Roman und Juliane - Jutta Schlott - E-Book

Roman und Juliane E-Book

Jutta Schlott

4,4

Beschreibung

In der Nähe des Schlossparks sah Juliane zum ersten Mal auf die Uhr. Sie erschrak. Sie hätte seit zwei Stunden zu Hause sein müssen. Trotzdem machte sie keine Einwände, als Roman fragte, ob sie sich noch auf ihre Bank setzen wollten. Den Gedanken, dass sie zu spät nach Hause kommen würde, schob sie von sich. Alles war heute fröhlich, leicht. Sie dachte nur zwei Worte: Roman und Juliane. Sie redeten, krakelten Zeichen und Buchstaben in den Sand. Sie verstanden jedes Wort und jede Geste. Sie erzählten von dem, was ihnen lieb war, das Liebste bisher. Sie ahnten, mit diesem Sonntag hatte eine neue Zeitrechnung angefangen. Das Thema „erste Liebe“ bestimmt die Handlungen der drei Erzählungen dieses Buches. Bettina, Elise und Juliane begegnen Jungen, die ihnen viel bedeuten. In der ihr eigenen einfühlsamen Erzählweise schildert Jutta Schlott Verhalten und Empfinden junger Menschen, die sich zum ersten Mal verlieben. LESEPROBE: Als sie in den Park kam, war Roman noch nicht da. Sie setzte sich auf eine Bank, sodass sie die Brücke im Auge hatte, streckte die Beine weit von sich und tat, als ruhe sie sich aus. Wenn er nun nicht käme. Wenn er nun wirklich nicht käme! Eine solche Beklemmung kroch von der Magengegend in ihr hoch, dass sie sich verbat, weiter darüber nachzugrübeln. Am Sonntag, um die Mittagszeit, war es leer im Park. Nur ein älteres Ehepaar schlenderte eingehakt vorüber, und ein Junge flitzte mit dem Fahrrad einen Seitenweg entlang, obwohl das Radfahren hier auch verboten war. Wie das Angeln, dachte das Mädchen. Roman kam im Laufschritt zur Bank. Im selben Moment schien ihr, sie habe nie einen Zweifel gehabt, dass er kommen würde. Ihre Ängste waren verflogen. Schnell stand sie auf und ging ihm entgegen, streckte ihm die Hand hin, noch ehe sie zögern konnten, sie sich zu reichen. Sie sahen sich an, lächelten. Roman machte eine Bewegung, um anzudeuten, dass sie gehen wollten. Sie sah ihn von der Seite an und bemerkte, dass er kleiner war als sie. Nicht viel, aber immerhin kleiner. In der Klasse lachten sie darüber, wenn das Mädchen einen überragte, mit dem sie zusammenstand oder in der Disco tanzte. Juliane schüttelte den Gedanken ab. Als ob das wichtig wäre. Die paar Zentimeter. Sie gingen auf dem Pfad, auf dem man um den ganzen See gehen konnte. Sie liefen hintereinander. Das Mädchen sah auf seinen Rücken, den die an den Schultern gepolsterte Jacke unnatürlich verbreiterte. Über dem Kragen ein schmaler Streifen seines gebräunten Halses.

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Impressum

Jutta Schlott

Roman und Juliane

ISBN: 978-3-95655-086-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1985 in Der Kinderbuchverlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Peter Festersen

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Bettina

Wie allen entlegenen Orten mangelte es Grapenhagen an berichtenswerten Neuigkeiten. Dafür gab es stets Geraune und Geflüster. Zählebig erhielten sich die dörflichen Legenden: In der Lehmkuhle hatten Riesenkinder Murmeln gespielt, und der Teufelsberg war vom Bösen selbst so schroff gewinkelt, dass in der Ernte mehr als einem Fuder das Rad brach.

Auch die Unterirdischen trieben ihr Wesen. Jahr für Jahr, wenn gepflügt wurde, stießen sie neue Steine an die Oberfläche, und ihre geheimen Gänge hatten sie bis unter die verwitterten Steinplatten des Kirchhofs gegraben.

Die Kirche war das einzige, was Grapenhagen vor den umliegenden größeren und reicheren Dörfern auszeichnete. Alle Täuflinge und Toten mussten hierherkutschiert werden. Die Brautpaare und ihre Begleitung rollten in prächtig geschmückten Wagen vor die Nebenpforte an der Nordseite.

