Kalter Mai - Jutta Schlott - E-Book

Kalter Mai E-Book

Jutta Schlott

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Beschreibung

Im nördlichsten der gar nicht so neuen Bundesländer verlieren Katharinas Eltern in der Zeit der neuen Freiheit ihre Arbeit und müssen mit der Tochter in ein Kaff ziehen. Zwei Jahre lang bleibt Katharina isoliert, trauert ihrer Freundin nach, die jetzt irgendwo im Westen wohnt, - und kann nichts mit ihren Klassenkameraden im (ebenfalls) neuen Gymnasium anfangen. Erst als sie Roland kennenlernt, findet sie Zugang zu anderen Jugendlichen, lernt deren Probleme und Möglichkeiten kennen. Mit Roland erlebt sie ihre erste Liebe, die sie hoffnungsfroh, aber auch manchmal verzweifelt macht. LESEPROBE: Einmal, noch einmal. Vorsichtige Schritte näherten sich der Tür. Vorsichtig wurde die Tür spaltbreit geöffnet. Katharina erkannte Nase und Stirn des Jungen. »Eh, Till«, sprach sie ihn an, »ich bin’s, Katja.« Er reagierte nicht. »Stör ich vielleicht?«, fragte sie verunsichert. Um eine Winzigkeit öffnete der Junge die Tür. »Entschuldige, ich kenn so viele Leute ... worum handelt es sich?« »Um nichts«, entgegnete sie verärgert. »Du hattest mich mal eingeladen. Da wollte ich einfach mal vorbeikommen ...« Er sagte noch immer nichts. Das ist mir zu blöde, dachte Katharina wütend. Erst führt er mich mit falscher Adresse und falschem Namen an der Nase rum, und jetzt tut er noch, als wenn er mich nicht kennt. »Das war’s dann wohl!« Sie drehte sich entschlossen um und ging. »Katja«, rief der Junge plötzlich erfreut, »Katja, die Freundin von Ahmchen! Warte doch!« Sie blieb stehen, vielleicht hatte er sie wirklich nicht erkannt. Sie standen sich auf dem schmalen, luftigen Gang gegenüber. Das T-Shirt »Power trotz Trauer« hatte er gegen eines mit dem Zeichen der Atomkraftgegner eingewechselt. »Na, du fahrender Held von DT 64«, lenkte sie witzelnd ein, »du hast mich ja ganz schön auflaufen lassen.« »Moment«, er zog die Tür hinter sich zu. »Wir setzen uns auf die Treppe, ja?« Er ging vor ihr. Von seiner Arroganz, die sie in der Veranda an ihm bemerkt hatte, war nichts übriggeblieben. Er wirkte kindlich klein, als er mit hängenden Schultern vor ihr hertrottete. Was er als Treppe bezeichnete, war eine eiserne Stiege, die auf das Dach führte. Vor der Luke hing ein dickes Schloss an einer Kette. Der Junge setzte sich neben sie. Im Arm hielt er einen Umhang oder ein Cape aus leuchtend smaragdgrüner Seide, von goldgelben Flammen durchsetzt. Aufgenähte Pailletten glitzerten. »Was willst du denn damit?«, sie wies auf das Gewand.

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Impressum

Jutta Schlott

Kalter Mai

ISBN 978-3-95655-084-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1993 im Alibaba Verlag Frankfurt/Main.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Peter Festersen

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Im warmen und sonnigen Sommer des Jahres neunzehnhundertneunundachtzig war das Mädchen Katharina Eschenbach in Gedanken vor allem mit einem Tag im Oktober beschäftigt, dem siebenten im Monat, ihrem sechzehnten Geburtstag.

Von diesem Zeitpunkt an waren ihr Freiheiten versprochen, die sie zwar lange für selbstverständlich hielt, die sie sich jedoch von Fall zu Fall hartnäckig erkämpfen musste.

Der entscheidende Grad der Freiheit bestand darin, die Stunde ihrer abendlichen Heimkehr in die Wohnung selber zu bestimmen.

Das schien ein Problem zu sein, mit dem alle Mädchen ihres Alters kämpften, wogegen für die meisten Jungen die Frage längst zu ihren Gunsten entschieden war.

Während der Ferien hatte das Mädchen sich ausgemalt, wie sie ihren Sechzehnten gemeinsam mit ihrer Freundin Renate, Natter genannt, verbringen wollte. Sie hatte sich ein Programm zurechtgelegt, nach dem sie auf keinen Fall vor Mitternacht zurückkehrten. Ob Natters Eltern zustimmten, blieb abzuwarten. Katharina war entschlossen, sie mit der frisch erkämpften Großzügigkeit der eigenen Eltern zu überzeugen.

