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Die vier Geschichten in diesem Buch berichten von Kinderschicksalen, wie sie uns jederzeit im alltäglichen Leben begegnen können: Markus’ Mutter heiratet zum zweiten Mal; Edgars Großvater stirbt; Brunhilde muss sich um Geschwister und Haushalt kümmern; Siegfried schafft das Schulpensum nicht. Dies sind die Anlässe der Schwierigkeiten, die sich für die Kinder ergeben. Nichts Ungewöhnliches also! Und dennoch sind es ungewöhnliche Geschichten von eigenartigem Reiz, spannend und anrührend. Man kommt diesen Kindern nahe, möchte gerne mehr von ihnen erfahren — denkt über sie nach. Ihr Schicksal erweckt unsere Anteilnahme. INHALT: Der andere Name Edgar Ein Apfel für Frau Holle LESEPROBE: Am nächsten Morgen erwartete die Mutter ihn wie üblich am Frühstückstisch. Der Vater war schon zur Arbeit in den Kuhstall gefahren.Die Mutter saß auf ihrem Platz, dem gepolsterten Hocker am Tischende. Sie rief Siegfried zu sich und nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. „Siegfried, die Lehrerin hat gesagt, dass du vielleicht nicht versetzt wirst. Weil du noch nicht richtig lesen und schreiben kannst ... Dann musst du im Herbst noch einmal in die erste Klasse. Das willst du doch nicht, Siegfried! Nicht wahr?!“ Siegfried schüttelte erwartungsgemäß den Kopf. Es war ihm aber anzusehen, dass er nicht recht wusste, warum er sich vor dieser Wiederholung fürchten sollte. Die Mutter sprach eindringlich auf ihn ein: „Damit du nicht sitzen bleibst, müssen wir jetzt wieder jeden Tag ganz fleißig üben. Ja?!“ Siegfried nickte und fragte: „Wo soll ich nicht sitzen?“ „Ach, Siegfried, ich glaube, du begreifst das alles gar nicht.“ Siegfried nickte wieder und wollte sich setzen. Die Mutter winkte ihn mit einer Kopfbewegung noch einmal zu sich. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. „In der übernächsten Woche müssen wir beide in die Stadt fahren. Drei Tage lang. Du sollst wieder untersucht werden.“ Siegfried sah sie erwartungsvoll an. Er fuhr gern in die Stadt. Die Mutter gab ihm einen leichten, zärtlichen Klaps auf den Rücken. „Jetzt frühstückst du erst mal.“ Sie reichte ihm die Butter, die Marmelade zu, schenkte ihm Milch ein. Sie behandelte ihn, als ob er krank sei, und ließ, während er aß, ihren fürsorglichen und beunruhigten Blick nicht von ihm.
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Seitenzahl: 134
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Jutta Schlott
Der Sonderfall
Eine Geschichte mit gutem Ende
ISBN 978-3-95655-080-5 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1981 in Der Kinderbuchverlag Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Peter Festersen
© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
ich habe eine starke abneigung dagegen, irgendetwas irgendeinem Verständnis anzupassen, die erfahrung zeigte immer wieder, dass kinder das, was zu verstehen sich einigermaßen lohnt, ganz gut verstehen, ebenso wie erwachsene, und es lohnt sich für sie ungefähr dasselbe.
bertolt brecht, finnland, 1940
An der Tafel stand eine Wiederholungsübung. Martin wischte sich die feuchten Hände an seiner Hose ab, schraubte den Füller auf und begann zu schreiben.
Sven knuffte ihn von hinten in den Rücken, aber Martin tat, als bemerke er es nicht.
Die Gefahr war vorüber.
Martin saß tief über sein Heft gebeugt. Ab und zu warf er einen Blick auf Fräulein Heinz. Fräulein Heinz war die neue Praktikantin. Sie stand neben dem Tisch in der letzten Reihe, wo ein Platz frei war. Dort saß Frau Harnack, die Klassenleiterin. Beide waren zusammen in die Klasse gekommen. Fräulein Heinz reichte der Lehrerin gerade bis zur Schulter. Die Praktikantin hatte Jeans an. Ihr volles Gesicht mit den weit auseinanderstehenden Augen war gerötet. Sie hatte aufgeregt gezwinkert.