Das Tor war seit Jahrzehnten nicht passierbar. Nach dem ersten Weltkrieg hatte die Gemeinde die Namen der siebzehn gefallenen Männer ihres Kirchspiels in Granit meißeln lassen und den Quader vor dem schmiedeeisernen Gitter der Einfahrt aufgestellt.

Die Opfer des nächsten Krieges blieben ungezählt und unbenannt. Ihre Fotografien und die ihrer Gräber in fremden Ländern verblassten neben den leise tickenden Regulatoren in der guten Stube.

Der Krieg schwemmte eine Menge Menschen ins kleine Grapenhagen. Zuerst kamen die Frauen und Kinder der Flüchtlingstrecks. Sie wurden in die Bodenkammern und Nebengelasse der Bauernhäuser einquartiert. Als die Männer von der Front und aus den Gefangenenlagern zurückkehrten, gab es im Dorf einen Bankangestellten, zwei Mechaniker, einen Oberkellner und einen Straßenbahnschaffner. Die Umsiedler fanden Arbeit in der Kreisstadt, andere versuchten sich im Nachbardorf, wo das Land des Gutsbesitzers aufgeteilt worden war, als Neubauern.

Im Laufe eines Jahrzehnts hatten fast alle Zugezogenen Grapenhagen wieder verlassen. Nur zwei alte Schwestern blieben, ein Rentnerehepaar aus Ostpreußen und der Lehrer mit Frau und Kind.

Es war ein Neulehrer, der selber noch studierte und des Öfteren in die Bezirksstadt fuhr, um dort seine Prüfungen abzulegen. Im Jahr nach der Schulreform war er ins ehemalige Küsterhaus eingezogen. Dort unterrichtete er in zwei Räumen die Kinder des Dorfes und der umliegenden Orte.

Die Frau des Lehrers, Elisabeth Kaufmann, versorgte den Haushalt und den großen Garten. Sie hackte Holz, schleppte Wassereimer von der Pumpe, fütterte in Gummistiefeln die Hühner und Gänse.

Trotzdem blieb sie in den Augen der Bauern eine Städtische: Elisabeth Kaufmann schminkte sich. Im Sommer trug sie durchsichtige Blusen und hochhackige Schuhe. Wenn im Dorfkrug Erntefest oder Fastnacht gefeiert wurde, blieb sie mit den Frauen am Tisch sitzen, und der Mann musste nach Hause gehen und nach der Tochter sehen.

Bettina, die als Zweijährige mit den Eltern gekommen war, wuchs auf wie alle Kinder des Dorfes. Sie streunten durch die Ställe, streichelten die neugeborenen Kälber und tranken heimlich kuhwarme Milch aus den Kannen.

Im Sommer bauten sie am Wallgraben Dämme und hängten sich trotz des Verbotes an die hoch mit Korn beladenen Pferdewagen.

Die großen Scheunen und die Dachböden der schilfgedeckten Häuser dienten ihnen als schummrige Verstecke.

Von den stets beschäftigten Erwachsenen wurden ihren Spielen wenig Grenzen gesetzt. Nur die Räucher- und Speisekammern blieben der Neugier der Kinder verschlossen. Manchmal steckte ihnen die Hausfrau eine dicke Scheibe Dauerwurst zu, und Bettina sah mit Staunen die Vorräte an Speck und Schinken, die langen Reihen der Gläser mit Geschlachtetem. Dergleichen gab es im Lehrerhaus nicht.

Als sie zur Schule kam, saß Bettina neben Lore Döring, der Tochter des reichsten Grapenhagener Bauern, in einer Bank. Die Mädchen mochten sich sofort und galten bald als unzertrennlich. Die meisten Nachmittage verbrachten sie gemeinsam. Im Lehrerhaus wie auf dem Bauernhof waren beide gern gesehen, und es bedurfte dort keiner besonderen Einladung zu kleinen Feiern und Geburtstagen.

Aus Gründen, die den anderen verborgen blieben, fanden sie immer etwas zu lachen und zu kichern. Später, unter den Halbwüchsigen, hießen sie das Gelächter.