Am ersten Tag des neuen Schuljahres, bevor Katharina dazu kam, etwas von ihrem Vorhaben zu erzählen, zog Natter die Freundin in die hintere Fensterecke und ließ sie schwören, niemandem, wirklich niemandem ein Wort von dem zu sagen, was sie ihr mitzuteilen habe.

Katharina schwor es - halb belustigt, halb beleidigt -, weil sie Natters Ängstlichkeit als kränkend empfand. Die Freundin wusste, dass sie ein Versprechen immer gehalten hatte.

Nach den aufwendigen Vorbereitungen sagte Natter nur einen Satz: »Meine Alten haben einen Antrag laufen.«

Sie hatte sich wohl vorgenommen, ein bedeutungsvolles oder zumindest ernstes Gesicht zu machen, aber es missriet. Stattdessen verzog sich ihr Mund zu einem merkwürdig schiefen Grinsen, von dem Katharina gegen ihren Willen angesteckt wurde.

In diesem Moment betrat Physiklehrer Heinrich Grube, unter den Schülern Grübchen genannt, den Raum. Die Mädchen gingen schweigend zu ihren Plätzen. Sie saßen nebeneinander, und während der Stunde versuchte Katharina - den Flüsterton wahrend - mehr als den einen Satz von der Freundin zu erfahren. Natter schüttelte auf alle Fragen den Kopf und legte zum Zeichen der Verschwiegenheit den Zeigefinger auf den Mund.

»Willst du auch weg?«, versuchte Katharina herauszubekommen. »Oder gehst du nur mit, weil deine Eltern den Ausreiseantrag gestellt haben?«

Natter hob die Schultern und antwortete stereotyp: »Ich weiß nicht!«

»Warum verschwindet ihr nicht einfach über die Grenze in Ungarn!«, bedrängte Katharina die Freundin. »Oder über die Botschaft in Prag?«

Natter zuckte mit den Achseln, wich dem Blick der Freundin aus und schwieg.

Die Vorstellung, dass ihre Freundin, die sie seit zehn Jahren fast täglich traf, von einer Minute zur anderen verschwinden konnte, schob alle sorgfältig ausgedachten Pläne für den Geburtstag in den Hintergrund. Von dem, was sie sich für ihren Sechzehnten ausgedacht hatte, sagte sie Natter nichts. Es war unwichtig geworden.

Sic begann Natter wie eine Fremde zu betrachten - oder schlimmer noch: wie eine Todeskandidatin.

Wer in den Westen ging, war wie von der Erde geschluckt.

Meist kam nicht mal eine Ansichtskarte, weil die Ausgereisten fürchteten, den Zurückgebliebenen Unannehmlichkeiten zu bereiten.

Wenn Natter sich morgens zum Unterrichtsbeginn nicht wie üblich zehn Minuten eher auf dem Schulhof einfand, fing Katharinas Herz vernehmlich zu schlagen an. Bei jeder Zensur, die die Freundin erhielt, dachte Katharina: Das ist die letzte. Wenn sie nach der Schule am Kiosk auf der anderen Straßenseite im Klüngel noch eine halbe Stunde herumlungerten - es war der Ort, wo man von den Lehrern ungesehen oder zumindest übersehen rauchen konnte -, dachte Katharina, wenn sich Natter auf ihr Fahrrad setzte und mit dem gewohnten »Tschüssi« davonfuhr: zum letzten Mal.

Als nach ein paar Wochen nichts geschehen war, begann das Mädchen, die Angelegenheit gelassener zu betrachten. Die meisten Ausreiseanträge wurden von den Behörden sowieso erst einmal abgelehnt. Das Ganze zog sich über Monate, manchmal über Jahre hin und konnte länger dauern als das zehnte Schuljahr, das letzte gemeinsame der Freundinnen. Danach würde Katharina in einer anderen Schule sich auf das Abitur vorbereiten, Natter eine Ausbildung zur Zahntechnikerin beginnen.

Die Grenze zur Tschechoslowakei wurde geschlossen; wenn Katharina vor dem Fernseher saß, überfiel sie wieder die schwer abzuwendende Angst, der Platz der Freundin würde am nächsten Morgen leer bleiben. Aus der Botschaft in Prag wurden schreckliche Bilder gesendet: verzweifelte, weinende Menschen. Kinder, die über hohe Zäune gezerrt wurden. Aus der Parallelklasse der Zehnten verschwand ein Mädchen, aus den beiden Neunten vier Schüler. Wer krank war und sich nicht sofort entschuldigte, galt als ausgereist.

Am letzten Freitag im September - Heinrich Grube versuchte, die Kenntnisse der Zehnten in der Elektrizitätslehre aufzufrischen -, wurde die Tür zum Klassenraum aufgerissen, ohne dass es vorher geklopft hatte.