Nachdem Frau Harnack die Praktikantin vorgestellt hatte, zog Fräulein Heinz ein sorgsam gekästeltes Blatt aus der Tasche.
Der Klassenspiegel!
Martin hatte, während sie in Ruhe jeden Schüler aufrief und ihn sich ansah, auf die Tischplatte vor sich geblickt. Seine Hände waren feucht geworden, sodass sich die Fingerabdrücke sichtbar auf der grauen Sprelacartplatte abzeichneten. Als er aufgerufen wurde, war er unsicher aufgestanden. Ganz still war es in der Klasse gewesen, nur sein Stuhl, den er beim Aufrichten zurückschob, hatte einen knurrenden Laut von sich gegeben. Fräulein Heinz hatte ihn bestätigend angesehen, mit demselben Lächeln wie alle anderen. Ihr Plan stimmte.
Fräulein Heinz ging jetzt ruhig durch die Reihen. Manchmal blieb sie stehen und sprach leise mit einem Schüler, oder sie zeigte wortlos auf einen Fehler im Heft. Man merkte, sie war nicht mehr so aufgeregt wie am Beginn der Stunde.
Es klingelte zur Hofpause. Martin räumte umständlich seine Sachen weg und sah nicht auf.
Sven wartete an der Tür auf ihn. Er besah den Belag auf seinen Frühstücksbroten.
„Was hast du drauf?“
Martin ging zurück und holte die Brotbüchse aus der Tasche.
„Leberwurst.“
„Ich hab Jagdwurst. Wollen wir tauschen?“
Martin schüttelte den Kopf. Er biss in einen Boskop, der neben den Stullen gelegen hatte.
Auf dem Hof blieb Sven in seiner Nähe. Wohin sich Martin auch wandte, Sven ging neben ihm. Schließlich stellte er sich vor Martin hin. „Denkst du, sie kommt nicht dahinter?“
„Wohinter?“
„Ach Mensch, stell dich doch nicht so blöd!“
Sven ließ ihn ärgerlich stehen.
Martin ging langsam über den Schulhof, bis an den Zaun. Von dort konnte man den Bahnhof und die Eisenbahnbrücke sehen. Wenn er pünktlich war, musste gleich der D-Zug aus Berlin durchfahren. Manchmal standen Leute am Fenster. Die Kleinen aus der Unterstufe winkten dann, und meist winkten welche zurück. Das Ausfahrtsignal wurde auf freie Fahrt gestellt. Martin drehte sich um. Es interessierte ihn heute nicht.
Ein Stück Knüllpapier wehte ihm vor die Füße. Er schoss es mit einem kräftigen Stoß beiseite.
In der letzten Stunde hatten sie Russisch. Die Kinder tuschelten, als hinter Frau Harnack wieder die Praktikantin durch die Tür kam.
„Ich habe heute Morgen vergessen, euch zu sagen, dass ich auch in Russisch ein paar Stunden bei euch unterrichte.“
„Ein paar?“, fragte Ines dazwischen, vorlaut wie immer.
„Zwei Monate bleibe ich da“, sagte Fräulein Heinz.
„Bis Mai“, redete Ines schon wieder laut.
„Ines, nimm dich zusammen!“, rief Frau Harnack von der letzten Bank.
„So“, sagte Fräulein Heinz, „und jetzt fangen wir an.“
Wie üblich nach den Ferien, war es auch eine Wiederholungsstunde. Martin merkte, dass er viele Vokabeln vergessen hatte. Die Praktikantin sprach auch ein bisschen anders als Frau Harnack. Trotzdem hob Martin oft den Finger, selbst wenn er sich nicht ganz sicher war. Bei den mündlichen Übungen rief ihn Fräulein Heinz nicht auf. Auch bei Frau Harnack kam er selten dran. Es war eben zu oft falsch, was er sagte. Aber Fräulein Heinz konnte das eigentlich gar nicht wissen. Sie fragte, wer einen Satz mit dem russischen Wort Lehrerin bilden könne und ihn an die Tafel schreiben wolle. Nach ein paar Sekunden schossen mehrere Finger in die Höhe. Auch Martin meldete sich. Er hatte sich den Satz ausgedacht: Die neue Lehrerin steht in der Klasse.
