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Wissen Sie eigentlich noch oder überhaupt, was ein Subbotnik war oder ein ABV? Für alle diejenigen, die das nicht mehr wissen oder die es nicht wissen konnten, hat die Autorin ihrer spannenden Porträt-Sammlung ein kleines ostdeutsches Glossar angefügt. So heißt es in dem der Geschichte „Blick von der Seite“ zugeordneten Begriff Subbotnik: „abgeleitet vom russischen Wort „Subota“ = Sonnabend; unbezahlte, freiwillige Arbeitseinsätze von Arbeitskollektiven, Hausgemeinschaften etc., die meist am Sonnabendvormittag durchgeführt wurden, um gesellschaftliche und soziale Einrichtungen zu renovieren, zu säubern usw.“ Und für die Geschichte „Ich sträube mich nicht“ lässt die Autorin zu Hermann Axen wissen: „zu der hier behandelten Zeit Mitglied des Politbüros beim ZK der SED; verantwortlich für Agitation und Propaganda; später auch für außenpolitische Fragen.“ Sehr aufschlussreich sind auch die Erläuterungen zu ihrer Arbeitsweise: Die Antriebe waren konträr. Sie schwankten zwischen zielloser Neugier und dokumentarischer Pflicht, die sich seit 1989 radikal verändernden Lebensumstände Ostdeutschlands in Biografien als Zeitdokumente zu bewahren. Mitte der 90er Jahre machte ich mir eine Liste mit Namen von Personen, von denen ich manche gut, andere kaum oder gar nicht kannte. Ich bat Vertraute, mir GesprächspartnerInnen zu vermitteln. Ein Prinzip für die Auswahl legte ich mir nicht zurecht, außer, dass ich die farbenreiche Vielgestalt menschlicher Existenz - auch in der scheinbar grauen Republik - dokumentieren wollte. Zu den Gesprächen ging ich mit einem winzigen Diktiergerät, mit einigen, aufs Individuelle zielenden Fragen; außerdem hatte ich mir „verbale Haken“ ausgedacht, um die Befragten „aufzuschließen “. Wenn irgend möglich, fanden die Gespräche im Lebensumfeld meiner Partnerinnen statt. Jede Begegnung erwies sich als emotionales Abenteuer - für beide Seiten. Meine anfängliche Liste variierte ständig; nach den ersten öffentlichen Lesungen aus den Texten kamen „Freiwillige“ und boten sich zum Gespräch an. Das Ausgangs-Material für jede Erinnerung bestand in den mehreren Stunden mündlichen Gesprächs auf Mikro-Kassetten. Ich hörte die Bänder fünf-, sechsmal an, manche öfter; dann schrieb ich sie - nur die eigenen Fragen auslassend - vollständig ab. In der nächsten Arbeitsstufe ließ ich Wiederholungen weg, kürzte für die Struktur der Erinnerung Unwesentliches. Später versuchte ich, den Text zu „komponieren“, ihm innere Spannung zu geben, eine gewisse Dramaturgie.
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Seitenzahl: 461
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Jutta Schlott
Ich sah etwas, was du nicht siehst
Erinnerungen aus Ostdeutschland
978-3-95655-090-4 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 2000 im Wiesenburg Verlag, Schweinfurth.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Peter Festersen
© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Gefördert durch ein dreimonatiges Stipendium des Landes Brandenburg und durch praktische Unterstützung von Frau und Herrn Rennau, Altdöbern.
Carola
Du weißt doch eigentlich gar nichts über mich. Weißt du, dass ich aus dem Westen komme - und adlig bin? Na siehst du! Nicht, dass es mich zerreißt, aber ich muss in meiner Seele ungeheuer viel vereinen.
Meine Eltern sind aus dem Westen in den Osten gegangen. Mein Vater kam nach fünf Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft in die damalige Bundesrepublik zurück. Der Bürgermeister im Ort war derselbe alte Nazi wie zur Hitlerzeit. Mach ich nicht noch mal mit, hat sich mein Vater gesagt. Er hat Kontakte in die DDR aufgenommen und ist ziemlich schnell rüber, allein, ohne Familie. Mein Vater hat seinen Weggang immer motiviert durch das Politische. Sicher, die Verhältnisse im Westen haben ihn angekotzt - aber vielleicht wurde nie die ganze Wahrheit gesagt. Ich weiß, dass mein Vater mit der Verwandtschaft nicht klar kam und dass er im Westen, wie alle in der Familie, als Forstarbeiter hätte schuften müssen, in den Wäldern um Hannover, die Gegend, wo sie damals wohnten.
Am Anfang hat er sogar illegal im Osten gelebt, in der Parteihochschule der NDPD in Buckow. Das Gebäude gleich rechts neben der Badeanstalt. Märkische Schweiz ... st schön da!
Meine Mutter ist damals mehrfach von der Polizei aufgesucht worden, die wollten rauskriegen, wo ihr Mann steckt. Sie hat das Maul gehalten und auf alles geantwortet: Weiß ich nicht!
Bis 1950 war mein Vater illegal in Buckow, im Jahr drauf ist er zurück nach Hannover, hat sich meine Mutter geschnappt und sie sind zusammen in den Osten. Meine Mutter hochschwanger - und in dem Bauch, da war ich drin! Sodass ich überhaupt nischt anderes kenne als die DDR, da bin ick aufgewachsen mit allem, was dazugehört.
Aber bei uns zu Hause drehten sich die meisten Gespräche um das Leben auf dem Rittergut in Ostpreußen, von da stammte meine Mutter, da war sie das Mädchen aus dem Schloss. Ihre Onkel und Tanten, die ganze Verwandtschaft lebte ringsum auf anderen großen Gütern - och alle adlig.
Großgrundbesitzer wurden ja in der alten Bundesrepublik entschädigt, wenn sie als enteignet oder als Vertriebene galten. Meine Eltern kriegten mehr als einmal die Aufforderung, sie möchten sich 50.000 Mark von der Düsseldorfer Bank abholen. Sie haben das ignoriert. Sie wollten von denen kein Geld annehmen, das war unter ihrer Würde. Bei uns zu Hause lag immer dieser Wisch da, diese Aufforderung. So normal lag das Dings da, wie bei anderen Leuten ‘ne Neujahrskarte oder die Telefonrechnung. Das hat mich insofern geprägt, dass ich gelernt habe, dass man auf Geld scheißen kann.
Dabei hatten meine Eltern nischt, gar nischt! Die haben asketisch gelebt und uff allet verzichtet! Wir sind richtig arm groß geworden. Für die West-Verwandtschaft existierten wir nicht mehr - die hat uns höchstens böse Briefe geschrieben. Meine Eltern waren in ihren Augen Verräter und Kriminelle, weil sie in einen „kriminellen Staat“ übergesiedelt sind. Köstlich, nicht?
Manche meiner alten Verwandten leben noch, einige wollen keinen Kontakt zu mir, weil meine Eltern damals in die DDR rüber sind - obwohl’s mich ja noch gar nich gab! Der Bruch ist nie reparabel und das wird bis zu ihrem Tod so bleiben. Musst' ich auch erst lernen, dass es Dinge gibt, die sind absolut nicht reparabel.
Mein Bruder ist noch 89 abgehauen, vor der Grenzöffnung, und lebt jetzt in München. Ich will die wiederholte Zerstörung der Familie nicht mitbetreiben und fahr des Öfteren hin, zum Beispiel, wenn die Kinder konfirmiert werden. Ich reise also hin und lern’ die Verwandtschaft kennen. Die unterhalten sich nicht, die fragen mich nicht, die sagen nur: Du bist rot, Carola, du bist 'ne Kommunistin. Ich hätte das nie von mir behauptet, auch in der DDR nicht, das ist was - das muss man sich verdienen.
Nach dem guten Essen gehen wir in München durch den Stadtpark spazieren und meine Tante Marie Elisabeth von E. examiniert mich so lustig - halb Ulk und halb im Ernst. Sie kriegt mit: Ich kenne alle Pflanzen am Teich. Da war sie echt verblüfft. Im Westen fährt man mit dem Auto, hinterlässt seine Abgase und redet über Geld. Bei denen wird nur über Geld geredet! Und denn entwaffne ick sie und sage: Siehste, Tante Marie Elisabeth, ick bin nicht nur rot, ick bin och total grün! Denn finden se die Schublade nich mehr, wo se mir reinstecken können.
Es ist aber och sehr dummer Adel, aus dem ich stamme, muss ick leider sagen. Nicht alle, aber die Mehrheit meiner Verwandtschaft ist dummer deutscher Adel.
In gewissem Sinne bin ich konservativ. Konservativ, weil ich für die Bewahrung der Schöpfung bin. Ich würde nicht „Schöpfung“ sagen - aber für die Bewahrung dieser Erde. Auf dieser Ebene kann ich mich mit meinen konservativen Verwandten verstehen.
Ich war echte DDR-Bürgerin mit adliger Herkunft und in gewisser Weise auch mit dem Verhaltenskodex dieser Schicht. Die Tischsitten, wie man bei Tisch Gespräche führt, wie man sich in Gesellschaft benimmt - Knigge spielte eine wichtige Rolle in unserm Alltag. Ich hab gegen diese „Regeln“ tiefe Aversionen entwickelt. Ich hab früh gemerkt, wie falsch und verlogen diese „guten Sitten“ sind, es wurde nur formal betrieben.
Ich sollte stets auf der Sonnenseite gehen, gerade, mit erhobenem Kopf, hat mein Vater von mir gefordert. Aus Protest ging ich natürlich auf der Schattenseite und mit gesenktem Kopf! Er hat mich fast verprügelt deswegen.