Als sie vierzehn waren, verbrachten die Freundinnen zum ersten Mal einen wichtigen Tag nicht gemeinsam.

Am Sonntag vor Ostern ging Lore zur Konfirmation in die Kirche, und Bettina fuhr mit den Eltern in die Kreisstadt, wo sie die Jugendweihe erhielt.

Zu den Feiern waren viele Gäste eingeladen. Ausgiebig wurde gegessen und getrunken. Man erlaubte den Mädchen nicht, einander zu besuchen.

Am Tag darauf zeigten sie sich gegenseitig die Geschenke und zählten die Karten mit den Glückwünschen. Bettina hatte vierundfünfzig, Lore zweiundsiebzig.

Die schönsten sortierten sie aus, um sie in der Schule herumzureichen.

Die Eltern hatten Bettina für ihr Zimmer einen großen Spiegel geschenkt, den sie sich seit Langem wünschte. Den Rahmen, verschnörkelt geschnitzt und mit Blattgold überzogen, hatten sie zwischen dem Gerümpel auf dem Dachboden entdeckt.

Der Spiegel veränderte das Zimmer. Beim Aufwachen sah Bettina die Zweige der Kastanie vor ihrem Fenster in seinem Glas. Wenn nachts der Mond schien, sandte der Spiegel bläuliches Licht aus.

Wie aus‘m Herrenhaus, sagte Lore, als sie davorstand und sich ihr kurzes braunes Haar zurechtzupfte.

Die Mädchen stellten sich zusammen vor den Spiegel. »Wir tauschen die Pullover«, schlug Bettina vor.

Nach den Pullovern tauschten sie die Schuhe, Bettina holte aus dem Schrank ihrer Mutter einen metallenen Gürtel und ein durchsichtiges Tuch. Sie kämmten sich gegenseitig die Haare zurück, steckten sie mit Klemmen fest und versuchten mit Wasser und Bürste Löckchen zu drehen. In einer Handtasche fanden sie einen kirschfarbenen Lippenstift. Zum Schloss zogen sie die Augenbrauen mit schwarzer Tusche nach und betrachteten zufrieden ihr Werk.

»Und jetzt in der Stadt spazierengehen«, seufzte Lore.

Sie beschlossen einen Rundgang durch das Dorf.

Niemand war zu sehen, der sie hätte bewundern können. Die Dorfstraße lag menschenleer. Ein paar Hühner scharrten im Sand. Es war still. Aus einem Stall hörte man Kühe brummen.

»Wir gehen zu uns«, sagte Lore. »Meine Oma hat so eine Kiste auf dem Boden. Mit altem Zeug.«

Auf dem Döringschen Hof trug Jörgen, Lores älterer Bruder, einen Eimer mit gedämpften Kartoffeln zum Schweinestall. Er stellte ihn ab und ging den Mädchen entgegen.

»Wie habt ihr euch aufgedonnert«, schrie er. »Zwei geschminkte Puthennen.«

Er zupfte an Lores spärlichen Locken.

»Hau ab.« Sie stieß ihn weg. »Du hast nämlich keinen Geschmack.«

Er lachte. »Aber ihr habt Geschmack, das sieht man ja!«

Grinsend nahm er seinen Eimer auf und schlurfte mit großen Schritten über den Hof.

Lores Mutter, die in der Küche Zwiebeln pellte, schickte sie in energischem Ton zum Waschen. »So was fangen wir gar nicht erst an, Tina«, schimpfte sie, als träfe sie allein die Schuld. »Solche Moden kommen mir nicht ins Haus!«

»Mach dir nichts draus«, murmelte Lore, als sie sich wuschen. »Manchmal kann sie keinen Spaß verstehen.«

Sie rubbelten sich die Brauen. Das Seifenwasser lief ihnen in die Augen und brannte. Sie kämmten sich die Haare wieder glatt und zogen die eigenen Pullover an.

In der Küche brutzelte Speck in der Pfanne. Auf dem großen hölzernen Tisch standen eingelegte Gurken und eine Schüssel mit Sülze.

»Kannst mitessen, Tina.« Lores Mutter schob einen zusätzlichen Stuhl an den Tisch.

»Ich muss um sechs zu Hause sein.« Es war zehn vor. Bettina verabschiedete sich schnell.