Fräulein Heinz sah ihn an, nickte ihm zu und sagte:
„Martin Majak bitte.“
Martin war schnell aufgestanden. Als er den Namen hörte, fühlte er, wie das Blut aus seinem Kopf, seinen Armen, seinen Beinen rieselte und sich im Bauch sammelte.
„Geh zur Tafel“, sagte Fräulein Heinz russisch.
Martin bekam das Gesicht nicht gehoben. Er schüttelte den gesenkten Kopf. Es fiel ihm nicht einmal ein, sich zu setzen. Er hatte genau bemerkt, dass alle zu ihm sahen, als Fräulein Heinz ihn aufrief.
„Martin Majak bitte“, wiederholte Fräulein Heinz schnell und freundlich. Martin schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Martin, du gehst sofort an die Tafel!“, rief von hinten Frau Harnack.
„Ich heiß nicht so“, quetschte Martin mit Mühe heraus. Seine Stimme klang heiser. Er schob sich langsam auf den Stuhl zurück und blieb sitzen.
In der Klasse war es still. Man hörte durch ein Fenster, das nur angelehnt war, Kinderstimmen aus einem anderen Raum der Schule. Martin sah mit einem Ruck auf. Vorn stand unbeweglich Fräulein Heinz und zwinkerte ihn erschrocken an. Er senkte die Lider. Irgendwem rollte ein Bleistift von der Bank. Er klackste auf den Fußboden.
„Machen Sie bitte weiter, Fräulein Heinz“, fiel Frau Harnacks Stimme in die Stille, „mit Martin rede ich später.“
Die Klasse regte sich wieder. Einige schnipsten vor Eifer mit den Fingern. Eigentlich war das strikt untersagt.
Fräulein Heinz rief Birgit auf, die ihren Satz fehlerfrei an die Tafel schrieb.
Die Stunde verlief wie jede andere. Vielleicht ein bisschen munterer sogar, weil sich wegen der Neuen alle anstrengten. Martin sah nicht mehr auf. Er kratzte mit dem Fingernagel über die eingeritzten Buchstaben auf seiner Tischplatte. Stones stand unten an der Kante. Martin wusste nicht, was das Wort bedeuten sollte. In die rechte Ecke war L. + H. eingeritzt. Das hatten bestimmt welche aus einer anderen Klasse getan. Bei ihnen gab es keinen Namen, der mit L anfing.
Nach einer Weile hörte Martin wieder Fräulein Heinz zu. Manche Frage hätte er beantworten können, aber er meldete sich nicht. Als die Praktikantin die Klasse aufforderte, die Bücher zu öffnen, blieb er reglos sitzen. Er fuhr mit seinem Zeigefinger unablässig um das O von Stones.
Fräulein Heinz las einen Abschnitt vor. Während sie sprach, ging sie durch die Reihen. Als sie zu Martin kam, nahm sie sein Buch, schlug es auf und schob es ihm hin. Alles, ohne einmal zu stocken oder auch nur den Tonfall der Stimme zu ändern. Kaum, dass sie einen Moment lang neben seinem Platz stehen geblieben war.
Als die Klasse im Chor lesen sollte, hielt Martin die Hand vor den Mund, damit man nicht sehen konnte, ob er die Lippen bewegte.
Die Stunde schien ihm endlos. Immer öfter sah er auf seine Armbanduhr. Der große Zeiger rückte kaum weiter. Es klingelte, gerade als er überlegte, ob es nicht besser wäre, alle Stunden ohne Pause hintereinander zu haben. Höchstens eine kurze zum Essen oder wenn man mal musste. Dann könnten sie jeden Tag spätestens um zwölf aus der Schule sein.