Mein Vater ist ein harter Typ. Ich bin mit dem Lederriemen groß geworden, er hat mich geschlagen, als ich schon achtzehn war. Ein echter, adliger, deutscher Offizier! Richtiger Preuße: Pünktlich, pflichtbewusst. Mein Vater ist jetzt über achtzig. Kerngesund. Der wird hundertdreißig!
Er hat mir erzählt, wie er in der Kriegsgefangenschaft gelebt hat, unter miesesten hygienischen Bedingungen. Er ist nie krank gewesen. Er hat mir immer beweisen wollen: Auch wenn man nischt hat und bei minus 40 Grad, kann man gesund bleiben. Das sind Muster, die sitzen so tief in mir drin, dass ich in manchen Dingen auch ‘ne richtige Preußin bin, verstehste?
Mein Vater war einer vom ganz schneidigen Offizierskorps, er gehörte zu den Fliegern, die Bomben geschmissen haben. Vom Krieg erzählt er wie von einer großen Sportveranstaltung, noch heute. Zum Beispiel, wie London unter ihm kaputt ging.
Später wurde mein Vater überzeugter Stalinanhänger. Wenn jemand Widerstand leistete oder eine abweichende politische Meinung vertrat, sagte er oft - und er meinte es wörtlich: Wie bei Stalin - ran an die Wand und abknallen! Das sind die Sprüche, mit denen ich aufgewachsen bin. Später, als junges Mädchen, hab ich sie im Streit manchmal gegen ihn verwandt. Es gab jedenfalls tausend Brüche in meiner Erziehung.
Als wir noch Kinder waren, am Wochenende, sind wir oft mit der S-Bahn rausgefahren und gewandert. Weil’s wenig Geld kostet und gesund ist.
Im Prinzip sind wir Kinder militärisch erzogen worden. Bevor es losging, mussten wir im Flur Aufstellung nehmen und vorzeigen: Fingernägel! Ausweis! Taschentuch! Meine Schwester ist 'ne Schlampe, bei der fehlte immer irgendwas, Ausweis oder Taschentuch ... Wer alles beisammenhatte, wurde aus der Tür entlassen, dann sind wir raus, nacheinander, wie die Orgelpfeifen.
Meine Mutter ist auch Preußin, aber eine vom anderen Ende. Eine ganz liebevolle und zärtliche Frau, eine wirkliche Christin. Sie hätte das auch nie von sich behauptet, hat aber jeden Tag danach gehandelt: Dem anderen dienen, für den anderen da sein. Sie lebt leider nicht mehr.
Ich weiß, dass meine Mutter unter dem Bruch mit ihrer Familie gelitten hat, besonders, weil sie von ihrem Bruder getrennt war. Über solche Dinge wurde zu Hause nie gesprochen. Meine Eltern waren auch zu sich selber hart. Die Entscheidung, in die DDR zu wechseln, ging ja von meinem Vater aus. Weil meine Mutter ihn liebte - offenbar völlig unkritisch liebte sie ihn - hat sie den Schritt mit vollzogen und bis zu ihrem Ende zu meinem Vater gestanden.
Sie hat die Beschimpfungen der Verwandtschaft in Form von Briefen tapfer über sich ergehen lassen. Sehr, sehr spannungsvolle Briefe von beiden Seiten wechselten hin und her. Mein Vater wollte die Verwandtschaft im Westen missionieren, er hat Bücher rüber geschickt, zum Beispiel "Merci, Kamerad" von Günther Hofé, aus dem Verlag der NDPD, seiner Partei.
Von der anderen Seite haben sie genauso versucht, uns zu missionieren: Tante Viola von P. schickte Urlaubsbilder - natürlich in Farbe, gab’s im Osten nicht. Auf einem Foto ist sie in einer schönen, alten Allee zu sehen, sie trägt einen rosa Tennis-Anzug. Auf der Rückseite stand, meine Mutter möge die Aufnahme ihren Kindern zeigen: So sieht eine Faschistin, Revanchistin, Militaristin aus!
Alles, was sie politisch irgendwo aufgeschnappt hatte, zählte sie auf.
Ich habe bei meinen Eltern erlebt, dass sie sich bemüht haben, ein würdevolles Leben zu führen, sparsam und bescheiden. Trotzdem hat mir nie wat jefehlt inne DDR. Ick bin och mal klauen gegangen, wenn meine Mutter das Jammern kriegte: Ist nischt mehr zu essen da! Hab ick sie beruhigt: Mama, mach dir keinen Kopp. Ich weiß, wo ’n Möhrenfeld ist, da fahr ick hin und hol ’n Rucksack voll, du streckst det Gemüse mit Mehl und denn hat sick dat!
Die entgegengesetzten Pole von meinen Eltern sitzen beide in mir drin: Die Liebe und der Hass. Zum Entsetzen meines Mannes! Wenn ich anfange zu hassen, sagt der immer: Wie dein Vater! Genau wie dein Alter! Ick schäm mich och dafür, aber wat soll ick machen - ick bin nu mal so gebacken.
Zur Schule bin ick in Berlin - Abi auch da. Durch meinen Vater, als Parteifunktionär der NDPD, gehörte ich zu den auserwählten Kreisen, die auf die Eliteschulen kamen. Obwohl meine Eltern, wie gesagt, keine Proleten waren und keine Arbeiter. Ich bin in Schulen mit erweitertem Russisch-Unterricht gewesen. Von meinem Vater kannte ich nur das Russisch, das er aus der Gefangenschaft mitgebracht hatte: Dawai-dawai! Rabota!
Das kriegten wir zu Hause ständig um die Ohren geknallt, diese Gefangenschafts-Vokabeln, wa?
Ich bin noch als halbes Kind in die Partei eingetreten, als 18-jähriges Mädchen auf der Oberschule. Ganz von mir aus - ganz bewusst. In diesen Schulen war ich das einzige Nicht-Genossen-Kind, alle anderen waren Töchter und Söhne von Politbüromitgliedern. Ich hielt es für selbstverständlich, Mitglied in der SED zu werden. Ich wollte beteiligt sein und Einfluss ausüben. Ein bisschen hatte ich damals auch einen Außenseitertick, obwohl ich nie wirklich Außenseiterin war. In mancher Hinsicht hab ich die DDR aber anders betrachtet als die meisten.
Mein Vater hat mich sehr kritisch befragt: Ob denn das wirklich sein müsse? Er hat meinen Eintritt nicht behindert, als er merkte, es war mir absolut ernst. Von einem sehr alten Genossen wurde ich ebenfalls „geprüft“; man durchlief ja eine Kandidatur und hatte zwei Bürgen während der Zeit. Der alte Genosse erkundigte sich nach meinem adeligen Namen, wollte wissen, ob es Widerstände in meiner Familie gebe.
Ich war von klein gewöhnt, mich bekennen müssen. Mit der DDR hatte ich keine Probleme. Die westliche Gesellschaft, wie sie mir über meine Verwandtschaft präsentiert wurde, war für mich absolut reizlos.
Die Frage, das Land zu verlassen, hat für mich nicht gestanden. Ich habe darüber nachgedacht - aber es als Möglichkeit für mich abgelehnt. Ich wollte die Konsequenz meiner Eltern fortleben. Sie sind bewusst in den Osten gegangen, das hab ich akzeptiert und für richtig empfunden. Ich war der Überzeugung, dass ich den Weg meiner Eltern weitergehen muss.
Beim Studium in Leipzig - Kulturwissenschaften - hab ich Ferdinand kennengelernt, meinen Mann. Mein Vater hat sich immer ausgemalt, aus mir wird doch noch mal ‘ne Dame; ich sollte nach seinen Träumen Frau eines Botschafters werden, des Botschafters von Spanien, zum Beispiel.
Nie hat mein Vater verwunden - bis heute nicht - dass ich einen Mann geheiratet habe, der FDJ-Funktionär war.
Durch Ferdinand kriegte ich Zugang zu Kommunisten, ich kam in eine andere Welt. Ich wusste zwar, da meine Eltern Mitglieder in der NDPD waren, also Nationaldemokraten, dass es in der DDR außer der Partei noch andere demokratische Kräfte gab: Handwerker, Ärzte, ehemalige Offiziere, wie mein Vater. In Ferdinands Verwandtschaft lernte ich Leute kennen, Kommunisten, die in beiden Lagern gesessen haben: Zuerst bei den Nazis, später bei Stalin. Alte Genossen, die nie darüber sprachen, was sie durchgemacht hatten. Sie waren zum Schweigen verpflichtet worden und hielten sich aus Parteidisziplin daran. Ferdinands Verwandte waren Leute, zu denen ich keinen Zugang fand, sehr harte Menschen. Unheimlich hart! Heut weiß ich, warum sie so geworden sind: Die sind ihr Leben lang beschissen worden. Erst in den Lagern, später in der DDR. Viele zählten zur KP Null, waren Künstler und Maler; Ernst Busch gehörte zu diesem Kreis. Die haben wirklich nur Scheiße erlebt.
Mein Mann ist im Heim groß geworden. Sein Vater ist abgehauen - in umgekehrter Richtung wie meiner: Vom Osten in den Westen. Meine Schwiegermutter hatte nichts Eiligeres zu tun, als gleich die Kinder wegzugeben. Für mich ist das Wegschmeißen. Je älter ich werde, um so unverzeihlicher finde ich es.
Meine Schwiegermutter ist der Prototyp von Edel-Kommunistin: Immer ‘ne Haushälterin gehabt, ‘ne große Wohnung - und nie wirklich was geleistet. Nie hat sie ihre Kinder gedrückt, kein Kuss, kein bisschen Zärtlichkeit. Sie war ausschließlich für ihre imaginäre Sache da.