Lore wollte die Freundin ein Stück begleiten, aber die Mutter schickte sie in den Garten, um Schnittlauch zu holen.

Bettina schlenderte durch das Dorf zurück. Vor sieben Uhr wurde sie zu Hause nicht erwartet.

Es ärgerte sie, dass Jörgen sie ausgelacht hatte wie zwei kleine Kinder. Sie wollte ihm beim Abendbrot nicht wieder begegnen, obwohl sie ungern auf die Fleischsülze verzichtete.

Abends versammelte sich bei Dörings die ganze Familie um den Tisch. An der Stirnseite saß der Bauer. Rechts von ihm Lores Mutter, dann Jörgen und Dieter, der Knecht, der seit seinem vierzehnten Lebensjahr auf dem Hof arbeitete. Auf der anderen Stirnseite hatte der alte Döring seinen Platz, ihm zur Rechten saßen die Großmutter und Lore.

Marlene, die älteste Tochter, musste dem Vater die Speisen zureichen. Wenn Bettina zum Essen eingeladen war, stand ihr Stuhl zwischen dem von Lore und der Großmutter.

Bei Dörings wurde gebetet. Vor dem Essen falteten alle die Hände auf dem Schoß und senkten den Kopf, Frau Döring sprach laut: »Komm, Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.« Die anderen murmelten mit.

Bettina fügte sich, wenn sie an den Tisch gebeten wurde, der Sitte nur halb. Sie legte die Hände auf die Knie, ohne sie zu verschränken, und sprach nie mit.

Bettina war die einzige im Dorf, die nicht zum Religionsunterricht ging. Die anderen beneideten sie, weil sie nicht zweimal in der Woche nach der Schule im Katechetenraum still sitzen musste.

Manchmal teilte Pastor Sprengel kleine bunte Bilder aus. Bettina hätte auch gern welche bekommen. Die Mutter bemerkte es. Von der nächsten Fahrt in die Stadt brachte sie der Tochter ein Märchenbuch mit.

Bettina wäre trotzdem lieber mit den anderen gegangen.

»Sie kann das alles noch nicht verstehen«, verteidigte die Mutter sie beim Vater.

»Religion ist Opium fürs Volk!« Er strich sich energisch die Haare zurück, wie immer, wenn er aufgeregt war.

»Und manch einer wechselt seine Überzeugungen wie ein Hemd«, entgegnete die Mutter heftig.

Das Mädchen hörte den Eltern verwundert zu.

Später war Bettina stolz, dass sie zu den Fortschrittlichen gehörten, die an keinen Gott glaubten. Sie durfte schon in der siebenten Klasse die Jugendweihestunden besuchen. Einmal kam ein Mann mit einem Geigerzähler. Das Ticken des Gerätes war Bettina unheimlich.

Nach der Veranstaltung stürzten aus dem Gebüsch neben der Schule zwei Jungen auf sie zu, knufften und stießen sie.

»Jeder Schlag ein Schlag gegen die Jugendweihe!«, rief der eine, dann rannten sie davon. Es waren Jungen aus dem Nachbardorf. Bettina heulte nicht. Sie erzählte auch den Eltern kein Wort. Wenn es einen Gott gäbe, hätte er nicht zugelassen, dass man sie schlug.

Manchmal, wenn sie nicht wusste, an wen sie ihre Bitten richten sollte, sprach sie doch mit ihm: Lieber Gott, wenn es dich wirklich gibt, mach meine Oma wieder gesund. Oder: Lieber Gott, wenn ich an dich glauben soll, musst du mir eine kleine Schwester schenken. Das war lange her. Wenn sie sich jetzt etwas erhoffte, drückte sie den Daumen in der geballten Faust und murmelte: Es soll die ganze Nacht Schneesturm sein, damit die Schule ausfällt. Oder:

Ich krieg zu Pfingsten ganz bestimmt ein neues Kleid. Die Wünsche erfüllten sich selten.

Bettina sah auf ihre neue Uhr. Großmutter hatte sie ihr zur Jugendweihe geschenkt. Es war kurz nach sechs. Am Transformatorenhäuschen kletterte Bettina auf die Böschung und strich die Grasbüschel auseinander. Sie zupfte ein paar zarte Blättchen vom Sauerampfer aus und steckte sie in den Mund. Ameisen liefen ihr über den Fuß. Sie schüttelte sie schnell ab.