Frau Harnack kam zu ihm, als er noch beim Einpacken war.
„Was denkst du dir eigentlich?“, fragte sie streng.
Martin antwortete nicht. Er schnipste mit dem Schloss an seiner Tasche. Auf und zu. Auf und zu.
„Wir beide reden noch“, sagte Frau Harnack und ging zum Lehrertisch. Martin atmete auf. Für heute war es überstanden. Frau Harnack flüsterte mit der Praktikantin. Martin schob sich schnell an ihnen vorbei.
„Wiedersehen“, murmelte er beim Hinausgehen.
Die Tür lehnte er nur an. Er suchte im Flur nach seiner Mütze. Jemand hatte sie auf einen Haken an der gegenüberliegenden Seite gesteckt.
Martin horchte. Frau Harnack und die Praktikantin redeten noch immer miteinander. Offenbar waren sie sich nicht einig. Man hörte es an den Stimmen. Die von Frau Harnack wurde laut. „Aber ich bitte Sie, Fräulein Heinz, Sie können doch nicht einfach, ohne sich vorher mit mir zu verständigen ...“
Die Klassentür wurde von innen mit einem Ruck geschlossen. Martin lief schnell aus dem Haus. Seine Schritte hallten durch die leere Schule.
Auf dem Hof ging er zum Fahrradständer und öffnete das Seilschloss. Er war einer der ersten, die ihr Rad holten. Die meisten aßen im Speiseraum der LPG. Er war kein Schulspeisungskind. Seine Mutter kochte jeden Tag für Marina und ihn. Manchmal sagte sie: „Das ist ja das einzige, was ich noch kann.“
Nur mittwochs, wenn sie nachmittags Arbeitsgemeinschaften oder Pionierveranstaltungen hatten, oder wenn die Mutter in der Stadt zum Arzt musste, gingen sie auch in den großen Speisesaal in der ehemaligen Molkerei essen.
Martin trudelte mit dem Fahrrad über den Schulhof. Fahren war verboten. Am Tor stieß er sich ab und rollte auf die Straße. Mit drei, vier kräftigen Tritten kam er bis zur Eisenbahnbrücke. Er fuhr langsam an das Geländer heran, griff in die Stäbe und blieb stehen, ohne absteigen zu müssen.
Es wurde rangiert. Martin sah von oben in die offenen Güterwaggons. In den meisten lagen kleine weiße Hügel, bestimmt Kunstdünger. Ein paar Wagen waren mit Kohlen beladen und zwei mit dicken, noch unbearbeiteten Stämmen.
Martin überlegte, wofür man sie gebrauchen könne. Vielleicht für Telegrafenmasten. Aber dazu waren sie wohl zu dick. Sicher kamen sie ins Sägewerk und wurden zu Brettern zerschnitten.
Martin stieß sich mit der Hand vom Geländer ab. Die abschüssige Strecke vor dem Buchenberg fuhr er mit voller Kraft, damit er noch Schwung beim Aufwärtsfahren hatte und vor der Kuppe nicht absteigen musste. Kurz bevor er oben war, überholte ihn der Schulbus. Mit ihm fuhr auch Marina. Ein paar Kinder klopften an die Fensterscheiben und winkten Martin zu. Er erwiderte den Gruß mit einem flüchtigen Kopfnicken.
Mit dem Bus fuhr er nur im Winter, wenn Schnee lag. Dann ließ ihn die Mutter nicht auf das Fahrrad, weil sie Angst hatte, er könne auf der Chaussee stürzen und unter ein Auto kommen. Jetzt war März und der Schnee zum Glück in den letzten Ferientagen fast völlig weggetaut. Nur an den Straßenrändern, im Schatten, lagen noch ein paar schmutzige Reste.
Bis Rabenshagen waren es von der Schule fünf Kilometer. Wenn er wollte, schaffte er den Weg in zwanzig Minuten, aber heute hatte er keine Lust dazu. Es kamen ihm nur wenige Fahrzeuge entgegen. Um diese Jahreszeit war kaum Verkehr. Anders im Sommer, wenn sich die Bungalows und der Zeltplatz am See wieder bevölkerten. Aber bis dahin dauerte es noch lange.