Nach dem Studium hab ich an der Uni in Leipzig Kulturarbeit gemacht, den Klub der Wissenschaftler und Kulturschaffenden aufgebaut, viele Leute eingeladen: Christa Wolf und den Neutsch und den Jürgen Kuczinsky, zum Beispiel. Durch die Arbeit lernte ich einen der bekannten Schriftsteller kennen, der für seine damalige Frau eine Dramaturgin suchte. Diese Frau baute im „Palast der Republik“ ein Theater auf, da hatte ich Lust drauf, ’n Anfang mitzumachen - ick schien och in den Laden reinzupassen - so kam ich wieder nach Berlin. Ferdinand und ich hatten in Leipzig geheiratet - unser erstes Kind ist da geboren. Ferdinand blieb, er hat am Institut für Internationale Studien promoviert, später ist er nachgekommen nach Berlin. Aber erst mal war getrennte Ehe angesagt - och grad nicht det Paradies uff Erden!
Dauerte nicht lange, da gab es am Theater mit meiner Chefin ständig Krach. Es war die Biermann-Zeit und ich machte permanent die falschen Vorschläge. Nicht weil ich ‘ne Widerstandskämpferin war - ach! Wir hatten doch kein eigenes Ensemble und mussten für jede Inszenierung, für jede Lesung, Gäste engagieren. Als ich vorschlug, wir könnten vielleicht den Schauspieler Fred Düren für eine Aufführung gewinnen, hat sie gesagt - wörtlich: Den auf keinen Fall, der ist mit 'ner Christin verheiratet! Solche Sachen!
Die Alte wurde größenwahnsinnig. Sie war mit einem von den obersten Politikern liiert, sie dachte, sie wird Landesmutter und spielte schon die Landesmutter. Sie hat die Allüren von ihrem Mann angenommen. Wenn sie uns antanzen ließ und man ’n roten Kopp kriegte, schrie sie: Ja! Ich rede mit dir, wie der 1. Sekretär mit seinen Mitarbeitern redet!
Als ich mein zweites Kind bekam, empfand sie das als Verrat - als Verrat am Theater. Für die Alte war ick sowieso lebensfremd - das zweite Kind vom selben Mann!
Wir machten damals ein Gegenwartsstück, eine Frau hat inszeniert, ich arbeitete als Assistentin. Der Dramaturg - immer mürrisch und sehr seltener Gast bei den Proben. Hatte seine Gründe, wie ich später mitkriegte. Jedenfalls kam er unregelmäßig. Sagten doch die beiden Weiber ernsthaft zu mir: Tja, Carola, wenn du nicht mit dem pennst, denn kommt der och nicht!
Das Intermezzo an diesem Theater dauerte vier Jahre, dann bin ich in einen anderen Kulturbereich gegangen. Ich hab viel gelernt bei der Alten. Sie war 'ne harte Arbeiterin. Die hat von anderen gefordert wie von sich selber - keine schlechte Schule!
Ich habe immer intensiv gelebt in der DDR, mich engagiert und mich geärgert. Das sogenannte „Nischenleben“ kenn ich nur aus den Erzählungen anderer Leute. In einem Interview beschreibt Wolfgang Thierse, wie er sich Abend für Abend mit seinen Freunden getroffen und Rotwein getrunken hat. Das ist für mich die absolute Vorstellung von Nische: Sich raushalten aus allem. Es gab also Leute, die machten tagsüber ihre Arbeit und abends haben sie beim Rotweintrinken in einer anderen Welt gelebt - sehr erholsam!
Mir ist inzwischen klar geworden, wie sehr verschieden unsere scheinbar so ähnlichen Existenzen waren. Ich hab mich im Kindergarten, in der Schule, auf der Etage in unserem Haus, ständig aufgerieben, nicht in Form von Funktionen, sondern durch das Machen von konkreten Dingen, durch Arbeit. Durch Arbeit hatte ich die enge Bindung an die DDR - nicht, weil ich sie unkritisch gesehen hätte, im Gegenteil. Ich dachte, die DDR ist ein total kompliziertes Ding, das man in den Griff kriegen muss. Ich hielt das für schaffbar. Vielleicht habe ich als einzige in der Parteigruppe die Beschlüsse der Parteiführung wirklich genau gelesen, mich mit den Materialien auseinandergesetzt. Ich hab mich nur zu Passagen geäußert, die ich beurteilen konnte, Bekleidungsfragen - beispielsweise: Wo krieg ich für die Kinder im Winter anständige warme Schuhe her? Dinge aus dem Alltag, die ich aus Erfahrung kannte, wo ich wusste: Was im „Neuen Deutschland“ steht, ist nicht wahr, es entspricht nicht der Realität! Ich hab auf den Versammlungen gesagt, wenn ich weiß, wie viele Dinge gelogen sind bei den Sachen, die ich nachvollziehen kann, bin ich auch bei den Dingen misstrauisch, wo ich die Tatsachen nicht überprüfen kann, in der Ökonomie zum Beispiel. Es wurde mehrfach der Antrag gestellt, mich aus der Partei auszuschließen, weil ich nicht „linientreu“ war.
Meine tiefen Zweifel an allem, was Politik heißt, begannen mit dem Eintritt von Gorbatschow in die Weltpolitik. Man musste alles überdenken, wurde enorm herausgefordert. Mich hat das beeindruckt - dieser neue Stil, dass er sich volkstümlich gab, die Art, wie er redete. Dass er die Politik transparent machen wollte, fand ich überzeugend. Trotzdem hatte ich ein kritisches Verhältnis zu Gorbatschow.
In der Sowjetunion wurde nicht spürbar, dass sich die wirtschaftliche Lage bessert - im Gegenteil! Ich war in den achtziger Jahren oft in der SU - du konntest jeden fragen - jeden Taxi-Fahrer, jede Blumenfrau, jeden kleinen Angestellten - und hast gemerkt, die Bevölkerung steht nicht hinter Gorbatschow! Es waren Intellektuelle, Schriftsteller, Filmschaffende und natürlich Politiker, die er um sich geschart hatte. Auch Ökonomen und Wissenschaftler - aber es war die absolute Minderheit - nicht das Volk!
Für irgendeine Art der Anbetung von Gorbatschow hab ich keinen Grund gesehen. Aber dass sich sein Politik-Stil auf die DDR überträgt, hab ich mir trotzdem sehr gewünscht.
Der Konflikt, mit dem ich in der DDR gelebt habe, war, dass ich niemals alles unter einen Hut kriegte. Ich war aber überzeugt, dass ich das muss! Jede allgemeine Verpflichtung, die es für den einzelnen gegenüber der Gesellschaft gibt, glaubte ich - ich Carola - erfüllen zu müssen. Wenn Subbotnik war, zum Beispiel, kriegte ich jedes Mal vier Einladungen zum Arbeitseinsatz: von der Krippe, vom Kindergarten, vom Betrieb und eine von der Hausgemeinschaft. Ich konnte mich ja nicht zerreißen, zu einem ging ich, mit den anderen dreien hab ich mich verzankt. Schlechtes Gewissen obendrein, als Zugabe!
Ein wirklich schlechtes Gewissen hab ich noch heut meinem großen Jungen gegenüber. Er ist ein schwieriges Kind gewesen. Ganz unangepasst. Sehr motorisch. Schon die Entbindung war schwer. Über 48 Stunden hab ich in Wehen zugebracht. Der Junge litt Atemnot. Nach der Geburt wurde er mir gleich weggenommen. Es bestand akute Gefahr einer Lungenentzündung, die Atemwege waren mit Fruchtwasser verstopft. Das zieht noch nach all den Jahren immer wieder an mir vorbei...
Die „Schuld“ an Konrads Schwierigkeiten hab ich zuallererst bei mir gesucht ... Ich werfe mir heute vor, dass ich nicht genug Ruhe und genug Zeit für ihn gefunden habe. Als er schon in der Schule war, bin ich mehrfach aufgefordert worden, mit ihm wegen seiner „Auffälligkeiten“ in Behandlung zu gehen; nach einem Jahr hatte ich es geschafft, dass ich ihn im Krankenhaus Herzberge wirklich guten Psychologen vorstellen konnte. Und die - stell dir das vor - haben mir zu meinem Kind gratuliert! Ich hab gesagt: Das nützt mir nicht, dass Sie mir zu dem Kind gratulieren. Die Schule kommt mit ihm nicht klar.
Die Lehrerin wurde hingebeten, vorher sollte sie einen Bericht schreiben. In dem Bericht stand drin, dass die Schrift dieses Schülers nach einer gewissen Zeit nachlässt, dass er seine Schnürsenkel nicht zumacht und dass sein Hosenstall immer offensteht. Das waren die Gründe, warum sie mit einem achtjährigen Kind nicht klarkam. Das war für mich inhuman und das bleibt für mich inhuman. Diese Frau ist übrigens heute Direktorin einer Schule. Sie war ja auch nie in der Partei - dafür ist sie hochgradig dogmatisch und dumm.
Die Psychologen in Herzberge haben der Lehrerin die einfachsten Dinge gesagt, dass sie Körperkontakt herstellen soll, zum Beispiel. Hat sie mit der Bemerkung abgelehnt: Ich habe noch sieben andere unnormale Kinder in der Klasse.
Ich habe versucht, meinen Sohn zu disziplinieren, ich war zu streng. Nach einem Jahr hafte ich begriffen, dass ich mich gegen die Lehrerin stellen muss - für meinen Konrad. Wir wohnten damals im 20. Stock. Zweimal hat er sich auf die Brüstung gelegt und gesagt: Ich will nicht mehr leben.
Das war für mich der Schlusspunkt. Ich hab der Lehrerin erklärt, sie kann ihm Fünfen geben soviel sie will - ich stehe zu meinem Kind. Für mich eine aussichtslose Konfliktsituation, in dem Schulsystem kriegte aus Prinzip immer die Lehrerin Recht. Ich war mutterseelenallein in dieser Zeit. Niemand hat mir beigestanden. Ferdinand, als Funktionär, der war doch nie da!