Jemand sagte energisch: »Komm raus hier, Renate!«

Auf der Schwelle stand Natters Vater. Katharina hatte ihn noch nie so aufgeregt gesehen. Den Vater der Freundin kannte das Mädchen nur als ausgeglichenen Menschen, der fast noch jung wirkte.

Natter war, als ihr Vater in der Tür erschien, mit einem Ruck aufgestanden. Aber sie folgte seiner Aufforderung nicht, sondern blieb wie angewurzelt an ihrem Platz stehen.

In der Klasse herrschte absolute, angestrengte Stille.

»Wird’s bald!«, stieß Natters Vater aus.

Heinrich Grube, der wie die Klasse von Schockstarre befallen schien, fand seine Sprache wieder und sagte betont freundlich und gelassen: »Guten Tag, Herr Wagner. Sie können Ihre Tochter doch nicht einfach ...«

Weiter kam er nicht, Natters Vater schrie ihn an: »Sie haben hier gar nichts zu sagen, was ich kann und was ich nicht kann! Sie - Sie ...« Er suchte offenbar nach einem kräftigen Schimpfwort.

»Sie - Sie - Vogel, Sie!«, brachte er schließlich hervor. Sein Gesicht leuchtete rot vor Zorn.

Obwohl die Situation wirklich komisch war - allein die Tatsache, das fette Grübchen als Vogel zu bezeichnen, hätte der Klasse sonst zu Lachkrämpfen Anlass gegeben-, betrachteten alle nur reglos und schweigend die Szene.

Natter steckte ruhig Hefter und Physikbuch in die Tasche. Das Lineal, das sie sich von Katharina ausgeliehen hatte, schob sie auf den Platz der Freundin zurück. Quälend langsam zog sie ein Etui auf, steckte Füller und Bleistift in die Laschen, zog den Reißverschluss wieder zu und verstaute alles in der Mappe.

Sie klemmte sich die Mappe unter den Arm und ging, von niemandem gehindert, zur Tür. Dort blieb sie für den Bruchteil einer Sekunde stehen. Mit dem Rücken zur Klasse sagte sie leise und deutlich: »Tschüssi!«

Die Tür fiel mit einem sanften, fast seufzenden Ton ins Schloss. Natter war verschwunden.

Der sechzehnte Geburtstag, den Katharina so heftig herbeigesehnt hatte, wurde der unfeierlichste ihres Lebens. Morgens, es war ein Sonntag, gab die Mutter ihr die Geschenke: Zwei Bücher, den gewünschten langen Schal aus dem Exquisit-Geschäft und ein Blatt Papier, über dem URKUNDE stand. Es bestätigte mit den Unterschriften der Eltern, dass die Tochter ab sofort in den Ferien und an Wochenenden die Rückkehr in die Wohnung selber bestimmen könne.

Sie betrachtete das Blatt ohne jede Genugtuung, eher verlegen. Die eigenen Wünsche erschienen ihr kindisch. Seit Natter weg war, hatte eine andere Zeitrechnung angefangen.

Katharinas sechzehnter Geburtstag ging in den beunruhigenden Ereignissen zum vierzigsten und letzten Jahrestag der östlichen deutschen Republik unter.

Die Lust, ihre neuen Freiheiten auszuprobieren, war dem Mädchen verflogen.

Wie ihre Eltern saß sie vor dem Fernsehapparat und betrachtete die Aufmärsche in Berlin. Sie nahmen sich wie üblich aus. Viele Fahnen, viel Jubel, viele Wimpel schwenkende Kinder. Nur ein paar Zwischentöne aus dem Hintergrund schienen nicht zu den Feierlichkeiten zu gehören.

Katharinas Vater schaltete zwischen den Sendern herum, und so sahen sie mehrmals die Ankunft des sowjetischen Staatschefs auf dem Flughafen in Berlin-Schönefeld.

Wo der Mann auftauchte, setzten Sprechchöre ein, die niemand organisiert hatte. »Gorbi! Gorbi!« schrien die Leute.

Es lag etwas zugleich Bittendes und Trotziges in ihren Stimmen.

Die Herandrängenden hingen an den Lippen des Politikers, als habe er Offenbarungen zu verkünden.

Seinen Satz »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« kommentierte Gisela Eschenbach, Katharinas Mutter, mit der Bemerkung: »Und wer zu früh kommt, den bestraft die Polizei.«

Zwei Wochen später fand im mecklenburgischen Stuwarin die erste Montagsdemonstration statt. Katharina stand mit ihren Eltern vor der Kirche und wartete auf die Menschen, die drinnen dem Friedensgebet beiwohnten. Als sie mit Kerzen aus dem Portal traten, zündeten auch die Eschenbachs ihre mitgebrachten Kerzen an und zogen mit den anderen zum großen Kundgebungsplatz zwischen dem Schloss und dem Theater.