Zu Hause stellte er das Fahrrad an die Hauswand, riss mit einer Bewegung die Mappe vom Gepäckträger und ging in die Küche.
Marina saß schon am gedeckten Tisch.
„Was gibt es denn heute?“
„Erst mal heißt es guten Tag!“ Die Mutter füllte gerade dampfende Kartoffeln in eine Schüssel.
„Tag, Mutti.“ Er hob den Deckel von einem Topf hoch.
„Oh, Senfeier!“
Die Mutter stupste ihn an. „Wasch dir die Hände!“
Sie füllte auf. Erst ihm, dann Marina, dann sich selbst. Wenn Vater zu Hause war, bekam er als erster aufgetan. In der Woche aß er aber auch in der LPG.
„War irgendwas?“
„Nö.“ Martin schob sich einen Happen in den Mund.
„Wir haben heute was ganz Neues gelernt, was wir noch nie hatten“, plapperte Marina. Sie war im vergangenen Herbst zur Schule gekommen.
„Und bei dir? Zensuren?“ Die Mutter sah ihn an.
Er hantierte mit dem Besteck. „Am ersten Tag gibt es doch noch keine Zensuren.“
„Hat dich wer geärgert?“
Martin pustete in die heiße Soße. „Nö, warum denn?“
„Irgendwas ist doch. Merk ich dir doch an.“
„Was soll denn sein?“
Sie aßen schweigend. Marina klapperte mit ihrer Gabel auf dem Teller. Die Mutter warf ab und zu einen Blick auf Martin, was ihm unangenehm war. Unerklärlich, wieso sie schon wieder gemerkt hatte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Aber das mit dem Namen wollte er um keinen Preis erzählen. Am besten war, die Mutter abzulenken.
„Wir haben eine neue Lehrerin“, sagte er nach einer Weile. „Eine Praktikantin.“
„Eine junge?“
Martin nickte. Er beschloss, sich nicht noch einmal Essen nachzufüllen, wie er es gewöhnlich tat. Er wollte so schnell wie möglich den Fragen der Mutter entkommen.
„Ist sie gut?“
„Weiß nicht.“ Er stand auf und stellte seinen Teller auf den Abwaschtisch.
„Du sollst doch warten, bis wir alle fertig sind ... Na ja. Geh schon.“
Er griff nach seinem Anorak.
„Wo willst du denn hin?“
„Darf ich noch ein bisschen zu Sven?“
Die Mutter sah auf die Uhr. „Meinetwegen, aber um vier bist du wieder hier.“
Martin überlegte, ob er wirklich zu Sven ging oder einfach ein bisschen mit dem Fahrrad umherfuhr. Nach dem Mittagessen sah er meist zu, dass er aus dem Haus kam. Wenn die Mutter abgewaschen hatte, legte sie sich auf die Couch im Wohnzimmer und schlief. Oder sie tat nur so, als ob.
„Lasst man, bald bin ich wieder bei Kräften“, sagte sie meist, wenn sie sich hinlegte, als müsse sie sich entschuldigen, weil sie so schlapp war.
Als Martin in die vierte Klasse kam, war sie zur Operation ins Krankenhaus gekommen. Vom Schulanfang bis zu den Herbstferien lag sie dort. Und seitdem sagte sie fast jeden Tag, dass sie bald wieder bei Kräften sei. Martin konnte sich nicht erklären, warum es so lange dauerte. Im vergangenen Frühjahr hatte die Mutter nicht einmal helfen können, den Garten umzugraben, so schwach war sie. Er hatte es mit dem Vater allein gemacht. Die Mutter hatte nur Rillen gezogen und eingesät.
Wenn er mal krank war, im Winter eine Grippe oder Angina, dauerte es keine zwei Wochen, und er war wieder munter, als wäre nie etwas gewesen. Vielleicht dauert bei Frauen alles länger, dachte er. Mädchen waren ja auch meist schwächer als Jungen.