Jeden Tag hatte der Junge Eintragungen in seinem Mitteilungsheft. Wenn ich abends von der Arbeit kam, las ich: Ihr Sohn hat um 8.00 Uhr mit seinem Stuhl gekippelt. Wenn ich zehn Stunden später zu ihm sagte: „Hör mal, Koni, du hast in der Schule gekippelt?“ - wusste der doch überhaupt nicht, wovon ich rede! Diese Hefte habe ich alle aufgehoben. Sie gehören für mich zur schlechtesten Seite der DDR.
Mein Junge ist ein Unangepasster geblieben. Er hat in der Schule oft Kinder verteidigt, denen unrecht geschah, selbst wenn er dafür einen Tadel kriegte. In Folge dieses Tadels wurde natürlich ich wieder in die Schule zitiert ...
Einmal bin ich als „aktive Mutter“ ausgezeichnet worden, weil ich Schulfahrten, Ferienlager und sonst noch was organisiert hatte. Nach der Auszeichnungs-Arie bittet mich die Direktorin in ihr Zimmer - eines der zahllosen Gespräche über meinen Sohn. Er war damals 14 und hatte sich ein Buch aus unserer Bibliothek genommen, „Der NS-Staat“ von Kogon, Heidelberg 1947. Diese „allseitig gebildete“ Pädagogin meinte: So geht das nun wirklich nicht! Ein Buch aus Heidelberg - über den NS-Staat! Und das in unserer Schule!
Es nützte nichts, dieser Staatsdienerin zu erklären, dass es ein Buch gegen den Faschismus ist! Auf dem Einband war ‘n Hakenkreuz abgebildet, das hielt die Direktorin für das Gefährliche an diesem Buch! An diesem Punkt hab ich alle meine Funktionen niedergelegt.
Wenn man versucht hat, ehrlich nach dem Parteistatut zu leben, ist man automatisch in tiefste Konflikte geraten. Ick muss schon sagen - die Republik hat mich ausgehöhlt und ausgebeutet - ungeheuer! Auf die Idee, in den Westen zu gehen, bin ich nicht gekommen. Weil ick hier meine absolute Beschäftigung hatte.
Im Sommer 89, als wirklich schon alle Züge abgefahren waren - das ahnte ich aber damals nicht - habe ich zutiefst gehofft, dass unsere Machthaber von der Bildfläche verschwinden. Das bedeutete für mich doch nicht das Ende der DDR!
Die Gründungen der Bürgerbewegungen im September, Oktober hab ich mit kritischem Unbehagen verfolgt, ich hatte andere Positionen. Ich dachte zum Beispiel, dass man alle vorhandenen Organisationen in der DDR - bestimmt an die hundert - demokratisieren müsste. Ich hoffte, dass die Demokratisierung auch in der SED durchsetzbar wäre.
Damals fühlte ich mich sehr einsam. Die meisten, die ich als Genossen und als kluge Köpfe schätzte, hatten schon ihr Parteibuch zurückgegeben.
Der Mauerfall hat sich für mich angekündigt. Meine damalige Arbeitsstelle befand sich nur wenige Hundert Meter vom Brandenburger Tor, ich bin in der Mittagspause da oft spazieren gegangen. Von der Westseite saßen die Leute schon tagelang auf der Mauer. Es wurden sehr anstrengende Spaziergänge für mich. Mir war plötzlich helle - die Mauer ist nicht mehr zu halten.
In einer Mittagspause bin ich zu einem Volkspolizisten gegangen, der mir unendlich leid tat, weil er da stehen musste. Wozu stand er noch da?! Wenn die Mauer zusammenbricht oder die hundert Leute fallen von oben runter - der kann doch gar nichts tun! Ich frag ihn also: „Was machen Sie hier eigentlich?“ Er darauf: „Ich muss Ruhe bewahren. Einfach nur Ruhe bewahren.“
Da begriff ich, dass es von dieser Seite keinen Widerstand mehr gab. Wie die Volkspolizei da so ganz vereinzelt stand - zwar anwesend, aber völlig machtlos, war es für mich nur eine Frage der Zeit: Wann kippt die Mauer um!
Viele Leute sagen zwar, der 4. November, die Demonstration auf dem Alex, war der Höhepunkt der DDR - für mich war es das Ende. Ich hab's vorm Fernseher gesehen. Aus heutiger Sicht ist von den 23 Reden für mich nur eine interessant, die von Heiner Müller. Der hat die Arbeiter aufgerufen: Verteidigt eure Betriebe! Als die Mauer fiel - ich hab's abends erfahren, bei den Nachrichten, beim Abendbrot, diese Pressekonferenz von Schabowski ... Als quasi die Grenzöffnung bekannt gegeben wurde - bei mir stellte sich keine Euphorie ein. Die gab es nicht. Nicht eine Sekunde lang. Ich hab mich an diesem Tag nur maßlos geärgert! Es war zweierlei: Wut und Trauer. Wut auf die völlig kopflosen, dummen letzten Machthaber, die hysterisch gehandelt haben, total unfähige Politiker. Das hat mir wehgetan - zum anderen eine tiefe Traurigkeit über die Kopflosigkeit des Volkes.
Ich weiß bis heute nicht, was da abging. Es war offenbar das unbefriedigte Konsum-Bedürfnis der Massen. Mit Erschrecken, Wut und Trauer hab ich das erlebt. Für mich der endgültige Abschied von der DDR, ich hab es in dieser Nacht nicht nur geahnt, ich hab es gewusst.
Meine beiden Söhne waren damals 15 und 10 Jahre. Während ich arbeiten ging, machte Koni, mein großer Sohn, sich in den Westen auf. Ich hatte solche Angst, dass er sich verirrt oder nicht zurückkommt. Dass er mir von dieser Hysterie und dem Reichtum, drüben weggenommen wird. Ich hab mir eine ungeheuerliche Mühe gegeben, es meinen Kindern zu Hause besonders schön zu machen. Exzellente Abendbrot-Platten jeden Tag!
Ich war im Grunde nur damit beschäftigt:, die Familie zusammenzuhalten. Mit dem Herzen und auch materiell. Natürlich konnten die Kinder rüber, aber ich wollte, dass sie gerne wiederkommen, nicht nur, weil bei uns in der Wohnung ihr Bett stand.
Koni hat erzählt, wie er über die Oberbaumbrücke rübergegangen ist, nach Kreuzberg. Aus einem Lautsprecher, direkt ins Fenster gestellt, donnerte Musik. Lieder von Ernst Busch - volle Pulle!
In Westberlin hat sich ein junger Mann, ein paar Jahre älter als Koni, um ihn gekümmert. Hat ihn ins Auto geladen, ihm die Stadt gezeigt. Jemand, der einem Menschen aus der DDR eine Freude machen wollte, offenbar völlig uneigennützig und menschlich. Er hat ihm auch zehn Mark geschenkt.
Abends - ich lag gerade in der Badewanne - kommt mein Sohn, reißt die Tür auf und schreit: „Mutti! Mutti!“ Er hielt drei Dinge in der Hand: Eine Apfelsine. Eine Digitaluhr. Eine Karte vom amerikanischen Sektor.
Meine Kollegen sind natürlich auch alle rübergerannt - war kaum noch jemand an seinem Platz - die absolute Auflösung. Sie gingen rüber, kamen wieder und schwärmten von Aldi. Bis ich mal fragte: „Wer ist denn euer Aldi?“ Ick bin also erst sehr spät uffgeklärt worden, was ALDI ist ...
Der Konsum drüben hat mich nicht angemacht. Falls er mich angemacht haben sollte, hätte ich mich diszipliniert. Das ist das Preußische in mir. Da kam die Haltung meiner Eltern durch, die auf 50.000 Mark Entschädigung verzichtet haben.
Ist ja nicht so, dass ich unempfänglich bin für schöne Sachen. Ich kann mich über allet freun: ’ne Tafel Schokolade, schicke Schuhe, einen Wursttopf - ach, irgendwas! Aber ich bin klug genug zu wissen, dass es immer Dinge gibt, die wichtiger sind. Ich lasse mich von materiellen Dingen nicht bestimmen. Außerdem: Wir hatten ja auch Überfluss! Nicht wie im Westen - aber die DDR-Bürger haben doch gefressen wie die Scheunendrescher!
Wann ich das erste mal drüben war, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich, als ich mir die hundert Mark abgeholt habe. Völlig unspektakulärer Vorgang für mich. Ich darf nicht ungerecht sein - ich war durch meine Arbeit im Kulturbereich öfter mal draußen, vor allem im sozialistischen Ausland: Bulgarien, Ungarn, Tschechoslowakei. Ein paarmal durft’ ich auch in den Westen, dienstlich. Ich bin jedes Mal sehr gerne wieder zurückgekommen.
Als die Grenze aufgemacht wurde, wusste ich: Jetzt ist etwas für immer vorbei. Später gab es noch mal ein Gefühl von Abschied für mich - als das Fernsehen der DDR abgeschaltet wurde. Man saß vor der Röhre, plötzlich flimmerte es schwarz. Da war sozusagen auch die Stimme meines Ländchens verstummt.
Nach dem Zusammenbruch der DDR hab ich trotzdem Momente erlebt, in denen ich neue Chancen für mich erkannt habe. Vielleicht haben sie mir geholfen, dass ich halbwegs glücklich auf dieser Welt weiterleben kann.
Zweimal bin ich nach der Wende arbeitslos gewesen. Ich hab diese Phasen und auch die ABM-Jahre genutzt, um mich weiterzubilden. Wie ein Jäger und Sammler war ich hinter allen erreichbaren Zertifikaten her, hab’ jede Menge Computer-Lehrgänge absolviert.