Das Mädchen war stolz, dass sie von Anfang an dabei waren, als noch Mut dazu gehörte, sich montags am Nachmittag um halb fünf auf die Straße zu wagen.

Als Anfang November die Grenzen für jedermann offenstanden, dachte Katharina, als sie die Nachricht erfuhr: Jetzt kann ich Natter besuchen. Ein unsinniger Gedanke, denn Natter hatte wie alle Ausgereisten keine Adresse hinterlassen. Keine Karte war von ihr gekommen, nicht mal zu ihrem Sechzehnten, worauf Katharina gehofft hatte.

Die erste Fahrt auf die andere Seite der Elbe unternahmen die Eschenbachs erst im Dezember. Die Familie fuhr mit dem Zug, weil die Straßen noch permanent verstopft waren. In Hamburg, auf dem Hauptbahnhof, bettelte ein Mann Günther Eschenbach um zwei Mark an, er brauche etwas zu essen. Wahrscheinlich brauchte er eher etwas zu trinken, aber das war in diesem Fall egal, denn die Eschenbachs waren zu dritt nicht im Besitz einer einzigen Mark.

Um sich das Begrüßungsgeld auszahlen zu lassen, fuhren sie mit ihren Personalausweisen, die als Ticket galten, nach Altona. Eine halbe Stunde irrten sie durch das abgelegene Postamt, um den richtigen Schalter zu finden, da Günther Eschenbach niemand um Auskunft bitten wollte. Die langen Schlangen vor den Kassen, die sie aus Fernsehberichten kannten, gab es hier nicht.

Katharina sah ihren Eltern an, dass sie sich schämten. Das Paar in den Vierzigern glich eingeschüchterten Kindern.

»Jetzt ist es schon so weit, dass man Almosen nimmt.« In der Stimme der Mutter lag ein Vorwurf, von dem nicht auszumachen war, gegen wen er sich richtete.

Mit den frischen Geldscheinen in der Tasche gingen sie in ein portugiesisches Restaurant essen, ein Kellerlokal mit alten Weinflaschen auf den Wandregalen. Da sie kein einziges der Gerichte kannten, wählten sie auf gut Glück.

In den Nischen der Kneipe hingen großformatige, farbige Poster - vermutlich Ansichten von Portugal. Auf allen war das Wasser strahlend blau, die Häuschen blendend weiß, kleine Boote lagen wie Schmuckstücke am Ufer.

»Da müsste man auch mal hin«, meinte Günther Eschenbach mit einem Blick auf die Werbeplakate. Statt einer Antwort seufzte seine Frau.

Katharina blieben vom Besuch in Hamburg am deutlichsten die überlebensgroßen Weihnachtsmänner in Erinnerung, die auf den Verkaufsstraßen in der Innenstadt platziert waren: auf Hausdächern, an Haltestellen, auf dem Bürgersteig. Weihnachtsmänner mit hoch gereckten Armen, beim Überschlag, grinsende Weihnachtsmänner, die auf Händen gingen. Wahrscheinlich sollte es komisch wirken oder witzig.

Das Mädchen fand es albern.

Der Dezembertag war kalt und trübe, vom Wasser zog Nebel in Schwaden herauf. Fröstelnd gingen sie durch die Stadt, um einen Buchladen zu finden, in dem Günther Eschenbach sich nach Fachliteratur umsehen wollte.

Nach zwei Stunden gaben sie die Suche auf. Katharina schien, sie bewegten sich zu dritt wie Fremdkörper durch die Straßen.

Das Mädchen war in Gedanken mit der sie bedrängenden Vorstellung beschäftigt, dass Natter jetzt in Hamburg wohnte und sie sich jederzeit begegnen könnten.

Obwohl die Sehnsucht nach der verschwundenen Freundin sie keinen Moment verlassen hatte, obwohl sie jeden Tag an sie denken musste, ob sie wollte oder nicht - war ihr die Aussicht unangenehm, Natter könne plötzlich vor ihnen stehen. Genauso unangenehm wie das eingeschüchterte Benehmen ihrer Eltern, die wohl fürchteten, man könne ihnen ihre Herkunft aus dem Osten ansehen.

Als der überfüllte Zug spät am Abend auf dem heimatlichen Bahnhof einlief, fühlte sich das Mädchen erleichtert.

Sie beschloss, herauszubekommen, wo Natter inzwischen lebte. Sie würde die Adresse ausfindig machen, ihr schreiben, und sie würden sich treffen. In Stuwarin oder einem anderen Ort.

Ihr Entschluss wurde von aufregenden Ereignissen immer wieder in den Hintergrund geschoben.

Schon wenige Monate nach dem Sturz der Regierung löste sich der Großbetrieb auf, in dem Günther Eschenbach als einer der fähigsten, leitenden Mitarbeiter galt. Er wurde auf Kurzarbeit gesetzt, ein Vierteljahr später war er arbeitslos.

