfe, eine seiner Leidenschaften ... Empfängt in der Rue de l’Ange zahlreiche Freunde, schreibt ein Biograf. In der Rue de l‘Ange Nummer 16 steht das Musée Rigaud. -
Außer meinen handgeschriebenen Notizen für jede Stadt, jeden Lebensort Picassos in Spanien, habe ich ein paar Internet-Ausdrucke bei mir. Der für Perpignan gibt mir “in automatischer Übersetzung” zu wissen: Hier in der Rue de Sant Vicens findet Picasso wieder ambiance und die Kreativität der von Vallauris und amitie und Familie Töpfer von Firmin Bauby ... In meinen Aufzeichnungen, ebenfalls etwas vage, steht: Im Sommer 1953 hatte Picasso geplant, mit Bauby Keramiken für den Friedenstempel in Vallauris zu arbeiten, im Folgejahr nahm er das Vorhaben wieder auf.
Die Rue de Sant Vicens liegt weit außerhalb des Zentrums. Wir gehen an Einfamilienhäusern mit Gärtchen vorbei, an Altneubauten hinter Pinien und Zedern. Rosen blühen und Crassulae. Die Farbenpracht blühender Schwertlilien mitten im März entzückt mein mecklenburgisches Auge.
Die Straßen sind sehr spärlich ausgezeichnet. Mein Stadtplan gibt die Gegend, schon ländlichen Charakters, nicht mehr her. Sinnlos, weiter herumzuirren. Wir sind seit dem Morgen unterwegs; jetzt geht es auf den Abend zu. Der Magen knurrt, die Beine könnten eine Rast gebrauchen. Zur Umkehr in die Stadt biegen wir in eine Parallelstraße ein. Nach wenigen Metern weist uns ein Schild: “Ceramique antique” retour.
Inmitten des weiträumigen, wenig gepflegten Parks liegt ein vielleicht zweihundert Jahre altes Anwesen, ein ehemaliges Weingut. Auf Cave centenaire