Eigenartigerweise konnt’ ich mich in der DDR nie weiterbilden. Ich bin einfach nie rangekommen. Wie gern wär’ ich mal ein Jahr aus der Mühle raus gewesen. In Ruhe Hegel lesen und Kant, alle Quellen des Marxismus, Marx selber! Was hatte ich während des Studiums in dieser Richtung schon groß absolvieren können. Wenn andere gestöhnt haben: Schon wieder „Runderneuerung“ - oder „Rotlichtbestrahlung“! Mir ist so ’n halbes Jahr Weiterbildung nie vergönnt gewesen.
Es gibt manche Dinge, bei denen ich froh bin, dass diese DDR zugrunde gehen musste. Von der Vernunft her ist mir alles klar. Die Führungsebene war moralisch total verkommen, die Machthaber und was sich in ihrem Dunstkreis so ansammelt. Der Kummer, den ich mit meinen Kindern in der Schule hatte - das ist vorbei! Ich muss nicht mehr zum Parteilehrjahr und mir dieses unerträgliche Gesülze anhören. Das ist eine Erleichterung, davon frei zu sein.
Die Möglichkeit, sich zu bilden, die Möglichkeit zu reisen und sich die Welt mit eigenen Oogen anzukieken - für mich gibt es noch eine andere Chance: Ich finde nach der Wende zu mir selber. Ich konnte zum Beispiel die Spuren meiner Mutter verfolgen; dieses Gut in Ostpreußen mit den anderen großen Gütern ringsum, wo sie als Kind gelebt hat. Sie hat uns ja immer vom „Silberdiener“ erzählt, der das Besteck putzen musste, vom Inspektor ...
Ich hab ihn gesehen diesen Ort. Ostpreußen, heutiges Russland, das Gebiet, das absolut tabu war, das erst vor zwei Jahren geöffnet wurde, im Süden von Kaliningrad.
Mit sehr gemischten Gefühlen bin ich nach dort gefahren. Natürlich nicht als Tochter von Großgrundbesitzern! Als ein Mensch, der ein bisschen was von der Gegend weiß. Ich wollte die Leute sehen, die Landschaft.
Alles ist da, wie meine Mutter es beschrieben hat: Das Schloss, nur ganz zerfallen, die Stallungen existieren noch, die Häuser der Landarbeiter. Der Schlossgarten verwildert, total zugewuchert. Nach dem Krieg ist nichts mehr dran gemacht worden.
Auf dem Gut leben zehn russische Familien. Das Haus vom Inspektor hab ich nach den Schilderungen meiner Mutter erkannt. Eine neunzigjährige Russin wohnt dort mit ihren Kindern und Enkelkindern.
Ich hab mit der Frau gesprochen. Ich kann ja russisch und spreche es gerne. Diese alte, einfache und ebenso würdevolle und gepflegte Frau hat mir eine lange Rede gehalten, von der ich nicht jedes Wort verstanden habe, aber soviel gewiss: Diese Greisin ist ‘47 von Stalin auf dem Gut zwangsangesiedelt worden.
Man muss wissen - auch die Russen leben nicht freiwillig dort! Die Frau hat erzählt, sie kommt aus Sibirien. Dort hat sie früher mit Deutschen zusammen gelebt; harmonisch und in Frieden. Sie wünsche sich, dass Russen und Deutsche wieder friedlich miteinander umgehen - auch sie und ich. Es war ein Appell!
Ich hab verstanden, dass sie genauso in die Scheiße gesetzt wurde. Meine Mutter ist vertrieben worden, aber diese Frau auch. Die meisten in Deutschland denken, die Russen, die jetzt dort leben, sind einfach gekommen und haben die Güter besetzt. So war das nicht.
Eine wichtige Chance nach der Wende bestand darin, dass mein Mann und ich unsere Familiengeschichte befragen konnten. Er seine, ich meine. Wir haben eine ähnliche geografische Herkunft - aber gänzlich andere Familiengeschichten. Sein Großvater war Chefredakteur der führenden sozialdemokratischen Zeitung in Königsberg, der „Hartungschen Zeitung“. Vorfahren meines Mannes sind in Königsberg als Spartakisten erschossen worden.
Da haben wir, als wir nach Kaliningrad fuhren, auf unsere Herkunft geguckt. Er sozialdemokratisch - ich adelig! Zwei gegnerische Lager! Das muss ich alles in mir vereinen, damit ich noch meine acht Stunden schlafen kann.
Nach der Wende hat man alles auf den Prüfstein gesetzt. Beruf, Ehe. Nicht, weil mich jemand dazu aufgefordert hätte - zwangsläufig. Ferdinand, ehemaliger Funktionär und arbeitslos - ich, ehemalige Kultur-Funktionärin und arbeitslos. Die Gespräche zwischen uns waren immer politisch und heftig, jetzt sind sie oft noch zugespitzter. In Momenten, wo wir uns gegenseitig nicht leiden können, werfen wir uns unsere Geschichte vor. Wenn ich ihm wehtun will, schmeiß ich ihm an den Kopf: Du mit deiner verkommenen Kommunistischen Partei! Und er haut zurück: Du mit deinem faschistischen Vater!
Wir sind über zwanzig Jahre verheiratet - manchmal hätt ich wirklich alles hinschmeißen können! Aber weeßte, nu stell ick fest, dass ick Schwein gehabt habe: Mit mein’ Ferdinand komm ich durch dick und dünn. Ick weeß och, dass wir uns immer beharken werden - trotzdem: Der isset!
Eigentlich bin ich so ein Typ - ich wäre gerne in einer größeren Gemeinschaft. Aber ich finde für mich keine einzige. Partei, beispielsweise. Ich werde in Deutschland immer die konsequenteste Opposition wählen.
Ich höre und lese auch jetzt die Reden der Politiker sehr gründlich und merke, die sind genauso verlogen und schönfärberisch wie zu Honeckers Zeiten. Jetzt mit über vierzig, erst jetzt, bin ich für mich zu der Erkenntnis gekommen, dass es anständiger ist, einsam zu sein, als sich in etwas hineinzubegeben, das nicht ehrlich ist oder mit mir nichts zu tun hat. Ich suche keine Partei mehr. Ich suche die würdevolle Einsamkeit. Eine geistige Heimat habe ich mir schaffen müssen. Das war in der DDR nicht so nötig. Man hatte viele Haltepunkte, man fiel nie ganz. Jetzt muss man sich was zum Festhalten suchen.
Wenn ich mich selbst charakterisieren müsste, würde ick sagen: Ick bin 'ne radikale Humanistin. Oder: Radikaldemokratin. Oder: Eine pazifistische Sozialistin.
Ich bin heilfroh, dass ich Arbeit habe. Wie lange, ist eine andere Frage. Ich kann zum ersten Mal frei und selbstständig arbeiten, ich kann all meine Berufs- und Lebenserfahrung einbringen.
Neulich hab ich einen Satz von Walter Jens gelesen: „Moral ist, die Welt von unten zu sehen.“ Moral ist auch für mich, die Welt von unten zu sehen. Das ist mein Lebensantrieb.
Als ich arbeitslos war, hab ich die Welt von sehr weit unten gesehen. Ich habe diesen Blick nicht vergessen und ich werde ihn nie vergessen. Auch wenn ich jetzt Arbeit habe - der Blick einer Arbeitslosen ist mir geblieben.
In der DDR hatte ich diesen anderen Blick durch meine adelige Herkunft; das würde ich nicht als Blick von unten bezeichnen, aber doch als Blick von der Seite.
Sascha
Meine Mutter ist Organistin. Musik gehörte einfach zum Alltag, das hat mich geprägt. Zuallerst, als kleiner Junge, hab ich Klavierspielen gelernt und sämtliche Flöten durchgetestet; später Gitarre, die spiel ich heute noch. Mein Vater hatte in seiner Jugend die eigene musikalische Ausbildung vernachlässigt und spürte deshalb später permanenten Nachholebedarf. Zu Hause - das kann man schon eine musikalische Atmosphäre nennen, wir Kinder haben alle ein Instrument erlernt, Stücke einstudiert. In der Familie wurde zusammen gespielt, ausschließlich klassische Musik.
Zurzeit versuch’ ich mich als Gitarrist in einer Band. Ich singe auch. Wir probieren verschiedenste Stile durch, trotzdem finde ich diese Art, Musik zu machen, nicht vollständig befriedigend. Mitunter setzt sich die klassische Erziehung wieder durch. Die Arbeit mit der Band gehört zu meinem Leben einfach dazu. Bei jedem Auftritt muss man sich beweisen, muss das letzte aus sich raus holen, gleichzeitig ist man einem harten Wettbewerb ausgesetzt - damit hab ich so meine Schwierigkeiten. Gleichzeitig merke ich an mir das Bedürfnis, mich dieser Anspannung doch zu stellen.
Mein erlernter Beruf hat mit Musik gar nichts zu tun. Gleich nach der Schule hab ich eine Lehre als Landschaftsgärtner angefangen. Die praktische Ausbildung lief in Schwerin, das Theoretische in einem Dorf bei Neustrelitz, immer turnusweise.
Landschaftsgärtner war wirklich kein Beruf, den ich wollte. Dass ich bei einer Lehre, zu der ich kein Fünkchen Lust verspürte, trotzdem angetanzt bin, ergab sich aus einem völlig anderen Problem: Mein Vater war auch in der Kirche tätig, hat aber Ende der achtziger Jahre den Dienst quittiert. Es gab Auseinandersetzungen, Probleme - was Konkretes wurde vor uns Kindern nicht ausgesprochen. Jedenfalls ist mein Vater mit dem ganzen Laden nicht klargekommen.