Die Arbeit, die Gisela Eschenbach in einem Zentrum für Datenverarbeitung geleistet hatte, erledigte bald ein Computer. Sie gehörte zum Heer der Leute, die Null-Stunden-Beschäftigte genannt wurden. Von einer Umschulung zur anderen geschubst, war ihr Satz »Ich krieg nie wieder Arbeit« der am häufigsten wiederholte. Sie sagte es scheinbar sachlich, aber ihre Stimme zitterte, und Mann und Tochter überboten sich im Erfinden illusionärer Hoffnungen, die die Verzweifelte trösten sollten.

Im Sommer des neunziger Jahres erhielt Günther Eschenbach einen Brief eines ehemaligen Kommilitonen, den er längst aus den Augen verloren hatte. Der Studienfreund schrieb, dass er in einer Kleinstadt die Drogerie seiner Eltern übernommen hatte, und bot Günther Eschenbach eine Stelle als Verkäufer an.

Der versierte Ingenieur für Entwicklungstechnologie sagte ohne Zögern zu.

»Ist das nicht schön, dass Papa wieder arbeiten kann«, wiederholte Gisela Eschenbach zu oft und mit zu viel Zuversicht in der Stimme, als dass es echt sein konnte.

»Ja, Mama«, antwortete Katharina gehorsam. Den Satz, der ihr durch den Kopf ging, ließ sie unausgesprochen: Warum soll man über so viel Beschiss auch noch froh sein.

Der Ort, in dem sich Katharina wenige Tage nach ihrem siebzehnten Geburtstag wiederfand, hieß Kornekamp.

Er missfiel ihr sofort, gleich beim ersten Besuch.

Ein Kaff, dachte sie. Ein elendes Kaff. Hier ist man lebendig begraben.

Wenn man es mit freundlichen Augen betrachtete, glich das Örtchen einer vergrößerten Spielzeugstadt.

Näherte man sich mit der Bummelbahn - andere Züge verkehrten nicht -, sah man zuerst das frisch gedeckte Dach der roten Backsteinkirche, umgeben von den Kronen der alten Friedhofsbäume. Kam man im Auto von der nördlichen Seite, lag vor der Silhouette der Stadt ein ovaler, schilfumstandener See.

Das Zentrum bildete der rechteckige Markt mit zwei Kneipen, von denen die eine vor einigen Monaten in ein Restaurant umgebaut worden war, das westlichem Standard entsprach und von dem die Durchreisenden in teuren Wagen instinktsicher angezogen wurden.

Im Ort gab es eine Gärtnerei, eine Baumschule und eine Schlosserei. Die Landwirtschaftliche Genossenschaft war im Begriff, sich aufzulösen, was die Reparaturwerkstatt für Großmaschinen dem Ruin zutrieb.

Das bescheidene Kaufhaus war von einer Drogerie-Kette übernommen worden. Drei kleine Läden, die dem Konsum gehörten, schlossen in kurzen Abständen - wer einkaufen wollte, fuhr in den Supermarkt vor der Stadt, eigentlich eine Lagerhalle, in der früher die Genossenschaft Kartoffeln einwinterte.

Das Krankenhaus war die einzige Einrichtung in Kornekamp, die sich überregionalen Ruf erworben hatte. Frauen, die der Anonymität der großen Kliniken entgehen wollten, brachten hier ihre Kinder zur Welt.

In der chirurgischen Abteilung arbeitete ein Spezialist, der sich rühmte, über zweitausend Patienten wieder zu einem funktionierenden Knie verholfen zu haben. Zum Bild der Stadt gehörten Männer und Frauen auf Krücken; alte und junge - einige mit Leidensgesichtern, andere mit dem Ausdruck trotziger Selbstbehauptung, als sei es durchaus üblich, an zwei Krücken durch die Straßen zu humpeln.

Eine eigene Gruppe der städtischen Passanten waren Besucher, die mit großen Blumensträußen der Frauenstation zueilten, während die mit den bescheideneren Gebinden der Abteilung für Innere Medizin zustrebten.

Von den Auswärtigen profitierte auch die Drogerie, in der Günther Eschenbach hinter dem Ladentisch stand.

Die Kunden kauften für die kranken Angehörigen vergessene Waschlappen, Seife oder Zahnputzzeug. Manche jungen Väter holten im Überschwang ihrer neuen Situation teures Parfüm für die Wöchnerin. Alle Mittel zur Babypflege waren ebenfalls gefragte Artikel.

Mithilfe des Studienfreundes, der in Kornekamp ein angesehener Mann war, mieteten die Eltern sich in einem kleinen Fachwerkhaus direkt im Zentrum der Stadt, am winzigen, viereckigen Markt, ein.