Zu Hause wartete die Mutter schon auf Bettina. Sie vermisste ihr Tuch und machte der Tochter Vorhaltungen, dass sie ohne Erlaubnis an ihren Schrank gegangen war.

»Ich wühle auch nicht in deinen Schubladen herum«, schimpfte sie. »Dann kann man eben zu dir kein Vertrauen haben.«

Nach dem Abendessen ging Bettina in ihr Zimmer. Sie zündete die kugelige Rosenkerze an, die ihr eine Nachbarin gebracht hatte. Das Mädchen nahm das rosa Kleid aus dem Schrank, streifte es über, wechselte die Schuhe und stellte sich vor den Spiegel.

Die blonden Haare ringelten sich über die Schulter. Sie lächelte ihrem Gegenüber zu. Sie sah wieder aus wie zur Feierstunde. Alle hatten das von der Mutter genähte Kleid bewundert.

Bettina schaltete die Lampe aus. Das Licht der Kerze schimmerte von hinten durch ihr Haar und zeichnete weiche Konturen. Das Mädchen stellte sich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, wie hochhackige Schuhe sie kleiden würden.

Zwei geschminkte Puthennen!

Sie hatte keine Freude mehr an ihrem Spiegelbild. Was Jörgen sich einbildet! Spielt sich auf und hat selber Gummistiefel und einen ausgefransten Westover an!

Jörgen war anders geworden.

Früher lief er mit Lore und ihr zur alten Feldscheune, und sie ließen sich von den oberen Balken ins Stroh fallen. Früher waren sie auf einem Schlitten den Teufelsberg heruntergerodelt. Einmal hatte er ihr aus Weidenholz eine Flöte geschnitzt. Nie war er so überheblich gewesen wie jetzt. Nie hatte er sie merken lassen, dass er zwei Jahre älter war als sie.

Nach der achten Klasse hätte er zur Oberschule gehen können, aber die Eltern entschieden, dass er Landwirt lernen solle. Als einziger Junge würde er später den Hof übernehmen. Je eher er sich an die Arbeit gewöhnte, desto besser.

Ob er sich gerne dem Willen der Eltern fügte, wusste Bettina nicht. Aber seit er seinen Vater bei allen Arbeiten auf dem Feld und in den Ställen begleitete, behandelte er Lore und sie wie Kinder.

Zwar war Jörgen jetzt einen Kopf größer als die Mädchen, aber Jungen wurden eben meist größer.

Bettina hängte sorgfältig das Kleid in den Schrank zurück. Sie zog sich den Schlafanzug an und nahm die Hefter für Chemie und Staatsbürgerkunde mit ins Bett. Sie blätterte eine Weile und versuchte, sich das Gelesene einzuprägen.

Draußen kam Wind auf. Er bog die Zweige der Kastanie, dass sie schurrend über das Dach strichen. Es regnete.

Bettina stand auf und holte sich ihr neues Tagebuch, das ihr eine Tante geschenkt hatte. Es war verschließbar. Bettina schrieb ihren Namen auf die erste Seite. Sie trug ein, welche Geschenke sie zur Jugendweihe bekommen hatte, wer zu Gast war, was sie gegessen hatten. Dann überlegte sie und schrieb:

Heute hat mich Lore besucht. Es war sehr nett. Sie findet meinen Spiegel auch chic.

Jetzt ist scheußliches Wetter, dabei hatten wir noch vor drei Tagen über zwanzig Grad. Es ist direkt erstaunlich, wie sich das Wetter auf die Laune der Menschen auswirkt!

Jörgen ist sehr komisch geworden.

Morgen schreiben wir eine Arbeit in Chemie.

Ich bibbere schon! Nun aber Schluss, es ist schon 23.00 Uhr.

B. K.

Bettina verschloss das Buch und verwahrte es sorgfältig im hinteren Teil der Schublade. Das Schlüsselchen band sie an einen roten Wollfaden und legte ihn als Kette um den Hals.

Im Mai erhielt Bettina die Bestätigung, dass sie im Herbst zur Oberschule in die Kreisstadt gehen würde.