Er behauptet, dass es an seiner Haltung zu „Kirche im Sozialismus“ lag; dafür war er nicht der Typ, innerhalb der Kirche für den Staat Politik zu machen. Der Job war ja nicht irgendeine Stelle, er saß auf ’ner richtigen Position. Sein Hinschmeißen hat die Leute in zwei Lager gespalten: Entweder - oder! Sie hassen oder sie lieben ihn. Niemand hatte ihn rausgeschmissen. Er hat einfach seinen Mantel an den besagten Nagel gehängt und sich verdrückt. Sein Fall hat bei Kirchens mächtig Wellen geschlagen. Die oberen Etagen sind noch heute stinksauer auf meinen Alten.
Gleich nach dem ganzen Trouble hat mein Vater einen Ausreiseantrag gestellt. 1987, im selben Jahr, als ich mit der Lehre anfing. Sein Antrag wurde merkwürdigerweise schnell entschieden, innerhalb von einem Vierteljahr.
Meine Eltern lagen damals in Scheidung. Ich nehme an, dass mein Vater auch raus wollte, um alle Brücken hinter sich abzubrechen. Die Kirche ist oft ein sehr enger Kreis gewesen. Jedes berufliche Problem zog gleich ein privates nach sich.
Mit der Scheidung meiner Eltern hab ich gerechnet, die bahnte sich seit Jahren an. Im Grunde genommen war's gut, dass Ruhe einkehrte, dass ein Schlussstrich gezogen wurde.
Was das für mich bedeutete, hab ich damals verdrängt. Auch die Tatsache, dass mein Vater in den Westen ausgereist ist. Beneidet hab ich ihn nicht. Wenn man mal von Reisefreiheit absieht, reizte der Westen mich nicht.
Die Ausreise und der Umstand, dass ich nicht in der FDJ war, haben wohl dazu geführt, dass mein Antrag, das Abitur zu machen, negativ beantwortet wurde. Manche durften mit wesentlich schlechteren Noten zur EOS.
Ich ging auf die Gerhart-Hauptmann-Schule, einer der Lehrer hatte mir Anfang der 10. Klasse versprochen: Sie kommen nicht zur Oberschule! Dafür werden wir sorgen. Das Versprechen haben sie eingelöst.
Ein Jahr zuvor war mein älterer Bruder auch mit einer mehr als fadenscheinigen Begründung abgelehnt worden. Er hatte mit solchen Dingen seine Probleme.
Ich nicht, komischerweise. Vielleicht, weil wir bei meinem großen Bruder alles schon mal durchgemacht hatten. Meine Eltern entschieden zum Beispiel, dass wir nicht bei den Jungen Pionieren Mitglied werden. Mein Bruder war der einzige, der nicht mitmachte, er fühlte sich ausgeschlossen.
Mir ging es anders. Ich habe nach und nach dieses - in kirchlichen Kreisen recht übliche - elitäre Denken angenommen. Das wird zwar nicht gern gehört - es war aber so!
Mit 14 Jahren, als es um den Eintritt in die FDJ ging, war ich relativ stolz, nicht in dem Laden drin zu sein. Ich hielt mich dadurch für was Besonderes. Viele, die ich aus kirchlichen Gruppen kenne, dachten so von sich.
Man konnte übrigens an zwei Schulen innerhalb der Kirche das Abitur ablegen. In Naumburg - wie mein Vater - und in Hermannswerder bei Potsdam. Ich hab mich darum nicht bemüht, sondern mich nach 'ner Lehre umgeguckt. Stuckateur wär’ ich ganz gern geworden. Zwei Stellen gab es nur, kaum eine Chance für mich. Zudem galten in dem Betrieb sehr familiäre Einstellungskriterien.
Schließlich ist mein Vater auf die Idee mit dem Landschaftsgärtner gekommen - wirklich nicht mein Einfall. Trotzdem war ich froh, nicht in irgendeiner Fabrikhalle stehen zu müssen. Meine wirklichen Berufswünsche schwankten zwischen Theologie und Kunstgeschichte.
Ich hatte damals reichlich Schwierigkeiten mit mir selber, konnte mich nicht mehr so recht mit der Kirche identifizieren, mit meinem anerzogenen Glauben. Ich merkte, dass von da keine Antworten kamen. Die Bibel hatte ich gelesen, aber was dort verheißen und versprochen wird, konnte ich in der Realität nicht finden. Unterschwellig fühlte ich, dass es mir meist nicht so gut ging, wie es von mir erwartet wurde. Ich konnte das Vorhandensein eines Gottes nicht spüren. Als junger Mensch müsste man vom Glauben überzeugt werden. Es lief alles null-acht-fuffzehn, über die eingefahrene Tradition. Meine ablehnende Haltung hatte solche Denk-Gründe, aber ganz praktische auch. Jahrelang hab ich nur Körbe gekriegt, wenn mir ein Mädchen gefiel. Das nahm ich ziemlich übel. Außerdem - wenn einem versprochen ist: Gott liebt dich! Gott liebt dich! Aber nicht mal ein Mädel liebte mich! Was sollte ich denn davon halten?!
Für solche Bedrängnisse gab es nirgendwo Hilfe. Vielleicht hätte ich mich an meine Mutter wenden können - dazu war ich nicht in der Lage. Jetzt denke ich, das mit den Körben lag eher an mir, an meiner Persönlichkeitsstruktur ...
Mit sechzehn hab ich angefangen, Marx zu lesen. Ich hab nicht nach einer anderen Richtung im Glauben gesucht, sondern auf einer entgegengesetzten Strecke. Über die Lektüre gelangte ich zu der Meinung, dass man endlich etwas tun müsste im Ländchen DDR! Aber wie und was - davon hatte ich keine Vorstellung.
Gezwickt und gejuckt hat es mich ja länger schon: Dass ich nicht auf die Oberschule durfte - und dann der Honecker-Besuch: In Schwerin fand der soundsovielte Bauernkongress statt, am 21. Mai 1987 nämlich, an meinem 16. Geburtstag. Dass Erich aus Berlin heranrauscht, war Ehrensache. Der Konvoi mit den Staatskarossen fuhr durch den Obotritenring, da wohnten wir. Überall hockten Stasi-Leute. Sie hatten wieder scharenweise ihre Unauffälligen hingestellt, die so unauffällig waren, dass sie schon wieder auffielen; was sie wohl auch sollten.
Am Tag vorher, in der Schule, als alle zum Winken bestellt wurden, trugen mir die Lehrer an, dass ich bitte nicht kommen möge! Es wäre eine reine FDJ-Veranstaltung!
Ich bin trotzdem erschienen, das hat den Lehrern nicht gefallen. Sie machten sich wohl Sorgen wegen irgendwelcher Krawalle. An dem Tag hab ich registriert, wie ängstlich meine Mutter auf die Stasi reagierte. Bisher hatte ich - außer Ärger mit Lehrern, die sich über meine politischen Freizügigkeiten aufregten - nichts zu tun mit staatlicher Gewalt.
Also mein 16. Geburtstag: Vor unserer Haustür die Stasi-Leute, meine Kumpel und ich dicht daneben. Eine Citroen-Kolonne mit den Bonzen rollt vorbei, die haben wir gezählt. Wo Honecker drin saß, konnte man sowieso nicht erkennen. Nach 'ner ganzen Weile fuhr ein Bonzen-Auto hinterher, das wohl den Anschluss verpasst hatte. Mein Freund zeigt mit der Hand auf die Kutsche - da, noch einer! - es konnte auch aussehen wie 'ne angedeutete Pistole.
Gleich rückte 'ne ganze Horde von Stasi-Mannen an: Ihr wollt wohl dicke Luft atmen! Die haben richtig Aufstand gemacht. Meine Mutter kriegte mit, was vor sich ging, vielleicht hatte sie aus dem Fenster geguckt: Sascha, kommt sofort hoch! Ha und Ho - sie ist vor Sorgen fast zerflossen. Zwei Stasi-Leute griffen sich zwei von meinen Freunden. Ich bin um sie rum getigert, hab gesagt: Nun beruhigt euch mal wieder! Ist doch alles okay! Es hat mich geärgert, wie die uns angingen, aber man hatte genügend Respekt, um nicht allzu frech zurückzumaulen. Die Stasi in Aktion - und dass sie nicht grade zu sanften Mitteln griff - diese Begegnung ist mir sehr deutlich im Kopf hängengeblieben. Mein Freund und ich führten nächtelang leidenschaftliche Diskussionen, was man mit diesem Staat anstellen müsse: Dass es so nicht weitergehen konnte, hatten wir begriffen. Gemeinsam kamen wir zu dem Ergebnis, dass der Westen genau so wenig ein Modell ist, das man versuchen sollte. Das war so’n grundlegendes Ding: Da man nicht im Westen lebte, brauchte man ihn auch nicht zu verteidigen. Wir haben die für uns relevante Lebenswelt zum Anlass genommen, um nachzudenken. Über den Sozialismus, zum Beispiel.
Bei diesen Überlegungen bin ich wieder in Konflikte gekommen; auch mit den Lehrern. Weil das, was bei Marx und Engels stand, zu dem, was praktiziert wurde, deutliche Diskrepanzen aufwies. Ein ähnlicher Fall wie mit der Bibel. Als ich jünger war, haben wir jahrelang in einem Kaff gewohnt, wo man kein Westfernsehen empfangen konnte oder nur mit hohem technischem Aufwand. Manche Leute haben es trotzdem fertig gebracht, die Sender reinzukriegen. Bei denen konnte ich nie mitreden. Wenn sich alle über Tom & Jerry unterhalten haben, war ich außen vor ...
Gleich in den ersten Monaten, als wir nach Schwerin gezogen waren, habe ich einen Bericht über den 17. Juni ‘53 gesehen. Den Tag hatte ich bis dahin nie wahrgenommen, das war einfach kein Datum in der DDR! Ich ging in die sechste oder siebente Klasse und hatte politisch eh’ noch von nischt ‘ne Ahnung. Die Sendung war ein Erlebnis für mich - wie ein Schlag! Danach habe ich angefangen, Informationen von außen über die DDR bewusst aufzunehmen.