Die beiden Räume, die die Eltern bewohnten, die Küche und das Bad lagen in der ersten Etage. Zu Katharinas Zimmer gelangte man über eine steile Holztreppe ins Dachgeschoss.

Die Kammer hatte keine Fenster, dafür zwei schräge Luken, etwa handtuchgroß. Aus der einen sah man über die niedrigen Dächer der angrenzenden Häuser ein Stück vom Kornekamper See, die andere gestattete den Blick auf den Marktplatz und die nördliche Zufahrtsstraße.

Am Morgen ihres achtzehnten Geburtstages wurde Katharina von einem Geräusch aus dem Schlaf gerissen.

Vom Pfiff einer Lokomotive, vom Aufheulen eines Motors, vielleicht war es das scharfe Quietschen einer Bremse. Das Geräusch wiederholte sich nicht, aber es hatte mit dem Aufwachen ein Unbehagen geweckt, das präsent blieb.

Mit gewohntem Griff knipste das Mädchen die Lampe neben ihrem Bett an. Die Uhr zeigte halb sechs, eine dreiviertel Stunde bis zum Klingeln des Weckers.

Heute ist Montag, der 7. Oktober 1991. Dein Geburtstag. Du bist volljährig. Freust du dich?

Nein, antwortete ihre innere Stimme auf die stumme Anfrage: Ich erwarte nichts.

Sie schob die Decke zurück und ging barfuß zur Dachluke, von der aus man stadtwärts blicken konnte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Marktes vor der Bäckerei hielt ein Lieferwagen. Er brachte zweimal in der Woche Fertigbrot aus Hannover.

Ein Kaff, dachte das Mädchen, hier gibt es nichts zu feiern. Für niemanden, mit niemandem.

Das Mädchen tappte zum Spiegel und betrachtete die halblangen, noch ungekämmten Haare, die beiden kleinen Schlaffalten auf der rechten Wange.

»Vielleicht gehörst du auch zu denen, die zu spät gekommen sind, Katharina Eschenbach«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Vielleicht wirst du deshalb bestraft, du >Kind der Republik<«

Dieser Beiname war ihr manchmal scherzhaft angehängt worden, weil sie geboren wurde, als die östliche deutsche Republik das fünfundzwanzigste Jahr ihrer Existenz begann. In den Augen des Kindes Katharina war dieser Termin von Vorteil, sie hatte nicht nur in jedem Jahr an einem freien Tag Geburtstag, auch für die meisten Leute in ihrer Umgebung, Freunde und Kollegen der Eltern, gab es Anlass zu feiern: Prämien, Auszeichnungen, Orden, Betriebsfeste.

Im Erdgeschoss klappte eine Tür, kurz darauf begann im Bad das Wasser zu rauschen. Katharina kämmte sich die Haare glatt und band sie sich im Nacken zusammen. Vor dem Spiegel versuchte sie ein munteres Gesicht aufzusetzen. Es wirkte angestrengt, und sie streckte dem Ebenbild die Zunge heraus.

Sie gab sich Mühe, leise die Treppen nach unten zu steigen. Die Mutter hatte sie trotzdem gehört.

Gisela Eschenbach stand in der Wohnungstür und drückte die Tochter an sich: »Alles, alles Gute, mein Kind. Bleib gesund und mach uns weiter Freude!«

Katharina sah die Augen ihrer Mutter feucht werden.

Der Vater stand neben dem mit Kerzen geschmückten Gabentisch und hielt der Tochter eine einzelne rote Rose entgegen: »Willkommen im Kreis der Volljährigen!«

»Idioten«, fügte er plötzlich leise und bitter hinzu. Bevor das Mädchen reagieren konnte, drückte auch er sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Der Geburtstagstisch war auf der einklappbaren Singer-Nähmaschine aufgebaut. Achtzehn gelbe Kerzen, ein dickes, weißes Lebenslicht. Einen Atlas, ein teures Parfüm, eine Schallplatte wickelte Katharina aus dem Schmuckpapier. Die Eltern standen links und rechts neben ihr, machten fröhliche Gesichter, und Katharina dachte: Eher läuft der Film ab >Glückliche Familie trotz schwerer Zeit<.

»Danke«, sagte sie. »Ich freu mich.«

Vom Frühstückstisch stand Günther Eschenbach als erster auf: »Ich muss los«, sagte er. »Die Menschheit wartet auf mich.«

»Und du willst wirklich niemanden zu deinem Geburtstag einladen?«, fragte Gisela Eschenbach, während sie Butter und das Sahnekännchen in den Kühlschrank zurückräumte.