Sven wohnte im Haus neben der Kirche. Früher hatte es dem Pfarrer gehört. Der Garten hinter dem Fachwerkbau war auf der einen Seite von der Friedhofsmauer begrenzt. Sie war aus großen Feldsteinen zusammengesetzt, auf denen sich mit den Jahren Moos und Algen angesiedelt hatten.
Manchmal kletterten sie über die Mauer und versuchten, die Namen auf den alten Grabsteinen zu entziffern. Hier wurde niemand mehr beerdigt. Seit Martin in Rabenshagen wohnte, schon nicht mehr. Trotzdem hatte Svens Mutter sie ärgerlich zurückgerufen, als sie sie einmal auf dem Friedhof sah. Das sei kein Platz zum Spielen, hatte sie energisch erklärt und ihnen ein für alle Mal verboten, über die Mauer zu klettern.
„Ist deine Mutter heilig?“, hatte Martin damals Sven gefragt.
Sven prustete. „Mensch, fromm heißt das, nicht heilig!“ Er überlegte eine Weile und sagte: „Nö, an den lieben Gott und so was glauben wir nicht. Mein Vater sagt, das sind Märchen.“
„Wir glauben auch nicht dran, aber warum haben die früher extra so große Kirchen gebaut?“
„Bestimmt haben sie an den lieben Gott geglaubt, weil sie noch nicht so wissenschaftlich waren.“
„Trotzdem, komisch ist es.“
Sven sah ihn verwundert an. „Worüber du dir alles einen Kopf machst ...“
„Meine Oma sagt immer: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“, hatte Martin erwidert, aber Sven war nicht mehr darauf eingegangen.
Diese Unterhaltung fiel Martin wieder ein, als er Sven an seinem Fahrrad basteln sah, das er an die Friedhofsmauer gelehnt hatte.
„Das Rücklicht brennt nicht mehr“, brummelte er, ohne aufzusehen.
Martin hockte sich neben den Freund und fingerte an der Leitung. „Na, hier ist ja auch das Kabel durch.“ Martin zeigte auf eine Stelle, die nur noch von der Plastumhüllung zusammengehalten wurde.
Sven nahm aus der Hosentasche eine Rolle mit Ankerplast, schnitt mit dem Taschenmesser die Leitung durch, drehte die feinen Metallfäden zusammen und umwickelte sie mit dem Klebeband.
„Pass mal auf, ob es wieder brennt.“ Sven hob das Hinterrad hoch und drehte die Tretkurbel. Das Lämpchen leuchtete auf.
„Alles okay.“ Sven begann, seine Sachen zusammenzupacken.
„Warum bist du bloß so komisch mit deinem Namen“, fragte er, ohne Martin anzusehen. „Ist doch ganz egal, wie sie einen nennen. Mir ist es völlig Wurscht, ob ich Radtke oder Schniefke oder sonst wie heiße.“
„Ich soll aber nur allein Majak heißen. Alle anderen heißen Koppelow.“
„Na und? Ist doch interessant.“
„Mir jedenfalls nicht“, sagte Martin wütend, weil Sven ihn nicht verstand. „Außerdem ist Majak ein blöder Name ... bei meiner Oma sagen sie immer Jacke zu mir.“
„Zu mir haben sie auch schon Ratte gesagt. Da hör ich gar nicht hin.“
„Ach, du verstehst das eben nicht“, sagte Martin hilflos. Sven versuchte einzulenken: „Ich meine ja bloß ... ehe du Ärger in der Schule kriegst.“
Martin antwortete nicht. Er ließ das eine Pedal rotieren. Es tat ihm leid, dass er so brummig zu Sven gewesen war.
„Fahren wir um die Wette?“, fragte er.
Sven nickte. „Wer zuerst beim Gemeindebüro ist.“
„Abgemacht! Auf die Plätze — fertig — los!“
Beim Start traten sie im Stehen in die Pedale, dann legten sie sich tief über die Lenker, damit sie dem Fahrtwind weniger Widerstand boten.