Als Kind neigte ich dazu, den Westen erst mal gut zu finden. Ohne ihn zu befragen. Er bestand für mich - da wir Westverwandtschaft hatten - aus Luxus-Gütern und tollen Filmen. Der Westen war das West-Paket und der Westen war das West-Auto!
Intershop kannte ich natürlich. Die kirchlichen Mitarbeiter haben alle ein bisschen West-Geld bezogen aus der „Bruderhilfe“, von der Kirche im Westen installiert, um den armen Ostlern was zukommen zu lassen. Ich bin damit aufgewachsen, ich bin keiner, der nie 'ne West-Mark in der Hand hatte. Natürlich hätte ich gern ein bisschen mehr gehabt, um mir öfter Kaugummis zu kaufen - soviel haben mir meine Eltern von ihrem Schatz nicht abgegeben. Geld im allgemeinen hat bei uns kaum eine Rolle gespielt - war ja keins da. Die Kirchenleute haben sehr, sehr mager verdient. Ehrlich gesagt: Beschissen! Später, in der Pubertät, war das für mich ‘n Problem, weil ich die abgetragenen Klamotten aus den Westpaketen mit mir rumschleppen musste, was mir überhaupt nicht gefiel. Ich konnte mich nicht modisch auf den letzten Stand bringen. Andere konnten das, da haben die Eltern Geld reingesteckt. Bei mir war das nicht möglich. Damit hatte ich Schwierigkeiten, 'ne Zeit lang.
Dass ich nicht zur Fahne gehe, war für mich von Anfang an klar. Unter dem Gebilde Militär konnte ich mir noch nie was Gutes vorstellen; nur Stress und Laufen müssen. Das mochte ich noch nie: Körperliche Anstrengung, nur weil jemand sagt: Hangel jetzt! Spring jetzt! Kriech jetzt! Außerdem war der Dienst in der Armee ein staatliches Instrument, also nicht meiner Ehre gemäß, mich dem unterzuordnen. Man muss immer dazu sagen, dass es in kirchlichen Kreisen eine Selbstverständlichkeit war, sich staatlichen Anforderungen zu verweigern, und aus diesen Kreisen stamme ich nun mal.
In der Schule, in der neunten und zehnten Klasse, bin ich um die Wehrlager erfolgreich rumgekommen, in der Berufsschule war es nicht möglich. Ich konnte nur die Schießausbildung verweigern, hab ich natürlich. Im Nachhinein halte ich’s für Blödsinn. Vielleicht war es ein kleines Signal von einem gewissen Widerstands-Willen. Effektiv brachte es nichts, weil ich bei der Marschiererei mitlatschen und mir den ganzen anderen Kram anhören musste. Wir wurden intensivst aufgeklärt über die sozialistische Landesverteidigung, ihre Ziele, ihren „Sinn“. Politisch fühlten sie einem beim Wehrlager auf den Zahn; eine Art Erfassung, ob und wie lange man dienen wolle. Ich wollte nicht. Ich wollte zu den Bausoldaten. Das nahmen sie sehr „erbaut“ zur Kenntnis.
Im zweiten Lehrjahr, zur Eröffnung des Wehrlagers, hat der Direktor eine Rede gehalten. Unser Direktor war der Diktator an der Berufsschule. Dieser Mann war zwar nicht in der Partei, dafür extrem neurotisch und herrschsüchtig. Der verfolgte jeden kleinen Ausrutscher mit einer Brutalität, dass alle ständig Angst hatten. Er hat das, was er war, nämlich Diplom-Psychologe, benutzt, um Leute fertigzumachen. Jetzt kann ich drüber lachen, damals war’s nicht komisch.
In der Rede, die der Direktor abgelassen hat, ging es um die „bewusste sozialistische Jugend“. Das Blabla hat mich echt genervt - dieser offensichtliche Schwachsinn, die Heuchelei.
Das Dorf, wo wir die theoretische Ausbildung kriegten, 5 Kilometer weg von Neustrelitz, war wirklich ein Toten-Dorf. Nichts gab’s da, noch nicht mal ne Kneipe Am Abend nach der Rede haben wir irgendwo im Lehrlingsheim gesessen und gesoffen. Der Hausmeister entdeckte uns und scheucht’ uns weg. Wenn er seine „bewusste sozialistische Jugend“ will, hab ich ihm an den Kopp geschmissen, müsste er vielleicht was für die Freizeltbetätigung einrichten, sonst kann er sie vergessen, seine sozialistische Jugend! Der Hausmeister versprach, dass wir uns am nächsten Tag beim Direktor wiedersehen, da könnte ich meine Beschwerden vorbringen.
So lief es, wir wurden hinzitiert, die Angelegenheit mit den üblichen Verhörmethoden „geklärt“, alles wurde nach und nach aus den „Verdächtigen“ herausgepresst.
Ich war vorgeladen wegen meiner Äußerung, die der Hausmeister ordentlich weitergereicht hatte. Der Direktor, ganz milde: Was haben Sie denn gestern von sich gegeben über die bewusste sozialistische Jugend? Würden wir auch gerne mal hören! Ich wiederholte, er darauf: Find ich ja schön, dass sich jemand Gedanken macht und sich politisch engagiert ...
Ein paar Sekunden später hat er einen fürchterlichen Ausbruch gekriegt: Darf ja wohl nicht wahr sein, Freundchen! Das gehört in die schriftliche Stellungnahme!
Ein paar Monate vorher hatte es ein anderes einschneidendes Erlebnis, ein ziemlich peinliches für mich, gegeben. Ich stand auf „Heavy Metall“ und „verzierte“ meine Hefter mit Totenköpfen, Okkultistensternen - all so'n Nonsens.
Eines Tages lief ein Erzieher durch die Gegend und guckte sich alle Schulsachen an. Bei meinem Kumpel fand er so'n halbes Hakenkreuz auf dem Hausaufgabenheft, damit durfte der sich am nächsten Tag beim Direktor vorstellen. Ich hab mir Sorgen um meinen Freund gemacht, weil ich die Verhörmethoden ja kannte. Für mich war ich mir keiner Gefahr bewusst. Es traf mich ohne jede Vorbereitung.
Am Morgen, ich stand in der Raucherecke, kam der Heimleiter: Ich solle meine sämtlichen Sachen einpacken und mitnehmen. Er brachte mich zum Direktorenzimmer. Vor der Tür durfte ich eine Dreiviertelstunde warten, während sie drinnen meine Tasche durchwühlten - die hatte ich abgeben müssen. Ich war in dem Moment von nichts als von Angst erfüllt. Mich zu weigern, hab ich nicht fertiggekriegt. Das konnte ich mir lange nicht verzeihen.
Später, als mein kleiner Bruder sechzehn war, als ich mir angeguckt habe: Wie ist denn so ein Sechzehnjähriger? - hab ich mich getröstet: Eigentlich kein Alter, wo man schon ein Held sein kann! Das ist wirklich noch ein sehr zartes Alter.
Jedenfalls haben sie hinter der Tür die Tasche durchwühlt und einen Brief von meinem Vater rausgezerrt. Ein Westbrief in einer sozialistischen Schultasche!! Sie haben ihn schamlos durchgelesen. Weiß ich von meinem Kumpel, der im Nebenraum saß und die beliebte „schriftliche Stellungnahme“ schrieb. Nachdem sie meinen Kumpel abgefertigt hatten, wurde ich reingeholt. Es war meine erste direkte Begegnung mit dem Herrn Direktor. Die beiden anderen Typen, die dabei saßen - ich hab nie erfahren, wer das war - stellten auch reichlich unqualifizierte Fragen. Die hielten einen Okkultistenstern für einen Judenstern! Ich dachte, es gehört zur Allgemeinbildung, dass ein Judenstern sechs Zacken hat, und der Okkultistenstern, das ist so'n Drudenfuß, also fünfzackig. Als ich versuchte, ihnen den Unterschied zu erklären, wurden sie gleich bisschen brutaler. Sie warfen mir vor, Gewaltdarstellung zu betreiben - mit einer gewissen Berechtigung, wegen der Totenköpfe. Ich hielt das Gekritzel einfach für unerheblich! Schließlich wollten sie wissen, was für eine Weltanschauung ich habe. Mit „Marxist“ konnten sie nun gar nichts anfangen, das ging über ihr Vorstellungsvermögen.
An der Stelle platzte die Bombe. Der Direktor zog so'n Teil vor, da waren nur ein paar undefinierbare Linien kreuz und quer: Sagen Sie, steckt da nicht der Teufel drin? Ich ahnte nicht, worauf das hinauslief. Das ist ein Hakenkreuz, mein Freundchen, brüllte er. Das ist der Teufel, jawohl!
Weil ich diese satanistischen Krickel auf den Hefter gepinselt hatte, wollte er mir nachweisen, dass dahinter faschistische Anschauungen stecken, die den Staat gefährden.
Es wurde richtig schwierig. Er brüllte mich an, anschließend wieder leise und scheißfreundlich. Die übliche Taktik: Erst was versprechen - Vertrauen Sie uns - wir tun Ihnen doch nichts. Wenn das erwartete Geständnis nicht kommt: Wir können auch anders! Sie haben hier keine Zukunft mehr! Wir schmeißen Sie raus! Wir werden dafür sorgen, dass Sie die Lehre nicht beenden!
Für mich beileibe ja keine Drohung. Die wirkliche Drohung hieß: Die Kollegen vom MfS haben ganz andere Mittel, um die Wahrheit aus Ihnen rauszupressen.