»Nein, Mama, wirklich nicht. Ich bin froh, wenn ich von meinen lieben Mitschülern keinen sehen muss.«

Die Mutter seufzte: »Früher hast du immer schneller Anschluss gefunden, immer ein ganzer Schwarm von Freundinnen und Kumpels um dich rum ... Und jetzt?«

»Mach dir keinen Kopp, Mama«, sagte sie, während sie einen Apfel in die Tasche steckte. »Ist alles okay.«

»Wollen wir denn heute Abend was unternehmen? Aber als Achtzehnjährige nur mit den Alten? Hätte mir keinen Spaß gemacht ... Gibt’s denn was, worauf du Lust hast?«

Katharina gab der Mutter einen flüchtigen Abschiedskuss auf die Wange. »Denk dir was aus, Mama, wird mir schon gefallen.«

Sie sprang die Treppe nach oben, zog sich an und schob, bevor sie ging, das Fenster, das zum See und zu den Kleingärten zeigte, zum Lüften auf. Im selben Moment schaltete sich die Straßenbeleuchtung aus. Das elektrische Licht hinter den Fenstern des Krankenhauses, direkt am Schilfgürtel des Wassers gelegen, schimmerte bläulich kühl.

Katharina befestigte die Luke an der äußersten Einkerbung des Riegels. Die feuchte, neblige Oktoberluft drang bis unter den Jackenärmel. Auf der Straße waren nur wenig Leute unterwegs. In der Mehrzahl kleinere Kinder mit Ranzen auf den Rücken.

Katharina trottete mechanisch, den Blick zum Boden gerichtet, den gewohnten Schulweg. Sie wusste nichts, worauf sie sich an diesem Tag freuen sollte. Nur dass sie Geburtstag hatte und niemand es erfahren würde, erfüllte sie mit Genugtuung.

Als Katharina im vergangenen Herbst nach Kornekamp zog, hatte das Schuljahr schon begonnen, vielleicht trug das dazu bei, dass sie von den Mitschülern der Elften wie ein Eindringling behandelt wurde.

Einen Treff nach dem Unterricht - wie die tägliche, halbstündige Ansammlung am Kiosk in Stuwaring -, bei dem man über die Lehrer herzog oder sich über das gestrige Fernsehprogramm unterhielt, gab es in der Kleinstadt nicht. Alle eilten sofort nach Hause, die Auswärtigen stiegen in ihre Busse. Als sie sich - gleich nach der Umschulung ins Kornekamper Gymnasium - den Schülern in der Raucherecke zugesellen wollte, wurde das Mädchen als Nichtraucherin mit ebenso deftigen wie verächtlichen Bemerkungen verscheucht. In ihrer alten Schule wurden Gäste ohne Zigarette toleriert.

Kurz vor der Schule kamen drei Mädchen aus ihrer Klasse aus einer Seitenstraße und bogen vor Katharina auf den Gehweg ein. Sie waren ihr so nah, dass sich die Ärmel ihrer Jacken fast streiften, trotzdem gelang es ihnen, die Mitschülerin zu übersehen.

Katharina verlangsamte ihren Schritt. Von denen will ich keinen länger als unbedingt notwendig sehen, dachte sie. An meinem Geburtstag schon gar nicht.

Sie hatte sich eine Taktik angewöhnt, mit der offenkundigen, abweisenden Haltung ihrer Mitschüler umzugehen. Obwohl sie selten angesprochen wurde, stellte sie selber Fragen, bedankte sich höflich für jede Auskunft und schien von unerschütterlicher, gleichbleibender Freundlichkeit. Nach einigen Wochen war ihr diese Technik zur Gewohnheit geworden, die keine Anstrengung mehr kostete.

Sie begann den Vorteil aller Außenseiter zu schätzen: den Standort des Betrachters. Obwohl niemand mit ihr über Liebeleien, Zerwürfnisse oder Freundschaften sprach, teilten sich ihr die unterschiedliche Art der Bindungen mit: wer mit wem sprach, welche Art von Blicken in unbeobachteten Momenten zwischen einem Mädchen und einem Jungen schwirrten, wo es Berührungen gab, die zufällig schienen und es doch nicht waren.

Mit heimlichem Triumph dachte sie: Von mir wisst ihr nichts - aber ich kenne euch.

Als die erste Stunde anfing, die Klassenlehrerstunde, dachte sie mit leichter Beunruhigung, dass vielleicht doch jemand zufällig auf die Spalte mit den Geburtstagen gesehen hätte. Die Sorge erwies sich als unbegründet. Im Biologieunterricht schrieb die Lehrerin wie gewohnt das Datum über den zu behandelnden Stoff an die Tafel.

»Eh«, rief einer der Jungen von den hinteren Tischen, »das war mal unser höchster Fest- und Feiertag!«

Halb verlegenes, halb belustigtes Murmeln war die Reaktion, aber mit Katharinas Geburtstag hatte es nichts zu tun.

»Mach dich ein bisschen hübsch«, sagte die Mutter am Nachmittag zu Katharina, »wenn Papa von der Arbeit kommt, wollen wir wegfahren.«

Als sie in das Auto stiegen, begann es schon zu dämmern. Günther Eschenbach fuhr; er steuerte den Wagen aus den engen Innenstadtstraßen, sie verließen den Ort in südlicher Richtung.

In die Stille sagte die Mutter: »Wir hätten auch in den Westen fahren können.«

Die beiden anderen antworteten nicht, aber Katharina wusste, was hinter dem Satz stand: das Bedürfnis, an einem Tag, der ein besonderer sein sollte, nicht Gefahr zu laufen, in allen Begegnungen und Gesprächen, auch denen fremder Leute, von Arbeitslosigkeit, Abwicklung und tragischen Schicksalen bedrängt zu werden. In den Westen fahren hieß: in sichere Verhältnisse, zu Menschen in ihrem gewohnten Alltag, ins verlässliche.

Die Sonne glänzte für einen Moment zwischen zwei Wolkenbänken auf, dann verschwand sie in Sekundenschnelle hinter dem Horizont.

In der Mitte eines Dorfes standen zwei junge Elternpaare mit mehreren Kindern auf dem Anger. Jedes Kind trug eine mit Kerzen erleuchtete Laterne.

Katharina sah sich nach der Gruppe um, als sie den Kopf wendete, fuhren sie am Friedhof vorbei. Auf die rote Backsteinmauer stand gesprayt: ALS ICH MERKTE, DASS MEIN LAND KREPIERTE, MERKTE ICH, DASS ICH ES LIEBTE!

Der Satz verwirrte das Mädchen. Sie würde von sich nicht behaupten, dass sie das Vergangene geliebt hatte. Wie man einen Staat lieben sollte, war schwer vorstellbar, aber sie empfand mit Bestürzung, dass der Spruch auf verborgene Weise für sie galt.

Für Katharina Eschenbach, das >Kind der Republik<, einer Republik, die nicht mehr existierte. Das Mädchen war sich sicher, dass ein Teil der Verachtung für das aufgelöste Land auch sie traf.

Als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, überquerte eine Schar Wildgänse in keilförmiger Flugordnung die Straße. Ihr Rufen drang durch die geschlossenen Fenster bis ins Innere des Wagens. Günther Eschenbach bog von der Hauptstraße ab, er folgte einem Pfeil, auf den mit ungeschickter Hand eine Ente gemalt war.

Das Ziel ihrer Fahrt, die Geburtstagsüberraschung für Katharina, erwies sich als ein chinesisches Restaurant, das gerade in einer Bauernscheune eröffnet worden war. Mitten in der mecklenburgischen Landschaft hingen unter dem Schilfdach des Gebäudes asiatische Lampen. Es sah aus, als hätte sich das Haus für ein Faschingsfest verkleidet.

Beim Chinesen, am mit bunten Platzdeckchen geschmückten Tisch, sagte Günther Eschenbach, als er der Tochter mit seinem Glas Wein zuprostete: »Ich weine der Vergangenheit keine Träne nach.« Und niemand wusste besser als er selber, dass es nicht stimmte.

Die Achtzehnjährige begriff in diesem Moment, worin die eigentliche Veränderung bestand, die sich im Laufe des vergangenen Jahres deutlich wahrnehmbar und doch kaum benennbar eingeschlichen hatte: Eine Mischung aus Trauer, Selbstbetrug und Verdruss, die alles durchsetzte, was man tat.

Das Mädchen sah auf ihre herausgeputzten Eltern in neuen Kleidern, die ihnen der Versandhandel ins Haus gebracht hatte. Sie sah ihre aufgesetzte Fröhlichkeit, zu der sie sich der Tochter wegen zwangen, und Katharina fühlte sich den Älteren zum ersten Mal überlegen.

Sie dachte: Jetzt bin ich erwachsen.

2. Kapitel

Der November begann mit ungewöhnlicher Wärme. Nach dem Unterricht spürte Katharina keine Lust, gleich nach Hause zu gehen. Wenn sich ihre Mitschüler verstreut hatten, trödelte sie allein durch die Straßen. Sie betrachtete die Schaufenster und las die Anschläge in den Mitteilungskästen. In der Stadt gab es einen Angler-Verein, eine Gesellschaft zur Förderung des Hundesportes und einen Karnevals-Klub. Die Existenz des letzteren war für eine mecklenburgische Kleinstadt höchst ungewöhnlich; in dieser Gegend nahm man den Fasching höchstens durch die im Fernsehen übertragenen Rosenmontagsumzüge wahr. Der Kornekamper Klub lud über das ganze Jahr zu Veranstaltungen ein.