Sie haben mich zu dritt bearbeitet und behauptet, mein Kumpel hätte bereits „gestanden“. Da bin ich weich geworden. Ich habe gesagt: Jaja, ganz recht, es ist ein Hakenkreuz. Das war mir vor mir selber furchtbar peinlich Diesem Verhör folgten keine weiteren Maßnahmen, außer, dass meine sämtlichen Hefter verbrannt wurden. Sie haben den „Teufel“ verbrannt.
Die Drohung mit der Stasi und überhaupt die Art und Weise der Unterstellung waren für mich lange Zeit ein Trauma. Ein Mädel, eine von den Lehrlingen, die freiwillig Nachtwache schob, hat - neugierig wie sie war - in Akten geblättert und hinter meinem Namen als Eintrag gefunden: Ich sei „sadistisch und faschistisch“ veranlagt. So wurde ich wohl seitdem geführt.
Die Hakenkreuz-Geschichte hatte ein Nachspiel. Im Herbst desselben Jahres kam mein Kumpel, der mit dem „halben Hakenkreuz“, in den Stasi-Knast, wegen angeblicher Republikflucht. Er hat es so erzählt: Zuerst wurde sein großer Bruder abgeholt, weil sie ihm unterstellten, er hätte Ballons konzipiert, um damit in den Westen abzuhauen. Schwachsinn!
Vier Wochen später wurde der Bruder, mein Kumpel, auch abgeholt, wahrscheinlich prophylaktisch. Er hat drei Monate in U-Haft abgesessen und wurde dann zehn Monate auf Bewährung verurteilt.
Der nächste Ärger schloss sich gleich an. Kaum war mein Kumpel raus aus‘m Knast, wollte jemand was ausgeben auf seinen Geburtstag. Wir sind nach Neustrelitz in irgendeine Kneipe getobt, haben uns volllaufen lassen. Als wir ins Lehrlingsheim zurückmarschierten, haben mein Kumpel und andere sämtliche am Straßenrand stehende Verkehrsschilder verbogen ... sozusagen zusammengefaltet und damit gewissermaßen den Rückweg markiert. Flog natürlich sofort auf. Es gab eine Anzeige.
Der Direktor hat sich wieder als Inquisitor betätigt. Ich hab gelogen, dass sich die Balken bogen. Zum Schluss wurde ich noch mal reingerufen, ich sollte mich zu den Ungereimtheiten in meinen Aussagen äußern: Ich habe zugegeben, dass alles erstunken und erlogen war. Weil ich meinen Kumpel, der durch diesen Stasi-Quatsch als vorbestraft galt, decken wollte. Ich wollte verhindern, dass er in den Bau muss. Sie waren fürchterlich empört, aber mein Freund kam nicht in den Knast und das Thema war erledigt.
Ostern sind wir weggefahren, mein Kumpel und ich, nach Bad Blankenburg. Dort erreichte mich ein Telegramm von meiner Mutter: Etwas Wichtiges ist passiert - ich möchte sofort nach Hause kommen. Ostermontag bin ich zurück. Das Wichtige war eine Vorladung bei der Kripo.
Meine Mutter hatte inzwischen groß Alarm geschlagen - den Bischof informiert. Ziemlich bibberig sind wir zur Kripo, meine Mutter und ich. Ich war noch nicht ganz volljährig, Ostern 89, kurz vor meinen 18. Geburtstag. Bei der Kripo ging es um eine Schlägerei in einem Klubhaus, Körperverletzung und solche Sachen. Jemand hatte mich als Zeugen angegeben. Ich war zwar an diesem Abend anwesend, wusste aber nichts von dieser Schlägerei.
Die Kirche stellte in der DDR doch eine gewisse Macht dar, unter ihrem Schutz konnte man sich relativ viel erlauben. Hätte ich bei der Geschichte mit der Kripo wirklich Schwierigkeiten gekriegt, hätte der Bischof interveniert. Ich denke, mir wäre nicht allzu viel passiert. Es gab schon Strukturen, die staatlichen Zugriff abblocken konnten.
Heute würde ich die Kirche nicht mehr als Schutzraum betrachten. Die Ostkirche hat sich rigoros verändert, sich aus dem einen System ins andere eingepasst. In der DDR hab ich die Pastoren manchmal als Parteisekretäre bezeichnet, heute sind sie die Bosse. In der Kirche läuft es wie überall in den neuen Bundesländern: In die Führungspositionen werden Wessis gesetzt. Die räumen auf, die schmeißen raus, die streichen die Mittel zusammen. Sie setzen durch, was sie sich denken. Da ist dann gar nichts mehr mit christlicher Nächstenliebe!
Aber die Kirche hat sich auch nach der Scheidung meiner Eltern benommen - nicht von dieser Welt! Die Kirchenleute haben sich kein Stück um meine Mutter gekümmert. Sie hätten es tun müssen. Meine Mutter war mit drei Kindern allein, mit diesem Nicht-Geld, das sie verdiente. Ständig wird bei Kirchens von der Kanzel gepredigt: Jesus ging zu den Aussätzigen, zu dem bösen Zöllner und zu den ganzen Fieslingen, aber praktisch kommt da mal gar nichts! Sie hätten auch nicht zu meinem Vater sagen dürfen - und das sagen sie immer noch: Du hast einen Fehler begangen, dafür wirst du dein Leben lang büßen. Die Heimkehr des verlorenen Sohnes - das ist für die nicht drin.
Mein Vater hat versucht, eine Klärung herbeizuführen, vernünftig über die Angelegenheit zu reden. Nichts ging! Er ist am Ende nur noch auf den Gedanken gekommen, gegen sich selber ein Disziplinarverfahren anzustrengen. Um endlich reinen Tisch zu machen und eine Rechtslage herzustellen. Es verjährt ja schließlich auch mal was!
Aber es ist kein Rechtsfall, es ist irgendwas Schwummeriges. Und wird nicht verziehen. Über acht Jahre sind inzwischen vergangen, meinen Vater bedrückt das unendlich, zumal sie in seinen Zukunftsplänen rumpfuschen. Er hatte sich was vorgenommen in Richtung europäisches Begegnungszentrum. Die Kirche hat dazwischengefummelt. Bei Kirchens kennt ja jeder jeden ...
Ich war jedenfalls im Sommer ‘89 endlich mit der Ausbildung fertig. Am 14. Juli hab ich mein Zeugnis in Empfang genommen und den Betrieb verlassen auf Nimmerwiedersehen. Am ersten Tag hatte ich mir vorgenommen, dort nicht eine Stunde länger zu arbeiten, als die Lehre dauert.
In den letzten Monaten hatte ich Kontakte geknüpft zu einem privaten Schrift- und Grafikbetrieb in Schwerin, da wollte ich ab September ein Jahr arbeiten, um vielleicht noch eine zweijährige Ausbildung als Grafiker anzuhängen. Auch nicht grade mein Traumjob, aber ein sicherer Hafen, um nicht in der Luft zu hängen.
Erst mal waren Ferien angesagt. Ich bin mit meinem Freund nach Dresden. Einfach so, bisschen gucken. In einer Kirche lief 'ne Veranstaltung. Es war was im Gange, das spürte man. Paar Punks hingen auch rum. Als die Leute aus der Kirche kamen, wurden sie eingesammelt und auf Lastern abtransportiert. Es sah ganz friedlich aus, aber sie wurden wirklich alle eingesammelt. Auf Drängen meines Freundes sind wir abmarschiert, ihm behagte das nicht. Er kriegte es mit der Angst zu tun - ich war nur fürchterlich neugierig. Und in dem Moment auch ‘n bisschen angriffslustig: Ich hatte Lust zu provozieren, Parolen abzulassen.
Mein Freund war völlig schockiert - so hatte er die DDR noch nie so erlebt. Bei mir war es eher eine Bestätigung, auch so'n Aufflackern von Aggressivität: Ha - jetzt mal! Jetzt mal ich - 'ne interessante Sache, irgendwie.
Wohin, dass alles lief und mit welchen Folgen - da war für mich nichts abzusehen. Obwohl ich lange vor dem 7. Oktober - das war ja der 40. Jahrestag der DDR - das Gefühl hatte: Dieser „Republikgeburtstag“ wird anders. Dass Krach kommt, war zu spüren. An dem Tag selber hab ich dann von nix was mitgekriegt. Wir hockten auf unserer Privat-Party und haben uns mit miesem Privatzeug in den Ohren gelegen.
Kurz darauf ist mir ein Papierchen in die Hände gekommen, der besagte Gründungsaufruf vom Neuen Forum. Was dort stand, fand ich gut. Das Geheime und Verschwörerische kam dazu, das hat auch gereizt. Das Papier vom Forum hab ich mit einem Stasi-Mann durchdiskutiert.
Das kam so: Der Freund, der, mit dem ich in Dresden war, hatte eine Freundin. Die Freundin hatte eine Schwester - mit der ging unser Schlagzeuger. Aber in die kleine Schwester war ich auch fürchterlich verliebt. Jedenfalls frequentierten wir reichlich das Haus der Schwestern. Der Vater war nach Aussagen seiner Töchter: Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentralkomitees. Da staunten wir aber! Allerdings war er viel zu blöd, überhaupt kein Intellektueller.
Ich war zu der Zeit völlig durcheinander, weil ich nicht wusste - wo steh' ich? Wo! In den Westen abhauen, da hatte ich absolut was dagegen! In der DDR wollte ich bleiben - aber mit dem Staat kam ich nicht zurecht. Ich wollte einen neuen Sozialismus.
All das wurde im Haus der Schwestern diskutiert. Er hat total ideologische Aufklärung mit uns betrieben, der Papa: Was die vom Neuen Forum für böse Menschen sind und wer sich hinter ihnen versteckt - Verbrecherbanden, die alles in Klump hauen. Schien mir in dem Moment einleuchtend - ich wusste ja nicht, dass er von der „Firma“ war, ein Stasi-Offizier von echtem Schrot und Korn.